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Dunkle Wolken überm Edion
Dunkle Wolken überm Edion
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eBook296 Seiten4 Stunden

Dunkle Wolken überm Edion

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Über dieses E-Book

Kommissär Carl Werner, der in Selb im April 1927 seinen Dienst antritt, bekommt es gleich mit dem Mord an einer Prostituierten zu tun. Der Tatort an der Grenze zur Tschechoslowakei führt ihn schnell ins Edion. Dieses Wirtshaus bietet
sich als Treffpunkt für Schmuggler und Schieber aus beiden Ländern an. Im Laufe seiner Ermittlungen stößt Werner auf einen Ring von Waffenschiebern, dem auch prominente Politiker wie Julius Streicher aus Nürnberg und Konrad Henlein aus Asch angehören.
Der Kopf der Bande verfolgt seine Ziele mit unglaublicher Brutalität: Er gibt diverse Morde in Auftrag, schleust einen Maulwurf in die Reihen der Selber Schutzmannschaft ein und lässt die Verlobte Werners entführen. Diese Angriffe und ein Jahrhunderthochwasser führen den Kommissär zur physischen Erschöpfung.
Bleibt die Frage, ob er noch die Kraft findet, seinem übermächtigen Gegner die Stirn zu bieten.
Der packende Krimi bietet Spannung bis zur letzten Seite und einen authentischen Einblick in das soziale Gefüge einer Kleinstadt der zwanziger Jahre.
SpracheDeutsch
HerausgeberBurg Verlag
Erscheinungsdatum24. Okt. 2022
ISBN9783948397401
Dunkle Wolken überm Edion

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    Buchvorschau

    Dunkle Wolken überm Edion - Birgit König

    Rainer und Birgit König

    Dunkle Wolken überm Edion

    Über die Autoren

    Rainer König, Jahrgang 1943, ist in Mittelfranken aufgewachsen. Nach sechs Jahren Seefahrt bei der Handelsmarine holte er das Abitur nach und studierte in Erlangen Germanistik, Geschichte und Geografie. Als Gymnasiallehrer kam er nach Selb, wo er seit 1978 lebt. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

    Tochter Birgit König ist 1979 in Selb geboren. Nach dem Abitur ging sie zum Zoll. Seit 2003 arbeitet sie in Frankfurt am Main im Ermittlungsdienst. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt bei Gelnhausen.

    Die Königs haben inzwischen neun Romane vorgelegt:

       •   Wilder Mann, 2008

    •   Wilde Grenze, 2010

    (In Tschechien unter dem TitelDivoká hraniceerschienen)

       •   Wildes Erwachen, 2012

       •   Wilde Visionen, 2014

       •   Limes – Zeit der Abrechnung, 2014

       •   Wildes Kristall, 2016

       •   Totensteine, 2018

       •   Der Fall Edion, 2020

       •   Dunkle Wolken überm Edion, 2022

    Mehr über die Autoren:

    www.rabiko-autoren.de

    Die Handlung ist – fast – frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit damals lebenden Personen

    sind rein zufällig.

    Vorspiel

    Der Besucher kam gleich zur Sache: »Du glaubst gar nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe«, eröffnete er ihr und zog sie zunächst heftig an sich, um sie auf den Mund zu küssen, schob sie dann in Richtung Bett und ließ sie dort unsanft auf den Rücken fallen.

    »Aber du wolltest mir doch das Buch ...!« Ihren Protest tat er mit einem barschen »Später!« ab und schob ihr den Rock hoch. Was jetzt folgte, hätte der stille Beobachter wohl als Vergewaltigung bewertet, wäre da nicht das gedämpfte Stöhnen gewesen, das ein gewisses Einverständnis des Opfers signalisierte. Dessen gelegentlich geflüstertes »Nicht so laut!« bezog sich auf das Quietschen und Poltern, das die heftigen Bewegungen des Mannes verursachten. Das eiserne Bettgestell geriet nämlich regelrecht ins Tanzen und stieß rhythmisch an die Zimmerwand.

