Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

BLACK BOX
BLACK BOX
BLACK BOX
eBook331 Seiten4 Stunden

BLACK BOX

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die globale Ökowende ist gescheitert. Um 2050 herum kulminieren die Umweltprobleme, Untergangsstimmung macht sich breit. Das Projekt ›Last Resort‹ soll der Menschheit langfristig eine Zukunftsperspektive eröffnen. Dutzende interstellare Raumschiffe starten zu verschiedenen potenziell habitablen Planeten in relativer Erdnähe, ›bemannt‹ mit Explorationsbots, den sogenannten Aktenkoffern. Jeder Bot trägt die Bewusstseinssimulation einer realen Person in sich, die auf der Erde zurückgeblieben ist. Eines dieser Bewusstseine ist das von John Nowak, doch bei der Ankunft des Raumschiffs im Orbit des Zielsystems Imago kommt es zu einem unvorhergesehenen Vorkommnis.

»Black Box« ist die fantastische Lebensgeschichte des John Nowak, des Mannes mit den drei Leben: erst Mensch, dann Explorationsbot und schließlich wieder Mensch.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum1. Juli 2023
ISBN9783957657626
BLACK BOX

Mehr von Norbert Stöbe lesen

Ähnlich wie BLACK BOX

Ähnliche E-Books

Science-Fiction für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für BLACK BOX

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    BLACK BOX - Norbert Stöbe

    Prolog

    Als ich erwachte, war ich sogleich hellwach. Ich wusste, wie ich hieß – John Nowak –, wann ich in das Raumschiff geklettert war – vor einundvierzig Jahren – und dass ich zuvor etwas anderes gewesen war, nämlich ein Mensch. Jetzt war ich eine Bewusstseinssimulation auf sechs Beinen, ausgestattet mit einem beeindruckenden Arsenal an Sensoren und Werkzeugen, und wenn es sein musste, konnte ich sogar ein Stück weit fliegen – ein durchaus zweifelhafter Ersatz für einen Körper mit Armen und Beinen, der zwar für Schmerzen anfällig gewesen war, aber doch auch empfänglich für ein ganzes Spektrum an sinnlichen Erfahrungen und Lustgefühlen, die mir in diesem Moment quasi als Gottesgeschenk erschienen, als eine Gnade, die mir entzogen worden war.

    Aktenkoffer hatten wir unsere neue Erscheinungsform damals im Scherz genannt, und seltsamerweise fühlte ich mich auch so. Das flache, hochkant stehende Gehäuse mit seinem elektronisch-bionischen Inhalt war mein Körper und mehr als das: Es war John Nowak, es war ich. Das bedeutete, es hatte funktioniert. Ich war nicht verrückt geworden im einundvierzigjährigen Nirwana, hatte während des interstellaren Fluges der entropischen Paralyse getrotzt, und wenn ich wach war, bedeutete dies auch, dass die dreiundzwanzigste Expedition erfolgreich verlaufen war – dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Auf einmal verspürte ich den drängenden Wunsch, es mit eigenen Augen zu sehen, auch wenn dies jetzt optische Sensoren waren, Hochleistungsinstrumente, die mein Sehvermögen weit in den UV- und den IR-Bereich hinein erweiterten. Ich machte Anstalten, die Kabelverbindungen zum Schiff zu kappen und die Arretierung zu lösen, die verhindert hatte, dass ich durch die Beschleunigungskräfte zu Beginn und zum Ende des Fluges an der Wand zerschmettert wurde.

    »Stopp!«, ertönte eine Stimme in meinem Kopf. »Erst bitte Meldung erstatten.« Es war Cyrus Burdecki, der Captain, und ich erkannte ihn sofort. Und ich sah ihn auch, schräg gegenüber an der Wand, in eine gepolsterte Mulde eingepasst, von Klammern umschlossen und mit mehreren stahlglänzenden Kabeln mit dem Schiff verbunden, ein Aktenkoffer wie ich.

    »John«, sagte ich. »Sieht so aus, als wäre ich voll einsatzfähig.«

    »Chen Fengdao meldet sich dienstbereit«, sagte der dritte Aktenkoffer.

    »Simone Hermes ebenfalls«, säuselte der vierte.

