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Im Herzen die Gier (Furien-Trilogie Band 3)
Im Herzen die Gier (Furien-Trilogie Band 3)
Im Herzen die Gier (Furien-Trilogie Band 3)
eBook329 Seiten4 Stunden

Im Herzen die Gier (Furien-Trilogie Band 3)

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Über dieses E-Book

Die Temperaturen sind mild in Ascension, der idyllischen Kleinstadt, die Fehler nicht verzeiht. Doch der Frühling bringt kein neues Leben, sondern drückt gierig wuchernd alles nieder, was sich den Rachegöttinnen entgegenstellt. Der Albtraum, den Emily Winters seit Monaten durchlebt, scheint kein Ende zu nehmen. Noch immer treiben die drei Furien ihr tödliches Spiel mit den Bewohnern von Ascension - und sie hassen es, zu verlieren.

Obwohl sie erbittert gegen den Einfluss der Rachegöttinnen kämpft, wird Emily ihnen immer ähnlicher. Und ihr bleiben nur noch wenige Tage bis zu ihrer endgültigen Verwandlung.
Dunkle Visionen haben den geheimnisvollen Crow fest im Griff. Steht er auf Emilys Seite oder auf der der Furien?
JD erkennt endlich, dass er Emily noch immer liebt, und tut alles, um sie zu retten. Doch begreift er wirklich, worauf die Racheschwestern aus sind?
Wir alle tun Dinge, die uns irgendwann leidtun - aber manche büßen mehr als andere.

"Im Herzen die Gier" ist der langerwartete Abschlussband der Jugendbuch-Trilogie von Elisabeth Miles über Rache, Furien und Liebe. Ein spannender Mystery-Thriller, der Mythologie mit Mord verbindet. Die beiden Vorgängertitel lauten "Im Herzen die Rache" und "Im Herzen der Zorn".
SpracheDeutsch
HerausgeberLoewe Verlag
Erscheinungsdatum11. Aug. 2014
ISBN9783732001910
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    Buchvorschau

    Im Herzen die Gier (Furien-Trilogie Band 3) - Elizabeth Miles

    Titelseite

    Prolog

    Crow spürte die Vision, als er ohne Scheinwerferlicht aus Ems Einfahrt fuhr. Wenn er sich beeilte, würde er vielleicht bis nach Hause kommen, bevor sie ihn erreichte. Langsam gewöhnte er sich an dieses Gefühl, das nach und nach in sein Hirn drang, an das Kribbeln und den darauffolgenden stechenden Schmerz, wenn die seltsamen Bilder Besitz von ihm ergriffen. Nur dass die Visionen in letzter Zeit schlimmer wurden, quälender. Im Moment fühlte es sich an, als klemmte sein Kopf in einem Schraubstock. Die Straße verschwamm vor seinen Augen.

    Er würde es nicht schaffen.

    Ungefähr zwei Kilometer von Ems Haus entfernt hielt er am Straßenrand. Es war eine mondlose Nacht und der Wald erhob sich wie eine schwarze Wand vor den Autofenstern. Crow atmete tief durch, während er das Lenkrad des Pick-ups fester umklammerte. Explodierender Schmerz in seinem Kopf. Sterne. Bunte Farben.

    Sie kam. Gleich, jeden Moment …

    Drea war tot. Er konnte es noch immer nicht fassen. Sie war in einem Feuer ums Leben gekommen. Crow hatte irgendwie gewusst, dass das passieren würde. Genau wie er gewusst hatte, dass der Außenseiterin der Schule, Sasha Bowlder, etwas Schlimmes zustoßen würde … und dass hier in Ascension etwas viel Schlimmeres unter der Oberfläche brodelte.

    Em steckte in Schwierigkeiten, so viel hatte er ihr gerade in ihrem Zimmer erzählt. Crow versuchte, die Erinnerung daran zu verdrängen, wie bestürzt sie ausgesehen hatte, wie schmal und blass, und wie gerne er sie in den Arm genommen hätte. Aber er hatte bloß wiederholt, was Drea ihm gesagt hatte: Du bist dabei, eine von ihnen zu werden.