    Nachdem die Prozedur beendet war, wälzte sich der Mann von seiner Gespielin und lag nun auf dem Rücken neben ihr. Ohne ein Wort zu sagen, zündete er sich eine Zigarette an und starrte schweigend an die Decke. Die Frau hatte sich aufgerichtet und strich ihm mit der Hand über das krause blonde Haar. Sein schmales Gesicht mit der spitzen Nase ließ ihn ziemlich jugendlich erscheinen und war wohl der Anlass für sie, ihn als »meinen kleinen Spitzmäuserich« zu bezeichnen, ein Kosename, der ihr allerdings nur einmal ausgekommen war, weil er »dieses kindische Zeug« nicht hören wollte.

    Der zwar kurze, aber heftige Kraftaufwand hatte seine Stirn leicht feucht werden lassen. Als sie mit sanftem Wischen die Schweißtröpfchen entfernen wollte, zeigte er mit einer leichten Drehung zur Seite, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.

    Der Herr Soldat ist heute mal wieder nicht gut drauf, dachte sie, vielleicht sollte ich ihn doch lieber mal mit »mein tapferer Held« ansprechen. Dass er beim Militär war und auch an der Front gekämpft hatte, war ihr bekannt, davon hatte er oft genug erzählt. Außerdem trug er auch heute diese blöde Uniformjacke. Der feldgraue Waffenrock, der durch das Entfernen von Rangabzeichen, Auszeichnungen und hoheitlichen Symbolen quasi entmilitarisiert worden war, wirkte reichlich ramponiert und besonders die radikale Entfernung des hohen Kragens verlieh dem ehemaligen Ehrenkleid eine gewisse Lächerlichkeit.

    Die Frau nahm sich vor, jetzt ihr anfangs ins Spiel gebrachtes Anliegen in Gänze auszuführen. Er hatte sie nämlich in einem Brief wissen lassen, dass nun endlich »ihre Sache« veröffentlicht worden sei – eine Formulierung, die sie nur mit einem Buch in Verbindung bringen konnte.

    »Du wolltest mir doch was mitbringen!«, hauchte sie erwartungsvoll.

    »Tasche!«, brummte er und deutete auf den Stuhl neben dem kleinen Beistelltisch. Sie machte sich an der schmalen Ledermappe zu schaffen, stieß aber nur auf ein schmales Heftchen, das sie auf dem Tisch ablegte.

    »Da ist kein Buch drin!«, reagierte sie enttäuscht.

    »Davon war keine Rede! Schau dir das verdammte Ding einfach mal an!«

    Sie tat, wie ihr geheißen. Vor sich hatte sie nun ein buntes Deckblatt. Oben im blauen Balken fand sich fett gedruckt der Schriftzug »LUNA-ROMAN«, darunter ein mit roten Rosen umrandetes Portrait einer hübschen jungen Frau mit langen blonden Haaren und einem Gesichtsausdruck, der auf Trauer verwies. Es folgte der Titel des Romans: »Franziska muss sich entscheiden«. Den Abschluss bildeten links unten »Nr. 42« und rechts der Preis: »25 ₰«. Jetzt, schon reichlich enttäuscht, nahm sich die Betrachterin das Innere des Heftchens vor: Zunächst stieß sie nur auf Verlagsangaben wie Auflage und Verlagsort. Daneben begann schon der Roman mit der Seite 1.

    Die Frau war jetzt richtig wütend und schmiss das Heft in Richtung des Besuchers. Dann folgte eine gehässig vorgetragene Anklage: Was bildest du dir eigentlich ein? Ich mache die Beine breit für lau und du lieferst Schrott! Wo, bitte schön, steht da mein Name? Wenn ich das geschrieben habe, muss der auch irgendwo auftauchen! Und das Bild, das bin doch nicht ich! ‚Franziska‘ – dass ich nicht lache!«

    Der Mann bequemte sich nun zu einer gefälligeren Antwort, die auf Schadensbegrenzung abzielte. Schließlich hatte er vor, noch etwas länger zu bleiben und seine Geliebte noch einmal zu beglücken, diesmal vielleicht sogar mit einem richtigen Vorspiel.

