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Hard Rain: Von Bob Dylan zu Lady Gaga
Hard Rain: Von Bob Dylan zu Lady Gaga
Hard Rain: Von Bob Dylan zu Lady Gaga
eBook491 Seiten6 Stunden

Hard Rain: Von Bob Dylan zu Lady Gaga

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Über dieses E-Book

Der erfolgreiche Krimiautor Bendix, der endlich seinen zehnten und abschließenden Bernd-Zeigler-Roman schreiben möchte, steckt tief in einer quälenden Schreibblockade. Um auf Ideen zu kommen, entdeckt er auf einem Streifzug durch seine viel zu große Wohnung, ein dünnes Manuskript, welches scheinbar vom Vormieter zwischen den Regalbrettern vergessen worden ist. Anhand einer dort beschriebenen Mixtur soll es angeblich möglich sein, menschliche Gefühle einzufrieren. So ein Unsinn, denkt sich Bendix, und beschließt im selben Augenblick, das Experiment an seiner ältesten und besten Freundin Barbara durchzuführen. Zuerst scheint das Mittel auch bestens zu funktionieren, doch dann macht es sich selbständig und Barbara wird zum Spielball willkürlicher Gefühlswelten. Gleichzeitig führt der berüchtigte Musikkritiker MacLennan in Edinburgh einen Selbstversuch durch. Anhand eines Rezeptes seines Vaters soll es möglich sein, den Geschmack zu ändern. Als tatsächlich die Wirkung des Mittels einsetzt, muss er feststellen, dass er einem für ihn fatalen Missverständnis anheim gefallen ist. Und dann ist da auch noch Steve, sein homosexueller Kollege, der ein Auge auf ihn geworfen hat. Zwei Experimente laufen aus dem Ruder, doch als die experimentierfreudigen Protagonisten plötzlich aufeinander treffen, hat MacLennan einen Plan.

Aber eigentlich geht es in der Geschichte nur um guten Geschmack, den Verfall der homosexuellen Kultur und Musik, von Bob Dylan zu, Verzeihung!, Lady Gaga.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum18. Aug. 2015
ISBN9783738633313
Hard Rain: Von Bob Dylan zu Lady Gaga
Autor

Marcus Gorkmann

Marcus Gorkmann wurde am 06. August 1928 als Andrej Warhola in Pittsburgh geboren und war einer der Mitbegründer der Pop Art. Später wurde er dann am 24. Mai 1941 in Duluth (Minnesota) als Robert Allen Zimmermann wiedergeboren und befindet sich seit dem auf der never ending tour. Oder so ähnlich...

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    Buchvorschau

    Hard Rain - Marcus Gorkmann

    Inhaltsverzeichnis

    Titelseite

    Edinburgh

    Tree House

    Versuchskaninchen

    Harmlose Nebenwirkungen

    Das Mittel

    Falsche Wirkung

    Gespräche

    Blank & Schwarz

    Manche Dinge erledigen sich von selbst

    Blockbuster

    Beichte und Ablenkung

    Ein kurzer Abriss über Bruno

    Christopher Street

    Vom Cover im Taxi zu Gayromeo im Pub

    Elstern

    Pilze

    Glasgow

    Das ist genau das Problem

    Wir haben ein Ziel

    Steve I

    Hallward

    Steve II

    Manuskript II

    Ich bin okay

    Thistle Hotel

    Kirilenko

    Der nächste Morgen

    Amazon

    Das Mittel II

    Sind denn jetzt alle Homosexuell?

