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Das Multikat
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eBook849 Seiten12 Stunden

Das Multikat

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Über dieses E-Book

Wie wäre es, wenn nicht nur ein Buch im Buch geschrieben würde, sondern sich dieser Vorgang mehrfach wiederholte, so dass am Ende eine Art Matroschka-Puppe aus Büchern entstünde, bei der jedes Buch, das der Leser im anderen Buch öffnet und liest, wieder zu einem anderen Buch führte und sich zum Schluss der Kreis zwischen erstem und letztem Buch und damit die logische Lücke zwischen erster und letzter Geschichte schließen würde?
Wie wäre es, wenn diese Vielzahl an Geschichten sowohl inhaltlich als auch thematisch miteinander verwoben wären, so dass der Leser nach der Lektüre nicht mehr sagen könnte, was nun wahr und was Fiktion ist, was Rahmenhandlung und was eigentliche Geschichte?
Mit viel Humor beantwortet der Roman "Das Multikat" diese Fragen, in dem ein Schriftsteller den Auftrag bekommt, gegen viel Geld ein Romanunikat zu verfassen, dessen Inhalt sich aber immer mehr verselbständigt, so dass am Ende die Romanfiguren selbst die Schöpfer ihres Autors zu sein scheinen. Wie die einzelnen Hauptfiguren immer stärker in den Sog des Geschehens hineingeraten und auf abenteuerliche Weise zu den Urhebern ihrer Wiedergänger werden, dessen wird der schmunzelnde Leser hier Zeuge. Dieser Roman ist eine augenzwinkernde Hommage an das Schreiben und das Lesen, an Schund- und Hochliteratur. Beim finalen Zurseitelegen des Buches wird sich der Leser sowohl gut unterhalten, als auch vor einige knifflige Fragen gestellt sehen. Ein Lesespaß mit doppeltem Boden!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Sept. 2014
ISBN9783847614852
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    Buchvorschau

    Das Multikat - Urs Rauscher

    Das Multikat- Roman

    Das Multikat

    Roman

    von

    Urs Rauscher

    Die Originalausgabe erschien 2014 bei SML

    © 2014 Urs Rauscher

    Publishing Rights © 2014 Urs Rauscher

    Cover & Illustration © Urs Rauscher

    Text Copyright © 2014 Urs Rauscher

    Lektorat: Sabrina Kober

    ISBN: 978-1502463203

    Alle Rechte vorbehalten

    „Mach dir darüber keine Sorgen, Bill,

    diese Dinge lösen sich meistens von allein."

    Rendezvous mit Joe Black

    Der Auftrag

    Alles begann an einem dunklen Herbstmorgen, in einem Herbst, der vorzeitig ergraut war. Der Oktober war noch nicht angebrochen, aber die eisernen Nebelschwaden hingen unbeweglich über den dunkelbraunen, mit Raureif überzogenen Feldern der süddeutschen Provinz. Gewöhnlich wäre ich zu dieser Jahreszeit zu einer solchen Uhrzeit überhaupt noch nicht aus dem Haus gewesen, aber ich hatte am Vorabend einen unerwarteten Anruf erhalten, und diesem folgte ich nun. Mein Beruf ließ es zu, dass ich solange schlief, bis ich ausgeschlafen war, was in meinem Alter nicht mehr allzu spät der Fall war. Dennoch ließ ich mir in der Regel Zeit, bis ich vor die Tür trat; meistens war es nicht vor Mittag. Ich war Schriftsteller, und die letzte Lesereise, bei der ich manchmal das Hotel vor zehn Uhr hatte verlassen müssen, um nicht für eine weitere Nacht zu bezahlen, war schon eine Weile her. Genau genommen hatte meine Frau das Telefonat entgegengenommen, und weil sie so zutraulich und liebevoll geklungen hatte, war ich davon ausgegangen, dass es sich um Verwandtschaft handelte, aber als sie mir dann den Hörer in die Hand drückte und mir mit funkelnden Augen ein schwärmerisches „Dein reicher Kunde ins Ohr flüsterte, bevor sie ins Nachbarzimmer entschwebte, war ich doch einigermaßen überrascht. „Steigbügel hier, sagte eine sonore Männerstimme, der die Jahrzehnte des Gebrauchs anzuhören waren. Ich war perplex. Steigbügel? Ich wollte nachhaken, aber die Stimme ließ mich nicht zu Wort kommen: „Ich wollte wissen, ob sie über mein Angebot nachgedacht haben."

    Ich war nun noch verwirrter. „Angebot?"

    „Mein Angebot. Das Unikat. Sie wissen schon."

    „Nein?"

    „Ihre Frau hat es Ihnen überbracht."

    Ich wollte meine Frau nicht bloßstellen: „Ach so...Ja. Ich erinnere mich."

    „Und was denken sie darüber?" Der ältere Mann hatte unüberhörbar Schnupfen.

    „Tja..."

    Ich wollte mich selbst ebenso wenig bloßstellen, in dem Fall, dass meine Vergesslichkeit oder der gestrige Bourbon Schuld an allem war. Ich versuchte also ein Ausweichmanöver: „Hm. Ja, das Angebot. Mir fehlen noch die Details."

    „Welche Details? Die Ungeduld war deutlich durchzuhören. „Ein Unikat ist ein Unikat. Dass ein Roman nicht weniger als zweihundert Seiten hat, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.

    Ich atmete durch. „Nein, natürlich nicht. Ein Roman... Ich hörte das Hochziehen von Nasenschleim. „Ein Unikat. Ein Roman. Sie haben Recht, da braucht es keine Details.

    „Das will ich doch hoffen."

    „Es sei denn, der Roman hat einen Inhalt."

    „Der Inhalt wird im Groben so sein, wie ich es durch Ihre Frau habe überbringen lassen."

    „Natürlich. Ich erinnere mich. Ja, der Inhalt. Die Geschichte..." Ich fühlte mich überrumpelt und im Stich gelassen.

    „Und bei einer Million Euro gibt es auch keine Details. Netto, versteht sich."

    „Ja, eine Million ist eine Million. Ich versuchte ihm jetzt mehr zu entlocken: „Egal ob man sie in bar bezahlt oder auf ein Konto oder in Form eines Hauses. Ob in Raten oder als ganzen Betrag. Eine Million ist eine Million.

    „Ganz recht; sagte die Stimme streng. „Auf Ihr Konto. Die Daten habe ich bereits. Fünfhunderttausend als Anzahlung und weitere fünfhundert bei Fertigstellung. Aber das sind nur Details.

    „Ja. Nur Details."

    „Dann kommen Sie also morgen?" Es klang eher wie ein Befehl als wie eine Frage.

    „Ja...Ja, ich komme morgen. Eine Million, wer kann denn da nein sagen?", bemühte ich einen Scherz und lachte gekünstelt in die Hörmuschel.

    Sie jedenfalls nicht, sagte er bestimmt. „Ihre Frau hat ja fast schon zugesagt.

    „Äh. Ja, das hat sie. So gut wie. Und das vollkommen zu Recht." Ich verspürte Wut und absolute Wertschätzung für meine Frau zugleich. Eine Million. Steigbügel. Unikat. Roman. All das blies mir zugleich durch den Schädel, bis ich mir ein vages Bild machen konnte.

    „Die Adresse haben Sie, sagte die verkratzte, veraltete Stimme. „Die Uhrzeit auch. Auf Wiederhören. Er hatte aufgelegt.