    Em musste es einfach erfahren. Drea hatte erfolglos versucht, Emily Winters davor zu bewahren, sich in eine Furie zu verwandeln. Stattdessen war sie selbst in der Turnhalle der Ascension Highschool verbrannt.

    Der Brandgeruch schien ihm überallhin zu folgen. Crow hatte das Gefühl, er schnürte ihm die Luft ab, presste seine Lunge zusammen – er musste ins Freie. Mit einem Schwung öffnete er die Fahrertür, deren rostiges Quietschen durch den Wald schallte.

    Unter seinen Stiefeln knirschte feiner Schotter, als er auf die Straße trat, und sein Kopfschmerz vervielfachte sich und ließ ihn rückwärtsstolpern, bis er sich mit den Händen an der Ladefläche des Pick-ups abstützen konnte. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück, kam nicht gegen das Schwindelgefühl an.

    Spiegel. Spiegel vor ihm, hinter ihm, überall um ihn herum. Doch es ist nicht sein eigenes Spiegelbild, das er darin sieht. Es ist Em. Die schöne, intelligente Em wirbelt da im Kreis herum. Sie tanzt vor sich hin, aber sie ist nicht sie selbst. Es ist ein anderes Mädchen – mit zarten Gliedmaßen, schwarzbraunem Haar und Wimpern wie winzige Federn. Aber nicht Em. Sie sehen fast gleich aus, doch irgendetwas stimmt nicht mit ihr.

    Crow merkte, wie ihm die Knie weich wurden und dann wegsackten. Auf allen vieren rang er nach Atem, während sich kleine scharfe Steinchen in seine Handflächen bohrten. Rauch. Er roch Rauch. Meinte, daran zu ersticken.

    Begleitet von einem schrillen Schrei zerspringt das Glas. Überall ist Rauch, raubt ihm den Sauerstoff. Aus den Scherben erheben sich mit stummem Flügelschlag drei Krähen und entschwinden in die Nacht.

    Crow keuchte, als die Vision ihn in einer letzten Hitzewelle zurückließ. Während er zitternd auf die Beine kam und sich den Splitt von den Händen wischte, drang glasklar ein Gedanke aus all dem Rauch und Chaos in seinen Kopf: Ich muss sie beschützen.

    Rahmen oben

    Erster Akt

    Schlaflos

    oder

    Die Narben

    Rahmen unten

    Kapitel 1

    Es passierte so schnell. Ein kleiner Funkenregen sprühte aus der Fassung. JD zog rasch die Hand weg, allerdings nicht rasch genug; Schmerz durchzuckte seine Finger und die Hitze jagte ihm eine Gänsehaut den Arm hinauf. Verflixt. Er pustete sich auf die Hand und schüttelte sie vor der Brust. Das gibt bestimmt eine Narbe.

    Er starrte auf die Stelle zwischen Motorhaube und Scheinwerfer und prägte sich ein, wie er die neue Glühlampe drehen musste, um sie richtig einzusetzen – idealerweise ohne sich dabei die Fingerspitzen zu verbrennen. Diese Birnchen waren empfindlich und man hantierte besser nicht allzu lange damit herum, bevor man sie einschraubte, sonst waren sie innerhalb weniger Tage schon wieder durchgebrannt. In letzter Zeit fiel es ihm schwer, vorsichtig zu sein; er hatte das Gefühl, alles, was er anfasste, kaputt zu machen.

    Heute Morgen war es besonders schlimm. Schon seit einer Stunde stand er über den Mustang gebeugt und friemelte unter der Motorhaube an dieser Halterung herum, doch in Wirklichkeit genoss er einfach die Stille beim Schrauben. Ungeachtet des feuchtkalten Frühlingsmorgens hatte er nackte Arme und seine Jeans war mit schwarzen Flecken übersät. Er wusste, dass er bald hineingehen und sich umziehen musste. So ölverschmiert konnte man schließlich nicht auf einer Beerdigung erscheinen. Aber er schob es auf, so lange er konnte.