    »Ach, Schätzchen, das ist ein Serienroman, da gelten doch ganz andere Gesetze als bei einem Buch«, begann er sanft, »du hast zum Beispiel eine bedeutend höhere Auflage, weil ...«

    »Ist mir scheißegal! Ich will meinen Namen lesen! Rosa!«, unterbrach sie ihn gereizt.

    Mit den Vorteilen des Genres konnte er nicht landen, also schmeichelte er ihr mit schriftstellerischem Talent: »Schau doch erst mal richtig rein, dann wirst du auf deine Geschichten stoßen. Du glaubst gar nicht, wie sich die Herren vom Verlag vor Lachen gebogen haben, als sie die Episode mit dem ‚Gott-Vater‘ vor sich hatten. ‚Herrlich komisch!‘, meinte der ganz Obere. ‚Und dann wieder diese überraschende Tragik! Wirklich gelungen!‘ Genau das hat er gesagt! Und darauf kannst du dir wirklich was einbilden!«

    Ein gewisser Erfolg war ihm schon beschieden: Rosa war zwar weit davon entfernt, mit Stolz oder Dankbarkeit zu reagieren, aber sie zeigte sich, jetzt doch bedeutend verbindlicher, interessiert daran, was ihr das denn geldmäßig so bringe und ob er denn schon eine bestimmte Summe zur Auszahlung zur Verfügung habe.

    Da im Geldbeutel des Spitzmäuserichs Ebbe herrschte und der davon ausgehen konnte, dass er als Autor des Heftchens in zwei oder drei Wochen gerade mal mit zwanzig Mark rechnen konnte, war ein schlagendes Argument vonnöten:

    »Ach, ich glaube, ich muss dir noch viel erklären, was dieses Geschäft angeht. Also, das Heft geht zunächst einmal in die Läden und an die Kioske. Und nach vier Wochen, wenn das nächste Heft ausgeliefert wird, schaut man sich den Umsatz an. Erst dann wird abgerechnet. »Gut, dann kommst du wieder, wenn du die Kohle hast!«

    Die unterkühlt vorgetragene Abfuhr versetzte ihn in Sorge, denn er hatte seine eigentlichen Absichten, abgesehen von einer weiteren Nummer, überhaupt noch nicht ins Spiel gebracht.

    *****

    Jeder Beziehung zwischen Frau und Mann sollte ein Zauber innewohnen, der den Liebenden das wahre Glück verheißt. So gesehen, war die Beziehung unseres Pärchens eher ein fauler Zauber, denn jeder der beiden suchte sein Glück auf Kosten des anderen zu erzielen: Sie wollte mit seiner Hilfe eine erfolgreiche Schriftstellerin werden und er brauchte eine Bettgenossin, ohne mit irgendwelchen finanziellen oder moralischen Verpflichtungen belastet zu sein. Darüber hinaus schien sie ihm geeignet, eine wichtige Rolle in seinen Plänen zu spielen: Bei ihr fühlten sich Männer wohl und könnten sich durchaus das eine oder andere Geheimnis entlocken lassen.

    *****

    Nur jetzt keine Fehler machen!, dachte er. »Schatz«, begann er larmoyant, »mach doch nicht alles kaputt! Wenn du mich jetzt wegschickst, war alles umsonst. Du hast jetzt den Fuß drin, und zwar im ganz großen Geschäft. Die Menschen gieren nach Sensationen und ...«

    »... Geschichten von einer gewissen Franziska«, vollendete sie hämisch, »wobei ich mir die Gage in den Kamin schreiben kann.«

    »Hör mir doch erst einmal zu, dann kannst du mich immer noch wegschicken.«

    »Dann beeil dich, ich hab noch was vor!«

    »Also, ich hab dir doch erzählt, was der Typ vom Verlag über dich gesagt hat. Da fielen aber auch Sätze, die dir zu denken geben sollten: ‚Mit der Frau lässt sich doch mehr machen! Die kleinen Schweinereien ums Bett herum‘, verzeih mir bitte, aber so hat er das gesagt, ‚sind ja ganz schön, aber wir wollen die Sensation! Schließlich verkaufen wir auch Zeitungen!‘«