    Der Vertrag

    Martin Brown

    Terry sehnt das Ende seiner Schicht herbei

    Ein wirklich guter Kaffee

    Das Gegenmittel

    Baggyhosen

    The Black Saint and the Sinner Lady

    Epilog

    Impressum

    Hard Rain

    Ich saß, wie auch schon in den Wochen davor, vor meiner Maschine und hielt die Hände über den Tasten, bereit, jederzeit zuzuschlagen, sobald mir die Idee für einen ersten Satz käme. Die Bedeutung des ersten Satzes ist vollkommen überschätzt, sagte ich mir, nur um mich zu beruhigen, um den Druck etwas herauszunehmen. Erst einmal loslegen, den ersten Satz kann man immer noch ändern, jederzeit, es geht nur darum, anzufangen. Ich war gerade dabei, meinen zehnten und abschließenden Band zu beginnen, den zehnten Fall in einer Krimireihe, die ich erschaffen hatte. Als ich vor elf Jahren den ersten Band, mein erstes Buch überhaupt, veröffentlichte, hatte keiner damit gerechnet, dass es von solchem Erfolg gekrönt sein würde. Es handelte sich um einen mittelblutrünstigen Krimi, in dem ein Serienkiller eine deutsche Kleinstadt in Atem hielt. Der Protagonist war ein kratzbürstiger Kommissar, der, natürlich, von seiner Frau verlassen wurde und somit den klassischen einsamen Wolf darstellte, welcher den Fall nach den üblichen Auf und Ab eines Krimis und unter Zuhilfenahme seiner verschrobenen Ermittlungsmethoden löste und den Killer am Ende auf spektakuläre Weise dingfest machte. Als ich das Manuskript damals persönlich bei einem bekannten Verlag abgab, erhoffte ich mir so eine größere Chance überhaupt wahrgenommen zu werden, war aber eigentlich überzeugt davon, man würde mich belächeln und das Manuskript ohne Umwege in den nächstbesten Papierkorb verfrachten. Im besten Fall erwartete ich ein kaltes, aber immerhin höfliches Standartabsageschreiben. Ein paar Wochen später rief mich jedoch ein Lektor des Verlages an, um mir zu meinem gelungenen Entwurf, wie er es nannte, zu gratulieren. Mit zitternden Händen und rasendem Puls legte ich den Telefonhörer auf, war ich doch zu diesem Zeitpunkt bereits davon ausgegangen, mein Manuskript sei sogar zu schlecht für eine höfliche Absage. Da der Termin bereits am nächsten Tag stattfinden sollte, legte ich mir mehrere Stunden im Rausch des Hochgefühls Hemd und Krawatte zurecht, krampfhaft bemüht, den richtigen Eindruck zu hinterlassen. Als ich dann zum genannten Zeitpunkt das Büro des Lektors betrat, sprang er hektisch hinter seinem massiven Kirschbaum-Schreibtisch hervor und kam mir mit weit ausgestrecktem Arm entgegen. Er hatte lange braune Locken, trug eine sehr enge Jeans und ein gelbes Hemd mit zur Hose passender Jeanskrawatte. Über das ganze Gesicht strahlend nahm er meine ihm zaghaft entgegengestreckte Hand zwischen seine und schüttelte sie, als wäre ich der neue Mankell und in der Lage den maroden Verlag im Alleingang in die schwarzen Zahlen zu führen. Das kuriose Erscheinungsbild und die übertrieben kumpelhaften Gesten des Lektors schüchterten mich ein. Wäre mir der Verlag nicht bereits bekannt gewesen, ich hätte mich auf dem Absatz umgedreht und wäre gegangen, da es sich mit Sicherheit nur um einen unseriösen Zuschussverlag handeln konnte. So nahm ich aber in einem bequemen Ledersessel ihm gegenüber Platz und betrachtete das Büro, während er aus einer mannshohen Kommode eine Schachtel Zigarren kramte, um diese mit übertriebener Geste vor mir auf dem Tisch aufzubauen. Sich selbst zündete er großspurig eine an und wartete mit erhobenen Augenbrauen darauf, dass ich meine Wahl traf. Ich lehnte ab, denn ich rauchte ja gar nicht. Ich saß angespannt im Sessel und hoffte, dass es sich hier nicht um einen üblen Scherz handelte. An der Wand hinter ihm hingen ein paar Fotos, auf denen er neben bekannten Schriftstellern, die ebenfalls für diesen Verlag geschrieben hatten, Grimassen schnitt, während die Autoren mühevoll ihre Würde zu bewahren versuchten. Ein weiterer Hinweis darauf, dass er wohl tatsächlich kein Schwindler war. Ich beschloss, ihn ganz einfach als ein wenig exzentrisch hinzunehmen. Eine Weile betrachtete er mich lächelnd und pustete dicke Schwaden Zigarrenrauchs in den Raum. Er blies und lächelte, lächelte und blies, immer abwechselnd, bis ich langsam ungeduldig in meinem Ledersessel hin- und herzurutschen begann, wie ein Schuljunge, der zum Direktor gerufen wird. Er schien dies zu bemerkten und rief mit einem mal laut aus: Großartig! Ich schreckte auf und räusperte mich, während er mich mit weit aufgerissenen Augen und sich über seinen Schnäuzer streichend anstarrte. Gerade als ich etwas sagen wollte, schnellte er hervor, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch und flüsterte in verschwörerischem Ton: „Natürlich muss man hier und da noch geringfügige Änderungen vornehmen! Aber im Großen und Ganzen ist das ein wirklich annehmbares Manuskript. Ein bisschen Marketing hier, ein bisschen mehr Blut dort, und wir könnten ein paar Exemplare unters lesende Volk bringen. So drückte er sich aus. Er wollte ein paar Exemplare unters Volk bringen, was immer das auch heißen sollte. Er nickte mir aufmunternd zu, als hätte er mir geraten, auf einer Party ein Mädchen anzusprechen. Er lehnte sich wieder zurück und führte, wild mit der Zigarre fuchtelnd, aus: „Weißt Du, ich darf doch Du sagen, die Morde, die sind zu harmlos. Du deutest zu sehr an, lässt zu viel im Dunkeln. Wir wollen doch, dass die Leser sich ein wenig schütteln, oder? Da muss mehr Blut her, ein paar mehr Details, mehr Ekel, mehr Gefahr. Scheiß auf Realität, okay? Mach es ein wenig grausamer. Das verkauft sich! Zufrieden mit sich selbst deutete er mit der Zigarre auf mich und fügte hinzu: „Und lass den Killer etwas sexy erscheinen, da stehen die Leser drauf! Glaub mir, das Böse muss immer sexy sein, verstehst Du? Sexy und Böse, das verkauft sich! Der alte Kommissar jagt den jungen Killer, Gut gegen Böse, Hässlich gegen Schön, Alter gegen Jugend, Erfahrung gegen Übermut. Alles klar?" Er lehnte sich wieder zurück und machte es sich in seinem Sessel bequem.