    »JD? JD, mein Schatz, meinst du nicht, es ist an der Zeit hereinzukommen?« Die sanfte Stimme seiner Mutter schwebte zögerlich hinaus auf die Einfahrt. Er blickte nach unten und merkte, dass er schon wer weiß wie lange reglos den Schraubenzieher umklammerte. Er warf ihn mit Wucht in den Werkzeugkasten, wo er mit einem lauten Scheppern landete. Während er die Hand abwechselnd zur Faust ballte und wieder öffnete, steuerte er auf das Haus zu. Offensichtlich ließ es sich nicht länger hinauszögern.

    Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben war er unzufrieden mit der Kleiderauswahl in seinem Schrank: zu viele Farben und Muster, viel zu viel verrücktes Zeug. Nicht ein einziges ordentliches Hemd, nicht eine Krawatte, auf der keine Sonnenbrillen, Schildkröten oder sonst etwas Albernes prangten. Besaß er denn wirklich gar nichts, das er zu Drea Feiffers Trauerfeier anziehen konnte?

    Er würde sich etwas aus dem Kleiderschrank seines Vaters borgen müssen. Sein Dad war viel größer als er und JD würde aussehen wie ein kleiner Junge, der sich verkleidet hatte. Dabei fühlte er sich ohnehin schon, als spielte er eine Rolle – ungefähr so, als versuchte er, das Leben eines anderen zu führen. Jede Sekunde rechnete er damit, aufzuwachen und festzustellen, dass die Woche seit dem Frühjahrsfest und dem Feuer, das die Turnhalle der Ascension Highschool verschlungen hatte, ebenso Einbildung war wie Dreas Tod.

    Eine Woche. Eine Woche im Schwebezustand, voller Albträume und Schuldgefühle. Eine Woche, seit er Em aus Rauch und Flammen gerettet hatte – und Drea dabei zurücklassen musste. Ein Schauer schlechten Gewissens lief ihm den Rücken hinunter. Er riss die Schranktür auf und versuchte, sich auf die Seidenkrawatten seines Dads – in sämtlichen Varianten von Schwarz, Blau, Braun und Grau – zu konzentrieren.

    Nach dem Unglück war die Schule zwei Tage lang geschlossen geblieben, und auch als sie wieder aufgemacht hatte, war Em nicht zum Unterricht zurückgekehrt. »Sie wird sich den Rest der Woche Zeit nehmen und dann mal sehen, wie sie sich fühlt«, hörte JD Ems Mom, Susan Winters, eines Abends zu seinen Eltern sagen. In der Schule grassierten die wildesten Gerüchte: Ems Lunge sei durch die Rauchvergiftung dauerhaft geschädigt. Sie hätte sich in dem Feuer schreckliche Brandverletzungen zugezogen und bliebe für immer entstellt. Die Ärzte hätten Ems schöne lange Haare abschneiden müssen, um die Brandblasen auf ihrem Kopf und an ihrem Hals behandeln zu können.

    JD wusste, dass nichts davon stimmte. Ems Verletzungen waren seelischer Art; die rasch aufeinanderfolgenden Tode von Sasha Bowlder und Chase Singer im letzten Jahr hatten sie schwer getroffen. Und jetzt … Drea und Em hatten sich zwar erst vor Kurzem angefreundet, aber die beiden Mädchen hatten sich gleich gut verstanden und JD spürte, dass Drea Em wirklich wichtig gewesen war. Was JD, offen gesagt, überraschte. Noch vorige Weihnachten, als sie zusammen im Kino gewesen waren, hatte Em Witze über Dreas Aufzug gemacht.

    Doch seitdem hatte Em sich verändert. Ascension hatte sich verändert.