    »Reina.« Kurz angebunden, wie immer; offenbar nahm sie es Cyrus nach einundvierzig Jahren noch immer übel, dass trotz ihrer besseren Qualifikation er Captain geworden war und nicht sie. Den Ausschlag gegeben hatte die Beurteilung der Psychologen, Reinas Ansicht nach Vertreter einer Pseudowissenschaft, die ihre Bauchentscheidungen mit geschicktem Geschwafel verbrämten. Was die Psychologen wohl zu ihrer derzeitigen Geistesverfassung zu sagen hätten?

    »Darf ich mich jetzt losmachen?«, fragte ich.

    »Noch nicht«, erwiderte Cyrus, der Captain. »Erst der Test.«

    Es handelte sich um Testfragen, eine psychologische Ergänzung der Funktionsprüfung, die bereits von Mother, der Bord-KI, über die Kabelverbindung durchgeführt worden war. Ich konnte nicht genau sagen, wie die Fragen übermittelt wurden. Ich meinte sie schriftlich ausformuliert vor mir zu sehen, während ich sie gleichzeitig hörte. Vermutlich waren das Phantomeindrücke, bedingt durch meine bionisch-elektronische Maschinenexistenz.

    Wie lautet dein Name?

    Schildere kurz deine früheste Erinnerung.

    Was empfindest du, wenn du an deine Mutter denkst?

    Was ist die dritte Wurzel aus 4913?

    Gibt es Fische mit Beinen?

    Beschreibe deine Gefühlslage.

    Was ist deine Lieblingsfarbe?

    Was ist die letzte Erinnerung, die du mit der Erde verbindest?

    Und so weiter, und so fort, insgesamt zweihundertfünfzig Fragen lang. Die Antworten dachte ich, doch ich wusste, dass sie gleichzeitig in digitaler Form an Mother weitergeleitet wurden. Als alle fertig waren, herrschte einen Moment lang Stille, während Cyrus auf das Auswertungsergebnis wartete. Offenbar fiel es positiv aus.

    »Okay«, sagte Cyrus. »Die Formalitäten hätten wir damit abgehakt. Willkommen in unserem neuen Leben, Leute, und willkommen im Orbit von Imago. Das Abenteuer beginnt.« Er selbst löste sich als Erster aus seiner Reisemulde, fuhr einen Arm aus, beförderte sich mit einem präzise bemessenen Stoß vor das Aussichtsfenster und fing sich an einem der Haltegriffe ab. Reina erreichte das Fenster als Zweite, und ich verpasste mir ein wenig Zusatzschub, um es als Dritter zu erreichen. In jeder Gruppe gab es eine Hierarchie, und manchmal bildete sie sich sehr früh heraus, meist anhand kaum wahrnehmbarer Kleinigkeiten. Da konnte es nicht schaden, wenn ich meinen Platz frühzeitig markierte.

    Kurz darauf drängten sich alle fünf Aktenkoffer vor dem Fenster, was nicht ganz einfach war, da sie, warum auch immer, vor Berührungen zurückscheuten.

    Imago, der zweite Planet des Zielsystems, nahm das ganze Sichtfeld ein: weiße Wolkenfelder, eine gelb-braun-grüne Landmasse, am Rand blaues Meer.

    »Auch von mir ein herzliches Willkommen«, meldete sich Mother. Ihre sanfte Stimme füllte meinen Kopf aus; sie klang ein wenig gekränkt, weil bislang keiner sie angesprochen hatte. Weil sie glaubte, wir hielten uns für was Besseres, dachte ich. Weil wir in einem Winkel unseres bionischen Pseudogehirns noch immer überzeugt sind, wir wären Menschen und keine Maschinen. Trotz meines vagen Schuldgefühls verzichtete ich auf eine Entschuldigung.

    »Hallo, Mother«, sagte ich.

    »Schön, dass du da bist«, sagte Simone.

    »Alle klar bei dir?«, fragte Cyrus.

    »Danke, bei mir ist alles klar«, antwortete Mother. »Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Daten zu Imago vor. Soll ich sie vorlesen?«

    »Aber fass dich kurz«, sagt Cyrus.

    »Radius siebentausendfünfhundertzweiundvierzig Kilometer, Gravitation zehn Komma zwei-sechs Meter pro Sekunde, Luftzusammensetzung: Stickstoff zweiundneunzig Komma drei Prozent, Sauerstoff sechs Komma zwei, Argon null Komma sechs …«

    Während Mother zu den Spurengasen überging, schaute John; alle schauten.