    „Das wird schon., sagte er und lächelte breit. Dieses erste Gespräch mit meinem Lektor endete erst nach zwei mit unzähligen Tipps und Anregungen angefüllten Stunden. Und obwohl ich vieles davon nicht für richtig hielt, machte ich mich dennoch mit dem verletzten Stolz eines jungen Autors an die Änderungen heran. Ein halbes Kilo Instantkaffee später hatte ich meine Version fertiggestellt und das geflickte Masnuskript auf die Reise in den Verlag geschickt. Daraufhin geschah ein paar quälend lange Wochen gar nichts, bis eines Morgens mein Telefon klingelte. Ich war gerade dabei ein paar Schallplatten, die vom Vorabend verstreut in meinem Wohnzimmer herumlagen, einzusortieren. Ich hatte den Hörer noch nicht ganz am Ohr, da brüllte mein Lektor mir schon entgegen: „Hallo? Bendix? Hallo? Bist Du dran? Hör mir zu Junge! Hör mir jetzt genau zu! Wir haben einen Deal, verstehst Du? Einen verdammten Deal haben wir! Ich habe gerade mit dem Cheflektor gesprochen, dem alten Knacker, bleibt unter uns, und er hat Dein Manuskript abgenickt! Weißt Du was das heißt, Junge? Das Ding geht in die Produktion! Ich brauchte ein paar Sekunden um die Flut der Worte zu verarbeiten, doch dann breitete sich rasend das unglaubliche Glücksgefühl in mir aus, das erhebende, Himmelstor öffnende Gefühl, seine eigenen Worte, sein Werk, seine Geschichte von einem renommierten Verlag veröffentlicht zu wissen. Ich ließ ein paar Schallplatten fallen, wobei bedauerlicherweise die Kill Uncle von Morrissey zerbrach. Ein paar Tage später aber hing ich mir die in zwei Teile zerbrochene Schallplatte an die Wand. Sie sollte mich für immer an dieses überwältigende Glücksgefühl erinnern! Bereits damals wünschte ich mir, dieses fulminante Gefühl einfrieren und jederzeit hervorrufen zu können, wenn ich es wollte. Ein Jahrzehnt später sollte ich diesem Zustand näher kommen, als mir lieb war, doch damals war mir das natürlich noch vollkommen unbekannt. Als das Buch dann endlich erschien, spazierte ich aufgeregt in den nächst gelegenen Buchladen und entdeckte mit einem nicht zu beschreibenden Hochgefühl, dass mein Buch, zusammen mit ein paar anderen Neuerscheinungen, im Schaufenster ausgestellt wurde. Ich betrachtete es wie ein Erstgeborenes auf der Säuglingsstation durch die Scheibe und empfand kein geringeres Gefühl als Liebe für dieses Buch. Im Laufe der nächsten Monate wurde die gesamte Auflage verkauft und ging sogar in Nachproduktion. Ich konnte mein Glück nicht fassen und bevor ich mir Gedanken über meine weitere finanzielle Zukunft machen konnte, zitierte mein Lektor mich erneut zu sich ins Büro. Diesmal trug er eine enge Lederhose, ein weißes Hemd und so eigenartige Bob Dylan Lederbänder um den Hals. Das Gesamtbild rundete er durch eine große Sonnenbrille ab, die er auf dem Kopf trug. Als er mich sah, lachte er laut aus und brüllte hinter seinem Schreibtisch hervor: „Na, was habe ich gesagt? Mehr Blut, mehr Leser! Mehr sexy Killer, mehr verkaufte Bücher! Weißt Du, was Du bist, Bendix? Du bist begnadet! Er stürzte hinter seinem Schreibtisch hervor und wir trafen uns in der Mitte des Büros. Er warf seinen Kopf in den Nacken und breitete seine Arme aus, so als wolle er sagen: „Komm zu Papa! Wir umarmten uns wie alte Geschäftsleute, er klopfte mir mehrmals fest auf den Rücken und führte mich danach behutsam wie eine kostbare Vase, die nicht zu Bruch gehen durfte, zu seinem Besuchersessel, in den er mich sanft hineindrückte. Er stellte einen cowboybestiefelten Fuß auf die Lehne und raunte komplizenhaft: „Was haben Mankell, Beckett, Larsson, Doyle, von mir aus auch Christie gemeinsam? Ich wusste nicht worauf er hinauswollte und sagte unsicher: „Alles Kriminalautoren?

    „Und?", er nickte mir gleich einem Lehrer zu, der genau weiß, dass sein Schüler die richtige Antwort kennt. Ich hatte immer noch keine Ahnung.

    „Sie sind alle sehr erfolgreich?", sagte ich unsicher, wie bei einer mündlichen Prüfung, wissend, dass die Antwort wahrscheinlich nicht die gewünschte war.

    „Und?, fragte er erneut, wobei er das U ungeduldig in die Länge zog. Dann schwante mir plötzlich, worauf er hinauswollte und ich platzte, stolz, das Rätsel gelöst zu haben, hinaus: „Und sie haben alle Fortsetzungen geschrieben!

    „Bingo!, brüllte er und bohrte mir mit Schwung seinen Zeigefinger in die Brust. Mit ausgebreiteten Armen spazierte er durch sein Büro und referierte, als spräche er zu einem unsichtbaren Publikum: „Fortsetzungen! In keinem anderen Genre laufen Fortsetzungen so gut, wie in diesem. Die Leser lernen den Ermittler kennen, seine Marotten, seine familiäre Situation, seine Dämonen, sein Glück. Sie verlieben sich mit ihm, fiebern und rätseln mit ihm bei den Ermittlungen und empfinden dieselbe Spannung wie er, wenn er knöcheltief durch Gekröse kriecht um den Killer aufzuspüren. Was ist, wenn dem Ermittler etwas passiert, seiner Familie, seinen engsten Kollegen? Verstehst Du? Bei einer Fortsetzung kehrst du mit jedem weiteren Band in den Schoß der Familie zurück! Die Dinge ändern sich, alles entwickelt sich, und der Leser ist immer dabei. Sie kennen ihn bald besser als ihren eigenen Partner, der den ganzen Tag auf der Arbeit herumhängt, Akten wälzt und seine Kollegen knallt! Er machte eine künstlerische Pause, zwinkerte mir mit einem Auge zu, streckte beide Arme aus und zeigte mit beiden Zeigefingern auf mich. In dieser Pose kam er nickend auf mich zu und verkündete es mehr, als dass er es vorschlug: „Und Du, mein lieber Bendix, wirst eine Fortsetzung schreiben! Zufrieden mit sich selbst klatschte er lautstark in die Hände, woraufhin ich eingeschüchtert zusammenzuckte. Er stand immer noch nickend und mit dem breiten Grinsen eines Gebrauchtwagenhändlers vor mir und beobachtete, wie die Idee langsam in mir zu fruchten beginnt. Bevor ich etwas sagen konnte, er musste es mir förmlich angesehen haben, flüsterte er fast schon lüstern: „Ich wusste es! Der Rest ist Geschichte. Seit diesem Nachmittag schrieb ich einen blutrünstigen Band pro Jahr und mittlerweile werden meine Bücher großspurig vor dem Erscheinen angekündigt und beworben. Aktuell bin ich einer der erfolgreichsten deutschen Krimiautoren und begegne Meistern ihres Handwerks wie Mankell oder Beckett auf gleicher Augenhöhe. Davon abgesehen bin ich den beiden Herren allerdings noch nie begegnet. Mit Norman, meinem Lektor, treffe ich mich seitdem alle zwei Monate zum Essen, um die Fortschritte zu besprechen und mittlerweile habe ich mich an sein exzentrisches Wesen, welches im Laufe der Jahre eher noch zugenommen hat, gewöhnt. Ich gebe zu, dass ich mit den Jahren sogar Gefallen an seiner Exaltiertheit fand. Kein Treffen mit ihm, keine Begegnung, war vorhersehbar und wenn man sich erst mal an ihn gewöhnt hatte, gab es immer viel zu lachen. Ich begann, einige markante Züge seines Wesens in meine Nebencharaktere einfließen zu lassen, was ihn sehr amüsierte. Denn bei aller Überdrehtheit schien er stets selbstreflektiert genug, zu wissen, wie er auf andere wirkte. Er, als mein Entdecker sozusagen, hat ebenfalls viel Geld mit mir verdient und ist seit zwei Jahren endlich Cheflektor.