    »Das heißt ja wohl, dass der Schweinkram in aller Öffentlichkeit ablaufen soll!«

    »Ach i wo! Du lässt die Männer über ihre Geheimnisse reden, über kleine und große Gaunereien. Dabei könntest du zum Beispiel helfen, Skandale aufzudecken. Und damit kannst du ohne großen Aufwand viel Geld machen, denn die Zeitungen sind geradezu heiß darauf, solche Geschichten zu veröffentlichen.«

    »Erspar dir die Mühe, du weißt genau, dass ich ein richtiges Buch schreiben will. Ich möchte nun mal Schriftstellerin werden.«

    »Kannst du, und zwar ganz bequem!« Jetzt legte sich der tapfere Held mächtig ins Zeug, um ihr aufzuzeigen, wie sie ihr Ziel erreichen konnte: »Du schreibst für die Zeitung und hast so eine stabile finanzielle Basis. Nebenbei machst du dir einen Namen als Sensationsjournalistin und bald, das prophezeie ich dir, will man von dir auch ein Buch.«

    Überzeugen konnte er nicht. Zum Schein ging sie jedoch auf seinen Vorschlag ein, denn er hatte ihr die Erkenntnis geliefert, dass Wissen Macht ist und sie gegebenenfalls ohne den Weg über die Zeitung die Möglichkeit bekam, sich ihren Wunschtraum zu erfüllen. Letztendlich wurde also zwischen den beiden ein Zauber wirksam, der sie ins Verderben führen konnte.

    Auszug

    Februar 1927

    Die junge Lehrerin, die im Februar 1926 ihren Dienst in Selb aufnahm, hatte insofern Glück gehabt, als sich ihr die Gelegenheit bot, in einem Gebäude zu unterrichten, das auch noch Jahre nach seiner Fertigstellung als Muster eines neuzeitlichen Schulhausbaus galt. Obwohl schon 1908 eingeweiht, war es noch immer Besichtigungsziel von Fachleuten aus nah und fern, die mit entsprechenden Planungen beschäftigt waren. Eine zentrale Dampfheizungsanlage, ein Schulbrausebad mit separaten Umkleidekabinen, Aborte mit automatischer Spülvorrichtung, lichtdurchflutete Klassenzimmer mit bequemen Lüftungsmöglichketen und schließlich eine Schulküche waren eben nachahmenswerte Ziele, wenn es um den Neubau einer Schule ging.

    Doch lange währte der Aufenthalt an dieser Schule nicht, denn schon ein Jahr später entschloss sich Johanna Winkler, das Angebot des Schulrats anzunehmen, an die Gartenschule zu wechseln. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, aber der Schritt war mit einem Vorteil verbunden, auf den Hanna nicht verzichten wollte, denn er eröffnete ihr den Weg in die Selbständigkeit: In der Gartenschule war nämlich eine kleine Wohnung vorhanden, die nur Lehrpersonal zur Verfügung stand. Und da es keine weiteren Bewerbungen für diese Bleibe gab, griff Hanna sofort zu, obwohl sie die Ahnung überfiel, dass ihre Eltern mit diesem Schritt nicht einverstanden sein würden.

    Wie sich dann aber in dem anstehenden Gespräch herausstellte, hatte sie nur ihre Mutter gegen sich. Deren Argumente waren lebenspraktischen Dingen zugewandt: »Ja muss denn das sein?«, begann sie. »Du hast doch hier alles, was du brauchst, ein geräumiges Zimmer, dein regelmäßiges Essen, alles umsonst!«

    Hanna, ziemlich genervt, war drauf und dran, die aufflammende Diskussion mit einer ungeheuerlichen Provokation im Keim zu ersticken: Eben nicht alles!, hätte sie ihrer Mutter am liebsten entgegengeschleudert. Was sagst du wohl dann, wenn ich mit einem Verehrer in meinem Zimmer nächtige und der dann vielleicht sogar am nächsten Morgen mit am Frühstückstisch sitzt?