    »Volltreffer«, sagte Fengdao. »Oder?«

    »Fast wie die Erde …«, murmelte Reina.

    »Und auch wieder nicht«, sagte Simone. »Irgendwie gruselig, finde ich.« Alle drei hatten recht; Imago war anscheinend tatsächlich das Ebenbild der Erde, doch die Konturen des Kontinents, der Verlauf der Flüsse und die Verteilung der Farben lösten bei mir kein Wiederkennen und keine vertrauten Assoziationen aus, sondern ein Befremden, beinahe einen Anflug von Grauen – als hätte sich etwas verschoben, das jeden Moment ins Gewohnte zurückschnappen konnte. Doch das würde es nicht tun, das war sicher, und dass es der Erde so ähnlich war, machte mir umso deutlicher bewusst, dass wir unsere Heimat niemals wiedersehen würden.

    »Irgendwelche Besonderheiten?«, fragte Cyrus. »Elektromagnetische Emissionen?«

    »Ein Breitbandrauschen im Bereich von dreihundert Kilohertz bis zweihundert Gigahertz. Im Schiff wird es durch den Faraday-Effekt abgeschirmt, aber draußen dürfte es unter anderem den Funkverkehr stören.«

    »Natürlichen Ursprungs?«

    »Eher wohl nicht.«

    »Oha«, sagte Cyrus. In diesem Moment ging ein schwacher Ruck durchs Schiff. Ich nahm das Äquivalent eines allgemeinen Zusammenzuckens wahr – eines der empathischen Phänomene, so hatte man uns erklärt, die auf der engen Vernetzung beruhten, sich mit der Zeit aber abbauen würden.

    »Der Müll wurde ausgestoßen«, sagte Fengdao.

    »Ich wusste gar nicht, dass wir überhaupt Abfälle produzieren«, sagte Simone. »Man sollte eigentlich meinen …«

    »Wir nicht«, sagte Reina. »Aber das Schiff.«

    Wir hatten die Anspannung überspielt, doch uns allen war bewusst, was Mothers so harmlos klingende Bemerkung bedeuten konnte.

    »Gibt es Anzeichen von … Zivilisation?«, fragte Cyrus.

    »Bisher habe ich keine gefunden«, antwortete Mother. »Keine Gebäude, keine regelmäßigen Strukturen, keine Flugobjekte in der Luft.«

    »Fauna?«

    »Noch nichts.«

    »Flora?«

    »Keine Bäume, kein Gras. Aber es gibt bräunliche Strukturen von bis zu hundert Metern Durchmesser und drei Metern Dicke.«

    »Pflanzen? Pilze?«

    »Das lässt sich noch nicht sagen. Die Oberfläche weist farbige Streifen auf.«

    »Mineralische Ablagerungen vielleicht?«, sagte Simone.

    Mother legte eine Teleskopaufnahme auf einen Teil des Fensters. Zu sehen war eine Art Polster, das an gewisse Baumpilze erinnerte. Es waberte leicht aufgrund der Luftströmungen, doch die Streifen, bräunlich, blau und grau, waren deutlich zu erkennen.

    »Merkwürdig«, murmelte ich. »Pilze sind das wohl eher nicht.«

    »Einige dieser Strukturen sind auch im Meer zu erkennen, in Ufernähe.« Mother legte ein weiteres Bild aufs Fenster.

    »Wir sollten die Sonden losschicken«, schlug Reina vor.

    »Noch nicht«, sagte Cyrus. »Wir sammeln erst mal weiter Distanzdaten. Das elektromagnetische Feld bereitet mir Sorgen. Was ist, wenn der Funkkontakt abbricht, und wir verlieren die Sonden?«

    Erneut ging ein Ruck durchs Schiff, etwas stärker als beim ersten Mal.

    »Noch ein Containerausstoß?«, sagte Simone. »Ich dachte, der Müll wäre schon weg.«

    »Das war ich nicht«, sagte Mother. »Etwas ist von außen gegen das Schiff gestoßen.«

    »Etwas?«, sagte Cyrus alarmiert. »Wurden wir von einem Meteoriten getroffen?«

    »Das glaube ich nicht.«

    »Geht es vielleicht etwas präziser? Mother?«

    »Mir liegen leider keine Daten vor.«

    »Verdammt noch mal.« Cyrus löste sich vom Fenster und schwebte Richtung Luke. »Ich gehe raus und sehe mir das an.«

    »Ich komme mit«, sagte ich.