    Ich hoffte, dass meine Frau, Beate, nicht gehört hatte, dass mein Telefonat beendet war, aber dann vernahm ich etwas, das wie fahrende Panzer klang und vom Wohnzimmer in den Flur drang, und so wusste ich, dass sie fernsah. Also ging ich in die Küche, um mir einen Bourbon einzuschenken auf den Schock, den mir das Gespräch versetzt hatte. Ich wusste noch nicht, ob ich das, was ich erfahren hatte, als Lottogewinn oder als Todesnachricht bewerten sollte: Irgendein Millionär wollte, dass ich einen Roman schrieb, der Zusatz Unikat bedeutete, dass dieser Roman nur ihm gehören würde, dass er nicht veröffentlicht würde und niemand sonst jemals eine Zeile zu Gesicht bekäme – außer vielleicht seine Erben.

    Der Bourbon brannte in meiner Kehle. Wärme stieg von unten aus meinem Bauch auf und erfasste meinen Kopf. Ich widerstand der Versuchung, ein zweites Glas einzuschenken und begab mich ins Wohnzimmer zu meiner Frau. Sie hörte mich nicht näherkommen. Als ich hinter ihr stand, sah ich, dass sie keine Weltkriegsdoku sah, sondern einen Bericht über die städtische Müllabfuhr von Bielefeld. Ich strich ihr durch ihre kurzen braunen Haare. Ich mochte keine kurzen Haare, und sie hatte sich ihre Mähne vor ein paar Jahren ganz kurz schneiden lassen, weil ihr ein Freund dazu geraten hatte. Meine Meinung war ihr damals wohl weniger wichtig gewesen. Wie noch heute. Ich stichelte gerne bei diesem Thema. So berührte ich einen der Stoppel mit den Fingerspitzen und sagte: „Mit langen Haaren wärst du fast so schön wie früher."

    „Wie reizend, gab sie zurück und setzte einen Schmollmund auf, als sie sich zu mir umdrehte. „Wann fährst du?

    „Schön, dass du mich vor vollendete Tatsachen stellst." Ich versuchte, ihr böse zu sein. Was mir aber nicht gelang.

    „Wann fährst du?"

    „Morgen. Du hast also die Adresse?"

    „Ja, wie ich gesagt habe."

    „Du hast mir gar nichts gesagt."

    Sie sah mich mit schief gelegtem Kopf an: „Schon wieder vergessen?"

    „Du hast mir nichts gesagt. Wann denn? Gestern?" Mich beschlich die Angst vor dem Verlust meiner Erinnerungsgabe.

    „Ja, klar. Wir haben doch darüber geredet."

    „Nein. Bestimmt nicht."

    „Ist das etwa der Bourbon? Sie musste schmunzeln. „Du trinkst zu viel Bourbon.

    „Schwachsinn."

    „Komm mal her. Lass mich riechen."

    Ich verweigerte mich ihrem Alkoholriechtest.

    Sie machte ein strenges Gesicht, dann hellte es sich jedoch wieder auf: „Jedenfalls ist es eine Riesenchance. Wie viel hast du für dein letztes Buch bekommen? Wie viele Exemplare hast du verkauft?"

    Ich bedeutete ihr mit einem Abwinken, dass ich nicht darüber sprechen wollte.

    „Auf jeden Fall hast du mit einem Buch noch nie eine Million verdient. Sie machte eine kurze Pause. „Du hast überhaupt noch keine Million verdient. Noch nicht einmal mit all deinen Büchern zusammen.

    „Nein", sagte ich überschnell.

    Sie schaute sich im Zimmer um „Wir könnten das Geld gut gebrauchen."

    „Deshalb fahr ich auch hin."

    „Ich bügele dir deinen Anzug." Sie sprang auf.

    „Warte. Worum soll es in dem Buch gehen?"

    Sie schaltete den Fernseher aus. „Das weiß ich doch nicht. Das geht mich auch nichts an."

    „Dieser Steigbügel meinte, er hätte es dir gesagt."

    „Nein. Er muss auch unter Gedächtnisverlust leiden", meinte sie in einem Anflug von Spott.

    „Woher wissen wir überhaupt", ich kratzte mich an der Stirn. „Dass es sich dabei nicht um einen Betrüger handelt? Ich meine, Steigbügel, das hört sich nach einer Veräppelung an."

    Sie sah mich an wie einen Außerirdischen. „Du kennst Steigbügel nicht? Der berühmte Unternehmer. Schrauben, Muttern, Nägel und so...?"

    „Aha. So berühmt kann der aber nicht sein."

    „Nur weil du ihn nicht kennst?"

    „Woher kennst du ihn denn?"

    „Ich kenne ihn nicht. Aber die Firma. Die Firma kennt man doch. Die Werbung im Fernsehen. Und dann das, was in der Zeitung steht: Steigebügel-Stiftung. Steigbügel Kunstsammlung. Steigbügel-Spedition. Der war doch auch mal ganz groß in den Nachrichten, weil er mehr Steuern gezahlt hat, als er eigentlich sollte. Sie haben ihm dafür einen Verdienstorden des Bundes verliehen. Aber er selbst lebt eher zurückgezogen. Aber die Adresse, die er mir gegeben hat, stimmt mit dem überein, was ich im Internet gefunden habe."

    Ich schaute kaum Fernsehen. Zeitung las ich auch nicht. Ich glaubte meiner Frau, auch wenn ich einschränkte: „Das kann immer noch ein Betrüger sein. Genau genommen, ist das so sogar noch wahrscheinlicher."

    „Ach was. Der hat sehr echt geklungen."

    „Na dann, murmelte ich leise vor mich hin. Ich hatte ohnehin keine Wahl. Meine Frau würde mir sonst ewig Vorwürfe machen. Erst recht, wenn mein kommendes Buch ein Flop würde. Außerdem war ich selbst gespannt. Und gierig. Ja, ich konnte eine Million ebenso gut gebrauchen wie Beate. Sollte es sich um einen Betrüger handeln, so hätte ich immerhin wieder Stoff für einen Roman. „Wo lebt der Typ denn?

    „Der Typ lebt in Bayern. Irgendwo in der Provinz. Muss selber nochmal nachschauen. Ich gebe dir die Adresse nachher. Jetzt gehe ich aber wirklich bügeln. Sie stieß sich vom Sofa ab, an dessen Rücken gelehnt sie gestanden hatte, und drückte mir einen Kuss auf den Mund. „Uaa. Bourbon, zischte sie milde abfällig.

    Ich liebte diese kleine Frau mit der Stupsnase und den Sommersprossen. Gewissermaßen liebte ich auch ihre Sticheleien. Wir waren Mitte vierzig und seit fast zwanzig Jahren ein Paar. Kinder hatten wir keine, wir hatten nie welche gewollt. Meine Frau war Übersetzerin und sehr gut beschäftigt. Wie ich hatte sie schon ein paar kleinere Preise gewonnen, einmal aber auch den renommiertesten Literaturübersetzerpreis überhaupt. Für die Preisverleihung war sie eigens mit mir nach Frankfurt zur Buchmesse gereist. Dort hatte sie sogar ein Zeitungsinterview mit Photographen gegeben. Danach hielt sie den Kopf immer etwas höher als vorher.

    Nach einem weiteren Glas Bourbon lag ich im Bett. Beate saß noch im Wohnzimmer und sah sich einen Film an. Ich hatte eine Weile im langweiligen und nichtssagenden Buch eines befreundeten Schriftstellers gelesen, dann aber die Nachttischlampe ausgemacht. Ich war zu müde, um wach zu sein, aber zu aufgeregt, um wirklich zu schlafen. So malte ich mir aus, was mich erwarten würde: Das Anwesen. Der Unternehmer. Der Vertrag. Es sah so aus, als würde etwas Bewegung in mein eingeschlafenes Kunsthandwerkerleben kommen.