    Und er hatte seit einer Woche nicht mehr mit Em gesprochen. Nur einmal hatte er sie ganz flüchtig gesehen: eine schemenhafte Gestalt, die an ihrem Zimmerfenster vorbeihuschte, das seinem direkt gegenüberlag. Sie hatte ausgesehen wie ein Geist. Ohne ihre langen braunen Haare hätte er womöglich nicht einmal erkannt, dass sie es war. Er war sich allerdings ziemlich sicher, sie heute in der Kirche zu sehen, wo sie ihrer Freundin Drea die letzte Ehre erweisen würde. Drea mit dem Undercut, dem schwarzen Nagellack, dem Nelkenzigarettengeruch und dem beißenden Spott.

    Es schnürte ihm die Kehle zu. Gott. Er würde sie vermissen.

    Er musste später unbedingt mit Em reden, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Er würde es nicht ertragen, sie auch noch zu verlieren.

    JD wählte die marineblaue Krawatte zu dem grauen Anzug, den er im Schrank seines Dads ausgegraben hatte. Klassisch mit Nadelstreifen, aber nicht übertrieben. Während er sich vor dem Spiegel seiner Eltern mit dem Knoten abmühte, betrachtete er sich von oben bis unten. In den Kleidern seines Vaters erkannte er sich kaum wieder. Das da im Spiegel hätte genauso gut ein Fremder sein können: mit nach hinten gegelten Haaren, Brille im Fünfzigerjahre-Stil und schwarz polierten Schuhen. Wie einer dieser Typen aus Mad Men. JD fragte sich unwillkürlich, ob Em sich diese Serie wohl auch ansah und ob er ihr im Anzug gefallen würde, ärgerte sich dann jedoch sofort darüber, wie oberflächlich er war.

    Er atmete tief durch, steuerte die Treppe hinunter und lief dabei so langsam wie möglich, als könnte er die Beerdigung damit aufschieben.

    »Der arme Walt«, sagte JDs Mom, als sie in den Familienkombi stiegen. »Zuerst seine Frau … und jetzt Drea.«

    »Das gibt ihm sicher den Rest«, stellte sein Dad nüchtern fest. »Er hat ja schon die letzten Jahre nur knapp überstanden.« Mr Fount und Mr Feiffer kannten sich von der Arbeit. JDs Dad kaufte den Fisch für sein Restaurant in Walt Feiffers Fischmarkthalle am Hafen in Portland. Im Laufe der Jahre hatte Mr Fount ab und zu Bemerkungen darüber gemacht, dass Dreas Dad frühmorgens nach Schnaps roch oder dass er ihn einmal dabei beobachtet hatte, wie er über einem Eimer Muscheln weinte.

    »Es ist schon ein furchtbarer Zufall …« JDs Mom verstummte und fingerte an ihrem Sicherheitsgurt herum.

    »Was denn?«, meldete Melissa sich vom Rücksitz aus zu Wort.

    »Na ja … Vor ein paar Jahren hat er mal einen Brand verursacht. Und Drea wäre dabei fast verletzt worden. Damals hatte er auch getrunken. Aber jetzt …«

    »Lass gut sein, Mom«, sagte JD.

    Er beobachtete vom Rücksitz aus, wie die Landschaft mit dem schmelzenden Schnee am Fenster vorbeisauste. Alles verändert sich.

    Im Grunde hätte jeder von ihnen in der Turnhalle umkommen können. Heute hätte seine Beerdigung sein können und das Einzige, was er mit seinen knapp siebzehn Jahren vorzuweisen gehabt hätte, wären ein Stapel herausragender Schulzeugnisse, ein paar Verdienste als Beleuchter beim Schultheater und jahrelanger Liebeskummer gewesen. Wegen einer einzigen Person.

