Tarmac: Apokalypse für Anfänger
Von Nicolas Dickner
4/5
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Über dieses E-Book
Arme Hope Randall: Nachdem Sie mit Ihrer Mutter in dem kleinen kanadischen Nest Rivière-du-Loup gestrandet ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten. Währenddessen begegnet sie dem gleichaltrigen Mickey: Sprössling eines Familienclans, der seit mehreren Generationen in der Betonherstellung tätig ist. Er ist verzaubert von Hopes roten Haaren, ihren Sommersprossen und ihren 195 IQ-Punkten. Hope wiederum findet Halt in den langen Abenden, die die beiden im Familienkeller von Mickeys Eltern verbringen und die sie vor den Wahnvorstellungen ihrer Mutter schützen. Doch Hope ist schließlich eine Randall, sie entkommt ihrem Schicksal nicht. Nachdem ihr ein Datum, der 17. Juli 2001, offenbart wird, macht sie sich auf eine lange Reise.
Nicolas Dickner
Nicolas Dickner (1972, Rivière-du-Loup, Quebec, Canadá) estudió Artes Plásticas y Literatura antes de viajar por América Latina y Europa y ejercer los más diversos oficios. También autor de relatos, se hizo conocido para el gran público gracias a su primera novela Nikolski (2005), que cosechó excelentes críticas y un gran número de premios literarios tanto en el original francés como en la versión inglesa. Apocalipsis para principiantes es su segunda novela y ha sido finalista del Gran Premio Literario Archambault, y está siendo publicada en varios idiomas. Nicolas Dickner vive actualmente con su familia en Montreal y es crítico literario y cronista en el semanario alternativo Voir.
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Nikolski Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Die sechs Freiheitsgrade Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