    Jetzt aber saß ich da, die Hände über der Tastatur, und mir fiel nichts ein. Zum ersten Mal seit zehn Jahren fiel mir nichts ein. Die Ideen entwickeln sich beim Schreiben, versuchte ich mir einzureden, der Hunger kommt beim Essen, ein Depp, wer sich zuerst den Titel ausdenkt, um dann den passenden Text zu schreiben. Genauso ist es mit dem ersten Satz, man misst ihm viel zu viel Bedeutung bei, beschwörte ich mich. Aber so ging es bereits seit ein paar Wochen, ich schaffte einfach keinen Anfang. Es war keine Schreibblockade im üblichen Sinne, mir mangelte es nicht an Ideen. Aber die Geschichte schien sich in meinem Kopf verbarrikadiert zu haben. Und sie wollte nicht heraus. Ich saß manchmal mehrere Stunden da und starrte die Tastatur an, ohne einen ersten Satz zustande zubringen. Irgendwann fing ich an, unbedeutende Umstände für meine Unfähigkeit verantwortlich zu machen. Manchmal blickte ich schlecht gelaunt zum Fenster hinaus und lauschte den Vögeln im Baum, die mir mit einem Mal unnatürlich laut vorkamen.

    „Bei diesem verdammten Lärm kann man sich ja auch nicht konzentrieren!", sagte ich laut zu mir selbst. Dieses ständig gleiche Gezwitscher der Amseln und Elstern im Baum vor meinem Fenster ärgerte mich und machte mich zunehmend aggressiv.

