Das Mundschloss
Von Simone Dräger
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Über dieses E-Book
Eine Irrfahrt führt sie in ihrer Jugend von einer Psychiatrie zu Essstörungen und später ins Kinderheim. Hier beschließt Simone, sich selbst zu therapieren und fängt an, Tagebuch über ihre Vergangenheit zu führen. Stets hatte sie gespürt, dass die vielen „Diagnosen“ falsch waren. Warum reden die anderen Kinder einfach so drauf los? Warum werden Hallo, Danke, Bitte zu demselben bedrückenden Problem wie jede denkbare andere Situation mit Menschen?
Später, als sie 17 ist, fällt durch eine Autoradiosendung ein relativ unbekanntes Wort, welches ihr hilft, den Grund für ihr Verhalten zu verstehen: selektiver Mutismus.
Simone Dräger
Simone Dräger, geboren am 22.2.1986 in Solingen. Das Mundschloss (2015), Mutismus: Angst vor!? Einer Erklärung auf der Spur (2016), Johannes macht Ballett (2016), Artikel: Mutismus in Bewegung (2015), Mutismus: Angst vor!?(2017) In Mutismus.de Kein Wort, niemals in Brigitte (2012) von Christiane Teetz Simone spricht nicht (2015) WDR Beitrag Lokalzeit, Beate Termühlen Stille Stimmen- Ein Film über das nicht sprechen (2016) Ute Seitz
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Buchvorschau
Das Mundschloss - Simone Dräger
kann.
00. Das Rätsel
Das Schreiben fing mit einem roten Plastikordner und ein paar Blättern Papier an, die auf meinem schwarzen Schreibtisch neben einem Berg an Hausaufgaben lagen. Damals war ich vierzehn Jahre alt und wohnte vorübergehend in einem Kinderheim. Die meiste Zeit des Tages verbrachte ich dort am Schreibtisch. Ich wollte alles bisher Geschehene aufschreiben und dabei herausfinden, was es war, das mich zwei Jahre zuvor in eine Magersucht getrieben hatte. Außerdem wollte ich etwas machen. Hier im Heim konnte ich ja nichts tun, außer abwarten und aushalten. Während ich schrieb und nachdachte, merkte ich, dass es da etwas gab, was sich nicht ausdrücken ließ – viele Gefühle und Gedanken, die innerhalb von Bruchteilen von Sekunden abliefen und kleine Gefühlsachterbahnen bedeuteten, die mich immerzu beschäftigten und in einen unangenehmen, irgendwie unlebhaften Zustand brachten. Jedoch erzählte ich niemandem von den ganzen Gedanken, wieso sollte man auch jemandem seine alltäglichsten, beinahe sekündlich ablaufenden Gefühle erklären? Die hatten andere doch sicher auch. So dachte ich. Dennoch gab es Situationen und Zeitspannen, von denen ich mir wünschte, dass es sie nicht gäbe. Zum Beispiel war da die Angst gewesen, wenn ich aus der Schule gekommen war und zu den Nachbarn ging, weil meine Mutter bzw. meine Eltern arbeiten mussten. Schon auf dem Rückweg, bei dem ich einen steilen Berg hochging, an unzähligen Häusern und Autos vorbei, spürte ich eine starke Anspannung und Angst, „Hallo sagen zu müssen, wenn ich das Haus der Nachbarn betrat. Wer würde aufmachen? Eines von den anderen vier Kindern oder eine der Tagesmütter? Die blonde Antonia oder die rothaarige Maja? Sollte ich eigentlich Du sagen oder Sie? Ich schwitzte, weil ich auf dem Schulweg so schnell marschierte aus Angst vor „bösen Männern
und ich wechselte immer wieder die Straßenseite, wenn mir jemand begegnete, vor allem aber auch aus Nervosität wegen des inneren Films, was mich alles gleich erwarten würde.
Würde mir jemand Essen auf den Teller legen, wobei ein „Danke erwartet würde? Musste ich jemandem Bescheid sagen, wenn ich nachmittags nach Hause wollte? Wieso blieb so ein „Kloß
in meinem Körper stecken, während die anderen Kinder munter von der Schule erzählten? Vom schnellen Laufen bekam man Durst – nicht gut! Denn das bedeutete, stark darauf zu hoffen, dass mir jemand etwas zu trinken anbot! Jemanden danach fragen, das konnte ich nicht. Aber auch das Getränk eingegossen zu bekommen war sehr unangenehm – eben wegen des erwarteten „Danke. Natürlich wollten die gewöhnliche Begrüßung und die anderen „Formeln für den Umgang
niemals funktionieren, was bei mir ein dauerhaft schlechtes Gewissen hinterließ. Getränke ziehen üblicherweise einen Toilettengang nach sich, und auch das war wieder etwas Schwieriges. Wann und wie sollte ich es sagen oder einfach gehen? Der Schritt etwas in dieser Hinsicht zu tun war für mich wie die Überwindung vom 10-m-Turm zu springen.