    In der Nacht träumte ich einen kruden und beklemmenden Traum: Ich war mit meiner Frau und meinem besten Freund in einem Cabriolet unterwegs. Es war Sommer und wir kreuzten durch die die Stadt. Wir suchten in einer Art Einbahnstraße nach irgendeinem Geschäft, doch je klarer wir uns darüber wurden, dass wir in die falsche Richtung fuhren, desto weiter fuhren wir in diese falsche Richtung, weil mit jedem zusätzlichen Kilometer die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens eines Ausgangs stieg. Irgendwann drückte mein bester Freund immer stärker aufs Gas, so dass ich immer mehr Angst bekam, wir würden bald mit einem anderen Fahrzeug zusammenstoßen, gegen eine Wand prallen oder von der Polizei gestoppt und festgenommen werden. Ich brüllte, aber niemand schien mich hören zu können. An Aussteigen war auch nicht zu denken. Seltsamerweise blieb meine Frau ganz ruhig und mein Freund spielte meine Bedenken herunter. Als wir aus einer Kurve flogen, wachte ich auf.

    Beate war schon wach. Sie hatte mir Frühstück gemacht und mir meinen Anzug gerichtet. Nach meiner morgendlichen Dusche frühstückten wir zusammen, schweigend. Als ich schließlich frisch herausgeputzt in der Garage vor meinem alten Audi stand, war mir mulmig zumute. Ich nestelte an meiner Krawatte. Beate bemerkte das natürlich.

    „Was ist los?, fragte sie. „Hast du Angst vor der Aufgabe?

    „Nein. Es ist nichts." Ich fasste sie an beiden Schultern.

    Sie zog meine Krawatte zurecht: „Wird schon."

    „Ja", sagte ich wenig überzeugend. Ich verschwieg den Traum.

    „Hier." Sie reichte mir meinen Koffer.

    „Danke." Als ich ihn in der Hand hielt, stutzte ich. Ich hob ihn über Kniehöhe und sah Beate an.

    „Was ist?"

    „Der ist so schwer. Was hast du rein gemacht? Steine?"

    „Kleidung für zwei Wochen", gab sie lapidar zurück.

    „Was? Zwei Wochen? Ich bin doch spätestens morgen wieder zurück."

    Sie schüttelte den Kopf: „Ich glaub nicht, dass das so schnell geht."

    „Warum? Eine Besprechung, den Vertrag unterschreiben, Vielleicht noch einen Drink, eine Nacht in der Villa und morgen bin ich wieder zurück."

    „Er meinte, Kleidung für zwei Wochen." Sie zuckte mit den Schultern.

    „Davon hat er mir nichts gesagt. Soll ich das Buch bei ihm schreiben?"

    „Keine Ahnung. Ich dachte, ihr habt das besprochen."

    Ihre letzten Worte brachten mich auf. „Du hast doch alles mit ihm besprochen!"

    „Jetzt übertreib nicht", beschwichtigte sie und zog meinen Kopf zu sich herunter, um mich auf die Lippen zu küssen.

    Ich löste mich erzürnt, nur um mich kurz darauf zu besinnen und ihren Kuss zu erwidern. Ich küsste sie noch einmal. Und wieder. Es war, als hielte ich mich mit jeder Lippenberührung an ihr fest. Irgendetwas sagte mir, dass ich nicht fahren sollte, dass ich die Million ausschlagen und mein Leben so weiterleben sollte wie bisher. So schlimm war es schließlich gar nicht.

    Aber dann saß ich im Auto und ließ das Fenster hinunter, um Beate noch ein paar letzte Liebesbekundungen zukommen zu lassen. Vielleicht sahen wir uns nun zwei Wochen nicht – fast eine kleine, unerwartete Lesereise. „Ich hab dein Navi schon programmiert", sagte sie mit einem Lächeln, als ich das Gerät über dem Armaturenbrett anschaltete. Ich zwang mich auch zu einem Lächeln. Ich heftete meine Augen an sie, winkte ihr zu. Erst als ich außer Sichtweite des Hauses war, ließ ich das Fenster wieder nach oben.

    Nun war ich also fast an meinem Ziel angelangt. Fünf Stunden war ich bereits gefahren und ich hatte den jungen Herbst und das Autofahren gründlich satt. Die Bourbon-Nebelschwaden in meinem Kopf wurden an Autobahnraststätten mit billigem Pappbecherkaffee vertrieben. Ich wollte klar werden, bevor ich der Großen Persönlichkeit gegenüberstand, von der Beate gesprochen hatte. Im Internet hatte ich nach einer Fotografie geschaut, war aber nur auf ein reichlich undeutliches, verschwommenes Bild gestoßen, dass aus einem Gruppenfoto ausgeschnitten und dann vergrößert worden war. Außer einer Halbglatze und einem gesichtseinnehmenden Grinsen war nicht viel zu erkennen gewesen. Aber immerhin kannte ich schon die Stimme und von dieser ließ sich bereits ein Großteil der Persönlichkeit ableiten. Und den Nachnamen. Steigbügel. Er klang so, als hätte sein Vorfahre anderen zu wichtigen Posten oder Ämtern verholfen. Vielleicht konnte er ja mir auf das hohe Ross des Reichtums helfen.

    Sicherlich war ich dem Geld nicht vollkommen abgeneigt, jedoch war es anzuhäufen nie mein primäres Ziel im Leben gewesen. Selbst Berühmtheit hatte ich nie bewusst angestrebt. Ich fand Erfüllung im Schreiben, dem Erschaffen von Sätzen und Texten, der Hingabe an die Intuition und Erfindungskraft im Detail, und da es mich ernährte, hatte ich immer damit weitergemacht, selbst wenn mir ein paar Jahre lang keine gute Idee kam. Ich ging dabei vor wie die meisten meiner Kollegen, die alle zwei bis drei Jahre ein neues Buch herausbrachten, einfach um den Erwartungen des Marktes zu genügen. Wir verkauften unsere Bücher, weil wir einmal ein recht ordentliches Werk verfasst hatten. Das war zu Beginn unserer Karriere gewesen, als die Eingebung uns geleitet hatte, als es eine gewisse Dringlichkeit gab, einer Idee Form zu verleihen, und man schließlich als Schriftsteller endete, weil man eben keine anderes Ventil gefunden hatte als ein fiktionales Buch, um das, was einem auf der Seele brannte, zum Ausdruck zu bringen. Andere Leute waren Fußballfans geworden, Politaktivisten, ewige Grantler oder große Liebhaber. Ich eben Schriftsteller. Das Buch verlieh meinen Gefühlen die richtige Stimme: Ich war nicht zornig genug, um politisch zu handeln, nicht fanatisch genug, um mit anderen herumzubrüllen, nicht frustriert genug, um anderen mit meinen Kommentaren das Leben zu vergällen, und nicht leidenschaftlich genug, um mehr als einer Frau meine Liebe und körperliche Energie zu schenken. Mein Gefühlsleben war genauso wohl temperiert wie es das der Figuren in meinen Romanen war, und vermutlich ebenso wie das meiner Leser, weswegen ich bereitwillig jene Spiegel aus Wörtern dafür erschuf, ohne mich allzu sehr verbiegen zu müssen. Also verlangte der Verlag alle paar Jahre ein Manuskript, und alle paar Jahre begab ich mich nach Erscheinen der neuen Geschichte auf eine mehrwöchige Lesereise, bei der ich mein Buch denjenigen Menschen vorlas, die ohnehin vorgehabt hatten, es zu kaufen. Viel mehr als eine Werbeveranstaltung waren diese Lesungen ein Dankeschön an die treue Leserschaft. Denn als ich einmal wegen Krankheit nicht auf Reise gehen konnte, verkaufte sich das Buch eben so gut wie jene davor und diejenigen, die ich danach imstande war mit meiner etwas schwachen Stimme zu bewerben.