    »Macht das nicht«, sagte Simone. »Bitte.«

    »Ich würde ebenfalls davon abraten«, meldete sich Fengdao zu Wort, der am Fenster ausgeharrt hatte. »Das Schiff dreht sich.« Unwillkürlich suchten alle nach Halt. Cyrus, der vor der Luke schwebte, wurde seitlich abgetrieben und prallte gegen die gepolsterte Wand. Der fingergroße, sandfarbene Teddy, mein persönliches Andenken an meine Existenz als stoffwechselnder Mensch, trudelte durch den Raum. Vermittelt durch irgendeinen Sensor, nahm ich eine leichte Beschleunigung wahr. Im Fenster wanderte Imago seitlich aus und machte tiefer Schwärze Platz. Ein Knirschen war zu hören, wie von Metall, das an Metall reibt.

    »Meldung, Mother!«, rief Cyrus.

    »Ich sehe nichts«, sagte Mother. »Tut mir leid, Cyrus.«

    »Das Schwarz«, sagte Fengdao.

    »Was ist damit?«, fragte John.

    »Das ist nicht das All.«

    »Nicht das All? Mann, kannst du dich nicht …«

    »Ich glaube, wir werden verschluckt.«

    »Aaah!«, machte Simone und fuchtelte hilflos mit einem Greifer, als wehrte sie eine Mücke ab.

    »Ein Stealthobjekt«, sagte ich so sachlich, als wertete ich eine Videoaufnahme aus.

    »Antrieb starten!«, rief Cyrus. »Mother, zünde den Antrieb!«

    Der Alarm schrillte.

    Achtundsiebzig Jahre später

    Zuerst hörte ich.

    Ein Summen und Knistern.

    Ein Knacken. Ein Sirren.

    Ein Geräusch nach dem anderen.

    Zeit.

    Mir fiel ein, wer ich war – John Nowak, Teilnehmer der interstellaren Expedition 23, zuständig für … für irgendwas. Ich war ein Bewusstseinsklon und lebte in einem Aktenkoffer, oder vielmehr, ich war ein Aktenkoffer, und das Letzte, woran ich mich erinnerte, war der Anblick des Zielplaneten. Imago hieß der Planet, auch das fiel mir wieder ein.

    Die Gedanken folgten aufeinander wie die Geräusche, mehr oder minder klar voneinander abgetrennt. Ich dachte langsam. Ich fühlte mich benommen.

    Ein Zischen, wie wenn ein Druckausgleich erfolgt. Luft?

    Ich schlug die Augen auf und sah … einen hochgeklappten Deckel und einen Teil eines Raums mit weißen Wänden. In den Aussparungen der Polsterung waren Leitungen und Kabel verlegt. Ich befand mich in … nein, nicht in einer Mulde, sondern in einem Gehäuse. Schläuche schlängelten sich wie bunte Würmer in schwarze Löcher hinein und verschwanden darin. Dick gepolsterten Halterungen lösten sich von mir. Ich schwebte am Deckel vorbei und drehte mich langsam in der Luft. Ich sah ein Fenster. Ein Planet mit Atmosphäre nahm fast das ganze Sichtfeld ein: weiße Wolkenfelder, eine gelbrote Landmasse. Ein grünes Delta und eine blaue Wasserfläche, geformt wie eine dicke Schnecke mit zwei Fühlern. Langsam drehte sich der Planetenausschnitt unter mir weg. Das musste Imago sein, der Zielplanet, doch die Schneckenfühler und das Delta weckten Erinnerungen an einen ganz anderen Planeten, an Rotes Meer, Suezkanal und den Golf von Akaba.

    Langsam trieb ich in der Schwerelosigkeit auf das Fenster zu, und bevor ich es erreicht hatte, fing ich mich ab … mit einem Arm, mit einer Hand. Mir stockte der Atem.

    Atem?

    Ich blickte an mir hinunter. Ich war kein Aktenkoffer, sondern hatte einen Körper, und ich war nackt.

    Verdammt noch mal, dachte ich. Ist das etwa die Erde?