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Rezensionen für Tarmac
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Buchvorschau
Tarmac - Nicolas Dickner
Nicolas Dickner
TARMAC
Apokalypse für Anfänger
illustration explosion.tiffRoman
aus dem Französischen von Andreas Jandl
fva_Logo_Schrift.jpgFür Z und G
Inhalt
1. Verdampft
2. Das Zoogeschäft
3. Die Randalls
4. Produkt des Zufalls
5. Eine beunruhigende Logik
6. Russisch zu Hause lernen
7. Vom Schicksal getroffen
8. Albert Einsteins vierundzwanzig Anzüge
9. Die letzte große Phobie
10. Kalte Fusion
11. Ein über längere Zeit problemlos bewohnbarer Raum
12. Termiten
13. Bitte unter Vermeidung der Verben sein und haben
14. Grenzmauer
15. Bumm!
16. Der Beginn einer neuen Ära
17. Megazitronen
18. Die Fundamente der Wirklichkeit
19. Einstein hat sich getäuscht
20. Tora! Tora! Tora!
21. Ein kleines Gebet
22. Illustrierte Enzyklopädie der Psychiatrie
23. Eine recht optimistische Sichtweise des Kosmos
24. Parampampampam
25. Aufruhr bei Saint-Vincent de Paul
26. Schimpansen im Wandschrank
27. Jäger und Sammler
28. Eine zumindest verstörende Entdeckung
29. Amenorrhöa mysteriosa
30. Randall’sche Denkart
31. Kleine Schritte führen zum großen Ziel
32. Muster
33. In heimischen Sphären
34. Alles, was brennt
35. Ich bin Shiva
36. In den römischen Thermen
37. Die normalste Sache der Welt
38. Chilistückchen und Gewürze
39. Marcus war hier
40. Das Fernsehen ist der Feind
41. Ophir III
42. Vertrieben aus dem Paradies
43. Weitere Berichte auf Seite 47
44. Satellitenfernsehen
45. Der Anfang der Welt
46. Plutonium
47. Eine winzige Wärmeoase
48. Schaumstoff und Krümel
49. The End Is Near
50. Verlässlicher als ein Päckchen Nudeln
51. Der unangenehmste Verleger im bekannten Universum
52. Ein Markt in vollem Wachstum
53. Mission
54. Greyhound
55. Reisemenü
56. There Were No Good Old Days
57. Labyrinth
58. Und dann der arme Chuck bekam Probleme
59. Überreizt
60. Sie verlassen den amerikanischen Sektor
61. Dürfte ich Ihre Gasmaske benutzen?
62. Die große Ursuppe
63. Die Sackgasse
64. 1945
65. Ein unmöglicher Winkel
66. Toleranter im Umgang mit unwahrscheinlichen Dingen
67. Aufklärungskommando
68. In ständiger Veränderung
69. Moderne Kunst
70. Strömungssystem
71. Carpet Bombing
72. In Raum und Zeit
73. Besser ausgerüstet als 546
74. Die Zeit totschlagen
75. Die wissenschaftliche Entdeckung des Tages
76. Die neunzehnte Haltestelle
77. Madame Sicotte
78. Siebenunddreißig Minuten
79. Crosswords Weekly
80. Die kollektive Psyche verformen
81. Eine einzigartige Fähigkeit
82. Die Geschwindigkeit der Welt
83. In einem anderen Licht
84. Eine dreitausendjährige Reise
85. Massenvernichtungswaffe
86. Wer spricht noch vom nuklearen Winter?
87. Strahlend weiße Wellen
88. Eine tiefe Lücke in der Realität
89. Die Bürde der Arterhaltung
90. DRO
91. Nur noch dreißig Stunden Angst
92. Frau Hikari
93. Ein ganz gewöhnlicher Tag
94. Geschafft!
95. Ethnologische Beobachtung Nr. 743
96. Die jung-dynamische Japanerin von heute
97. Wie es weiterging
Nachweise
Danksagungen
Impressum
Über den Autor
The future ain’t what it used to be.
Yogi Berra
1. Verdampft
August 1989. Ronald Reagan hatte das Weiße Haus verlassen, der Kalte Krieg neigte sich dem Ende zu, und das städtische Freibad war (wieder einmal) geschlossen. Grund des Ärgernisses: ein Rohrbruch.
Rivière-du-Loup versank in einer Hühnerbrühe: Die Luft war gelblich gefärbt, vollgesogen mit Blütenstaub, und ich irrte missmutig mit meinem Badetuch um den Hals durch das Viertel. In drei Tagen würde die Schule wieder losgehen, und nur ein paar Bahnen im gechlorten Wasser hätten meine Stimmung heben können.
So kam ich schließlich ins städtische Stadion. Keine Menschenseele war zu sehen. Soeben mussten die Linien des Baseballfeldes nachgezogen worden sein, denn der Kalkgeruch lag noch in der Luft. Baseball interessierte mich eigentlich nicht besonders, aber ich liebte die Stadien, aus welchem Grund auch immer. Ich ging am Unterstand der Spieler vorbei, vor dem eine alte, von der Sonne ausgeblichene Zeitung lag. Mit etwas Mühe konnte man eine Reihe Panzer auf dem Platz des Himmlischen Friedens erkennen. In diesem Moment fiel mir das Mädchen oben im letzten Rang auf, den Kopf tief in ein Buch gesteckt, als wolle sie so die Zeit bis zum nächsten Match totschlagen. Ohne lange zu überlegen, stieg ich die Stufen zu ihr hinauf.
Ich hatte sie bei uns im Viertel noch nie gesehen. Sie war schlank, hatte kantige Hände und ein mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Sie trug eine Baseballmütze der New York Mets (den Schirm tief in die Stirn gezogen) und eine Jeans mit Loch am rechten Knie – keine von diesen topmodischen, säuregebleichten Dingern, sondern eine einfach geschnittene Arbeitshose, eine uralte Levis, die direkt aus einem Kohlestollen in der Wüste von New Mexico zu stammen schien.
Gegen die Absperrung gelehnt, las sie in einem Sprachlehrgang: Russisch zu Hause lernen, Band 13.
Ohne ein Wort zu sagen, setzte ich mich neben sie. Sie zuckte mit keiner Wimper.
Die Holzbank, auf der wir saßen, war höllisch heiß. Die Sonne knallte auf uns herab, und hätte nicht die Gefahr bestanden, mich der Lächerlichkeit auszusetzen, hätte ich mir das Handtuch als improvisierten Turban um den Kopf gewickelt. Ich reckte die Nase hinauf in den Himmel. Hoch oben in der Atmosphäre durchzog eine Boeing 747 langgestreckte Schönwetterwolken. Aussicht auf trockenes Wetter.
Gerade wollte ich irgendeine meteorologische Belanglosigkeit von mir geben, als das Mädchen den Schirm ihrer Mütze nach oben klappte:
»Letzte Nacht habe ich von der Atombombe von Hiroshima geträumt.«
Ich brauchte einige Sekunden, um über diese ungewöhnliche Gesprächseröffnung nachzudenken.