    Em. Er kannte sie schon sein ganzes Leben lang und doch schien er sie seltsamerweise immer weniger zu verstehen. Er war sich sicher, sie in jener Nacht im Shopping-Monster zusammen mit einem anderen Kerl gesehen zu haben. In der Nacht, als sie sich bei der Feier am Lagerfeuer verabredet hatten, in der Nacht, als er sie über ihn lachen hörte. Und nicht nur mit irgendeinem Kerl, sondern mit Crow, dem angehenden Arschloch des Jahres.

    Em hatte sich von einem Idioten (Zach) direkt in die Arme des nächsten (Crow) geworfen, und das genau in dem Moment, als JD geglaubt hatte, er hätte vielleicht eine Chance. Es war zum Verrücktwerden und total demütigend und doch …

    Er musste das alles hinter sich lassen. Denn es führte absolut kein Weg daran vorbei: JD liebte Em. Schon immer. Ewig.

    Was auch passiert war.

    Sie waren Tür an Tür aufgewachsen, ihre Eltern waren schon seit ihrer Collegezeit befreundet. Von Urlauben über Fahrgemeinschaften bis hin zu gemeinsamen Abendessen: Ihre Familien machten alles zusammen. Und als Kinder waren JD und Emily unzertrennlich gewesen. Allerdings anders als Bruder und Schwester.

    Das lag vielleicht daran, dass er schon eine Schwester hatte.

    Er warf einen Blick auf die dreizehnjährige Melissa, die neben ihm saß und gerade eine SMS schrieb. Sie hatte diesen typischen selig-entrückten Ausdruck im Gesicht, der darauf hindeutete, dass sie wahrscheinlich noch den ganzen restlichen Abend simsen, chatten oder sonst etwas in der Art tun würde. Seine jüngere Schwester hatte ohne Zweifel hundert Prozent der Fount’schen Kontaktfreudigkeit geerbt.

    Mel hatte Drea gar nicht gekannt, abgesehen davon, dass sie ihr ein paarmal über den Weg gelaufen war, wenn sie zum Lernen vorbeikam. Aber JD hatte darauf bestanden, dass seine gesamte Familie mit zur Beerdigung kam, und seine Eltern hatten das ebenfalls für das Beste gehalten. Sie schienen zu spüren, wann man sie brauchte und wann nicht. Wenn Drea in der Nähe gewesen war, hatten sie dieses Gespür offensichtlich auch gehabt, wahrscheinlich weil sie Mitleid mit ihr hatten – sie wussten, dass ihre Mutter schon ganz früh gestorben und ihr Vater im Prinzip geistig abwesend war. Die wenigen Male, die Drea ihn besucht hatte, waren seine Eltern ihnen jedenfalls aus dem Weg gegangen, damit sie sich wohlfühlte.

    Oder vielleicht, weil sie annahmen, zwischen JD und ihr liefe etwas.

    So oder so, jetzt waren sie alle da, kamen mit zur Beerdigung, teilten das schmerzliche Gefühl mit ihm. Und dafür war JD ihnen dankbar.

    Er wusste, dass er froh sein konnte, sie zu haben.

    Trotzdem: Der einzige Mensch, den JD jetzt wirklich sehen wollte, war Em.

    Em gehörte irgendwie zur Familie und irgendwie auch nicht. Vielleicht war sie eher eine Verbündete. Der Zuckerguss auf seiner Torte. Ohne sie wäre sein Leben viel langweiliger gewesen, nur halb so schön. Als sie jünger waren, war sie jedes Mal diejenige gewesen, die sie in Schwierigkeiten brachte, und er derjenige, der sie wieder herausboxte. Sie hatte ihn angestiftet, um die Wette zu dem halb verrotteten Badefloß im Galvin’s Pond rauszuschwimmen; er hatte sie ermahnt, als es Zeit war, zum Ufer zurückzukehren, und sie huckepack getragen, als sie zu müde war, um nach Hause zu laufen. Sie hatte ihn überzeugt, dass es lustig wäre, dem Babysitter einen Streich zu spielen und sein Handy in einer Schüssel Wackelpudding zu versenken; er hatte sich den Mund fusselig geredet, damit sie keinen Ärger bekamen, als ihre Eltern wieder zu Hause waren. Ohne Em wäre JD bloß einer von diesen weltfremden Strebern gewesen, die bei Jugend forscht mitmachten. Mit ihr fühlte er sich heiterer. Glücklicher. Weniger wie ein Loser.