    Der Gedanke, die Eltern mit dieser rücksichtslosen Schnoddrigkeit zu konfrontieren, war schnell wieder verworfen. Schließlich waren die Moralvorstellungen verhaftet, die einfach nicht mit ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung vereinbar waren. Außerdem zeigten Hanna die feuchten Augen der Mutter, dass die nicht mit offenen Karten gespielt hatte und sie eher die Angst quälte, von ihrer Tochter verlassen zu werden, die ihr bisher eine wertvolle Verbündete war. Schließlich hatten beide gemeinsam beschlossen, dem Herrn Oberamtsrichter immer mal wieder kräftig auf die Füße zu treten, wenn er eingeübte Verhaltensmuster pflegte, die sich, was seine Ehefrau anging, vornehmlich auf eine ausgeprägte Maulfaulheit erstreckten.

    Was blieb Hanna anderes übrig, als eben auch die Umstände ins Spiel zu bringen: Sie werde wohl oder übel die eine oder andere Kollegin (den Kollegen unterschlug sie vorsichtshalber) empfangen müssen, vielleicht wolle man auch mal feiern. Und da könnte es eben schon mal lauter und vielleicht sogar später werden. »Ich sag’s ehrlich«, fuhr sie fort, »ich weiß doch, dass ihr eure Ruhe haben wollt. Außerdem fühle ich mich ein bisschen beengt, wenn ich euch da immer fragen muss. Und noch was, Mutter: Was wirst du wohl sagen, wenn zwei dir unbekannte Leute in deiner Küche auftauchen, um zusammen mit mir zu kochen?«

    Eigentlich hätte ihre Mutter jetzt empört reagieren müssen: So weit kommt es noch, dass fremde Menschen in meiner Küche hantieren! Aber Frau Winkler dachte gar nicht daran, entrüstet zu sein. Mit »Ach, geh! Wer macht denn so was?« wischte sie das Argument beiseite und schwang, jetzt mit einem Anflug von Gehässigkeit, die Luxus-Keule: »Die Dame will nur ihre Freiheit ausleben. Weißt du eigentlich, wie viele Familien hier in dieser Stadt davon träumen, eine solche Wohnung wie die in der Gartenschule zu beziehen? Aber da sitzt ja jetzt ein Fräulein drin, dem es zu gut geht!«

    So nicht, liebe Mutter!, dachte Hanna. Trotzig entschied sie, gar nicht mehr auf die Argumente der Mutter einzugehen. Doch die hatte schon ihren Ehemann im Blick, der bisher geschwiegen hatte. »Heinrich!«, ging sie ihn reichlich aggressiv an. »Jetzt sag doch auch mal was! Oder ist dir das wieder mal völlig egal?«

    Oberamtsrichter Winkler war die Entscheidung seiner Tochter mitnichten egal. Zwar hätte er das Mädchen, das er innig liebte, gerne um sich gehabt, aber die Szenarien, die seine Tochter entworfen hatte, beunruhigten ihn doch etwas. Er wollte vor allem seine Ruhe haben. Außerdem sah er die Sache bedeutend entspannter als seine Frau: Hanna würde dann eben mal gerade ein paar Meter entfernt wohnen und vieles konnte doch trotzdem so bleiben, wie es war. Aber jetzt war eine klare Position angesagt und der fehlte es nicht an Schärfe:

    »Zunächst, liebe Elfriede, verwehre ich mich ganz entschieden gegen die Unterstellung, mir sei das Ganze egal. Im Gegenteil, ich bedaure den Entschluss unserer Tochter, aber ich akzeptiere ihn. Sie ist inzwischen alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem ist sie nicht aus der Welt und kann immer noch die Annehmlichkeiten nutzen, die ihr das Elternhaus bieten kann. Und noch etwas: Dein Argument mit der Wohnungsnot in dieser Stadt verfehlt sein Ziel, denn die Wohnung ist zweckbestimmt, will sagen, sie kann nur von einer Lehrperson genutzt werden.«

    Alle Achtung, Papa!, staunte Hanna. Diese Unterstützung hätte ich dir so nicht zugetraut!