    „Kann man Vogelgezwitscher denn allen ernstes als Lärmbelästigung empfinden?, fragte ich mich und schüttelte, mich über mich selbst wundernd, den Kopf. Die Blockade begann mit meinem Umzug in die neue Wohnung. Meine älteste Freundin, Barbara, hatte mich nach vielen Jahren erfolgreich dazu genötigt in einen besseren Stadtteil zu ziehen. Sie kam eines Tages mit einem befreundeten Makler in meine Zwei-Zimmer-Wohnung gerauscht und verfügte, dass ich mir eine eigene, viel größere Wohnung als diese hier zulegen müsse. Während sie dies sagte, schob sie angewidert ein paar herumstehende Tassen zu Seite, um sich auf die Tischkante setzen zu können. Meine zaghaft vorgetragene Gegenwehr tat sie mit einem genervten Gesichtsausdruck und hektischem Handgewedel ab. Sie bedeutete dem Makler, mir seine Vorschläge auszubreiten. Und als ich die Bilder dieser traumhaften Wohnungen sah, bemerkte ich zum ersten Mal, dass ich tatsächlich seit Jahren deutlich unter meinen Verhältnissen gelebt hatte. Das war wohl auch der Grund, warum es bei einem einmaligen Besuch meines Lektors Norman geblieben war und er mich seit dem immer zu sich einlud. Warum hatte er nie etwas gesagt, er war doch sonst immer so direkt? Und einmal mit dem Virus des Neuen und Schillernden infiziert, konnte ich es gar nicht mehr erwarten, in eine dieser edlen Altbauwohnungen zu ziehen, die der Makler mir mit der Professionalität derer, die schon immer mit reichen Menschen verhandelt haben, an diesem Nachmittag präsentierte. Schon zwei Monate später schenkte mir Barbara einen antiken Stuhl zum Einzug in meine neue Wohnung, den ich als meinen ersten geschmackvollen Einrichtungsgegenstand ansehen sollte. Ich empfand die Formulierung zwar als ein wenig beleidigend, bedankte mich aber dennoch höflich, wie ein kleiner Junge, der von seiner reichen und bisher unbekannten Tante etwas sehr Edles geschenkt bekommen hat. Sie hätte am liebsten das gesamte Mobiliar meiner alten Wohnung verbrannt und einen Innenarchitekten beauftragt, doch bevor sie anfangen konnte, meine Wohnung wie ein Museum einzurichten, schob ich sie auf den Flur, bedankte mich für ihre Unterstützung und gab vor, mich unverzüglich an die Arbeit machen zu müssen, da der Abgabetermin für den zehnten Band nahte. Als sie das hörte, zog sie geringschätzend die Augenbrauen hoch, wie sie es immer machte, wenn sie mir zeigen wollte, wie sehr sie das, was ich schrieb, verachtete. Dann rauschte sie davon. Allein in meiner neuen Wohnung zurückgeblieben, mit den wenigen Möbeln, die ich aus meiner winzigen Wohnung mitgebracht hatte, kam ich mir verloren vor. Ich hatte vier riesige Zimmer zur Verfügung und keinen blassen Schimmer, was ich damit anfangen, geschweige denn, was für Möbel ich in sie hineinstellen sollte. Als ich mein Schlafzimmer eingerichtet hatte, viel mir auf, dass ich fast meinen gesamten Hausstand in diesem Zimmer untergebracht hatte, ohne das es mir überfüllt erschien. Meinen Schreibtisch schob ich vor eine riesige Fensterfront im Arbeitszimmer, von dem aus man einen sehr geschmackvollen Blick auf einen großen Park hat. Große Birken vor den Fenstern sollen verhindern, dass das Zimmer sich im Sommer allzu sehr aufheizt, hatte der Makler gesagt. Später würde ich mir bei der Einrichtung doch noch Hilfe von Barbara holen müssen, dachte ich. Aber zuerst wollte ich mit dem Buch beginnen! Es sollte der zehnte und abschließende Teil der Krimireihe werden, denn Norman und ich waren uns einig, dass ich dem Kommissar eine Pause gönnen sollte. Wir hatten das Gefühl, die Serie wäre langsam am Ende, die Verkaufszahlen gingen leicht zurück und nichts war verkaufsfördernder, als ein groß angekündigtes Finale. Später, in ein paar Jahren, könnten wir es dann mit einer spektakulären Wiederkehr versuchen. Bis dahin aber sollte der Kommissar ruhen! Als Barbara davon erfuhr, nahm sie mich freudestrahlend in die Arme und sagte: „Fantastisch! Endlich hörst Du auf, diesen Schwachsinn zu schreiben. Jetzt kannst Du endlich, natürlich unter einem anderen Pseudonym, oder vielleicht sogar unter deinem richtigen Namen, wer weiß, also vielleicht könntest du etwas Ernstes schreiben, etwas mit Gefühl und Anstand. Diese Idee hatte ich selbst auch schon, ich wusste nur noch nicht, was. Was in meinem letzten Krimi geschehen sollte, wusste ich hingegen schon, doch sobald ich in diesem riesigen Arbeitszimmer saß, mit Blick auf die großen Birken, verließ kein Wort mehr über meine Finger meinen Kopf. Dabei war die Geschichte ja da, in meinem Kopf. Sie klopfte sogar regelmäßig von Innen an die Wand. Bei den unangebrachtesten, ja geradezu ärgerlichsten Gelegenheiten klopfte sie, beim Bezahlen an der Kasse, beim Duschen, auf dem Weg in die Stadt oder kurz vor dem Einschlafen. Doch aufgrund meines scheinbar mangelhaft funktionierenden Kurzzeitgedächtnisses gingen fast alle diese Ideen verloren. So gut wie keine blieb haften und so saß ich Woche um Woche vor meiner Maschine und versuchte, in die Geschichte hereinzukommen, die sich zwar in mir breit gemacht, aber die Tür von innen verschlossen hatte. Wie viele Vormittage hatte ich schon tief in Gedanken damit verbracht, mich an all die ausgedachte Ideen und Aussprüche zu erinnern, die mir kurz vor dem Einschlafen immer so perfekt vorkamen. Denn da kamen sie mir meistens, die Wendungen, die Spannungsbögen, die unerwarteten Ereignisse und vor allem der so dringend benötigte Anfang! Doch vergaß ich alle meistens schon, bevor ich die erste Tiefschlafphase erreichte. Und morgens saß ich wieder am Tisch, darüber sinnierend, warum es heute wieder nicht funktioniert