»Und warum ausgerechnet die Atombombe von Hiroshima?«
Sie verschränkte die Arme:
»Die Sprengkraft der heutigen Bomben übersteigt unser aller Vorstellungskraft. Ein ganz banaler Marschflugkörper mit ungefähr fünfhundert Kilotonnen zum Beispiel. Die Explosion könnte ein Stück Kontinentalplatte ins Weltall schleudern. Das menschliche Gehirn kann sich so etwas nicht vorstellen.«
Woher kam dieses Mädchen? Sie hatte einen unbestimmbaren Akzent. Englisch, Akadisch, vielleicht Brayonisch. Ich tippte auf Edmundston. Sie zog eine leere Packung Cracker Jack aus einem Bretterspalt hervor und schickte sich an, Konfetti aus ihr zu machen.
»Little Boy hatte ungefähr fünfzehn Kilotonnen. Kein kleiner Böller, aber irgendwie noch nachzuvollziehen. Wenn die über uns explodieren würde, sagen wir in sechshundert Metern Höhe – wie in Hiroshima –, dann würde die Druckwelle die Stadt in einem Umkreis von anderthalb Kilometern ausradieren. Das entspricht einer Fläche von etwa sieben Quadratkilometern. Umgerechnet macht das …«
In ihre imposante Rechenoperation versunken, kniff sie die Augen zusammen.
»… zweitausendfünfhundert Baseballfelder wie dieses hier.«
Sie hörte kurz mit dem Zerpflücken auf und umrahmte mit elegant-pädagogischer Geste die Umgebung:
»Das Einkaufszentrum würde zerbersten, die Bungalows einfach umklappen, die Autos wegwehen wie Pappkartons, die Laternen umknicken. Und das nur durch die Druckwelle. Denn danach kommt die Wärmestrahlung. Alles im Umkreis von zig Quadratkilometern würde zu Asche – sehr, sehr viele Baseballfelder! In der Nähe der Bombe wäre die Temperatur höher als auf der Oberfläche der Sonne. Alles Metall schmölze dahin. Im Sand bildeten sich Glaskügelchen.«
Sie hatte die Zerhäckselungsaktion abgeschlossen und wog den Haufen Konfetti in der Hand:
»Und weißt du, was mit uns passieren würde, uns zwei armen kleinen Primaten, die zu sechzig Prozent aus Wasser bestehen?«
Langsam drehte sie den Handteller nach unten, und der Wind trug das Häufchen Konfetti in Richtung left field:
»Wir würden innerhalb von drei Millisekunden verdampfen.«
Schließlich wandte sie sich zu mir und musterte mich mit regen Augen, bestimmt, um zu sehen, wie ich mit dieser Steilvorlage würde umgehen können. Recht gut, alles in allem. Ihr Blick gab mir zu verstehen, ich hätte bestanden.
Ihr Gesicht entspannte sich. Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und vertiefte sich ohne ein weiteres Wort wieder in ihr Russischlehrbuch.
Leicht angeschlagen von der Druckwelle, ließ ich mich gegen die Absperrung fallen. Während ich mir die Stirn mit einem Zipfel meines Handtuchs abtupfte, sah ich mir das Mädchen verstohlen an. Ich hätte schwören können, dass sie dabei war, mit ihrem IQ von hundertfünfundneunzig ein Magnetfeld um sich aufzubauen.
Nicht nur, dass ich dieses Mädchen hier noch nie gesehen hatte – so ein Mädchen hatte ich noch nie irgendwo gesehen –, und in genau diesem Augenblick wurde mir klar: Wenn ich einmal mit irgendjemandem verdampfen müsste, dann nur mit ihr.
2. Das Zoogeschäft
Sie hieß Hope Randall und war gerade aus dem neuschottischen Yarmouth hergezogen.
»Weißt du, wo das liegt?«
Sie zeichnete mit dem Zeigefinger eine Karte Neuschottlands in die Luft und setzte einen Fliegenschiss auf das südliche Ende der Halbinsel, direkt gegenüber dem Bundesstaat Maine – eintausendzweihundert Kilometer entfernt von hier.
»Nie gehört.«
»Das macht nichts.«
Erst vor drei Tagen waren sie und ihre Mutter angekommen und hatten in der Rue Amyot eine Bleibe gefunden: eine Wohnung, eingezwängt zwischen dem Waschsalon Clean-O-Matic und den Küchenräumen des Chinese Garden. Zwei berühmt-berüchtigte Orte der Reinheit und Hygiene in der Stadt.
Sie drehte den Schlüssel ein paarmal im Schloss und trat gegen die Tür.
»Willkommen in Randalls Zoogeschäft!«
Und plötzlich erinnerte ich mich wieder: Hier befand sich einmal eine Zoohandlung, Die Arche Noah (sic), geschlossen seit dem vorigen Winter und jetzt in eine allerdings nur halbwegs bewohnbare Behausung umgebaut. Auf dem Boden konnte man noch die Verfärbungen erkennen, wo Verkaufstresen, Regale und Aquarien gestanden hatten. Asiatischer Frittiergeruch lag in der Luft, ohne jedoch den Gestank von Papageienscheiße, Katzenkot und Chinchilla-Urin überdecken zu können.