    Weder passte ich meinen Stil dem Großen Geschmack der Masse an, wie es eine berühmter Literaturkritiker in abfälligem Ton genannt hatte, noch hatte ich die eine geniale Idee, die mein Werk zu Weltliteratur gemacht und somit millionenfach verkauft hätte, aber trotzdem kaum tatsächlich gelesenen werden ließ. Es gab also weder das Glück noch die Bemühung, das Große Geld zu scheffeln. Meine Frau kannte ich eigentlich auch nicht als gierig, und so war ich doch einigermaßen, wenn vielleicht nicht befremdet, dann doch verwundert über die Zielstrebigkeit, mit der sie mich dem mir unbekannten Mäzen zuführte, die Zweifellosigkeit, mit der sie von mir erwartete, dass ich zu ihm fuhr und seinem seltsamen Vorhaben zustimmte.

    Nun war ich lange auf Autobahn und Landstraße gewesen, und hatte es in das kleine Kaff geschafft, in welchem sein Anwesen stehen sollte: Daunloding. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Empfänger des Bundesverdienstordens und steinreicher Unternehmer seine Wohnstätte errichtet hatte. Es gab Landwirtschaftsgebäude und kleine Einfamilienhäuser und im Ortszentrum ein kümmerliches Rathaus sowie eine Kirche mit Zwiebelspitze. Außer einer alten Frau mit Hund zeigte sich bei dem Wetter keiner der Bewohner auf der Straße. Ich musste durch die Ortschaft hindurch fahren, um zu der Straße zu gelangen, in der mein Auftraggeber laut den von Beate im Internet eingeholten Informationen wohnte. Mein Navi kannte die Straße, sobald ich jedoch in diese eingebogen war, versagte es mir den Dienst, und weil die Dame mit der unfreundlichen Stimme sich im Sekundentakt wiederholte, musste ich das Gerät ausstellen und selbst auf die Suche gehen.

    Dies gestaltete sich nicht sonderlich schwer. Ich folgte einfach dem Straßenverlauf entlang einer ungemähten, feuchtschweren Wiese, über einen Bach, durch ein Wäldchen, dann eine kurvenreiche Hügelkette. Die Hausnummer lautete auf 54, aber es gab nur ein einziges Haus. Es lag am Ende der Straße und war dasjenige meines zukünftigen Gastgebers. Entweder hatte er sämtliche Grundstücke aufgekauft und sich den Scherz erlaubt, auszurechnen, wie viele andere Häuser nebeneinander an die Straße gepasst hätten, oder aber er war so korrekt, dass er einem Haus, das sich am Ende und nicht am Anfang der Straße befand, niemals die Nummer 1 gegeben hätte. Womöglich gab es aber einen anderen Grund: Die Nummer 1 hätte zu viel Aufmerksamkeit auf sein Haus gezogen. Bei Firmensitzen bedeutet sie, dass kein anderes Haus mehr an die Straße passte. Diese hier hieß auch nicht Steigbügelstraße, sondern Wäldchenweg, was Uneingeweihte sofort auf die falsche Spur bringen würde.

    Ich fuhr an einem Platz aus Schotter vorbei. Dann kam sein Grundstück. Das Haus selbst konnte ich zunächst überhaupt nicht sehen. Ich konnte lediglich erahnen, dass es sich hinter der drei Meter hohen Ligusterhecke befand, die in der Mitte durch einen Pflastersteinweg geteilt wurde. Dieser Weg wiederum wurde durch ein goldspitzenbewehrtes Eisentor versperrt und das Tor wurde flankiert von zwei Gebäuden, einstöckigen runden Türmen, die über Panzerglasfenster verfügten. Durch die dunklen Spiegelungen der Türme in den gegenüberliegenden Fenstern hindurch konnte ich inmitten der Reflektion des Herbstlichts die Gesichter zweier Wachmänner erkennen.

    Der linke Mann wies mit der Hand auf sein Gegenüber. Ich fuhr näher an den rechten Turm heran. Der Wachmann hatte einen breiten Hals unter einem breiten Kinn. Er sah mich bedrohlich an. Seine Haare waren zu einer blonden Bürste gestutzt, die Wangen gerötet. Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mein Seitenfenster herunterlassen solle. Ich kurbelte es herunter und sogleich hörte ich seine Stimme aus einem Lautsprecher. Es klang unangenehm, aber verstehen konnte ich es nicht, denn der Lautsprecher war auf der anderen Seite von meinem Auto. Ich gab ihm ein Handzeichen, dass er mit dem Sprechen einhalten solle, dann kletterte ich auf den Beifahrersitz und kurbelte dort das Fenster herunter. Er beendete gerade seine Informationsrede mit einem Genehmigung.

    „Was für eine Genehmigung?", fragte ich und bat ihn, das Gesagte zu wiederholen.

    „Stellen Sie sich nicht blöd, sagte er herrisch. „Sonst müssen wir sie entfernen.

    „Ich habe Sie nicht verstanden. Akustisch nicht verstanden", rief ich in Richtung der Vorrichtung, die ich für das Mikrofon hielt.

    Er hielt sich die Ohren zu und blickte noch grimmiger. „Sie brauchen eine Genehmigung, wenn sie hier reinwollen. Eine Einladung." Er hatte einen Anzug und eine Krawatte an.

    „Ich bin von Herrn Steigbügel eingeladen worden. Der wohnt doch hier, oder?"

    Er ging nicht auf die Frage ein: „Die schriftliche Einladung."

    Ich zog meinen Geldbeutel aus der Hosentasche, streckte mich so gut es ging und hielt ihm meinen Ausweis direkt an die Scheibe. „Er hat mich eingeladen."

    Der Sicherheitsmann notierte meinen Namen, fuchtelte dann mit seiner Hand herum, damit ich den Ausweis von der Scheibe nahm.

    Er telefonierte einmal. Er telefonierte noch einmal. Dann wartete er und starrte mich weiter abweisend an.

    „Kann Herr Steigbügel nicht persönlich kommen?", fragte ich.

    „Welcher Herr Steigbügel?", krächzte es aus dem Lautsprecher.

    Ich fragte mich, ob ich mich nicht doch geirrt hatte.

    Dann bekam er einen Anruf.

    Als hätte jemand am anderen Ende der Leitung Sesam öffne dich geflüstert, betätigte der Ex-Soldat mehrere Schalter vor sich und das eiserne Tor öffnete sich langsam. Ich war erleichtert.

    Dass ich Zugang bekam, machte den Gesichtsausdruck des Wachmanns nicht weniger skeptisch. Ich fühlte mich wie ein Terrorist, wie ein Attentäter, ein Einbrecher. Nicht wie ein geladener Gast.

    Dieses Gefühl wurde ich auch nicht so bald los.

    Als ich in den Hof einfuhr, kamen zwei Wachmänner aus einem weiteren Gebäude. Einer streckte die Hand zum Stoppzeichen aus. Ich hielt an. Ich stieg aus.

    Der zweite Mann tastete mich stumm ab, durchsuchte meine Taschen, während der erste mit einer Person im Blaumann sprach.

    Der Mann im blauen Overall kam mit zwei Gehilfen und jeder Menge schweren Werkzeugs wieder. Ich erkannte einen Wagenheber und eine Kreissäge.

    „Die Autoschlüssel, bitte", sagte er ruhig zu mir.

