Nur bis ans Ende der Nacht: Aus der Reihe "Zärtliche Stunden"
Von Hanna Berghoff
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Buchvorschau
Nur bis ans Ende der Nacht - Hanna Berghoff
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»Nein, nein, nein, ich kann einfach nicht mehr!« Was ich sonst nie gewagt hatte – endlich sprach ich es aus: Ich hatte so viel Arbeit, dass ich bald zusammenbrach, und immer noch bürdete man mir mehr auf.
Alle meine Kolleginnen und Kollegen schauten mich erstaunt an. So hatten sie mich noch nie erlebt. Sie kannten mich nur als braves, fleißiges Arbeitstier ohne eigene Bedürfnisse.
Das war mein Problem: Ich war zu gutmütig. Sobald jemand kam und mich darum bat, etwas zu tun, versuchte ich mit allen Mitteln, diese Bitte zu erfüllen. Seit meiner Kindheit war mir eingepflanzt worden, dass die Bedürfnisse der anderen immer wichtiger waren als meine eigenen. Aber jetzt, mit vierunddreißig Jahren, ging es plötzlich nicht mehr.
Seit neun Jahren arbeitete ich für diese Versicherung, und ich kam mir vor, als gehöre ich zum Inventar. So wurde ich zumindest behandelt. Ein Möbelstück, das weder Schlafbedürfnisse noch sonstige Wünsche an das Leben hatte.
Überstunden? Ja bitte! Christiane Merdinger wird’s schon machen! Die anderen hatten Urlaub, ich hielt die Stellung; die anderen hatten Kinder, die auch mal krank waren oder sonst irgendwie versorgt werden mussten: ich war kinderlos und deshalb immer verfügbar. So dachten wohl die meisten.
Und hatte ich nicht ein schönes Leben? Wie sagte mein Kollege Klaus immer? »Mensch, Christiane, hast du’s gut! Du kannst dein Geld ganz allein für dich ausgeben, brauchst dich um niemand zu kümmern.«
Ja, das stimmte natürlich, aber die Kehrseite der Medaille? Wer kümmerte sich denn um mich? Eben auch niemand.
Ich hatte kaum gemerkt, wie ich in die Routine hineingerutscht war. Aber plötzlich kam ich nicht mehr heraus. Neben meiner Arbeit als Sachbearbeiterin in einer Versicherung, die zwar nicht sehr viel Kopf, dafür aber umso mehr Zeit verlangte, verblassten alle sozialen Kontakte. Ich machte Überstunden und sagte die Treffen mit meinen Freunden und Freundinnen immer öfter ab. Nur vorübergehend, dachte ich. Das kann ja nicht immer so weitergehen.
Aber es ging so weiter. Ich hatte mich darauf eingelassen, und plötzlich war es selbstverständlich, dass ich um acht Uhr abends noch im Büro saß, während die anderen schon zu Hause vor dem Fernseher die Füße hochlegten oder was sie sonst so taten.
Ich arbeitete durchaus gern, und so fiel mir nicht auf, dass ich immer mehr übernahm, was die anderen abschieben wollten, weil sie sich der Arbeit nicht gewachsen fühlten oder – und das gab es mehr als genug – weil sie einfach zu faul dazu waren. Es gab Kollegen, die schon dreißig Jahre auf die Pensionierung warteten und dementsprechend wenig taten. Und ich – jung und mit frischem Elan, wie ich war – kam ihnen gerade recht, um ihnen auch noch das Wenige abzunehmen, was sie tun mussten.
Das wäre ja alles noch gegangen, wenn ich für meinen Einsatz durch entsprechende Gehaltserhöhungen oder Beförderungen belohnt worden wäre. Aber so war es nicht. Eine einfache Sachbearbeiterin schien weder ein ordentliches Gehalt noch eine Beförderung verdient zu haben.
Wie einen Schlag ins Gesicht empfand ich es, als dann mein Chef auch noch die Bezahlung der Überstunden reduzieren wollte. Zwar sollte ich weiterhin Überstunden machen, aber die schon angesammelten Überstunden sollten zur Hälfte gestrichen werden. Ohne Bezahlung. Ich sollte unterschreiben, dass ich zum Wohle der Firma darauf verzichtete.
Das war das erste Mal, dass ich zumindest leise protestierte. Dennoch ließ ich mir diese Verfahrensweise aufdrücken, weil ich mittlerweile Angst um meinen Job hatte. Das, was mir früher eine gewisse Freiheit garantiert hatte, war verloren gegangen. Wenn ich früher gedacht hatte, dass ich immer einen anderen Job finden würde, dachte ich jetzt: Wer weiß, ob dich noch jemand nimmt, nachdem du schon so lange immer nur dieselbe Arbeit gemacht hast. Und dann noch nicht einmal eine besonders qualifizierte.