Aber dieses Gefühl war kein unbekanntes, es tauchte ständig auf: in der Schule, auf dem Schulhof, im Klassenzimmer, auf dem Schulweg, in Geschäften … oder einfach immer dann, wenn ich Menschen sah, die mich ansprechen könnten.
Beim Füllen der Seiten in meinem roten Plastikordner erschienen mir weitere Bilder von bisher Gewesenem. Ich zerbrach mir den Kopf darüber: Wieso redeten die anderen Kinder immer so drauf los? Wie fiel ihnen immer etwas ein? Wie und wieso sprachen sie andere Kinder an? Warum ließ ich am liebsten meine Jacke an, während meine Mutter wollte, dass ich sie ausziehe? Es schien einen Bruch zwischen mir und den anderen zu geben. Ich konnte nicht so sein wie sie. Aber vor allem fühlte ich mich unfrei.
Was veranlasste, dass es mir unangenehm schien, alleine auf Toilette in einem Café zu gehen? Warum blieben solche „aufregenden Momente" so lange in mir gespeichert? Mutter, Vater und Omas machte es doch stolz, wenn man dies alleine konnte. Bei mir gab es überall Hürden, die Angstgefühle auslösten. Am liebsten hätte ich alles vermieden. Deswegen ging ich auch lieber in kein Café: um gar nicht erst in die Situation zu kommen mit der Toilette – oder gar dem ganzen Bestellvorgang.
Ich merkte umso mehr, dass ich anders war, je älter ich wurde. Am meisten daran, dass andere Kinder immer selbstständiger wurden und sich frei in der Welt umherbewegten. Ich konnte mich nicht so verhalten, wie es von mir erwartet wurde. Ich verabredete mich nicht mit anderen Mädchen, um mit ihnen schwimmen zu gehen oder ins Kino. Das schien mir wie eine ganz fremde Welt und solch ein Versuch hätte mich viel Kraft gekostet. Millionen Mal hätte ich am liebsten gesagt: „Hilfe! Hallo Leute, das, was ihr von mir seht, so bin ich eigentlich gar nicht!!!"
Nun saß ich schreibend in dem Kinderheim, um genau das zu schaffen und zu bewältigen; „jugendlich sollte ich werden. So lautete der Beschluss von der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der ich zuvor acht Monate verweilt hatte. Eher durfte ich nicht mehr zurück nach Hause … Meine Eltern hatten Angst, dass ich in den Zustand von vor dem Psychiatrieaufenthalt zurückfiele. Und eigentlich sollte ich jetzt auch nicht schreiben, sondern mit anderen irgendwo „abhängen
.
Ich kam mir vor wie eine ferngesteuerte Puppe, die hier bloß das richtige „Outfit bekommen sollte, damit „alles gut
sei. Aber innerlich fühlte ich mich wie eingemauert, angespannt und erstarrt und das, obwohl ich rund um die Uhr von anderen Menschen umgeben war – was mich eigentlich dem Schneckenhaus entreißen sollte.
Nein, empfand ich, alles, was ihr anderen von mir seht, das bin doch gar nicht ich! Wie eingeschnürt fühlte ich mich, von ständiger Unterdrückung belastet. Aber du musst durchhalten, sagte ich mir. Du willst doch Schauspielerin werden, das ist doch dein größter Wunsch! Endlich könnten dann alle sehen, wer ich in Wahrheit bin und was ich leisten kann!
Aber wie, bitte wie, soll ich diesen Traum erreichen, welche ersten Schritte tun auf dieses Ziel hin? Wie meine Wünsche äußern? Wie jemanden anrufen? Wie mich verhalten in einer neuen Gruppe? Also warten, wieder warten – und aushalten.
Ich versuchte nun, mein Problem möglichst präzise zu formulieren. Aber meine Gedankengänge schienen sich ineinander zu verwickeln, so dass ich sie nicht recht fassen konnte. Ging es denn nicht anderen Menschen ähnlich? War ich wirklich anders oder bildete ich mir das nur ein? Strengte ich mich einfach nicht genug an?
Für mich war diese innere Versperrtheit das Hauptmotiv dafür, dass ich mich nicht gut fühlte, aber wie genau dieses schriftlich erklären? Ich sah immer wieder den Unterschied vor meiner Nase: So viele Menschen und Kinder und alle Personen hier im Kinderheim waren so unbeschwert in ihrem Verhalten. Sie erzählten, was sie bewegt, und Floskeln wie „Hallo und „Danke
schienen so selbstverständlich wie auch Personen beim Namen zu nennen.