    Frau Winkler blieb als letztes Argument, jetzt schon fast verzweifelt vorgetragen, nur noch der geldwerte Vorteil: »Aber sie muss doch Miete zahlen, und wenn sie die spart, dann ...«

    Spöttisch grinsend unterbrach sie Hanna: »... dann ist das Geld bei der nächsten Inflation wieder weg.« Natürlich hätte sie wissen müssen, dass ihre Mutter im Moment nicht empfänglich für solche Späßchen war: Ihre eigene Tochter, die ihr einst Beistand zugesichert hatte, war dabei, sich von ihr abzuwenden, und ihr Ehemann hatte sich auch noch mit ihr verbündet. Zutiefst verletzt legte sie die Hände vors Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, und verließ überstürzt das Wohnzimmer. Von der Diele her konfrontierte sie Mann und Tochter dann aber noch mit einer trotzigen Drohung: »Iich sooch etzat gouer nix mäier! Dirts kennts mer amaal ‘n Buggel untirutsch’n!« Die Wahl des Dialekts richtete sich wohl gegen ihren Mann, der immer großen Wert darauf legte, dass in der Familie hochdeutsch gesprochen wurde. Nicht einfach für seine Frau, die von Kind auf der Selber Mundart verbunden war.

    Natürlich kannte Hanna den Spruch »Die Zeit heilt Wunden«. Warten auf Selbstheilung war aber nicht das Ding der Pädagogin und so beschloss sie, den Prozess zu beschleunigen: Ohne von ihrer Entscheidung abzulassen, gab sie in den nächsten Tagen gegenüber ihrer Mutter immer wieder mal die Zerknirschte, die sich von den Aufgaben einer Wohnungseinrichtung und der Haushaltsführung überfordert sah. Gerne bediente sie sich der einleitenden Formulierung »Hätte ich gewusst ...«, um sie dann mit entsprechenden Details wie Tapeten, Möbel, Vorhänge, Geschirr, Heizmaterial zu kombinieren. Frau Winkler saugte diese Klagen auf wie den geliebten Eierlikör und konterte mit Satzmustern, die sich ebenfalls der Möglichkeitsform bedienten: »Hätte ich dir alles sagen können« oder: »Es wäre besser gewesen, wenn ...«

    Hanna entsprach dabei immer der Erwartung ihrer Mutter, indem sie betrüblich dreinblickte und gelegentlich hinzufügte: »Du hast ja eigentlich recht.« Aber sie war schlau genug, die grundlegende Veränderung nie wirklich in Frage zu stellen. Und damit war ihrer Strategie schon ein gewisser Erfolg garantiert, zumal entsprechende Reaktionen erkennen ließen, dass die Mutter dabei war, sich mit der neuen Lage abzufinden. Als dann die Wohnung für den Umzug zur Verfügung stand, hatte die bereits eine neue Rolle übernommen, die sie tatkräftig und zielstrebig ausfüllte: Sie plante, organisierte und verhandelte. Ob es nun die Tapeten, das Mobiliar oder den Transport betraf – für alles gab es optimale Lösungen, die stolz im Familienrat präsentiert wurden. Dabei ließ die Hausherrin auch gerne wissen, dass sie die entsprechenden Preisverhandlungen mit unerbittlicher Härte geführt hatte.

    Frau Winkler legte inzwischen einen Elan an den Tag, der auch ihren Mann verblüffte und ihm sogar lobende Worte abnötigte. »Ich staune doch, meine liebe Elfriede«, ließ er sich anlässlich eines Abendessens vernehmen, »mit welcher Perfektion du bei dieser Aktion zu Werke gehst, die ja für dich zunächst doch so etwas wie ein rotes Tuch war.« Er legte seine Hand auf ihren Arm und Hanna schien es, als wolle er zu einer feierlichen Danksagung anheben, aber er brachte nur ein »Danke!« hervor. Aber was dann geschah, war für seine Ehefrau eine äußerst freudige Überraschung, die ihr grenzenlose Glücksgefühle bescherte: Er erhob sich, beugte sich ihr zu und setzte ihr einen Kuss auf die Wange.