hatte. Nach ein paar Stunden deprimierenden Starrens auf die Tastatur, schnappte ich mir meistens meine Jacke und spazierte ein wenig im angrenzenden Park herum, wobei mir auch prompt die eine oder andere Idee kam. Den Spaziergang schloss ich regelmäßig mit einem Besuch in einem dieser bunt beflaggten Kaffees ab. Dort gönnte ich mir meist einen starken Kaffe und ein ordinär großes Stück Kuchen. Ich brauchte Tage, um zu merken, dass es sich um ein schwules Café handelte. Die Atmosphäre war friedlich und entspannt und die interessantesten Leute gingen dort ein und aus. Es machte mir Spaß, die sich angeregt unterhaltenden Jungs zu betrachten, während ich Kaffee schlürfend wahlweise über meine Kurzzeitgedächtnismisere nachdachte oder der Ideenfindung für meinen ersten ernsten Roman nachging. Aber es blieb dabei, die Geschichte meines Krimis dachte nicht daran, meinen Kopf zu verlassen oder zu verschwinden, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass sie stetig wuchs und dabei komplizierter, unübersichtlicher wurde, so dass die Chance, die Geschichte eines Tages ordentlich zu Papier zu bringen, von Tag zu Tag geringer wurde. Denn eines hatte ich in der Vergangenheit gelernt: Wenn die Geschichte zu komplex wurde, wenn es zuviel Stränge, zu viele Abschweifungen gab, war sie nicht mehr tauglich. Ich hüte mich vor dem von mir so benannten Storykraut und bemühte mich immer um eine stringente, klare, nicht allzu sehr ausufernde Geschichte. Meine Leserschaft dankt es mir mit ordentlichen Verkaufszahlen. Sogar ein gutes Ende hatte ich mir schon ausgedacht, das ist mir tatsächlich mal morgens in meinem neuen Schlafzimmer eingefallen und ich hatte sie sofort niedergeschrieben, die Idee mit dem Ende. Denn nur ein ausgesprochener Anfänger beginnt mit einer Erzählung, ohne vorher zu wissen, wie sie endet. Mir war also klar, wie sie enden sollte, ich wusste nur nicht, wie anfangen. Der erste Satz wollte mir einfach nicht gelingen. Ich sagte mir mantrahaft, dass dieser erste Satz ja eigentlich keine Rolle spiele. Ganz im Gegenteil, ich hatte die Vermutung, schriebe ich erst mal irgendeinen ersten Satz auf, dann würde der Rest der Geschichte wie an einer Perlenschnur folgen. Die Geschichte würde dem ersten Satz folgen, wie die Kinder dem Rattenfänger. Manchmal machte es mich richtig wütend, immerzu vor der Maschine sitzend und keine Idee, wie ich beginnen könnte. Vor kurzem fiel mir auf dem Weg von meinem Stammcafe nach Hause ein grandioser Einstieg in die Geschichte ein. Ich war wie berauscht, denn das war es ja, was ich suchte, einen Einstieg, eine Pforte zur Geschichte, deren Schlüssel ich bereits zu besitzen glaubte. Ich hatte den vermeintlichen Schlüssel, konnte aber die Tür nicht finden, den Einstieg zu meiner in meinem Kopf verbarrikadierten Geschichte. Und dann hatte ich ihn für einen kurzen Augenblick gesehen, den Einstieg, so dass ich nervös durch den Park eilte und mir bereits die verschiedensten Details, die Varianten ausmalte. Es waren vielleicht noch fünfzehn Minuten zu Fuß. Ich versuchte dermaßen angestrengt die Idee festzuhalten, dass ich bereits Kopfschmerzen davon bekam, doch mit jedem Meter, den ich dem Schreibtisch näher kam, mit jedem Schritt, verflüchtigten sich die Details des Einstieges. Ich hetzte angestrengt durch den Park und war, als ich an meinem Haus ankam, schweißgebadet. Als ich schlussendlich in die Wohnung stürzte und mich auf den Stuhl warf, waren nur noch Fragmente in meinem Kopf vorhanden. Keine zusammenhängende Idee, nur noch Fragmente einer eben noch da gewesenen Idee. Zusammenhanglose Fragmente, von denen ich kein einziges sinnvoll niederschreiben konnte, weil ich keinen Anfang fand. Was sollte ich mit fragmentarischen Notizen, ich benötigte einen Anfang und der war weg gewesen. Vor zehn Minuten war er noch da gewesen, da hatte ich sogar angefangen den ohnehin schon brillanten Anfang auszuschmücken, ihn zu perfektionieren, doch dann war er eben weg gewesen. Und mit ihm seine Ausschmückungen. Fast hätte ich den PC genommen und ihn aus dem geschlossenen Fenster geworfen, dabei vielleicht sogar eine von diesen unglaublich lauten Elstern erwischt. Keinen Deut geschämt hätte ich mich, im Gegenteil, mit einer gewissen Befriedigung hätte ich die zermalmte Elster betrachtet. Diese lauten Elstern, die den ganzen Tag im Baum vor meinem Fenster sitzen und mich zu verhöhnen schienen, mit ihrem Gekreische und ihrem hektischen Hin- und Hergefliege und Gehopse. An Tagen wie diesen wollte ich sie am liebsten alle einzeln erschlagen, die Elstern. Konnten denn Vögel schuld daran sein, dass mir nichts einfiel? An diesem Morgen saß ich also wieder untätig herum und beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Ich spazierte frustriert in die Küche, um mir einen Tee anstelle eines Kaffees zu kochen. Zuviel Koffein würde mich nur noch nervöser machen. Die Wohnung war mittlerweile fast komplett eingerichtet. Barbara und ich fanden einen Kompromiss zwischen meinem etwas fahrigen und ihrem leicht snobistischen und kühlen, musealen Stil. Die Stellen, die sie mir zu sehr nach Einrichtungskatalog dahindesignt hatte, verzierte ich mit unzähligen Magazinen und aufgeschlagenen Büchern, mit Platten und Hunderten von Notizen und Skizzen, sodass meine Wohnung endlich wieder den gemütlichen Bibliothekscharakter meiner vorherigen Wohnung bekam - nur viermal so groß und deutlich teurer eingerichtet. Barbara stöhnte jedes Mal geradezu geschockt auf, wenn sie die Wohnung betrat und chaotisch verstreute Kleidungsstücke auf der Rolf Benz Couch entdeckte. Manchmal machte ich mir den