    Mit Em war er der Ritter im glänzenden … Retrolook.

    Tief in seinem Inneren musste JD sich eingestehen, dass die Wurzeln seines exzentrischen Selbstwertgefühls in seiner Freundschaft zu Em lagen. In der Middleschool hatten Em und die stets aufgekratzte Gabby Dove sofort Spitzenplätze in der sozialen Hierarchie eingenommen. Und während seine Schüchternheit und sein völliges Desinteresse an Sport ihm bei den Jungs nur Minuspunkte einbrachten, ließ Em ihn niemals fallen. Sie hatte auch dann noch Lust, zu Endlos-Filmabenden vorbeizukommen; sie kicherte weiterhin, wenn er sich neue Sprüche für ihre Glückskekse ausdachte. Er hatte auch seine eigenen Freunde: Ned, den er schon seit der Zeit bei den Pfadfindern kannte, und Keith, ein anderes Mitglied der Technik-AG. In letzter Zeit hatte er sich manchmal mit Aaron getroffen, der an den berufskundlichen Kursen an der Ascension teilnahm, um Automechaniker zu werden. Aaron hatte ihm ein paar super Tipps für sein Vorhaben gegeben, den Mustang instand zu setzen. Und natürlich Drea, mit der er durchs Geschichte-Pauken und ihre gemeinsame Vorliebe für Krimis Freundschaft geschlossen hatte.

    Irgendwann hatte JD erkannt, dass er keine besonderen »Bedingungen« erfüllen musste, damit Em Teil seines Lebens blieb. Sie urteilte nicht über ihn und erwartete auch nicht, dass er bestimmte Vorgaben erfüllte. Und das war der Grund, warum er ab einem gewissen Punkt angefangen hatte … er selbst zu sein. Er mochte alte Klamotten – eigentlich alles, was alt war: Retro-Uhren, klapprige Plattenspieler und jeglichen Kram, der nirgends mehr regulär verkauft wurde. Also trug er T-Shirts aus dem Secondhandladen. Er mochte Scheinwerfer, besonders solche fürs Theater, also meldete er sich freiwillig, um die Beleuchtung der Schultheaterstücke in die Hand zu nehmen. Er machte sein Ding und Em machte ihres und zwischendurch trafen sie sich, um in die Welt des jeweils anderen einzutauchen.

    Aber nun hatte er dieses Mädchen irgendwie verloren … schon seit den Weihnachtsferien.

    »Was hast du denn mit deiner Hand gemacht?« Melissas Stimme riss ihn aus seinem Tagtraum und er sah auf die roten Blasen, die auf seiner linken Hand prangten.

    »Bloß ein bisschen verbrannt«, antwortete er und zog den Ärmel herunter. »Könntest du dich bitte von diesem Ding da trennen, bevor wir reingehen«, fügte er mit einem Blick auf ihr Handy hinzu, während sie auf den Parkplatz vor der Kirche einbogen. Sie verdrehte die Augen, legte das Gerät aber auf den Sitz.

    Der Platz war überraschenderweise voller Autos. JD spürte, wie ihn ein Anflug von Wut durchzuckte. Als Drea noch gelebt hatte, war kaum jemand sonderlich nett zu ihr gewesen. Sie hatte als Spinnerin gegolten, zumindest nach den typischen Highschoolmaßstäben. Glaubten die Mitglieder der Ascension etwa, sie könnten etwas wiedergutmachen, wenn sie bei der Trauerfeier auftauchten? Er hasste es, wie die Leute sich immer erst dann kümmerten, wenn es schon zu spät war. Nachdem Sasha Bowlder sich umgebracht hatte, war es ganz genauso gewesen.