    „Ich kann ihn selbst parken, danke", sagte ich.

    „Die Autoschlüssel."

    „Wozu?"

    „Wir müssen das Auto untersuch'n."

    „Was?"

    „Eine Sicherheitsmaßnahme."

    „Kommt nicht in Frage", sagte ich bestimmt.

    „Dann kann des Auto nich hier bleiben."

    „Wo soll es dann bleiben?"

    „Draußen, auf'm Parkplatz."

    „Auf welchem Parkplatz?"

    „Neben der Mauer."

    Ich dachte nach. „Der Schotterplatz?"

    „Ja. Wennse dort geparkt hätt'n, hätt'nse sich viel Wartezeit sparen können. Aber Sie wollten ja unbedingt mit dem Auto hier rein."

    „Ich wollte überhaupt nichts: Ich wollte zu Herrn Steigbügel. Ich..." Noch während ich sprach, hörte ich die elektrische Metallsäge. Ich drehte mich zu meinem Auto um und wurde von fliegenden Funken geblendet. Die beiden Azubis waren schon bei der Arbeit.

    „Keine Sorge, sagte der Mechaniker mit dem Dreitagebart und den Ölfingern. „Wir bau'n das Auto wieder zusammen. Er sah mich erleichtert lächeln und kratzte sich am Kinn. „Aber nur, wennse den Fahrzeugbrief dabei hab'n."

    „Nein?"

    „Dann bauen wir's so zusammen, wie wir's in Erinnerung haben. Die beiden sin Azubis, das is ne gute Übung für sie."

    Ich wurde zornesrot. „Das ist eben keine Übung. Das ist mein Auto!"

    Der Wachmann trat zwischen uns. „Und das hier ist der Grund und Boden von Herrn Steigbügel, und auf diesem machen wir alle, was Herr Steigbügel befohlen hat, verstanden?"

    „Und, schloss der Mechaniker an. „Der will nun mal ganz sicher gehen, dass hier keine Bomben hochgeh'n.

    Es war hoffnungslos. Ich ergab mich, wie ich mich zuvor schon zigmal ergeben hatte: „Was noch? Eine Zahnuntersuchung? Ein Hodentest? Ein Ultraschall im Bauchbereich?"

    „Sie haben es erraten, sagte der Wachmann. „Als nächstes geht es zum Arzt.

    Ich bekam Bauchschmerzen. Aber nicht bei der Vorstellung, mich untersuchen zu lassen, sondern weil die Kreissäge hinter mir aufjaulte und die Funken knackten und knisterten. Mein schönes Auto! Wir hatten es erst vor einem halben Jahr gekauft und unseren 15 Jahre alten Kombi verschrotten lassen. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus waren, brauchten wir keinen Kombi mehr. Jetzt, wo wir feststellten, dass die Kinder aus dem Haus waren, weil wir nie welche gehabt hatten, wurde uns klar, dass wir keinen Kombi brauchten. Wir hatten viel Geld zusammengelegt für die Limousine, deren nagelneues Blech gerade zu Schnipseln verarbeitet wurde. Nur die Vorstellung, mit den Tantiemen für mein kommendes Werk 20 solcher Autos kaufen zu können, bewirkte, dass mein Zähneknirschen die Säge nicht übertönte.

    Wir befanden uns nur in einer Art Vorhof, einer Schleuse, die dem eigentlichen Haus vorgebaut war. An den Hof, mit seinen Parkplätzen, der Autowerkstatt und anderen Nutzgebäuden, schloss eine weiter Mauer an. Durch ein Tor kamen wir an ihre Rückseite. Dort stand ein zweistöckiges, unverputztes Gebäude. Der Wachmann forderte mich auf, es zu betreten.

    Mit einem mulmigen Gefühl betätigte ich den Klingelknopf. Der Öffner summte und ich drückte die Türe auf. Das Innere des Gebäudes war vollkommen konträr zu seinem Äußeren: Es sah aus wie in einer Klinik. Sofort kam mir eine Krankenschwester entgegen. Sie führte mich in ein kleines Untersuchungszimmer. Sie war schwarzhaarig und hatte große Brüste. Es sah aus, als hätte sie eine falsche Krankenschwestertracht angezogen, denn die Brüste drückten oben aus dem Dekolleté und das Röckchen war äußerst kurz. Vermutlich hatte sie die falsche Kleidergröße an. Ihre Haare waren auch nicht zusammengebunden, sondern wallten sich um ein stark geschminktes Gesicht.

    „Ausziehen", sagte sie oberlehrerhaft.

    „Ja, wenn der Herr Doktor da ist..."

    „Nein, jetzt. Sie drohte mit dem Finger. „Wenn der Herr Doktor da ist, müssen sie sich schon freigemacht haben.

    Ich stand unschlüssig herum.

    „Nackt machen, bitte", sagte sie mit dem Anflug eines Schmunzelns.

    Ich fing an, mich zu entkleiden. Sie hatte sich auf einen Drehstuhl gesetzt und starrte mich an. Ich hielt inne: „Würden Sie bitte wegschauen?"

    Sie reagierte nicht darauf und machte einen spöttischen Schmollmund.

    Also zog ich mich weiter aus. Als ich bei der Unterhose angelangt war, präsentierte ich ihr das Ergebnis.

    „Ganz ausziehen", beharrte sie.

    „Kommt nicht in Frage. Der Herr Doktor..."

    „Vollständig entkleiden, sagt der Herr Doktor", befahl sie und drehte sich auf dem Stuhl hin und her. Ich sah sie langsam die Beine spreizen.

    Als ich ganz nackt war, drehte ich mich wieder zu ihr um, die Hände vor meinem Schritt haltend.

    Unter ihrem Röckchen war sie genauso nackt wie ich.

    Sie sah mir fest in die Augen.

    Ich drückte fester mit den Händen auf den Schritt.

    Dann stand sie unvermittelt auf und ging zur Tür. „Der Herr Doktor kommt gleich", sang sie und ging mit Schwung hinaus.

    Ich saß splitterfasernackt auf der Liege und ließ meine haarigen Beine baumeln. Zugluft kitzelte die Härchen auf meinen Hoden. Mir wurde kalt, während ich auf den Doktor wartete, ich wagte aber nicht, mir etwas anzuziehen. Ich wollte nicht gegen die Sicherheitsbestimmungen verstoßen, mir nicht die Million durch die Lappen gehen lassen, nur weil ich ein bisschen zu angezogen war.

    Irgendwann ging die Türe auf. Ein Mann mit Vollbart im Arztkittel kam herein. Zunächst bemerkte er mich nicht, hantierte mit Spritzen herum. Als er herumfuhr, traf es ihn wie ein Schlag.

    „Mein Gott!, rief er. „Was machen Sie denn hier?

    „Ich warte auf Sie. Darf ich mich vorstellen..."

    „Aber warum sind Sie nackt? Jesus Maria!"

    „Damit Sie mich untersuchen können."

    „Aber es reicht doch, wenn Sie die Brust freimachen. Was ist denn in Sie gefahren?" Er stemmte die Hände in die Hüften, seine Überrumpelung wich langsam einer Art Empörung.

    „Ihre Assistentin, die Krankenschwester. Sie hat mir befohlen, mich auszuziehen."

    „Meine Assistentin? Krankenschwester? Er zwirbelte den Bart. „Schön, wenn mir Herr Steigbügel so etwas bezahlen würde. Wer hat Sie hier rein gelassen?

    „Die Krankenschwester. Die dunkelhaarige Frau, die Sie hier beschäftigen!"

    „Ich beschäftige hier niemanden!, brüllte er. „Und schon gar keine Frau.