Die Möblierung war im Preis inbegriffen, sie bestand aus einem wackeligen Tisch, vier Stühlen, einer Grundausstattung an zerbeulten Elektrogeräten und einer Couch, die, in Abwesenheit eines Fernsehers, dem Betrachter vollkommen überflüssig erschien.
Hope beteuerte, noch keine zweiundsiebzig Stunden hier zu sein, doch stapelten sich in allen Ecken unglaubliche Mengen an Lebensmitteln: säckeweise Mehl und japanische Ramen-Nudeln, Wasser und Öl in Fässern, allerlei Konservendosen. Genau genommen war im näheren Umfeld das Einzige, was nicht zum Verzehr bestimmt war, ein Stapel von Russisch zu Hause lernen (die Bände 8, 14 und 17), auf den Hope vorsichtig den Band Nummer 13 legte, den sie mit ins Stadtstadion genommen hatte.
»Hast du Durst?«
Ich nickte. Während sie mir ein Glas Wasser einschenkte, schaute ich mich in der Zoohandlung neugierig nach angrenzenden Zimmern um. Abgesehen von einem auffällig geräumigen Badezimmer – zweifellos dem ehemaligen Reptilienraum – gab es offenbar kein weiteres Zimmer. Aber wo schliefen sie dann? Hope, die meine Frage erahnte, deutete auf die Couch:
»Die kann man ausziehen. Und ich schlafe im Bad, bei geschlossener Tür. In weniger als drei Metern Abstand von meiner Mutter kriegt man kein Auge zu.«
»Schnarcht sie?«
»Nein, sie redet im Schlaf.«
»Aha?«
Ich trank einen Schluck Wasser. Ein bedenklich metallischer Geschmack:
»Und was erzählt sie so?«
Besorgt begann Hope an ihrem Daumennagel zu kauen:
»Keine Ahnung. Irgendwas auf Assyrisch.«
»Auf Assyrisch?«
»Assyrisch oder Armenisch, was weiß ich. Von toten Sprachen habe ich keine Ahnung.«
Mit einem Biss kaute sie einen schmalen Nagelstreifen ab und spuckte ihn weg:
»Ich komme aus einer mehrsprachigen Familie.«
»Ganz offensichtlich«, sagte ich und deutete mit dem Fuß auf die Russischlehrbücher.
»Ich hatte auch mit Deutsch angefangen, musste aber einen Teil meiner Bücher in Yarmouth zurücklassen, weil sie nicht mehr ins Auto passten.«
»Zurücklassen?«
»Ja. Wir sind nachts aufgebrochen, weil …«
Sie seufzte:
»Okay. Fangen wir lieber am Anfang an.«
3. Die Randalls
Mary Hope Juliet Randall, genannt Hope, war die jüngste Vertreterin einer Familie, die seit einem nicht mehr genau bestimmbaren Moment – einige sprachen von sieben Generationen – an schweren Weltuntergangsvorstellungen litt.
Die Randins, eine Familie wohl weitestgehend akadischer Herkunft, waren 1755 von den Briten deportiert worden. Nach ihrer Aussetzung auf Maryland änderten sie den Familiennamen in Randall, ohne sich jedoch assimilieren zu lassen, und kehrten nach Neuschottland zurück, wo sie Jahrzehnte darauf verwandten, sich karges Torfland anzueignen.
Man könnte nun glauben, dass die familiäre Obsession für die Apokalypse in diesem geopolitischen Trauma ihren Ursprung fand. Denn war es nicht nachvollziehbar, wenn nicht gar unvermeidlich, dass die Nachkommen deportierter Bauern gegenüber städtischen Ballungsgebieten, großen Katastrophen und einem normalen Verlauf der Geschichte gewisse Vorbehalte hegten? Doch fand diese Theorie keinen Konsens, so dass schließlich einige Genealogen die Weltuntergangsvorstellungen einer Erbkrankheit zuschrieben, die sich aufgrund blutsverwandter Ehen entwickelt habe (die Randalls waren recht häuslich veranlagt).
Fest stand, dass dieselben Symptome sich mit choreographischer Präzision von Generation zu Generation wiederholten: Sobald ein Mitglied der Randall’schen Familie, egal ob männlich oder weiblich, die Pubertät erreichte, wurde es auf übernatürliche Weise und sehr detailgenau über den künftigen Weltuntergang in Kenntnis gesetzt: über Datum, Uhrzeit und Hergang.
