Sturm über Lich - 2022: Fantastischer Zeitreise-Roman
Von Stefan Koenig
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Über dieses E-Book
Mit einem schrecklichen Wintersturm im Januar 2022 bricht von einem Tag auf den anderen ein weiteres Unheil über die liebliche Kleinstadt in der Mitte Deutschlands herein. Neben der Naturkatastrophe bestimmen plötzlich auch Mord, Intrigen und dämonische Kräfte das Leben der Bewohner. Das Böse scheint von einem Fremden, Niko Lamor, auszugehen. Denn dieser Mensch, wenn er denn einer ist, stellt eine Forderung, die den Licher Bürgern erst einmal schleierhaft bleibt …
Und was sagt der Autor? Stefan K.: "Ich denke, meine Leserschaft kann Tatsachenberichte von Romanen unterscheiden, und es besteht nicht die geringste Gefahr, dass sie die Wirklichkeit verbiegen. Aber wie es halt mit Märchen so ist – sie enthalten ein gehöriges Spektrum von dem, was wir tatsächlich in der Realität täglich erleben, fühlen, verstehen. Tatsache ist, dass es uns alle erwischen kann. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Die Warnrufe der Natur erschallen. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Die Warnblinker der Natur rotieren. Zu alledem ist die Demokratie in Gefahr.
Wir alle, oftmals selbstverliebt in die guten Märchen, die wir uns zusammenstricken, um unsere Sorgen zu vergessen, können den Tatsachen nicht ausweichen. Und dennoch liefert uns eine Geschichte genau den Stoff, der uns an Orte führt, die wir noch nicht kennen. Und an Geschehnisse, die uns erstaunen oder erschaudern lassen. Eine Ablenkung. Für einen Moment. Für einen wichtigen Moment."
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Rezensionen für Sturm über Lich - 2022
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Buchvorschau
Sturm über Lich - 2022 - Stefan Koenig
Utopia
Stefan Koenig
Sturm über Lich
2022
Eine fantastische
Roman-Zeitreise
Ergänzungsband zu
Freie Republik Lich - 2023
© 2021 by Stefan Koenig
Mail-Kontakt zumAutor:
juergen.bodelle@t-online.de
Die Geschichte zählt,
nicht der Erzähler.
Stellt euch einmal uns‘re Welt vor
Ohne Krieg, ohne Gewalt
Ohne Bosse, ohne Herrscher
Jeder ist dem Ander‘n Halt
Ohne Ehrgeiz, ungehetzt
Alle leben nur im Jetzt
Ohne Himmel, ohne Hölle
Einfach nur im Jetzt und Hier
Diese Welt gehört uns allen
Ohne Grundbesitz und Gier
Stell dir vor wir leben sie
Diese schöne Utopie
Nennt mich gerne einen Spinner
Der nicht passt in uns‘re Zeit
Doch ihr lebt in einem Albtraum
Mein Traum ist die Wirklichkeit
Eine Welt ganz ohne Grenzen
Und statt Wettbewerb und Neid
Teilen wir endlich gleichberechtigt
Uns‘re Freude, unser Leid
Wäre diese Welt nicht hier
Wüssten wir doch nichts von ihr
Nein, der Mensch ist nicht so schlecht
Wie‘s die Herrschenden gern hätten
Es ist unser aller Recht
Uns vor diesem Trug zu retten
Und wir wollen, dass uns‘re Welt
Sich nicht an deren Regeln hält
Nennt mich gerne einen Spinner
Der nicht passt in uns‘re Zeit
Doch ihr lebt in einem Albtraum
Mein Traum ist die Wirklichkeit
Nennt es weltfremd, nennt es Wahnsinn
Doch ich träume nicht allein
Ist denn nicht allein die Liebe
Grund und Sinn von allem Sein?
(Konstantin Wecker)
___________
Noch immer widme ich das Buch
all jenen Licher Bürgern,
die sich nicht damit abfinden können,
dass über ihre Interessen hinweg
entschieden wurde.
Und natürlich widme ich es meinen treuen
Leserinnen und Lesern, immer in der Hoffnung,
dass sie noch gut schlafen können.
Das völlig unnötige Vorwort
Ich glaube zu wissen, dass auch Sie Vorworte nicht mögen. Vielleicht hassen Sie sie nicht, denn – Sie erinnern sich gewiss der Worte von Arnold Aurora – nur wer nicht geliebt wird, hasst. Nur wer nicht geliebt wird!
Aber Sie … Sie mögen es einfach nicht. Sie mögen nicht das Palaver vor der schönen Geschichte. Nicht mögen und hassen – das sind wirklich zwei völlig verschiedene Zustände. Und dennoch: Wer garantiert Ihnen hier überhaupt eine „schöne Geschichte"?
Eine Bitte vorab: Lassen Sie sich weder vom Autor noch von seiner Story belästigen. Ich fände es äußerst unfair, wenn Sie nach zwanzig oder dreißig Jahren kommen und sagen, man hätte Sie damals, 2021, als junger Leser/ junge Leserin missbraucht. Hätte Ihnen eine Geschichte aufgezwungen, mit der Sie ins Bett gegangen sind, um sodann nur unter Albträumen zu leiden. Literarische Nötigung! Wäre es nicht echt unheimlich, wenn Sie nicht den Mut fänden, dieses Buch sofort zur Seite zu legen? Haben Sie heute den Mut, NEIN zu sagen! Ich an Ihrer Stelle hätte es schon längst getan. Ich hasse unnötige Worte. Ja, nur wer nicht geliebt wird, hasst!