Spaß und drapierte sie extra dorthin, wenn ich wusste, dass sie vorbeikam. Und jedes Mal sammelte sie diese mit der Strenge einer katholischen Mutter auf und stopfte sie genervt in die Design-Wäschebox, deren Preis sie mir bis heute nicht verraten hat. Auf dem Weg in die Küche kam ich an meiner Abstellkammer vorbei, die allein doppelt so groß wie meine ehemalige Küche war. Warum ich an diesem Tag den Impuls verspürte, hineinzugehen, weiß ich bis heute nicht, aber ich betrat sie und sah mich ein wenig zwischen den Regalen und den Schuhständern um. Heute kommt es mir fast wie ein Wink des Schicksals vor, auch wenn ich an so etwas nicht glaube. Aber wäre ich damals nicht in die Kammer gegangen, hätte ich wohl niemals die Idee zu diesem Buch gehabt. Zwar verdienen nur mein Verlag und ein schottischer Musikkritiker daran, aber ich konnte immerhin meinen ersten Roman außerhalb der Krimireihe schreiben. Den zehnten Band habe ich bis heute nicht geschrieben, denn als ich damals aus der Kammer kam, erwachte ganz langsam eine Idee in mir, die dann, über ein paar Umwege wohlgemerkt, zu dem geführt hat, was sie jetzt in ihren Händen halten. Ich sah mich also in der Kammer um und wollte schon wieder gehen, da ich nicht ergründen konnte, warum es mich dorthin gezogen hatte, als ich das oberste Regalbrett bemerkte, welches nur ein paar wenige Zentimeter unter der Zimmerdecke angebracht war. Es war gerade so schmal, das man seine flache Hand hätte hinein schieben können, aber definitiv zu schmal, um irgendetwas dort abzustellen. Wahrscheinlich hatte man es nur dort angebracht, weil noch eines übrig war, dachte ich mir. Dieses Wandregal war bereits vor meinem Einzug hier gewesen und ich hatte mich nie großartig darum gekümmert. Die oberen Regalbretter waren sowieso allesamt leer, da ich kaum an sie herankam, ohne eine Leiter zu Hilfe zu nehmen. So viel Ramsch zum Verstauen hatte ich noch nicht angesammelt und der Ramsch, den ich besaß, lag verteilt in der Wohnung, damit sie nicht allzu leer aussah. Ich starrte bestimmt eine volle Minute auf den dunklen Spalt zwischen Regalbrett und Zimmerdecke, bis ich mich von meiner natürlichen Neugierde angetrieben, auf ein Regalbrett in Hüfthöhe stellte, um einen Blick in den Spalt werfen zu können. Ich klammerte mich mit der linken Hand an ein Brett, wobei mir unwillkürlich der Satz, „Die meisten Unfälle passieren im Haushalt", in den Sinn kam. Ich stierte in den Spalt, konnte aber bis auf eine erhebliche Staubschicht nichts erkennen. Ich wollte schon wieder enttäuscht den Abstieg wagen, als meine Augen sich an das Dunkel des Spaltes gewöhnt hatten und ich ganz hinten an der Wand etwas Weißes wahrnahm. Dort lag etwas, eingehüllt in Myriaden von Staubpartikeln. Ich versuchte, mit meiner rechten Hand in den Spalt zu gelangen, aber ich rührte nur Staub auf, der in mir eine derart heftige Niesattacke verursachte, die mich fast vom Regal riss. Ich zog mich mit beiden Händen ganz nah heran und blickte angestrengt, die Luft anhaltend, in den Spalt und versuchte auszumachen, was dort lag. Nach ein paar Sekunden begannen meine Arme zu zittern. Ich war nicht gerade der trainierteste, und mir war klar, dass ich mich nicht mehr lange würde halten können, als ich endlich erkannte, was dort im Dunklen verborgen lag. Es handelte sich um einen Stapel Papier, nicht allzu dick und an den Seiten bereits gewellt, was darauf hindeutete, dass es wohl schon eine weile dort oben gelegen haben musste. Ich sprang vom Regalbrett, um ein wenig zu verschnaufen. Ich war aufgeregt wie ein kleiner Junge, der auf dem Dachboden seines Großvaters eine alte Schatzkarte entdeckt hatte. Ich eilte ins Wohnzimmer und schnappte mir ein langes Lineal vom Schreibtisch, für das ich noch nie Verwendung gefunden hatte. Jetzt konnte ich es endlich einer Bestimmung zuführen. Auf die Idee, mir einen Stuhl mitzunehmen, bin ich in meiner Aufregung nicht gekommen. Erneut kletterte ich waghalsig auf das hüfthohe Regalbrett, mich linkshändig festklammernd, während ich mit der rechten Hand den Stapel Papier mit Hilfe des Lineals zu bergen versuchte. Mit einem kräftigen Schwung katapultierte ich das Papier aus dem Spalt, woraufhin ich mich eine Millisekunde später im Zentrum eines aus einem Urknall entstandenem Miniuniversum aus Abermillionen von Staubpartikeln befand, deren Sonne ich wohl darstellen sollte, und das zwei weitere Sekunden später dafür sorgte, dass mich ein fulminantes Niesen vom Regal riss und ich, glücklicherweise unverletzt, aber dennoch schmerzhaft auf dem Fußboden der Kammer landete. Ein gefallener Gott, der aus seinem selbst geschaffenen Universum verbannt wurde. Wie zum Hohn stand der Stapel Papier ein paar Zentimeter aus dem Spalt heraus. Mit beiden Händen mein Kreuz massierend, stand ich eine Weile dort und betrachtete das vergilbte Papier, während meine Galaxie immer weiter auseinanderdriftete und sich langsam auf den einzelnen Regalbrettern niederließ. Als der Schmerz langsam nachließ, holte ich mir dieses Mal einen Stuhl und barg vorsichtig das ersehnte Papier, damit mich nicht eine erneute Staublawine und deren Folge vom Stuhl riss. Es handelte sich um vielleicht zehn bis fünfzehn Seiten Papier, am linken Rand säuberlich gebunden. Die Seiten waren eng mit Schreibmaschine beschrieben und deutlich vergilbt. Ich befreite mein Fundstück vom Staub und brachte es herüber zu meinem Schreibtisch. Auch wenn es erst früher Nachmittag war, schenkte ich mir den Rest Rotwein vom Vorabend in ein Glas und begann das Schriftstück zu studieren. Auf der ersten Seite stand mittig folgendes geschrieben:

    Etiam nimia peritur laetitia

    von Stuart MacLennan

    Eine Studie

    Mai 1979

    Ich konnte zwar kein Wort Latein, aber dass das Manuskript, denn ein solches war es zweifelsohne, über dreißig Jahre alt war, ließ mich zufrieden lächeln. So lange lag es schon, ungeachtet meiner Vormieter, dort oben und wartete darauf, dass ich es entdeckte. Ich nahm einen großen Schluck Rotwein, der sofort eine angenehme Wärme und Ruhe in meinen Körper brachte und blätterte um. Sofort stellte sich eine kleine Enttäuschung ein, denn dort waren unzählige Zutaten verzeichnet und ich befürchtete bereits, es handele sich nur um ein langweiliges Rezeptbuch, welches man absichtlich in den Spalt geworfen hatte, damit es endlich weg war, das langweilige Ding. Als ich aber, mehr gelangweilt als interessiert, einige der Zutaten las, konnte meine Verwunderung nicht größer sein. Ich wusste beim besten Wille nicht, was man mit Stearinsäure und Spitzwegerichkraut kochen sollte. Oder mit geringsten Mengen Muscarin, Amylnitrit, Acetylsalocylsäure und Chlordiazepoxid? Und was macht man mit Sennesblättern, Labkraut, Eisenhut, Schöllkraut, Zistrose und der Nachtkerze? Davon abgesehen, dass jedes dieser Zutaten mit genauesten Mengenangaben und ihrer Darreichungsform versehen war, konnte ich mir keinen Reim darauf bilden. Die komplette zweite Seite war gefüllt mit hunderten Zutaten für ein groteskes und mit ziemlicher Sicherheit abendfüllendes Gericht, wie mir schien. Entweder handelte es sich hier um den albernen Scherz eines Kindes oder ein wahnsinniger Alchimist hatte sich in meiner Wohnung ausgetobt. Für den Scherz eines Kindes waren die Zutaten allerdings ein wenig zu exklusiv, zu medizinisch. Ich beschloss erst einmal, weiter zu lesen, bevor ich mir weitere Gedanken darüber machte. Wenn sich herausstellte, dass es sich tatsächlich nur um ein absonderliches Rezept handele, würde ich es einfach wieder in den Spalt zurückschieben und die Sache vergessen. Sollte es ruhig da oben verrotten. Aber auf Seite drei begann endlich ein Text, der nicht nach einer Kochanweisung aussah, es schien sich mehr um eine Art Tagebucheintrag oder um ausgeführte Notizen zu handeln. Fast schien es so, als hätte der Autor einen Brief an sich selbst geschrieben. Der Text begann mit folgenden Worten: Wer von uns hat nicht schon einmal davon geträumt, ewig glücklich zu sein? Wer würde nicht am liebsten den ganzen Tag glückselig durch die Stadt laufen, ungeachtet des Leids und der Tragik um einen herum? Man verliert seinen Job, man laboriert an einer schweren Krankheit, hat kaum Geld, um sich etwas zu Essen zu kaufen oder ist ganz einfach ein notorischer Pessimist. Aber trotzdem ist man glücklich, das Böse erhält keinen Einzug in die Gefühlswelt. Nicht so, als stünde man unter Drogen, so wie der Depressive, den man unter Drogen setzt, bis er nichts mehr spürt, ihm alles egal ist und er die Realität um sich herum gar nicht mehr wahrnimmt. Nein! Was wäre, wenn es ein Mittel gäbe, den Zustand der Glückseligkeit einzufrieren, ohne dass die geistige Leistungsfähigkeit darunter leidet? Was wäre, wenn man die alltäglichen Widrigkeiten, die uns bisweilen den letzten Nerv rauben, ab sofort mit entspannten Glücksgefühlen entgegentreten könnte, ohne dabei den Blick auf die Realität zu verlieren? Wir wissen, dass uns gerade etwas Negatives zustößt, doch wir spüren es nicht, wir sind glücklich und handeln trotzdem rational. Haben Sie schon mal in einem Zustand von Frieden und Sorglosigkeit eine Beerdigung organisiert? Ohne dass sie im Testament als Alleinerbe fungierten? Das könnte in Zukunft möglich sein! Ich habe einen Weg gefunden, Gefühle und Emotionen einzufrieren

    Hier brach der Text leider ab. Ein paar handgeschriebene Notizen waren angefügt, die ich jedoch nicht lesen konnte, da sie äußerst hastig dorthin gekritzelt und zudem in Englisch formuliert waren, wenn ich es denn richtig erkannte. Ich nahm einen weiteren Schluck Wein und schüttelte verwundert den Kopf. Das war in der Tat das Werk eines Wahnsinnigen. Toll, dachte ich mir, ich wohne in der ehemaligen Wohnung eines Verwirrten. Ich blätterte um. Auf den nächsten Seiten gab es unzählige Skizzen mit hinzugefügten Notizen, Korrekturen und Bemerkungen zu den Korrekturen. Ab Seite elf sah es dann wieder nach Kochrezept aus. Über fünf Seiten hinweg wurde dezidiert angegeben, wann man in welcher Reihenfolge welche Zutat in welchen Topf mischen sollte. Es gab Temperatur- und Ziehanzeigen, Portionsangaben und Aufbauanleitungen. Nach und nach wurde mir klar, dass es sich hier nicht um das Rezept eines Spaßvogels sondern eher um ein ernstgemeintes Experiment handelte. Mit dieser Anleitung ließ sich ein Mittel herstellen. Vorausgesetzt man hatte die unzähligen Zutaten beisammen. Ich schätze, es waren circa siebzig bis achtzig mehr oder weniger schwer zu beschaffende Ingredienzien, die dort ihre Verwendung fanden. Ich klappte das sonderbare Manuskript zu, ohne mir ein abschließendes Bild darüber gemacht haben zu können. Ich konnte nicht erkennen, ob das, was in diesem Schriftstück abgehandelt wurde, irgendeinen Realitätsgehalt hatte oder ob es tatsächlich einfach nur die Aufzeichnungen eines Verrückten waren. Da der Rotwein sich zu Ende neigte, schnappte ich mir meine Jacke und machte mich auf den Weg in mein Stammcafé. Ich wollte jetzt unter Menschen sein. Auf dem Weg zur Tür schnappte ich mir das Manuskript und steckte es in die Innentasche der Jacke, vielleicht würde ich es später noch etwas studierenn, dachte ich mir. Freudig erregt hüpfte ich das Treppenhaus herunter und begab mich schwungvoll auf den Weg ins Café. Auch wenn der Inhalt vielleicht fraglich war,

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