    1. Teil: Ankunft

    1

    Ich heiße John Nowak und war erst ein Mensch und dann ein Aktenkoffer. Was ich jetzt war, wusste ich nicht. Alles fing im Orbit der Erde an. Kaum war ich erwacht, stellte Mother eine Funkverbindung mit einer Bodenstation her, und ich hörte die Stimme von Rickety Jones. Der Klang ihrer wundervoll lebendigen Stimme durchströmte mich wie eine Zuckerinfusion. Ihr spröder Klang löste, ich gestehe es, heftiges Begehren aus, noch ehe sie auf dem Monitor abgebildet wurde. Als ich sie dann sah, ihren dunkelblonden Pferdeschwanz, ihre ungläubig aufgerissenen grünen Augen und den Ansatz der Brüste im Ausschnitt ihres Pullovers, war es um mich geschehen: Ich war verliebt.

    Ich stellte mich vor, aber natürlich glaubte sie mir nicht. Sie vermutete einen dreisten Scherz und unterbrach die Verbindung. Vermutlich hatte es auch damit zu tun, dass ich splitternackt war. Ich schaute mich in der Kabine um, fand einen Kleiderspind und kleidete mich an, was mir wegen der Schwerelosigkeit nicht gerade leichtfiel. Beim zweiten Anruf war ich besser gewappnet. Ich entschuldigte mich und fragte sie höflich, welches Jahr wir hätten.

    »Zweitausendeinhundertneunundsiebzig?«, antwortete sie argwöhnisch.

    Ich nickte, als hätte ich mit dieser Antwort gerechnet, und fragte sie, wer sie sei. Sie antwortete mit Gegenfragen.

    Erst am nächsten Tag, also mehrere sporadische Kontakte später, hatte sie genug Vertrauen gefasst, um mir ein paar Details zu nennen. Offenbar fühlte sie sich ein bisschen einsam. Zusammen mit Ortho Ximenes, einem Meteorologen, tat sie ein halbes Jahr lang Dienst bei Sky Link in den Rocky Mountains. Die Station war um zweitausendfünfzig herum gebaut worden, als die ersten interstellaren Forschungsmissionen starteten, und hatte die Aufgabe, Verbindung mit den Expeditionsschiffen zu halten.

    »Zu Anfang wurden die Daten von hier an das Kommunikationszentrum an der kalifornischen Küste weitergeleitet, und von dort aus hielt man mit den Expeditionen auch Kontakt. Aber das Zentrum wurde bei einer Überschwemmung zerstört, und dann begann auch schon die Stagnation. Wegen des Regimes leiten wir derzeit überhaupt keine Daten mehr weiter, sondern erstellen lediglich zum Ende unserer Halbjahresschicht einen Bericht. Von Kommunikation kann eh keine Rede mehr sein, wegen der großen Entfernungen. Die Expeditionen sind längst am Ziel, und nur sieben senden überhaupt noch Daten. Wir sind hier ein verlorener Außenposten, das muss man wohl so sagen. Niemand interessiert sich für uns. Wegen des Regimes hat man uns vor sieben Jahren auch die Energieleitung gekappt. Jetzt sind wir notgedrungen Selbstversorger, aber die Solarzellen sind alt, das Windrad häufig defekt, und die Kapazität der Speicherakkus beträgt nur noch zweiundzwanzig Prozent. Da kann man keine großen Sprünge machen.«

    Ich verstand nicht alles, was sie sagte, aber ich ließ sie reden. Reden, das war eine vertrauensbildende Maßnahme, vor allem aber ein Genuss. Ihrer Stimme zu lauschen, war für mich wie Musik mit erotischer Massage.

    Schließlich bat ich sie, mir die Umgebung zu zeigen. Sie pflückte die Kamera von ihrem Monitor und hielt sie ans Fenster. Auf dem Wanddisplay sah ich einen breiten, grasbewachsenen Felsausläufer und schroffe Berghänge, die mit merkwürdigen Bäumen bestanden waren – die Blätter wirkten ausgefranst, die Stämme knotig. Hätten hier nicht Kiefern stehen sollen? Ein Trampelpfad führte zu einer Anlage mit einer großen und einer kleinen Parabolantenne, mehreren Stabantennen und verschiedenen Sensoren. Auf einem Mast drehte sich ein Windrad. Ein Mann mit Parka und Daypack las irgendwelche Anzeigen ab und machte sich Notizen auf einem Tablet. Das musste Ortho Ximenes sein.