Und es gibt tatsächlich jenen L.H., der mich nicht liebt, von dem ich Ihnen noch berichten muss.
»Verdammt noch mal, schreib ein Vorwort!«, raunte mir beim letzten Buch mein zweites Ich zu. Anscheinend habe ich sogar ein drittes Ich, denn genau dieses Raunen vernahm ich gerade eben, in diesem Moment. Ich gebe auf und gebe statt. Und wie immer, ich bleibe dabei: Ich schreibe hier und kann nicht anders. Ich fühle mich – noch immer und wie jeder wahre Irre – der Wahrheit verpflichtet. Mein Wort in Gottes Ohr!
Ihr Stefan Koenig Im November 2021
Bitte vergessen Sie nicht,
dass es sich bei dem vorliegenden Werk
um eine frei erfundene Story handelt.
Keine Angst also!
Personen-Namen, Straßen-Namen,
die Ihnen vielleicht
durchaus bekannt vorkommen mögen,
gehören nicht
zu real existierenden Personen oder Orten.
Jedenfalls gibt es sie so nicht, nicht so!
Orte, Ereignisse und Romanfiguren
sind allesamt Erfindungen.
Nackte Illusionen.
Faktische Fiktionen.
Fiktive Fakten.
Lich – gibt es diesen Ort wirklich?
Ich bin mir in nichts mehr sicher.
Vielleicht wissen Sie mehr.
Der, die, das. Wer, wie, was?
„Also, Sie mit Ihren Ideen! Woher nehmen Sie bloß Ihre ganzen Einfälle?" Diese Frage höre ich am häufigsten, aber gleich danach kommt diese: „Spielen bei Ihnen immer irgendwelche Monster mit?" Wenn ich letztere verneine, bin ich mir nie ganz sicher, ob die fragende Person aufatmet oder tief durchschnauft, um mir ihre Enttäuschung nicht ins Gesicht zu brüllen.
Wie Sie bereits wissen – vielleicht aber auch nicht, denn ich kann nicht davon ausgehen, dass Sie all meinen bisherigen Mist gelesen haben – bin ich für einen Licher Verlag tätig, in dem auch mein guter Kollege Benjamin Carl arbeitet. Wir sind inzwischen gute Freunde, und es war Ben, der nach meinem letzten Roman meinte, ich sollte mir Gedanken über die nächste Veröffentlichung machen.
Es mag Ihnen seltsam vorkommen, dass man nur einen Monat nach der Veröffentlichung einer tornadoartigen Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruhen könnte, den nächsten Tatsachenbericht in der Pipeline hat. Doch das liegt nicht am Berichterstatter – es liegt an den tatsächlichen Begebenheiten. Denken Sie bitte daran: Der Ursprung ist die Geschichte, nicht der Erzähler! Ich gehöre auch nicht zu jener Sorte Autoren, die ihre ach so wertvollen Manuskripte ein Jahr lang in der Schublade lassen und gelegentlich herausholen, um sie dann im Café sitzend mit wichtigtuerischer Miene zum x-ten Mal zu lesen, bis sie endlich langsam wie eine Schildkröte ihrer Veröffentlichung entgegenkriechen.
Als ich Ben nach einiger Zeit die ersten hundert Seiten von »Sturm über Lich« zu lesen gab, war er zweifach verblüfft. Einmal, weil einige Seiten auf die Rückseiten von Druckerei-Rechnungen kopiert waren, zum andern, weil das Manuskript nach Bier stank, da meine Liebste zwei Monate zuvor, anlässlich meines Geburtstags, versehentlich eine Maß Weißbier darüber ausgeschüttet hatte. Ich hatte das Manuskript aus ökologischen Gründen getrocknet. Ein Neuausdruck kam nicht in Frage – kein Baum sollte wegen einer umgestoßener Maß Weißbier gefällt werden. Außerdem liebe ich den Geruch von Weißbier auf Manuskriptpapier. So hat jeder seine Vorlieben.
Während der nächsten zwei Wochen las Ben die fertiggestellten Seiten. Er war so etwas wie mein Lektor, und da er ebenso penibel ist wie ich, nahm er sich entsprechend Zeit. Kratz an einem Verlagsmitarbeiter, auch wenn er nur aushilfsweise dort tätig ist, und du entdeckst einen allwissenden Heiligen, der dir jeden Furz hinterherrecherchiert.
Ich hielt mich ein paar Tage in Lich auf, um dort für den Verlag Manuskripte anderer Autoren zu sichten. In unseren Pausen zog ich es vor, mit Ben über die Text-Einreichungen zu diskutieren. Aber diesmal wollte er mit mir nur über mein Manuskript sprechen. Sollte ich wirklich einen Zeitrückgriff machen und nach dem 2023er-Streich jene spezielle Katastrophe von 2022 aufgreifen, obwohl ich sie im ersten Bericht über die »Freie Republik Lich – 2023« nicht erwähnt hatte?
Die Entscheidung fiel an der Ampel oberhalb der Braugasse, Ecke Volksbank, als wir auf die gegenüber liegende Parkseite wechseln wollten. Ben und ich standen dort und warteten auf Grün und sahen junge Mütter, die beim Döner auf der anderen Straßenseite ein schnelles Mittagessen besorgten. Und Ben sagte: „Ich denke, du solltest noch vor Weihnachten damit rauskommen. Denn wenn der Sturm im Januar über uns hereinbricht, ist es zu spät."