In aller Regel kam diese Vision in der Nacht. Genau genommen handelte es sich dabei nicht wirklich um eine Vision – diese hätte man als einen gewöhnlichen Albtraum abtun können. Nein, die Randalls erlebten das Weltende in Echtzeit und 3D. Sie spürten das Regenprasseln und die Verbrennungen auf ihrer eigenen Haut, sie erstickten in Feuersbrünsten, schmeckten die Asche, hörten die Schreie, rochen den Gestank verwesender Leichen.
Die Randalls nannten dieses Phänomen die »nächtliche Offenbarung«, das »Licht«, die »Prophezeiung« oder gemeinhin »die kleine Höllentour«.
Jeder Randall bekam übrigens ein anderes Datum offenbart, was es gehörig erschwerte, mit dem jeweils eigenen Weltuntergang ernst genommen zu werden. Wenn ein Randall dann den Tag seines Weltuntergangs überlebte, zeigte sich bei ihm zumeist plötzliches seelisches Ungleichgewicht oder ein Hang zur Beschädigung öffentlichen Eigentums. Die Geschichte endete üblicherweise in der Irrenanstalt oder in sonstigen einschlägigen Einrichtungen.
Der Familienstammbaum der Randalls wäre bestens dafür geeignet, an ihm die Geschichte der nordamerikanischen Psychiatrie über die letzten einhundertfünfzig Jahre aufzuzeigen, vom eiskalten Duschen über die Lobotomie, die Beschäftigungstherapie, die Zwangsjacke und das Lithium bis zur offenen Psychiatrie.
1. Fall: Harry Randall Truman, Urvater der Familie, verlor den Verstand im Herbst 1835, kurz nachdem der Halleysche Komet an der Erde vorbeigeflogen war. Er hatte die Rückkehr Moses’ auf einem strahlend weißen Walfänger verkündet und dann in der Scheune eines presbyterianischen Pfarrers Feuer gelegt. Nachbarn hatten ihn überwältigen und fesseln können und ins Halifax Mental Asylum verfrachtet, wo er den Rest seines Lebens in der Abteilung für Pyromanen und andere Soziopathen verbrachte.
37. Fall: Gary Randall hatte sich fünfzehn Jahre lang in einer Sperrholz-Hütte verschanzt, durch deren Fenster er die – in diesem Landstrich äußerst seltenen – Psychotherapeuten mit seinem Zwölfer-Kaliber begrüßte. Man fand ihn erfroren an sein Gewehr geklammert, nachdem die Temperatur eines Morgens plötzlich auf minus vierzig Grad gefallen war: steif und blau und endlich von seinem Wahn erlöst.
53. Fall: Henry Randall jr., Hopes Großvater, der noch die große Wirtschaftskrise miterlebt hatte, zeigte sich weniger destruktiv. Er kanalisierte seine Ängste, indem er die Reformierte Minoritätenkirche des Siebten Wiederkäuers gründete, eine parachristliche Sekte, die das Armageddon für den 12. Juni 1977 angekündigt hatte. Eine vergleichsweise durchaus gesunde Art, seine Zeit totzuschlagen. Die Kirche existierte bis zu besagtem Datum, nach dessen Verstreichen sich Henry das Leben nahm, er schluckte eine Handvoll Dachnägel.
Ähnlich erging es Gary Randall, Harry Randall, Harriet Randall, Hanna Randall, Henry Randall, Randolph Randall, Handy Randall, Hans Randall, Hank Randall, Annabel Thibodeau (geborene Randall), Henryette Leblanc Randall, Hattie Randall, Pattie Randall und anderen – während die Tage friedlich und unbeirrbar verstrichen und der Planet beharrlich wie ein schlechter Witz seine Kreise zog.
4. Produkt des Zufalls
Ann Randall erblickte das Licht der Welt in Yarmouth im März 1954, genau an dem Tag, als die Amerikaner auf den Marschall-Inseln eine neuartige Wasserstoffbombe testeten.
Das schüchterne kleine Mädchen war von ebenso strahlender wie frühreifer Schönheit und zeigte ein wundersames Talent beim Erlernen von Sprachen: Im Alter von zehn Jahren sprach sie bereits Englisch und Französisch und lernte Latein mit Hilfe einer alten Vulgata, die sie in der Sakristei hatte mitgehen lassen – ein Diebstahl pädagogischer Art. Der Pfarrer gab vor, es nicht bemerkt zu haben.
Sie verlebte eine einsame Kindheit