    „Sie hatte roten Lippenstift, einen kurzen Rock, große Brüste."

    Der Arzt schlug sich an den Kopf. Plötzlich lachte er auf: „Ich kann mir schon denken, wer das war."

    „Wer?

    Er lachte noch lauter. Er lachte mich aus. „Eine der Damen, die Herr Steigbügel immer kommen lässt. Ja, es muss eine dieser Damen gewesen sein", prustete er in seine Gesichtswolle.

    „Was für eine Dame?"

    „Stellen Sie sich nicht blöd."

    „Und was hat sie hier gemacht?"

    „Sie hat sich wohl auf ihre nächste Rolle vorbereitet."

    Während er weitere Vorkehrungen traf, zog ich mich an, ließ aber mein Hemd offen, dass er meinen Brustkorb abhören konnte. Als er sich mir zuwendete, streckte er die Hand aus: „Ihren Impfpass bitte."

    „Meinen Impfpass?"

    „Sind Sie schwer von Verstand? Das Heftchen mit den Informationen über ihre Impfungen."

    „Habe ich nicht dabei."

    „Haben Sie nicht dabei? Haben Sie nicht dabei?

    „Keiner hat mir gesagt, dass ich..."

    „Dann wird alles sehr viel länger dauern, schnitt er mir das Wort ab. „Dann müssen wir Blutuntersuchungen machen. Solange noch Ansteckungsgefahr besteht, können wir Sie nicht zu Herrn Steigbügel lassen.

    „Ausgezeichnet", sagte ich voll bitterer Ironie und ließ den Kopf hängen.

    „Machen Sie sich frei", forderte der Arzt mich auf und stülpte sich Handschuhe über.

    „Wie jetzt? Doch wieder freimachen?"

    „Ja. Ich muss Ihnen Blut abnehmen."

    Als ich die Hose ausziehen wollte, herrschte er mich an: „Nur den Oberkörper! Danke!"

    „Den ganzen Oberkörper?"

    Er ging nicht auf die Frage ein, sondern zog schon die Spritze auf.

    Nachdem er genügend Adern, Venen und Arterien gefunden und mir Unmengen Blut abgenommen hatte, lag ich kraftlos auf der Liege und schnappte nach Luft.

    „So, das muss jetzt alles ins Labor", hörte ich ihn vor sich hinmurmeln, während sich bei mir Ausgelaugtheit und Schmerz die Waage hielten. Das halogene Behandlungszimmerlicht stach so sehr, dass ich die Augen geschlossen halten musste.

    Er ging hinaus und sagte mir, dass ich doch im Wartezimmer warten solle. Ich konnte ihn nicht mehr fragen, wie weit denn das Labor entfernt war.

    Die Stunden vergingen und ich konnte mich nicht rühren. Das schreckliche Licht war immer noch an. Immer wieder schlief ich kurzzeitig, nur um von Traum wieder zu Alptraum zu wechseln.

    Ich verspürte einen Luftzug.

    „Sie sind ja immer noch da!"

    „Ja. Ich..."

    „Das ist mein Arbeitszimmer. Gehen Sie bitte."

    Gehen war das Problem.

    Ich raffte mich auf. Im Wartezimmer las ich uralte Illustrierte, unerhörte Gerüchte auch über Schrifttellerkollegen, aber meine Konzentration war so schlecht, dass mir das alles egal war.

    Dann bekam ich unendlichen Hunger.

    Es gab einen Snackautomaten im Wartezimmer, aber die Schokoladenriegel waren von einer Marke, die vor vier oder fünf Jahren vom Markt genommen worden war.

    Schließlich kam der Arzt herein. Er strahlte: „Alles bestens. Keine Krankheiten. Aber das mit dem billigen Koks sollten Sie lassen. Da gibt es weitaus reinere Sorten."

    „Koks?"

    „Kokain."

    „Ja, klar. Aber..."

    „Sie haben doch Blutgruppe A?"

    „Nein. Blutgruppe Null."

    „Dann vergessen Sie's."

    Ich fragte Ihn, ob ich etwas essen könne. Natürlich könne ich jetzt etwas essen, aber von ihm dürfe ich nichts erwarten. Wo komme man da hin, wenn er nun auch noch Herrn Steigbügels Gäste bewirten müsse. Ich bekam von ihm einen Papierzettel und einen Ausweis über meine geringe Ansteckungsgefahr, und schleppte mich daraufhin aus der kleinen Klinik. Draußen taumelte ich und fiel einem der Wachmänner in die Arme. Bei Wasser und Brot in der Wachstube kam ich wieder zu Kräften. Man teilte mir mit, dass in meinem Auto keine Bomben gefunden worden seien. Ich nahm es mit Freude zur Kenntnis. Man sagte mir, dass das Zusammenbauen von Autos gewöhnlich 43mal so lange dauere, wie ihr Auseinandernehmen. Aber man habe noch einen alten VW-Käfer irgendwo stehen, den könne man mir vorübergehend leihen. Nächsten Monat könne ich mein Fahrzeug dann wieder abholen. Ich sagte ihnen, wie liebenswürdig das doch von ihnen sei und stellte mir meinen Wagen vor, der vor lauter Flickschusterei beim Einsteigen auseinanderfiel.

    Erfrischt aus der Wachstube getreten, wurde ich erstmals der riesigen Villa gewahr, die sich vor mir am Ende eines Exerzierplatzes erhob. Sie war strahlend weiß und verfügte über zwei Flügel, die sie rechts und links in einen klassizistischen Garten breitete. Krähen zogen über dem herrschaftlichen Zuhause von Herrn Steigbügel ihre Kreise. Die Wolken waren steinern und es ging ein empfindlicher Wind. Kurz bevor die ersten Regentropfen niedergingen, war ich auf dem Steinpflaster an den Zierhecken vorbei zum großen Portal gelaufen. Mein Anzug war zerknittert, meine Jacke für einen längeren Aufenthalt draußen bei diesem Wetter zu dünn. Ein Windstoß ließ mich erzittern. Ich läutete an einer altmodischen Ziehklingel.

    Ein Diener im klassischen Butlerkostüm öffnete mir. Er sah mich froh an. „Herr Steigbügel erwartet Sie schon."

    „Musste er lange warten?"

    „Er wusste über alles Bescheid. Wir haben die Verzögerung eingerechnet. Schließlich muss er sich gegen alles wappnen."

    Umgehend reichte ich ihm meine Jacke. Endlich war ich im Allerheiligsten.

    Ich folgte dem Butler auf Geheiß durch die Flure des von Marmor dominierten Anwesens. Er hatte dunkles, streng gescheiteltes pomadisiertes Haar und unter seiner schwarz-gelben Weste wölbte sich ein leichter Bauch. Mitten im Laufen hielt er inne und drehte sich um: „Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt: Mennering."

    „Angenehm. Mein Name ist..."

    „Ahh. Mein Gast", ertönte es in meinem Rücken.

    „Ich kenne Ihren Namen", flüsterte mir Mennering zu.

    „Mennering, wo bringen Sie ihn denn hin?", fragte die tiefe Stimme.

    „Ins Audienzzimmer, Herr Steigbügel. Ich..."

    „Nein, nein, nein. Ich war gerade dabei mich umzuziehen. Draußen geht ein Sturm. Es wird bald Abend. Es ist genau die richtige Zeit, um ein Bad zu nehmen, ein paar Züge zu schwimmen."

    „Sie haben vollkommen recht. Ich werde Ihrem Gast alles Notwendige bereiten."

    „Ja, bitte. Tun Sie das, Mennering. Er wandte sich an mich: „Sie haben Schwimmsachen dabei?