Nun, das gefiel mir und schien logisch. Aber er sagte es widerstrebend, und ich fragte ihn ganz direkt, was denn los sei.
„Wenn du erst ein Buch schreibst über ein Logistikmonster, das nur durch eine aus dem Ruder gelaufene Natur überwältigt werden kann, und anschließend eins über ein neuerliches Desaster, dann wirst du abgestempelt", sagte er.
„Abgestempelt?, fragte ich verwundert. Ich sah keine nennenswerte Ähnlichkeit zwischen Monsterspinnen und einem tödlichen Wintersturm. „Abgestempelt als was?
„Als jemand, der nur Katastrophenstorys schreiben kann", sagte er noch widerstrebender.
„Oh, meinte ich erleichtert. „Ist das alles?
„Warte ein paar Jahre, bis du deinen Ruf weg hast, sagte er. „Dann wirst du schon sehen.
„Ben", sagte ich amüsiert, „meine Leser kennen alle meine Seiten – auch und gerade meine authentischen Zeitreisen. Sie lassen sich nichts vormachen."
Die Ampel sprang auf Grün. Ben klopfte mir auf die Schulter. „Ich denke, dein neuer Bericht wird gut, aber ich glaube dennoch, dass du manchmal Scheiße nicht von Schuhwichse unterscheiden kannst."
Ich machte einen auf beleidigt, denn das kam bei Ben immer gut an. Während wir in unserer Mittagspause durch den Park schlenderten, blieb Ben plötzlich stehen, kratzte sich am Kopf und sagte: „Du hast deinen Lesern damals nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das kommt nicht gut an."
Ich dachte einen Moment nach, bevor ich ihm antwortete: „Es ist tatsächlich so, dass die vollumfängliche Wahrheit nicht immer verkraftet wird. Weder vom Autor, noch von der Leserschaft."
„Du meinst also hauptsächlich jene Leute, die du mit deinen Zeitreise-Erlebnissen unterhalten und zugleich von irgendwas überzeugen willst. Denn ob du etwas verkraftest oder nicht, interessiert kein Schwein!", sagte Ben etwas unwirsch und wenig vornehm.
Er hatte Recht. In der Hauptsache konnte ich meinen Kunden, also der Leserschaft, die unterhalten werden wollte, nicht die ganze Wahrheit zumuten.
Tatsächlich war es so, dass ich – als ich über die Freie Republik Lich des Jahres 2023 berichtete – im Kurzdurchlauf die Jahre 2018 bis 2022 der Geschichte vorangestellt hatte. Natürlich fühle ich mich gegenüber den Leserinnen und Lasern – »Laser«, ein alter, abgestandener Witz von mir, von dem ich mich trotz aller guten Vorsätze noch immer nicht lösen kann – zur reinen Tatsachenberichterstattung verpflichtet.
Aber wie Sie bereits wissen, gibt es Dinge im Universum, die sind einzigartig. Wenn sich jedoch eine Einzigartigkeit an die andere reiht, hegt man gelegentlich den Verdacht, es könnte sich um eine Serie von Ungeheuerlichkeiten handeln – so wie ein Serientäter zuerst als Einmalkiller erscheint und erst mit weiteren Taten zum Serienkiller wird. Verhält es sich so eventuell auch mit den Naturphänomenen, von denen ich Ihnen berichte? Haben wir die Natur zum Serienkiller gemacht?
Ich finde schon. Denn ich wusste sehr genau, was damals im Januar 2022 geschehen war – beziehungsweise was geschehen würde. Doch ich wollte es Ihnen nicht berichten, wollte es Ihnen nicht zumuten.
Und so sagte ich zu Ben, während wir weiter in Richtung der Licher Brauerei schlenderten: „Vielleicht klingt es in den Ohren meiner Leser wie eine billige Ausrede. Autoren sind tatsächlich niemals um Ausreden verlegen – ebenso wie unsere Politiker, Investoren, Kassen- und Privatärzte, Logistikmanager, Kapitalanlage-, Unternehmens- und Steuerberater und …"
„… willst du wirklich die Liste fortsetzen?", unterbrach mich mein guter Kollege.
„Ist es dir nicht zumutbar?", fragte ich ihn.
„Es ist echt unzumutbar! Ich fasse es nicht, einfach too much!", rief er aus.
„Siehst du!", sagte ich triumphierend. „Genauso wenig wollte ich damals die Leser emotional überfordern. Wir dürfen nicht nur heulen. Wir müssen auch verändern. Und dazu brauchen wir Kraft. Die Kraft der Tränen und des Lachens."
„Schreibst du wieder über die vergangene Zukunft?"
„So, oder so ähnlich", sagte ich und ließ Ben im Ungewissen. Wir mussten beide lachen.
Was wir zu diesem Zeitpunkt wahrlich nicht wussten: Im Januar 2022 verging uns das Lachen. Es verging uns gründlich.
Wer nicht fragt, bleibt dumm.
Die Mittagspause war zu Ende. Während wir in Richtung der Altstadt zurück zum Verlagsbüro spazierten, machte mich Ben darauf aufmerksam, dass ich die beteiligten Romanfiguren nicht zu kurz kommen lassen dürfe. Nicht wenige Leser würden vielleicht überhaupt nicht wissen, wer weshalb welche Rolle bislang in der Licher Geschichte gespielt habe – aus dem einfachen Grund, weil sie die Story über die Freie Republik gar nicht gelesen hatten. Selbst die, die die Story kannten, hätten gewiss schon wegen der vergangenen Zeitspanne nicht mehr alle Namen und Zusammenhänge parat.