    Vielleicht war es ja einfach auch das schlechte Gewissen. Als Drea und Sasha noch lebten, hatten ihre Mitschüler über die beiden gelacht. Sie hatten sie beschuldigt, Hexen zu sein und mitternächtliche Rituale im Verwunschenen Wald abzuhalten; sie hatten getuschelt, sie würden sich nackt ausziehen und mit Blut bemalen. Vielleicht hatten die Schrecken der letzten Zeit seine Schulkameraden ja dazu gebracht, endlich den Arsch hochzukriegen.

    »Da drüben ist das Mädchen, das vor ein paar Wochen diesen schrecklichen Unfall hatte«, flüsterte seine Mom seinem Dad zu, der andächtig nickte. Es war Skylar McVoy, die da in einem übergroßen schwarzen Kleid, in dem sie klein und zerbrechlich wirkte, in die Kirche gehumpelt kam. Sie ging am Arm einer älteren Frau. JD schauderte. Er hatte Skylar kaum gekannt, bevor das Glasdach im Pavillon der Schulcafeteria auf sie herabgestürzt war. Inzwischen war dieser Teil des Gebäudes gesperrt und ihr Promistatus verblasst, nachdem sie mit schrecklichen, aber nicht lebensbedrohlichen Verletzungen davongekommen war.

    JDs Familie betrat nacheinander die Kirche und nahm auf einer der Bänke im hinteren Teil Platz, wobei JD, gefolgt von Melissa, bis ganz nach innen durchrutschte. Er schob die Hände tief in die Hosentaschen und versuchte angestrengt, nicht auf den offenen Sarg im vorderen Bereich des Raumes zu schauen. Melissa stupste ihn mit dem Ellenbogen an und legte den Kopf zur Seite. Ohne dass sie die Worte aussprechen musste, fragte ihr Blick: Geht’s dir gut? Er zeigte ihr ein Daumenhoch und gab sich die größte Mühe, so etwas wie ein Lächeln hinzubekommen.

    Aber es ging ihm definitiv nicht gut.

    Staubpartikel schwebten träge in dem Licht, das durch die Glasfenster fiel. Es war warm in der Kirche und viel zu hell. Die Mischung aus Weihrauchgeruch und dem Duft der Trauergestecke war ungewohnt. Seine Familie ging sonst nie zur Kirche. Er konnte keine bequeme Position finden, die Bank war zu hart und er hatte das Gefühl, völlig überhitzt zu sein. Während er sich aus seinem Mantel kämpfte, hätte er beinahe dem Mädchen neben ihm seinen Ellenbogen ins Gesicht gestoßen. »Tschuldigung«, raunte er.

    Das Mädchen war klein, hatte honigblonde Haare und ein elfenhaftes Gesicht. Es war komplett in Schwarz gekleidet, bis auf das hellrote Band, das es eng um den Hals gebunden trug. Er hatte es noch nie gesehen. Vielleicht gehörte es zu Dreas Freunden, die nichts mit der Ascension zu tun hatten. Drea hatte öfter Punkclubs besucht und nie ein Dubstep-Konzert ausgelassen und so alle möglichen Leute kennengelernt.

    »Macht nichts«, antwortete das Mädchen, das allerdings gar nicht aussah wie eine von Dreas Musik-Bekanntschaften. Es wirkte eher wie eine menschliche Barbie, beinahe schon zu perfekt. Sein Gesicht schien auf sonderbare Weise zu einem nichtssagenden Ausdruck erstarrt, wie bei einer der Puppen, mit denen Mel früher immer gespielt hatte. »Ich bin Meg.«

    »JD«, murmelte JD abwesend. Er war nicht in der Stimmung für Small Talk. Falscher Ort, falsche Zeit. Er überflog den Raum auf der Suche nach Em. Sein Herzschlag setzte aus. Da. Em und ihre Eltern saßen ziemlich weit vorne, zusammen mit Gabby und den Doves. Sie hatte den Kopf gesenkt und er konnte ihre Schultern ganz leicht beben sehen. Sie sah mitgenommen aus. Schön, aber mitgenommen.