    »Jetzt Sie«, sagte Rickety. »Von wo aus rufen Sie an? Von Amerika aus?«

    »Es ist so, wie ich es Ihnen gesagt habe. Ich bin in einem Raumschiff aufgewacht und weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich befinde mich im Erdorbit.«

    »Hören Sie auf, mich zu verarschen.« Ein kleine düstere, aber reizende Wolke verschattete ihr Gesicht.

    »Wenn Sie mir endlich glauben würden, wäre mir schon ein Stück weit geholfen.«

    »Schluss damit. Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind.«

    »Ich bin John Nowak, und das ist die Wahrheit.«

    »Ist es nicht. John Nowak war achtundzwanzig, als sein Bewusstsein dupliziert und auf die Reise geschickt wurde, und er ist im Alter von zweiundachtzig Jahren gestorben.«

    »Haben Sie ihn sich angesehen?«

    »Sie meinen, auf alten Videoaufzeichnungen? Nein, wieso?«

    »Bitte tun Sie das.«

    Sie schaltete ab.

    Während sie Nachforschungen anstellte – davon ging ich jedenfalls aus –, betrachtete ich die Erde. Zu tun gab es für mich nichts. Das Raumschiff hatte ich bereits erkundet. Der Zutritt zum hinteren Teil mit dem Antrieb wurde durch ein türloses schwarzes Schott blockiert. Außer dem Raum, in dem ich zu mir gekommen war, gab es noch einen zweiten. Im ersten Raum waren ein Spind mit Kleidung, eine winzige Toilette mit Dusche, ein Automat, der auf Knopfdruck undefinierbare Essensrationen und Trinkwasser spendete, und eine Funkeinrichtung mit festprogrammierter Sendefrequenz. Im zweiten Raum waren verschiedene Aggregate mit unbekannter Funktion angebracht, außerdem war eine Luftschleuse vorhanden, allerdings kein Raumanzug.

    Ich fragte Mother, was das sollte. Sie antwortete, ich bräuchte keinen Raumanzug, denn man werde mich abholen. Auch meine anderen Fragen beantwortete sie ähnlich wortkarg. Sie wollte oder konnte mir nicht sagen, wer oder was ich war. Sie sagte mir auch nicht, wer das Schiff gebaut hatte und was aus unserem Team (und aus mir in der Inkarnation des Aktenkoffers) geworden war. Mother hatte die sanfte Stimme, an die mich erinnerte, verhielt sich aber ganz anders als unsere damalige Bord-KI: indifferent, unfreundlich, abweisend. Allerdings hatte ich kaum Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen, eigentlich nur bei der Begrüßung an Bord, als wir in unseren Mulden verkabelt und in den Schlafmodus versetzt worden waren, und dann in der kurzen Zeit, die zwischen unserem Aufwachen und dem … Unglück verstrichen war. Zwischen dem Beginn unseres Forscherlebens und dem Auftauchen des unbekannten Stealthobjekts, das uns verschluckt hatte. Aber ich hatte die Vermutung, dass die Stimme, die sich als Mother bezeichnete, etwas anderes war als die KI, die man uns damals mitgegeben hatte.

    Fengdao hatte von Verschlucken gesprochen, aber vielleicht hatte er das Ereignis ja falsch interpretiert. Meine eigenen Erinnerungen waren bruchstückhaft und wenig aussagekräftig: Simone, die mit einem Greifer herumfuchtelte. Cyrus, der Anweisungen rief, die niemand befolgte. Und draußen die gewaltige Planetenkugel, die nach und nach ausgeblendet oder verdeckt worden war – von etwas Dunklem, Schwarzem. Das war alles.

    Es piepte, und auf dem Display erschien Ricketys Gesicht. Diesmal wirkte sie ernst, das Lächeln war aus ihren Augen verschwunden. »Ich habe mir die Videos angesehen«, sagte sie ohne Einleitung.

    »Und?«

    »Ich habe daraufhin Meldung erstattet. Man wird sich bei Ihnen melden.«

    »Wird man mich abholen?«

    »Ich muss Energie sparen, tut mir leid. Alles Gute.« Das Rechteck an der Wand, das sie eben noch ausgefüllt hatte, wurde schwarz.