„Findest Du eine Aufstellung der Personen und die Erläuterung wirklich sinnvoll?", fragte ich ihn und verzog das Gesicht.
„Mir jedenfalls würde so etwas helfen, meinte Ben. „Ich blättere gerne mal nach vorne, um mir die Namen der wichtigsten Protagonisten und die damit zusammenhängenden Funktionen im Romangeschehen wieder einmal vor Augen zu führen.
„Na ja, wer diesen personellen Vorspann nicht lesen will, kann die Seiten ja einfach überblättern", gestand ich Bens Vorschlag zu, hatte aber nicht gerade ein berauschendes Gefühl, die gesamte Vorgeschichte in personeller Hinsicht noch einmal zusammenfassen zu müssen.
„Du solltest ja nur das Herausstechende und für die neue Geschichte das Nötigste hervorkramen", sagte Ben. Er sah mir wohl meinen missmutigen Gesichtsausdruck an und klopfte mir wieder einmal ermutigend auf die Schulter.
Am gleichen Abend setzte ich mich hin und tat wie mir empfohlen.
Die Sache selbst:
Hinter dem Rücken der Licher Bürger wurde von den Stadtvätern in stiefväterlicher Weise in einem atemberaubenden Schnellverfahren und mit bösen verwaltungstechnischen Tricks die Bebauung eines naturbelassenen, supergroßen Geländes durchgepaukt. Es handelte sich um den Baugrund »Langsdorfer Höhe«. Das Gelände hieß im Volksmund seitdem Wüstenberg – benannt nach dem Immobilienhai Dr. Werner Wüst, dessen Aktiengesellschaft laut eigenen Angaben steueroptimiert für Großanleger tätig ist. (Sie dürfen ruhig recherchieren!) »Steueroptimiert« soll in diesem Zusammenhang heißen: Es fällt kein Cent für die Kommune ab, der man das Gelände abgeknöpft hat.
Die Akteure in dieser hinterfotzigen Sache:
Dr. Werner Wüst, etwa Mitte Fünfzig, ein landesweit tätiger Investor. In diesem Fall ein Immobilienunternehmer und Baulöwe, dessen Geschäftsprinzip es ist, zu billigsten Konditionen bei den willigsten Bürgermeistern Land aufzukaufen, um es zu teuren Konditionen höchst profitbringend an die an Amazon angebundenen oder amazontypischen Logistik- und Verkaufszentren weiterzuvermieten. Es ist weitaus profitabler, auf dem flachen Land von flach regierten Landeiern Land abzukaufen, als nahe der Autobahnen das Dreifache investieren zu müssen – was den Gewinn entsprechend schmälert.
Sein Großmieter ist dieses Mal die MyClo-AG des Dr. Clowalla, mit dem Dr. Wüst partnerschaftlich verbunden ist und dem er einen Mietvertrag andreht, obwohl noch keine Baugenehmigung vorliegt.
Für seine windigen Geschäfte benötigt der wüste Unternehmer eine Handvoll hauptberuflicher politischer Amateure – eine Herde kleiner Wüstlinge, die ihm, dem großen Unternehmer, Respekt und Gehorsam zollen. Das bekommt ein Draufgänger wie Dr. Wüst am besten durch Drohungen, kombiniert mit Versprechungen und Gefälligkeiten hin. Wie sonst?
Aus Sicherheitsgründen trägt er eine schusssichere Weste unter seinem langweiligen Anzug. Zu seinem bärenstarken Beschützer und Sicherheitschef auf dem Wüstenberg hat er Hulk Hogan gemacht.
Seine gefolgstreue Herde besteht aus dem Bürgermeister Arturo Groß, Anfang fünfzig, Kontaktlinsen mit bestem Sichtkontakt zu Dr. Wüst. Der Sozialdemokrat Groß ist eitel und selbstherrlich, wechselt sicherheitshalber öfter seine Sekretärinnen und lächelt im Dienst äußerst selten, und wenn, dann verbissen. Er verspricht sich von dem Deal eigene Vorteile und gaukelt der Bevölkerung und seiner eigenen Partei vor, man würde den Bürgern, der Stadtkasse und der örtlichen Kaufkraft einen Gefallen tun. Er ist ein Spezialist in Versprechungen und Prognosen – wie fast alle Politiker … und wie Werner Wüst. Pech (für die Stadt), wenn nichts von alledem eintrifft – aber dann ist er schon über alle Berge und hockt auf einem noch höher vergüteten Posten.
Jetzt braucht Wüst noch eine Figur aus anderen verwandten Gefilden. Zum Beispiel von der CDU, eine Figur, die sein Vorhaben – wie sollte es anders sein – bravourös unterstützt. Gut, wenn es eine Frau ist. Möglichst eine, die in großen wirtschaftlichen Deals unerfahren ist. Seine Wahl fällt auf Ingrid Steegher, die Erste Stadträtin. Sie tut alles, um den Deal durchzuboxen und versteht es, rechtlich klare Linien zu einer rasanten Schlangenlinie umzubiegen. Sie ermöglicht einen Kaufvertragsabschluss zu einem viel zu frühen Zeitpunkt, im September 2018, ohne Legitimation durch den Magistrat. Die Bürger wissen in jenen Tagen noch nichts von jenem ominösen Kaufvertrag.