Zu Hause war ich ein anderer Mensch! Man könnte sagen „ganz normal. Ich redete, ohne nachdenken zu müssen, nahm Sachen ganz anders auf und war lebhaft und kreativ. Allerdings konnte ich auch nur meine Mutter mit „Du
ansprechen. Bei allen anderen fiel es mir ansteigend schwerer. Aber das konnten die im Kinderheim nicht sehen. Es legte sich ein innerer Schalter um und ich war ein anderer Mensch. Zuvor in der Psychiatrie kannte man mich nur so: steif und angepasst! Was ich damit meinte, wenn ich beschrieb, mich „leer zu fühlen, wusste auch niemand so genau. Mir wurde entweder vorgeschlagen, mich „zu trauen
, oder ich wurde gefragt, was mir denn dagegen helfen würde. Ich hatte keine Antwort. Sich zu trauen schien mir auch „sinnlos, denn wie einem „Roboter
Seele einhauchen? Das hatte für mich nichts mit „trauen" zu tun, sondern auch mit einem körperlichen Problem! Deswegen versuchte ich mir erst mal selbst zu helfen, indem ich alles zu Papier brachte, was mir einfiel. Mit meinen frühesten Erinnerungen fing ich an.
01. Verkleiden
Ich hatte einen blauen Plastiksack; Tücher, Tüllstücke, Stöckelschuhe, Ketten von der Oma und Verkleidungssachen waren darin. Alles Utensilien, die, wie die Laternen auf einem Pfad, auch später immer wieder in unterschiedlicher Gestalt aufleuchteten und den Weg wiesen. Als kleines Kind wandelte ich damit verwandelt durch die unterschiedlichsten Schauplätze in unserem Haus. Denn das war recht groß und hatte ganz unterschiedliche Zimmer, wie jeweils ein anderes Land – wenn man das mit kindlicher Phantasie beschreiben würde. Darin fanden Klamottenverkauf, Schule mit Kuscheltieren, Verreisen auf Inseln, Bootfahren mit umgedrehten Plastikhockern, Königin sein und „Wetten, dass..?"-Moderationen und endlose Gespräche mit imaginären Personen statt (zum Leidwesen meiner zuhörenden Mutter, die zu der Zeit noch Hausfrau war in diesem riesigen Haus und hauptsächlich alleine).
Schlagartig anders wurde ich, sobald fremde Personen zu uns in das Haus kamen. Ich versteckte mich sofort unter dem Tisch, über dem eine Decke bis zum Boden hing, oder quetschte mich wie eine Katze auf einen Stuhl, dass man mich nicht mehr fand, oder kletterte panikartig in einen Wandschrank. Ich wollte dann gar nicht da sein, damit ich nichts gefragt wurde, auf was ich hätte antworten müssen. Ein panikartiges Gefühl, wie bei einer Phobie, überstürzte mich dabei – was ich selber nicht verstand. Ähnliches passierte auch außerhalb von zu Hause, nur gab es da ja keinen Tisch oder Schrank: Traf meine Mutter andere Leute, versteckte ich mich unter ihrem Mantel und wich nicht von ihrer Seite. Auf gar keinen Fall wollte ich „Hallo sagen! Meine Mutter versuchte mir das zwar immer beizubringen, doch schämte ich mich schon, wenn sie das nur ansprach, weil ich es als rasend „peinlich
empfand.