    „Nein", sagte ich. Zum ersten Mal betrachtete ich ihn. Er hatte ein großflächiges, breites Gesicht mit entsprechend großen Augen, war ziemlich hochgewachsen und ausgesprochen dick. Dennoch schien er sich in seinem Körper wohl zu fühlen. Er steckte in einem riesigen Bademantel und trug weiße Hausschuhe aus Plüsch. Das etwas längere Deckhaar hatte er sich über seine Halbglatze gelegt. Er hatte Koteletten und war ansonsten glatt rasiert. Nun kam er mit einladender Geste auf mich zu.

    „Steigbügel. Guten Tag. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt. Ich hoffe ebenfalls, unsere Sicherheitsschleuse hat Ihr Wohlbefinden nicht allzu sehr beeinträchtigt."

    „Ganz und gar nicht", log ich.

    „Und Sie haben wirklich keine Schwimmsachen dabei?"

    „Nein. Es tut mir leid."

    „Dann muss ich Ihnen wohl eine Badehose leihen. Das macht Ihnen doch nichts aus. Sie ist auch frisch gewaschen, nicht wahr?" Er sah seinen Diener grinsend an, und dieser grinste zurück und bejahte.

    Ich lächelte bemüht. „Nein, natürlich nicht."

    „Dann lassen Sie sich von Mennering einkleiden."

    Plötzlich meldete sich der Hunger wieder. Die zwei Scheiben Brot hatten nicht dauerhaft geholfen. Ich hätte lieber fürstlich zu Abend gegessen als zu baden, aber das war noch nicht möglich. Ich wagte es nicht, dem Millionär Widerworte zu leisten.

    „Bitte folgen Sie meinem Assistenten", forderte mich der Millionär auf. Er erschien mir freundlicher und gelassener als am Telefon, viel freundlicher. Vielleicht bewirkte das die unmittelbar bevorstehende Vertragsunterzeichnung.

    Ich nickte und folgte dem Butler, den er Assistenten nannte. Wir liefen durch einen Flur mit purpurnem Teppich unter uns und altertümlichen Gemälden an den Wänden. Wir bogen noch zweimal ab und gelangten in ein kleines holzvertäfeltes Zimmer, an dessen Seitenwänden sich Wandschränke befanden.

    Einmal mehr forderte mich jemand auf, mich auszuziehen, aber Mennering war sehr viel diskreter als die übrigen Leute, die auf diesem Areal so herumschlichen. Er zog sich zurück, brachte eine grün-gelbe Slip-Badehose, legte sie mit abgewandten Augen vor mir auf die Holzbank und zog sich abermals zurück.

    Die Schwierigkeit war nun eine andere: Die Badehose passte mir nicht. Zwischen Herrn Steigbügel und mir lagen mindestens zehn Kleidergrößen. Was bei einem Oberteil wie Hemd oder Jackett noch nicht so ins Gewicht fällt, weil das Kleidungsstück irgendwie auf den Schultern hängen bleibt, ist bei einer Hose fatal. Die man mir gegeben hatte, suchte vergebens ein ausladendes Hinterteil, an dem sie Halt finden konnte. Hatte ich mir in den jungen Jahren öfter anhören können, dass ich keinen Arsch in der Hose hätte, war ich nun erstmals mit den Herausforderungen konfrontiert, die diese Tatsache mit sich brachte. Außerdem trug ich nie Slip-Hosen, egal welcher Sorte und Funktion, seit den Achtzigerjahren nicht mehr.

    Ich rief nach Mennering. Kurze Zeit später stand er vor mir und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich straffte die Badehose so, dass sie notdürftig alles verdeckte.

    „Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte er süffisant.

    „Mit einer Ihrer Badehosen." Mennerings Hinterteilumfang war irgendwo zwischen meinem und dem von Steigbügel anzusiedeln. Somit konnte man vielleicht wenigstens mit Klebeband oder Sicherheitsnadeln etwas machen.

    „Ich habe keine Badesachen hier", gab er zurück.

    „Sie baden nie?"

    „Nicht hier. Hier badet ausschließlich Herr Steigbügel...Und seine...ähm...Nixen."

    „Sie meinen, seine Krankenschwestern?"

    „So kann man es sagen, ja."

    „Also keine andere Badehose für mich?"

    „Solche hier, sagte er und deutete auf mein Feigenblatt aus Gummi. „Oder sehr enge String-Tangas.

    Ich stutzte. „Na gut. Dann nehme ich diese, danke."

    Er überlegte. „Ich kann Ihnen mit Sicherheitsnadeln helfen."

    Mein Gedanke, dachte ich.

    „Sollte ich beim Schwimmen meine Arme brauchen, sagte ich. „Würde mir das sicher sehr helfen.

    Um seinen Mund spielte Belustigung. Schon wieder auf dem Sprung sagte er: „Ich bin sofort wieder da."

    Er kam mit einem Paar Sicherheitsnadeln zurück. Respektvoll ließ er mich sie alleine anbringen. Sie hielten die Hose einigermaßen auf meinen Hüften.

    Mennering begleitete mich durch die Flure in einen anderen Teil des Schlosses. Ich steckte in einem Bademantel und Birkenstockschuhen und bewunderte im Vorbeigehen die zeitgenössischen Gemälde an den Wänden.

    Irgendwann kamen wir an eine Türe mit Glaseinsatz. Der Diener drückte sie auf. Hier war es wärmer als in den Fluren. Er nahm mir den Bademantel ab und drückte die nächste Türe auf. Hier war es unglaublich warm, beinahe heiß. Der Geruch von Chlor schlug mir entgegen und ein heftiges Wasserplätschern.

    „Ich lasse Sie beide jetzt allein", flüsterte mir der Butler zu und entschwand.

    Ich prüfte die Befestigung meiner Badehose.

    Vor mir standen ein paar blaue Liegen auf beigefarbenen Kacheln. An den Wänden gab es Mosaike im römischen Stil. Die Decke war gewölbt und mit Streben wie in einer gotischen Kirche versehen. Gedämpftes Licht reflektierte von der Wasseroberfläche an die Decke.

    „Da sind Sie ja", hörte ich die Stimme von Steigbügel.

    Mir fiel nichts anderes ein als ein schlichtes „Ja."

    Ich sah genauer hin und erblickte ihn. Er befand sich im Wasser. Er lag in einem übergroßen Schwimmring aus rotem Kunststoff und winkte mir zu. Auf mit den eigenen Händen aufgewühlten Wellen schaukelte er hin und her.

    „Kommen Sie ins Wasser, sprach er euphorisch. „Es ist auch nicht kalt. Ich verspreche es Ihnen.

    Dampf stieg vor mir auf und hüllte ihn zeitweise ein.

    Durch eine riesige Glaswand konnte man die Nacht hereinbrechen sehen. Regen peitschte gegen die Scheibe. Man sah hinaus auf eine ausufernde Parkanlage: Kleinere, steingefasste Seen, lange Hecken, Bäume. Die Wolken dahinter verschluckten den Tag.

    Ich trat an den Beckenrand. In meinem Augenwinkel sah ich eine Bewegung, also drehte ich den Kopf und erschrak. In einer Ecke stand ein Mann. Dieser war in einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege gekleidet. Obwohl er ein Stück entfernt war, konnte ich drei Dinge feststellen: Er war nicht besonders groß, er war äußerst gut gebaut und es handelte sich um einen kraushaarigen Mulatten. Ich hatte gehofft, der Millionär würde mich wenigstens hier vor seinem Personal verschonen. Als bräuchte er nach all den Sicherheitschecks noch einen Bodyguard.