Verwaltungsrechtlich korrekt hätte es anders laufen müssen: Die Vertreter der Bürgerschaft, die Stadtverordneten, werden ordentlich, wahrheitsgemäß und umfänglich vom Investor und dem verhandlungsführenden Bürgermeister über das Großprojekt informiert. Aufgrund dessen beschließen sie eventuell, dass ein Kaufvertrag geschlossen werden soll. Daraufhin beauftragt der Magistrat den Bürgermeister mit der Vorbereitung eines solchen. Dieser legt anschließend einen städtebaulichen Vertrag vor, in dem die Bedingungen für den Investor festgelegt werden.
Und dann erst kommt der Bebauungsplan in die Fahrspur – und zwar gemäß den Festlegungen in den vorangegangenen Verträgen. Aber es ging wie Kraut und Rüben durcheinander. Gewollt? Oder aus mangelnder Erfahrung?
Es etabliert sich eine Bürgerinitiative gegen das unsolide Vorhaben. Die Vertreter der Bürgerinitiative legen gegen dieses Kraut-und-Rüben-Verfahren sofort Beschwerde bei der Landrätin ein. Sie stellt lapidar fest: „Das kann man nachträglich heilen." Ein verwaltungsrechtlicher Treppenwitz.
Unterdessen macht die Erste Stadträtin gemeinsame Sache mit ihrem treuen CDU-Parteisoldaten Detlef Hofbauer, der, weil die Partei es will, als strenger Einäugiger dem städtischen Bauausschuss vorsteht und Dr. Wüst (Die Wirtschaft! Die Wirtschaft!) zu Füßen liegt.
Nun müssen nur noch, gewissermaßen im Nachhinein, die Stadtverordneten „überzeugt werden. Man kann nicht alle mit Gefälligkeiten bedienen. Es würde herauskommen. Mit fingierten Angaben „überzeugen
aber kann am besten und naturgemäß ein allseits anerkannter Stadtverordnetenvorsteher. Der Stadtverordneten-Boss heißt Klaus-Dieter Lügge, ein Parteigenosse des Arturo Groß.
Er ist äußerst erfindungsreich, wenn es um Ablenkungsmanöver geht, und er weiß seine entscheidende Stimme im entscheidenden Moment für das Wüst-Imperium einzusetzen. Als es um die Abstimmung über die Zulassung eines Bürgerentscheides geht, spricht er sich des Scheins halber vor der versammelten Bürgerschaft für einen Volksentscheid aus, verhindert ihn aber geschickt im selben Moment. Und er denkt, keiner merkt’s.
Die Sozialdemokraten sind in sich gespalten – einerseits die kritischen, noch an sozialen und ökologischen Werten orientierten, andererseits die karrieristischen Ja-Sager und Mitläufer inklusive der Karteileichen. Um sie alle auf Trab zu halten, gibt es einen lokalen Parteichef und Fraktionsvorsitzenden. Er heißt Jonas Cäsar, war in früherer Zeit unter der Landrätin Annika Tänzer beschäftigt, die noch eine besondere Rolle in diesem Spiel einnehmen sollte. Sein Job beim Landkreis unter Annika war es, in der Glaskugel zu lesen. Er bezeichnete sich als Demographie-Beauftragten. Und er war seit jeher ein enger Vertrauter des Arturo Groß. Beide einigen sich auf einen karrieristischen Deal.
Da Groß mit dem Durchpeitschen des Logistikmonsters bei den Bürgern verbrannt ist, tritt er auf Anraten von Dr. Wüst nicht mehr für eine dritte Wahlperiode an. Im Gegenzug bekommt er einen neuen hochbezahlten Vorstands-Job in einer gemeinnützigen Einrichtung in einem abgelegenen Residenzstädtchen, abseits von Lich. Er übergibt den Stab an Cäsar, der so tut, als habe er mit allem nichts zu tun. Hat er aber.
Cäsar tritt zur Wahl an; ebenso wie ein CDU-Mann, Herbert Will, der so tut, als sei er gegen das ungeliebte Logistikzentrum. Ein Mitbewerber aus dem Kreis der kritischen Widersacher landet dadurch nur auf Platz drei. Es kommt somit lediglich zu einer Stichwahl zwischen Cäsar und Will, der aber kurz vor der Wahl nicht mehr so recht will. Besser gesagt: Er wird von seiner Partei urplötzlich aus dem Rennen genommen. Im Prinzip bleibt ein einziger Bewerber auf dem Wahlzettel übrig: Jonas Cäsar. Ein perfekter Coup, ein Deal zwischen Sozial- und Christdemokraten, ganz im Sinne der Wüst’chen Interessen. Cäsar ist nun der neue, etwas jovialere Groß, scheinbar unverbraucht, nicht verstrickt in Machenschaften – so scheint es.
Dann gibt es – wie immer in solchen Fällen – ein kleines, aber fleißiges Duo an ergebenen Leserbriefschreibern. Es sind der über achtzigjährige Gerald Alt und sein zehn Jahre jüngerer Freund Peter Hartbusch-Niebergall. Sie sind die ehrenamtliche Propaganda-Abteilung von Wüst & Co.
Die wichtigste Rolle bei einem so gewaltigen Bauvorhaben jedoch spielt die Bauaufsicht.
Die Bauaufsicht.
Das zuständige Organ der gründlichsten aller Prüfungen!
Die Bau-Aufsicht!
Der zuständige Chef heißt Rüdiger Halbersach, ein Beamter, der keine halben Sachen macht.