Also verstrickte ich mich immer mehr in die Abhängigkeit von einem festen Job, der mir noch nicht einmal gefiel. Je länger ich ihn ausübte, desto weniger.
Jahr um Jahr ging das so weiter, und wie ein wirkliches Möbelstück setzte ich Staub an. Und ich staubte mich noch nicht einmal mehr ab . . . In meinem Kleiderschrank gab es immer die gleichen Ensembles, die fürs Büro geeignet waren. Die etwas auffälligeren Kleidungsstücke, die ich früher noch einmal gern auf einer Party oder beim Ausgehen getragen hatte, hatte ich mittlerweile zur Altkleidersammlung oder in den Second-Hand-Shop gegeben, und ich kaufte mir nur dann etwas Neues, wenn ein altes Kleidungsstück kaputtging. Nur so aus Spaß, wie ich es früher getan hatte, ging ich nie mehr einkaufen.
Seit dem Gespräch mit meinem Chef wegen der Überstunden wurde ich immer öfter krank. Oh nein, ich saß nicht zu Hause, machte absichtlich ›blau‹ und genoss es! Ich wurde wirklich krank. Wie die meisten hatte ich über die Jahre so einmal jährlich meine Grippe gehabt und vielleicht noch einmal eine andere Kleinigkeit. Jedenfalls war ich nicht sehr oft krank gewesen und noch weniger oft war ich zu Hause geblieben. Die Arbeit war ja sooo wichtig! Ich konnte doch nicht einfach drei Tage zu Hause bleiben und meine Krankheit auskurieren, dann wäre ja die Firma zusammengebrochen!
In gewisser Weise war es auch in meinem eigenen Interesse, denn während ich abwesend war, übernahm niemand meine Arbeit. Das hieß, ich kam an einen überquellenden Schreibtisch zurück, der mich erst einmal wieder ein paar Tage zu Überstunden zwang, die auch nicht gerade zu meiner endgültigen Gesundung beitrugen. So schleppte ich mich mit einer ganz einfachen Erkältung oft wochenlang herum, wurde immer missmutiger, versuchte das aber meinen Kollegen nicht zu zeigen – denn so etwas tut man nicht, nicht wahr? So war ich erzogen – und schaffte die Arbeit vor lauter Schwächegefühl kaum. Wenn ich nach Hause kam, halfen mir nur noch ein heißes Bad und eine Menge Tabletten, damit ich schlafen konnte. Den Schlaf der Erschöpfung.
Eines Samstagsvormittags ging ich dennoch früh in die Stadt, weil ich ein paar neue Schuhe brauchte. Ich wollte den Rummel der üblichen Samstagseinkäufer vermeiden, und deshalb war ich schon um neun Uhr auf der Haupteinkaufsstraße. Es war noch relativ ruhig, und ich schlenderte von Schuhgeschäft zu Schuhgeschäft.
Gerade hatte ich in einem der üblichen Ausstellungsregale vor der Tür eines Geschäftes einen Schuh gefunden, der mich interessierte, und hielt mich mit einer Hand am Gitter fest, während ich mit der anderen meinen rechten Schuh auszog, um das Modell anzuprobieren – ich sah wahrscheinlich aus wie ein Storch auf einem Bein –, als mich jemand von hinten ansprach:
»Ja, Christiane, bist du’s wirklich?«
Ich fiel fast um, während ich versuchte, mein Gleichgewicht zu halten und mich gleichzeitig nach derjenigen umzudrehen, die mich angesprochen hatte. Ich schaffte den Balanceakt nicht und stand dann mit einem nicht beschuhten Fuß auf der Straße, während ich in der linken Hand meinen alten Schuh und in der rechten den neuen hielt, den ich hatte anprobieren wollen.
»Oh, das tut mir leid!«, lachte Sabine, eine alte Bekannte aus Party-Tagen, die ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte.
Ich kam mir sehr komisch vor, wie ich da so stand, eher eine Witzfigur als eine erwachsene Frau. Ich ließ meinen alten Schuh aus der Höhe, auf der ich ihn hielt, einfach auf die Straße fallen und schlüpfte etwas ungeschickt hinein.
»Ich freue mich, dich zu sehen«, fuhr Sabine freudestrahlend fort, während sie mich beim Balancieren beobachtete. »Wie geht es dir denn?«
Ich schämte mich schrecklich, dass ich mich so tolpatschig angestellt hatte, und wollte schon stottern, dass es mir gut gehe – wie man halt so üblicherweise unehrlich auf diese Art von Frage antwortet –, aber im letzten Moment entschied ich mich anders. »Nicht so besonders«, antwortete ich deshalb wahrheitsgemäß.
»Ja, so siehst du auch aus«, erwiderte sie unerwartet direkt. »Wie wäre es mit einem Kaffee? Ich wollte gerade frühstücken