    Wie im Märchen, dachte Hanna lächelnd, bleibt nur die Hoffnung, dass sich, was die Ehe der beiden angeht, auch die mit Glück erfüllt: »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.«

    *****

    Mitte März nächtigte Hanna zum ersten Mal in ihrer neuen Wohnung. In den nächsten Tagen und Wochen zeigte sich, dass sie von der Befürchtung befreit war, ihre Mutter werde ihr weiterhin zur Seite stehen, indem sie immer wieder mal auftauchte und sich tatkräftig in ihren Haushalt einmischte. Bald sollte sie bemerken, dass die Eltern untereinander wohl die Absprache getroffen hatten, sich ihr nicht aufzudrängen. Aber sie empfing auch die Botschaft, dass sie jederzeit willkommen sei in ihrem ehemaligen Zuhause. Ihr war es überlassen, sich jederzeit zu den Mahlzeiten einzuladen oder auch mal unangemeldet aufzutauchen, sei es zu einem Kaffee oder um irgendwelche Absprachen zu treffen.

    Ein schönes Beispiel für die Zurückhaltung der Eltern war die Teilung des Selber Tagblatts: So war ausgemacht, dass auch Hanna die Verfügung über die von den Eltern abonnierte Zeitung haben sollte. Das Blatt war für die Lehrerin eine Art Pflichtlektüre, denn ihr sollte schon bekannt sein, welche Veranstaltungen in der Stadt anstanden. Und es konnte auch nicht schaden, wenn man einen Blick auf die Todesanzeigen warf, um bei der einen oder anderen Beerdigung anwesend zu sein. Auch war Hanna sehr interessiert am politischen Geschehen. Und gerade in dieser Beziehung war sie auf die Zeitung angewiesen. Zwar hätte sie sich gerne einen Radioapparat angeschafft, aber die Geräte waren doch sehr teuer. Und da hieß es eben, sich zu gedulden und zu sparen, bis dieser Luxus erreichbar war.

    Die Weitergabe der Zeitung, die natürlich dem Oberamtsrichter nicht zuzumuten war, hätte ihre Mutter jederzeit mit einem kurzen Besuch bei Hanna verbinden können. Aber nichts dergleichen geschah, das Blatt steckte, wenn Hanna es aus irgendwelchen Gründen nicht selbst abgeholt hatte, in ihrem Briefkasten.

    Trotzkopf

    Ruth Walberer hatte es ihrer Freundin Hanna nachgetan, indem sie sich inzwischen in Erlangen auf den Beruf der Lehrerin vorbereitete. Damit konnte ihr Vater, Sanitätsrat Dr. Walberer, überhaupt nicht einverstanden sein, denn er hatte seine Tochter sozusagen schon anderweitig verplant: Er wollte sie nämlich an der Seite eines jungen Arztes sehen, der zunächst in seine Praxis eintreten und diese dann alleinverantwortlich übernehmen sollte. Zusammen mit seiner Ehefrau war er schon seit längerer Zeit dabei, Ausschau nach einem geeigneten Kandidaten zu halten.

    Er hätte sich allerdings daran erinnern sollen, dass seine Tochter seit Kindertagen eigene Wünsche und Ziele mit eisernem Willen verfolgte und dabei eine Strategie zur Anwendung brachte, die den Eltern oft nur die Kapitulation ließ: Ruth verordnete sich ein Schweigegelübde, das mit starker Nahrungsreduzierung einherging. Diese Form des Protests hatte Mutter und Vater schon mehrmals peinliche Gespräche eingebracht. Da hatte der Arzt zum Beispiel vor Jahren die Klage eines Lehrers erfahren, seine Tochter sei in letzter Zeit antriebslos und beteilige sich nicht am Unterrichtsgeschehen. Zudem sei sie sehr blass und man mache sich Sorgen um ihre Gesundheit. Und schließlich waren auch noch seine Fähigkeiten als Mediziner in Zweifel gezogen worden: Er müsse diesen Zustand doch ebenfalls erkannt haben und solle endlich mit entsprechenden Schritten reagieren.

    In der Regel konnte dieser »Zustand« dann auch

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