Die Bauaufsicht hat einen natürlichen Feind – das Amt für Umwelt und Naturschutz.
Aber Rüdiger hat eine altbewährte Freundin aus alten Arbeitsverhältnissen in der Landkreisverwaltung. Es ist die besagte Landrätin Annika Tänzer, und sie ist jetzt die Chefin beider Behörden. Flugs unterstellt sie der Einfachheit und der Beschleunigung halber die Naturschutzbehörde der Bauaufsicht. Jetzt ist der Bock der Gärtner und der Garten kann im Wüst‘chen Sinne beackert – oder eben verwüstet – werden.
Wäre nur noch zu klären, welcher Art Verbindung zwischen der Landrätin und dem Wüst-Imperium bestehen könnte. Doch greifen wir der neuen Geschichte nicht vor.
Nun noch schnell zu all den anderen:
Daniela Demuth, erst die absolut treue, dann die gefeuerte Sekretärin von Arturo Groß. Gefeuert und ersetzt von der nächsten, die auch bald gefeuert wird, damit kein Insiderwissen über die geheimen Absprachen nach außen dringt. Aber Arturo unterschätzte Wikileaks. Später arbeitete Daniela Demuth für die Regierung der Freien Republik.
Arnold Aurora, der in jenem Jahr noch lebte und voller Tatendrang und humanistischer Ideen glühte. Ich hatte ihn auf einer Demo kennen gelernt. Damals, 2019, war er 27 Jahre alt gewesen. Er hatte dort eine feurige Rede gehalten, die es in sich hatte. Zwei Jahre später wurde er Präsident unseres neuen Gemeinwesens und rief am 9. April 2023 vom Balkon unseres historischen Rathauses aus die Freie Republik Lich aus.
Nur fünf Monate später, am 11. September 2023, wurde er von einem Scharfschützen des Wüst-Imperiums erschossen, als er zu Verhandlungen am Tor des Logistikzentrums erschienen war und mit seiner weißen Friedensfahne wedelte. Er war zu gutgläubig gewesen.
Arnolds etwas jüngere Schwester, die nur unter dem Familienname AURORA als Sängerin bekannt ist, ließ beim Staatsakt für unseren ermordeten Präsidenten ihre wunderschöne Stimme erklingen – mit »Runaway« verabschiedeten wir uns von jenem jungen charismatischen Mann, der uns enorm fortschrittliche Impulse mit auf den Weg gegeben hatte. Wir heulten wie die Schlosshunde.
Wer noch eine Rolle spielte: Stella, meine warmherzige Freundin mit den schönen Augen, Optikerin von Beruf, Anfang vierzig.
Vanessa, ihre fünf Jahre jüngere Arbeitskollegin.
Stellas Nachbarin Jenny und ihr Hund Charly, der kleine Havanese, der, wenn er sein Frauchen ausführt und mit ihr am Wüstenberg Gassi geht, immer das grau-blaue Monster anbellt.
Unsere Nachbarin Lilli mit ihrem Sohn Felix und unser Nachbar Bernardo mit seinem Sohn Jonas, einem Freund von Felix.
Jupp Maier, Rechtsanwalt, er hat seine Kanzlei bei Stella um die Ecke, auch hatte er früher mal Krach mit mir, besserte sich aber und wurde später unser Justizminister in der Freien Republik.
Ludwig Henrich, parteiunabhängig, 82 Jahre alt, jung im Kopf, gewiefter Taktiker und kluger Stratege. Nach der Ermordung von Arnold Aurora wurde er als dessen Nachfolger in das Amt des Präsidenten gewählt.
Udo Müller, erst als Abgeordneter der Freien Wähler im Stadtparlament, dann tritt er aus, weil ihm der Zoff um das Monsterprojekt geschäftlich in die Quere kommt. Er ist ein perfekter Lebensmittel-Logistiker und betreibt den RUWE-Markt. Ohne ihn wären wir im damaligen Niemandsland aufgeschmissen gewesen. Seine Frau Petra leitet im RUWE die Poststelle. Beide sind in unserer Republik zwei Jahre später in wichtigen Funktionen tätig.
Und natürlich all die anderen Personen, zumeist Mitstreiter der Bürgerinitiative gegen das Logistikmonster. Sie gründeten die BFL und nannten sich fortan »Bürger für Lich«:
Edith Neuer-Süß, die den wüsten Leserbrief-Schreibern Alt & Hartmut-Niebergall gekonnt konterte. Sie war von der ersten Proteststunde an dabei, ebenso wie ihr Mann, Bernd Neuer. Er war der BFL-Initiator und spätere Fraktionsvorsitzende. Er übernahm zu Zeiten unserer Republik keinen Regierungsposten, da seine Frau zur Premierministerin gewählt worden war. Vetternwirtschaft drohe. Das wolle er nicht, sagte er.
Lothar Balser, der BFL-Vorsitzende, Anfang sechzig, ein umgänglicher Mensch, er grillt gerne.
Die Tierärztin Claudia zu Solms-Arnsburg, unmittelbare Nachbarin am Wüstenberg, hartnäckig gegen die Entwertung ihres Grundstücks kämpfend. 2023 wurde sie die resolute Verteidigungsministerin unserer Freien Republik.
Dr. Herbert Schmittmann aus der Hungener Straße, ein weiterer Tierarzt und Kollege von Claudia zu Solms-Arnsburg. Für ihn haben ökologische Gesichtspunkte Vorrang vor der Profitsucht.
