Kaliber .64: Ein perfekter Mord: 64 Seiten und Schluss!
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Buchvorschau
Kaliber .64 - Wolfgang Schorlau
(ePub)
1. Teil
1. Nichts als die Wahrheit
Für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Ich bin erfüllt von Ruhe und innerem Frieden. Wie Madame Bovary komme ich mir vor. So ist es also, das Glück. Aber ich stehe nicht vor einem Spiegel, und es ist keine sexuelle Ekstase, die mich so zufrieden macht. Es ist ein weißer Umschlag. Ich stehe im Treppenhaus eines Hauses in der Stuttgarter Mozartstraße, habe ihn eben aus dem Briefkasten gezogen und geöffnet. Absender ist mein Verlag.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Verleger. Das besitzanzeigende Fürwort bedeutet nicht, dass der Verlag mir gehört. Es bedeutet, dass ich endlich Schriftsteller bin. Aus dem weißen Umschlag ziehe ich mein erstes Buch. Es heißt: Die Blaue Liste. Ein Kriminalroman. Das Cover ist blau. Es zeigt einen Vorhang. Das gefällt mir. Denn dahinter verbirgt sich das Geheimnis. Dahinter verbirgt sich das Staatsverbrechen, das mein Held Georg Dengler aufdeckt.
Vorsichtig, das Buch mit beiden Händen haltend, als könne das Neugeborene verletzt werden, wenn ich es fallen lasse, gehe ich die Treppen hinauf in den fünften Stock, wo ich neuerdings wohne.
Ich habe es geschafft. Ich schreibe Kriminalromane. Ich könnte weinen vor Freude.
Und nun – fünf Jahre und fünf Romane später – schreibe ich erneut an einem Buch, und von diesem Roman hängt mein Leben ab. Ich schreibe keine Fiktion, ich schreibe die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, und auf jedes Wort, das Sie hier lesen, kann ich schwören. Ich weiß, was für mich davon abhängt. Man hat mir meinen Laptop gebracht. Man hat mir erlaubt, meine externe Tastatur zu verwenden, ohne die ich schlecht zurechtkomme. Aber die Tischplatte ist zu hoch. Der Stuhl, auf dem ich sitze, ist eine Katastrophe. Beim Schreiben ziehen sich die Schulterblätter zusammen, und das produziert einen sengenden Schmerz im Rücken, der meine Konzentration stört. Noch nie habe ich in einem Raum geschrieben, in dem ich zugleich meine Notdurft verrichten muss. Aber immerhin, ich kann schreiben, und ich werde diese Geschichte aufschreiben und hoffen, dass die Wahrheit siegt. Zumindest dieses eine Mal.
2. Das neue Leben
Noch am selben Tag kündige ich. Ich gehe zu meinem Chef und lasse mich in den großen Sessel sinken, der vor seinem Schreibtisch steht. In der company, wie wir die Firma nennen, reden wir uns alle mit Vornamen an. Bleiben beim »Sie«, aber eben mit Vornamen. Sehr amerikanisch, sehr modern, aber auch ein bisschen komisch. Steffen, sage ich, ich gehe. Er sieht mich über seine hypermoderne Brille hinweg an, eine Brille, auf die er sehr stolz ist. Sie macht ihn dem Trainer von Borussia Dortmund so ähnlich.
Er sieht mich also über seine hypermoderne Brille hinweg an, überlegt einen Augenblick und fragt dann: Wann? Sofort, sage ich. Dann schweigen wir.
Wir wissen beide, dass ich die Kündigungsfrist einzuhalten habe. Meinen Urlaub für dieses Jahr habe ich bereits komplett genommen, auch den Resturlaub der letzten drei Jahre. Das ist in der company nicht üblich. Keiner der Projektleiter nimmt seinen kompletten Urlaub. Nach ein, zwei, drei Jahren kommt Frau Rosendahl, die die Personalbuchhaltung macht, und fragt, was sollen wir denn nur mit Ihrem vielen Resturlaub machen? Dann wird er ausgezahlt. Samt Urlaubsgeld. Die Steuer frisst fast alles wieder weg.
Kein Mensch hat mir gegenüber irgendeine Bemerkung gemacht, dass ich den Resturlaub genommen habe, auch Steffen nicht. Aber intern wurde bestimmt darüber geredet. Deshalb wird er sich gedacht haben, dass sich irgendeine Veränderung mit mir anbahnt.
Also erzähle ich ihm, dass ich einen Kriminalroman geschrieben habe. Ab heute wird er in den Buchläden zu haben sein, sage ich. Ich schenke ihm das Exemplar, das der Verlag mir geschickt hat. Für Steffen, habe ich hineingeschrieben.
Kann man denn davon leben, fragt er skeptisch und wiegt das Buch in der Hand, als würden Schriftsteller nach dem Gewicht ihrer Bücher bezahlt.
Ich hoffe es, sage ich wahrheitsgemäß. Er wünscht mir alles Gute, und ich gehe.
3. Grün-Türkis
Ich vermisse die Landesbibliothek.