Manchmal erledigte meine Mutter ein paar Einkäufe mit dem Auto, bei denen ich immer mitfuhr. Ich fragte sie schon immer vorher, wo sie hinfährt, damit ich wusste, auf was ich mich innerlich alles vorbereiten musste. Große Angstminuten hatte ich, wenn wir in die Metzgerei fuhren. Beim Betreten des Geschäftes fand ich es gar nicht schön, den Frauen hinter der Theke zuzusehen, den Wurstgeruch zu riechen und die Kunden zu beobachten, die alle irgendwie mit den Verkäuferinnen im Gespräch waren. Wenn meine Mutter dann bedient wurde, wartete ich voller Anspannung auf den Moment, in dem man als Kind gefragt wird, ob man eine Scheibe Wurst haben möchte – denn da wusste ich, dass es gefordert sein würde, „Danke zu sagen. Ich beobachtete immer gebannt, wie die Verkäuferin die Gabel in den Wurststapel pikte, mir die Wurst hinhielt und dann (!?) … übernahm meine Mutter meistens das „Danke
für mich und die Verkäuferinnen sagten oft, „es sei nicht schlimm. Beim Rausgehen sagte ich fast nie „Tschüss
, obwohl die Verkäuferinnen es extra zu mir sagten aus Freundlichkeit. Meistens hatte ich später ein noch größeres Schuldgefühl, weil ich noch nicht mal „Tschüss gesagt hatte, obwohl sie schon so freundlich waren. Das musste dann erst einmal verarbeitet werden. Und blieb aufgrund des negativen Gefühls mehrere Stunden präsent. Deshalb wünschte ich mir immer, doch bitte keine Wurst angeboten zu bekommen, damit die ganzen peinlichen Situationen einfach wegfielen. Die andere Möglichkeit wäre gewesen, im Auto alleine sitzen zu bleiben, während meine Mutter ins Geschäft ging, doch das konnte ich auch nicht, da ich oft Angst vor „Entführern
hatte. Unbehagen bereitete es mir auch jedes Mal, wenn meine Mutter die Idee hatte, ein Eis im Hörnchen zu kaufen. Meine Lösung war: Ich wollte gar kein Eis, und wenn ich auch eins gewollt hätte – ich verzichtete meistens lieber. Selbst wenn sich nur meine Mutter ein Eis kaufte, hielt ich drei Meter Abstand zu der Bedientheke, um bei der Verkaufssituation nicht dabei zu sein, um nicht eventuell „Nein sagen zu müssen oder die Erwartung zu bemerken, dass ich als Kind „doch Eis zu wollen hätte
. Kaufte mir meine Mutter eins, war es sehr nervenaufreibend, da wieder ein „Danke" erwartet wurde. Es fiel immer ein riesiger Stein von meinen Schultern, wenn die Verkaufssituation vorbei war.
Mit anderen Kindern spielen wollte ich auch überhaupt gar nicht. Vor ihnen hatte ich Angst und ich wich ihnen möglichst aus. Unangenehm empfand ich deswegen auch z. B. das Wartezimmer beim Kinderarzt. Dort waren oft andere Kinder, die einen zum Mitspielen einluden, indem sie Bauklötze, Bücher oder Puppen auf den Schoß legten. Das brachte mich immer in einen Zwiespalt, weil ich nicht unhöflich sein wollte, aber auch nicht mitspielen wollte und konnte. Spielplätze waren genauso ein gefürchteter Ort. Auf einem solchen Platz sollten möglichst wenige Kinder sein und möglichst keine „Gefahr" bestehen, mit ihnen spielen zu müssen. Aber mit anderen Kindern zu schaukeln und zu rutschen ging ja gar nicht ohne Kommunikation – ob verbal oder nonverbal! Dieses Alleine-unter-Menschen-Sein und diese ungeschriebenen Regeln : Man macht einem anderen Kind Platz; ein Kind wartet, bis man an einem Spielgerät fertig ist – versetzten mich in eine schmerzhafte Spannung, ganz ohne dass auch nur ein einziges Wort gesprochen werden musste.
Meine Mutter oder meine Oma (bei der ich mich ansonsten auch wohl und frei fühlte und nun sehr oft untergebracht war, da meine Mutter versuchte, ein Medizinstudium zu beginnen) nahmen mich oft mit zum Einkaufen in den Supermarkt. Ich mochte die großen Geschäfte mit den vielen unterschiedlichen Packungen und Produkten, weil ich immer sehr neugierig war. Aber: Meine Mutter oder meine Oma durften sich im Supermarkt nicht weit von mir entfernen; am liebsten ging ich an ihrer Hand! Deutlich spürte ich, dass das meiner Mutter nicht recht war: Ein Kind soll doch zur Selbstständigkeit erzogen werden! Aber auch ich saß mit durchaus gemischten Gefühlen im Kindersitz des Einkaufswagens: Zum einen war da der kindliche Spaß, der durch eine solche „Fahrt" ausgelöst wurde, zum anderen aber überkam mich ein panisches Gefühl bei dem bloßen Gedanken, irgendwo abgestellt zu werden, während Mutter oder Oma sich vom Wagen – und damit von mir – entfernten.
Wenn Kinder ausschließlich mit der Mutter verbunden sind, sieht man es nicht gerne. Es könnte ja überbehütet und verweichlicht werden. Und auch eine Mutter möchte ja ihr Eigenleben haben. Besonders meine. Deshalb war sie über mein „plötzlich" komisches Verhalten immer sehr verwundert. Natürlich merkte ich das – was mich selbst in eine verzweifelte Lage brachte und dazu ein schlechtes Gewissen nach sich zog, da ich sie als kleines Kind doch