Michael Beilert, Politaktivist der BFL und Inhaber eines Computerladens in der Oberstadt.
Marietta und Heiner Koschka, die treffende Leserbriefe schreiben können, in denen sie die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Probleme verständlich auf den Punkt bringen.
Professor Dr. Ralf Naumann aus Villingen, der unser Gesundheitsminister wurde.
Michael Sieps von den Grünen, Stadtrat, und ehrlicher Kämpfer für ökologische Belange.
Und nicht zu vergessen: mein Freund Benjamin Carl, früherer Vermessungsingenieur, der jetzt wie ich im gleichen Verlag arbeitete. Er engagiert sich auch im Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde.
Dann all jene, die einfach nur ihren Job machten:
Frau Peppler, die alte Grundschullehrerin.
Frau Fremdel, die manchmal auf die Nachbarkinder aufpasst, wenn die Eltern Überstunden machen müssen.
Carlo Mannschmitt, Mittfünfziger, Stellas Vermieter und passionierter Jäger, der ganz Lich mit Proteinen versorgte, als die Grenzen rund um uns dicht gemacht wurden. Sein neunzehnjähriger Sohn Michel, der eine Koch-Ausbildung im Landhaus Arnsburg absolvierte und Lebensmittel über die Grenze schmuggelte.
Alice Knauer, zu erkennen an ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug, betrieb ein merkwürdiges Trödellädchen und glaubte an seltsame Dinge – bis zu ihrem unerwarteten Ableben.
Dieter Strähle, Lagerarbeiter bei RUWE.
Es fehlen nur noch einige Medienvertreter und der Club der Unbelehrbaren. Aber das ist jetzt halb so wichtig. Ich merke, Sie werden ungeduldig. Es wird Zeit …
Endlich.
Die Geschichte beginnt.
Und denken Sie bitte daran:
Die Geschichte zählt.
Und nicht der Erzähler.
Letzter Warnhinweis:
Lesen gefährdet die Dummheit!
Schicksalstage
Ein Schneemann im Sommer
Als erstes fiel mir im Juni 2021 – knapp acht Monate vor dem schrecklichen Januar-Ereignis des Jahres 2022 – jener Schneemann aus Holz auf. Felix hatte ihn zusammen mit seinem Freund Jonas gezimmert. Bernardo, der Vater von Jonas, handwerklich immer am Werkeln, hatte ihnen das Holz beschafft, hatte ihnen Bau-Tipps gegeben, und Lilli, die alleinerziehende Mutter von Felix, hatte schließlich die weiße Farbe besorgt.
Warum sie mitten im Sommer einen Schneemann bauten, hatte ich die beiden sechs- und achtjährigen Jungs gefragt. Der ältere hatte geantwortet: „Schau dich mal um, Stefan! Weil es sowieso kein richtiger Sommer ist!"
Ich hatte mich umgeschaut. Der Himmel war grau und hing voller Regen, der bald niederprasseln würde.
„Und weil wir nicht wollen, dass Schneemänner immer sterben müssen", hatte Felix ergänzt.
Und weil es im kommenden Winter heftig schneien und stürmen wird und solch ein Holzschneemann vielleicht das Extremwetter überstehen könnte, hätte ich fast hinzugefügt. Aber solche idiotischen Prophezeiungen offenbart man nicht kleinen Jungs, eher seiner Liebsten. Aber Stella, die uns, oben vom Balkon aus, zwar sehen, aber nicht verstehen konnte, hatte keinen Sinn für solch abstrusen Humor. Deshalb blieben meine Gedanken bei mir. Und bei Frau Knauer – doch dazu komme ich gleich.
Schneemänner sollen nicht immer sterben!, wiederholte ich in Gedanken die Worte von Felix. Doch der darauf folgende Gedanke knüpfte urplötzlich an einen alten Nachkriegsfilm aus dem Jahr 1959 an: »Hunde, wollt ihr ewig leben«. Der Titel war eine Anspielung auf ein Zitat von Friedrich dem Großen, der seinen fliehenden Soldaten im Zorn zugerufen hatte: „Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?" (Kriegsherren – heutzutage auch kriegerische Frauen, die keineswegs unschickliche Kriege führen, sondern nur »Verantwortung übernehmen« – kalkulieren seit jeher fest mit dem Todes- und Opferwillen ihrer soldatischen Knechtinnen und Knechte, oder wenn sie es unbedingt in Genderdeutsch haben möchten: Mägdinnen und Mägder.)
Okay, lassen wir das. Sprachverhunzung ist das eine, und Vergangenheit ist Vergangenheit. Aber dieser Holzschneemann hier – das war für mich Zukunft. Alleine deshalb, weil die beiden Jungs ihn gebaut hatten.
Der Schneemann stand bei uns hinten auf dem großen Privatparkplatz (Nur für Mieter, ansonsten werden Sie abgeschleppt! Abgeschleppt!). Nun ja, auch im nahegelegenen Café wurde gelegentlich abgeschleppt – allerdings in gegenseitigem Einverständnis. Felix und Jonas hatten den weißgetünchten Holzschneemann unweit des Wiener Cafés aufgestellt, wobei er den vorübergehenden Cafébesuchern als Wegweiser diente. Die Kids hatten ihm in die linke Holzhand ein Stück Torte (von der Schichtung her musste es Schwarzwälder-Kirsch sein) und in die rechte eine Eiswaffel gesteckt. Ein kindliches Tribut an die Eisdiele vor unserem Wohnhaus und an das Süßmaul-Café hinter dem Parkplatz.