    Alles verändert sich, dachte JD wieder. Das Leben war kurz und er durfte keine Zeit mehr verschwenden. Er musste Em verzeihen und ihr sagen, was er fühlte: dass er sie liebte. Schon vor Jahren war ihm klar geworden, dass er sie liebte. Er erinnerte sich genau an diesen Augenblick.

    Sie hatten auf dem Sofa in seinem Fernsehzimmer gesessen und für ihren Sozialkundekurs eine Dokumentation über die Todesstrafe angeschaut. Nur so eine langweilige Hausaufgabe. Er hatte den Film gerade ausschalten und eine DVD einlegen wollen. Doch als er sich umgedreht hatte, hatte er gesehen, wie ihr Tränen das Gesicht hinunterliefen.

    Und der erste überwältigende Drang, der ihn in dem Moment überkommen hatte, war, die Arme nach ihr auszustrecken und sie zu trösten. Aber gleichzeitig hatte er gespürt, dass auch er ihren Trost brauchte. Er hatte das Bedürfnis gehabt, den Duft ihres Haars zu riechen, sie hochzuheben, sie zu küssen und ihr zu versichern, dass alles gut werden würde. Stattdessen hatte er ihr ein paar Papiertaschentücher hingeschoben und sich mit klopfendem Herzen völlig verstört wieder dem Film zugewandt.

    Das war der Tag gewesen, an dem JD sich eingestand, dass er seine beste Freundin liebte.

    Der Gottesdienst begann mit einer kurzen Predigt und es dauerte nicht lange, bis sich ein heftiges Druckgefühl in JDs Brust aufbaute. Er spürte ein heißes Kribbeln hinter den Lidern und an der Nasenwurzel und zwang sich, zur Ablenkung im Raum umherzuschauen. Sein Blick schweifte von Ems Rücken zu dem dunklen, mit Seide ausgeschlagenen Sarg und den Bergen von Blumen im vorderen Teil des Raumes. Wahrscheinlich von trauernden – oder schuldbewussten – Mitschülern übersandt. Eines der Gestecke stach ganz besonders hervor: ein riesiger Strauß roter Orchideen. Sie wirkten seltsam grell neben all den anderen Blumen in gedeckten Creme- und Weißtönen und erinnerten ihn auf unangenehme Weise an Blut. Ihm drehte sich der Magen um.

    »… und nun heißen wir Dreas guten Freund Colin Roberts willkommen, der uns ein Lied vortragen wird, das er eigens für den heutigen Tag geschrieben hat.« JD schaltete zurück zum Geschehen und beobachtete, wie Crow zum Mikrofon ging, in der einen Hand seine Gitarre, während er sich mit der anderen die schwarzen Haare aus den Augen schob.

    Sieh mal einer an: das Arschloch des Jahres. Was fand Em bloß an diesem Typen? Was hatte Drea an ihm gefunden? Crow hatte nicht mal die Highschool zu Ende gemacht. Man munkelte, er wäre freiwillig gegangen, bevor er von der Schule geschmissen wurde. JD war Crow bisher nur ein einziges Mal begegnet, auf einer Party bei Drea. Sie hatten kaum miteinander gesprochen, deshalb wusste er lediglich zwei Dinge über ihn: Er spielte in einer Band und hatte sich früher mal richtig gut mit Computern ausgekannt. Ach ja, und er rauchte ’ne Menge Gras.

    Es war eine klare Sache für JD, dass er und Crow hinter demselben Mädchen her waren. Es war Crow gewesen, den Em in jener Nacht beim Shopping-Monster getroffen hatte. Und das hieß, es war Crow, dem er das

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