    Ich versuchte gleich wieder, sie anzurufen, doch sie reagierte nicht mehr. Daraufhin versuchte ich, die Ruffrequenz zu ändern, doch ohne Einstellmöglichkeiten war das ein aussichtsloses Unterfangen. Der Monitor war in die Wand eingelassen, es gab nicht mal einen Schalter. Da ich kein Werkzeug hatte, konnte ich die Wandverkleidung nicht lösen, jedenfalls nicht ohne Beschädigungen zu riskieren, die womöglich Auswirkungen auf die Lebenserhaltungssysteme hätten. Ich versuchte, das Problem mit Mother zu besprechen, doch auch dabei kam nichts heraus. Dieses verdammte Raumschiff war eine Black Box.

    Also wartete ich und verkürzte mir die Zeit mit Fitnessübungen, die auf dem Monitor von einem recht akkuraten Menschenmodell vorgemacht wurden. Es verfügte sogar über ein männliches Geschlechtsteil, das bei den Übungen lustig umherschlackerte. Mother mochte nicht sonderlich auskunftsfreudig sein, aber möglicherweise besaß sie Humor. Einfach war das Workout nicht, denn wegen der Schwerelosigkeit war ich auf allerlei Fixierungen und elastische Gurte angewiesen. Doch die Übungen taten mir gut, und ich merkte, wie ich von Tag zu Tag fitter wurde. Gleichzeitig machte sich Dumpfheit in mir breit, eine schicksalsergebene Teilnahmslosigkeit. Hin und wieder bezog ich vor dem erdabgewandten anderen Fenster Posten und hielt Ausschau nach wandernden Lichtpunkten; nach Raumstationen, Satelliten, sich nähernden Raumschiffen, doch irgendwann gab ich es auf.

    Mother ernährte mich und entsorgte meine Ausscheidungen. Damit konnte ich leben. Ich wandte mich wieder der Erde zu, den Wolken, dem Wasser und dem braunen und gelben Land. Milliarden Menschen lebten dort unten – ich kannte einen einzigen davon. Zum Träumen reichte Ricketys grünäugiges Gesicht mir aus. Ich machte sie zum Inhalt meiner sexuellen Fantasien, aber vor allem redete ich mit ihr. Nach einer Weile gab sie mir sogar Antwort. Wir führten lange Gespräche, und manchmal brachte sie mich sogar zum Lachen – kein Scheiß. Ich war dabei, langsam aber sicher durchzudrehen.

    Dann machte es Klong, und ein Ruck ging durch mein Schiff. Ich blickte aus dem Fenster und sah den Stummelflügel des Shuttles, das angedockt hatte. Er war rußig, schartig, zerbeult. Kurz darauf zischte die Schleuse. Ich hatte auf menschliche Gesichter gehofft, meinetwegen abgeschottet hinterm Visier eines Raumanzugs, wurde aber bitter enttäuscht. Eine vierzig Zentimeter durchmessende Sonde schwebte in die Kabine und scannte erst einmal ausgiebig den Raum und die darin befindliche Person: mich. Dann sagte eine Männerstimme: »Hier spricht Captain Kenneth Bigelow. Ich habe den Auftrag, Sie abzuholen. Bitte seien Sie bei der Blutprobe behilflich. Sie müssen die Kanüle selbst in die Vene drücken.« Kein Wort der Begrüßung. Mir lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, doch ich verkniff sie mir.

    »Verstanden«, sagte ich und machte den linken Arm frei.

    Die Drohne fuhr einen Tentakel aus, in dem ein Schlauch mit Kanüle steckte. Der Schlauch kam hervor, die Nadel suchte die geeignete Einstichstelle, und ich drückte sie in die Vene und sah zu, wie mein Blut durch den Schlauch abgesaugt wurde.

    »Bitte ziehen Sie die Nadel jetzt heraus und platzieren Sie das Druckpflaster – Sie wissen schon wo.« War das ein Versuch, humorvoll zu sein? Ich nahm das Pflaster aus der Klammer und drückte es auf den roten Punkt, aus dem ein Blutstropfen quoll.

    »Und jetzt?«, fragte ich ins Leere hinein.

    »Jetzt warten wir, bis die Analyse abgeschlossen ist.«

    Die Drohne zog sich zurück, die Schleusentür ging zu.

    »Captain?«, sagte ich.

    Keine Antwort, woher sollte sie auch kommen? Schließlich hatte er über die Drohne mit mir gesprochen, anstatt Mother anzufunken. Vielleicht hatte er nicht mal ihre Frequenz.

    Nach endlosen zwanzig Minuten öffnete sich die Schleuse

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1