„Ihr solltet euer Werbegeschenk beim Café und bei der Eisdiele bekannt machen, vielleicht gibt es dafür ein kleines Dankeschön", sagte ich.
„Das haben wir schon bekommen." Felix lachte schelmisch.
„Wir waren beide zuerst im Café, wo wir uns beide ein Stück Kuchen aussuchen durften", sagte Jonas.
„Und am nächsten Tag waren wir in der Eisdiele. Da konnten wir uns zwei Kugeln Eis aussuchen. Ich habe Erdbeer- und Schokoladeneis genommen. Und Jonas suchte sich Himbeere und Maracuja aus", sprudelte es aus Felix hervor. Wenn der Sechsjährige sprach, überschlug sich manchmal seine Stimme, denn er war bei seinen spielerischen Aktionen immer ein Vollblutakteur. Der zwei Jahre ältere Jonas war etwas zurückhaltender, und so ergänzte sich das Gespann sehr gut.
Lilli kam hinzu und auch Stella kam von oben herunter, um mit mir in das Krimskrams-Lädchen von Alice Knauer zu gehen. Sie wollte sich ein Astrologie-Buch aus der vorvorigen Jahrhundertwende 1800/1900 besorgen. Frau Knauer hatte ihr das in Schweinsleder eingebundene, abgegriffene Exemplar irgendwann einmal empfohlen, als sie über die „Evidenz von Sternzeichen" schwadroniert hatten. Evidenz von Sternzeichen – Alice Knauers Ausdrucksweise passte sich der akademischem Ausstrahlung ihrer Kauf-Opfer an. Stella war Optikerin.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, begleiten wir euch. »Alice und ihr Wunderland« ist für die Jungs fast wie das Horrorhouse im Disney Park", sagte Lilli und sah uns erwartungsvoll an. Natürlich hatten wir nichts dagegen. Wir gingen gemeinsam zu Frau Knauers geheimnisvollem Lädchen. Die Jungs freuten sich höllisch. Sie hatten in den letzten Monaten bei jedem Vorübergehen ihre Nasen an der Schaufensterfront plattgedrückt. Jetzt durften sie seit langem wieder einmal hinein.
„Lockdown ist fertig", wie Felix es ausdrückte.
Frau Knauer hatte ihr Geschäft monatelang wegen Corona geschlossen gehabt. Das Gewerbeamt hatte dafür gesorgt, weil sie ihr abgestandenes Heilwasser auch als antivirale Medizin angeboten hatte. Corona – Sie wissen schon, ein Geschäft, immer ein Verkaufsschlager, irgendwie, von Bezos und Gates über CDU/CSU-Volksvertreter bis eben hin zu Frau Knauer. Und irgendjemand hatte das Gesundheitsamt informiert, das jedoch überfordert war und der Einfachheit halber die Gewerbeaufsicht alarmierte.
„Und die finden immer einen Grund", hatte Stella gemeint. Ich glaubte damals, dass Stella gelegentlich mit dem Heilwasser und dessen angeblicher Wirkung liebäugelte. Nur ich stand wohl zwischen dem Wasser und ihr. Frau Knauer hätte es ihr wahrscheinlich für viel Geld längst angedreht. Ich bin noch heute der Überzeugung, dass Stella sich hätte überreden lassen, wenn Alice Knauer behauptet hätte, das Heilwasser ersetze die Impfung. Doch bevor ich darüber weiter sinniere, und Sie und mich vielleicht in die Verlegenheit bringe, über Sinn und Zweck der Corona-Impfung zu spekulieren, breche ich die Gedanken, die damals die Welt bewegten, ab.
Frau Knauers offiziell als »Antiquitätengeschäft« ausgewiesener Laden hieß nur „Das Lädchen". Die Frau war stadtbekannt und komisch. Sie betrieb den vergammelt anmutenden Laden in einer der kleinen versteckten Gassen in der Altstadt. Hier verkaufte sie allerlei kuriose Antiquitäten, ausgestopfte Tiere, selbstgebrauten Wein aus Brennnesseln, versetzt mit angeblichem Propolis, Gläser mit eingelegten Insekten, Knollen und Blättern sowie das erwähnte abgestandene Wasser als Heilmittel.
Man munkelte, sie sei einmal dabei ertappt worden, wie sie mit einem Marmeladenglas einfach das Weihwasser aus dem Weihbecken der katholischen Kirche geschöpft habe. Ungeachtet dessen war ihr großes Vorbild Alice Schwarzer, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.
Viele Licher behaupteten, diese antiquierte Dame mit ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug habe sich den Vornamen selbst verpasst, einfach nur aus Bewunderung für ihre feministische Favoritin. Tatsächlich, so wurde weiter gemunkelt, heiße Frau Knauer eigentlich Cäcilie mit Vornamen und benehme sich aber so, als sei sie die Zwillingsschwester von Schwarzer. Ich hatte keine Ahnung, ich konnte und wollte mich dazu nicht äußern, mich interessierte es erstmal nicht. Aber Tatsache war, dass sie wie Alice Schwarzer aussah.
Erst neulich war sie mir in der Hintergasse begegnet und ich hatte sie etwas murmeln hören, hatte sie wohl verwundert angeschaut und sie war stehen geblieben. „Ja, da wundern Sie sich. Es wird uns alle treffen. Der Schnee wird uns erdrücken! Der Wintersturm fegt uns alle hinweg! Hinweg!"
Puh, das also war meine Information, als ich den Holzschneemann