    „Kommen Sie. Ziehen Sie ein paar Bahnen."

    Ich konnte zweifelsfrei erkennen, dass es sich um ein rundes Schwimmbecken handelte.

    „Passt Ihnen meine Badehose?" Er paddelte so, dass der Schwimmring sich im Kreis drehte und er sich mit.

    „Wie angegossen", sagte ich und streckte vorsichtig meinen Fuß ins Wasser.

    „Da bin ich ja froh, sagte er. „Ich hatte Sie ein wenig schlanker eingeschätzt als mich.

    Das Wasser war heißer als heiß. Ich fragte mich, wie er es darin aushielt.

    „Wenn draußen der Herbst hereinbricht, kommentierte der Millionär meinen Temperaturtest. „Muss das Wasser wohltemperiert sein. Sonst erkältet man sich. Nicht wahr?

    „Durchaus", erwiderte ich und betrachtete die zehn Zentimeter dicken Glasscheiben.

    Er lehnte sich vorüber, rutschte nach hinten, so dass sein Bauch durch den Ring ins Wasser hing, tauchte den Kopf unter und prustete beim Auftauchen das Wasser aus. Er schien großen Spaß an seinem nassen Spielplatz zu haben.

    Ich rückte eine der Liegen näher an den Beckenrand und setzte mich darauf. Wieder fühlte ich mich schwach und kraftlos. Ich musste dringend etwas essen. Plötzlich stach es mich auf beiden Seiten in die Hüfte. Ich nestelte an den Nadeln, wodurch sie noch stärker stachen. Schließlich nahm ich sie ganz heraus, ich stand ja nicht mehr, sondern saß. Es wäre besser gewesen, Klebeband zu verwenden, dachte ich.

    „Wenn Sie auf das Vorspiel verzichten wollen, meinte Steigbügel, wieder in seiner vorherigen Position. „Können wir auch gleich mit dem Eigentlichen beginnen.

    „Das wäre mir recht, ja", sagte ich kleinlaut.

    „Jana!", rief er unvermittelt.

    Ich erwartete runde Hüften und den heiligen Hügel der Venus, über den sakrales Tuch gelegt, über den Badestoff gespannt war. Ich hoffte schon, das Relief ihrer Schamlippen unter dem dünnen Stoff umgehend erkennen zu können. Statt den breiten Segeln einer gewöhnlichen Bikinihose die Takelage eines String-Tangas, gespannt über den prall-feste Hintern und fest vertäut. Mich beschlich eine Ahnung, was er mit dem Eigentlichen meinte: Eine Ménage-à-trois mit einem dicken alten Herrn und seiner theoretischen Tochter.

    Doch weit gefehlt. Statt einer Nixe kam ein Köter um die Ecke gerast und sprang vor mir an den Beckenrand, um mit seinem Kopf, seinen Beinen und seiner Zunge, Wasser aufspritzen zu lassen, so dass meine Beine und mein Schritt ganz nass wurden. Nass, das hieß voll mit Wasser. Wasser, das hieß in diesem Raum gefühlte 90-100 Grad Celsius. Ich biss mir auf die Lippen. Die Hoden des bauchlastigen Badenden mochten schon unbrauchbar und taub geworden sein, bevor er sie wie Teebeutel jeden Tag in dieses Kochwasser hielt, aber in meinem Schritt sorgte jeder Spritzer noch für realen Schmerz.

    Ich hätte den Köter gern umgehend mit dem Paar Sicherheitsnadeln erstochen, bis man den Schwimmring farblich nicht mehr hätte vom Wasser unterscheiden können.

    „Sie haben es sich also überlegt", fragte Steigbügel, den Hund im Arm haltend, der, wie von seinem Fell vor Verbrennungen geschützt, zu ihm gekrault war.

    Die Hitze setzte mir zu, ich verspürte einen Schwindel, musste mich kurzzeitig an der Liege festhalten.

    Als ich mich wieder gefasst hatte und mein Magenknurren den Köter im Wasser nicht zu einer wütenden Reaktion gereizt hatte, antwortete ich: „Ja. Ich werde Ihren Auftrag annehmen."

    „Sehr vernünftig", sagte er zufrieden und entließ die Hündin.

    Das Tier schwamm in meine Richtung, krabbelte aus dem Wasser und schüttelte sein Fell neben mir aus. Meine Hände suchten nach den Sicherheitsnadeln, aber ich war zu erschöpft, um noch Rache zu üben.

    Jana tippelte in eine Ecke, wo sie sich zum Schlafen hinlegte. Steigbügel kommentierte den Vorgang: „Dieser Hund ist zum Niederknien, finden Sie nicht?"

    „Doch. Sehr putzig, die Kleine", presste ich widerwillig hervor.

    „Also, da Sie sich entschieden haben, kam er wieder auf meinen Kommensgrund zurück. „Dann können wir ja die Einzelheiten verhandeln.

    „Dazu bin ich hier."

    „Das stelle ich mit großer Freude fest. Sie lassen sich ja noch nicht mal von so einem einladenden Bad ablenken. Habe ich das richtig beobachtet?" Seine längere Haarsträhne klebte ihm feucht über der Glatze.

    „So ist es."

    „Also die Rahmenbedingungen kennen Sie ja bereits. Sie schreiben mir einen Roman, streng vertraulich, und dafür gibt es eine Million Euro. Der Roman ist mindestens 200 Seiten lang und wird in eine bestimmte Anzahl von Teilen aufgeteilt sein. Die Titel dieser Teile werde durch mich bestimmt. Und Sie müssen sich dann jeweils etwas dazu ausdenken. Am Ende muss alles aber ein Ganzes ergeben."

    „Hm. Ich ließ mir das alles durch den Kopf gehen. „Mindestens 200 Seiten, sagen Sie?

    „Richtig. Ich will einen Roman und keine Novelle." Er wendete sich etwas umständlich auf seinem roten Plastikring.

    „Okay...und mehrere Teile?"

    „Ja, das gibt dem Buch die nötige Würze."

    „Und das Buch soll niemand anderes sehen?"

    „Vollkommen richtig. Ich will auch, dass Sie es in aller Abgeschiedenheit schreiben, sich von nichts ablenken lassen." Sein Bauch bildete nun beim Auf-dem-Rücken-liegen einen Berg.

    „Das lässt sich machen."

    „Das will ich doch hoffen."

    Jetzt äußerte ich endlich meine drängendste Frage: „Und wie sind Sie auf mich gekommen?"

    Er raunte bedeutungsvoll: „Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Weder habe ich mich aus Zufall an Sie gewandt, noch sind Sie einer am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer Reihe von Kandidaten. Seine Stimme nahm einen osteuropäischen Akzent, ein rollendes R und ein Lispeln an: „Ich war schon immer ein großer Bewunderer von Ihnen. Das ist sicherlich ganz große Literatur, mein Liebster. Dann wurde er wieder ernst: „Was Sie geschrieben haben, Ihr Hauptwerk, die fiktionalen Biographien, prädestiniert Sie dafür, das Buch zu schreiben."

    „Aha. Und darf man fragen, warum?"

    Weil ich mir eine ähnliche Verknüpfung von Biographie und Fiktion erhoffe. Natürlich in Bezug auf mich, nicht auf Sie. Ich warne Sie: Kommen Sie mir ja nicht auf die Idee, sich irgendwo in dem Werk zu verewigen, so wie sich Renaissancemaler bei Auftragswerken manchmal im Kleinen verewigt haben. Das steht Ihnen vertraglich nicht zu, denn ich halte es für ungebührlich."

    „Verstanden. Das sollte kein Problem sein."

    „Gut. Er paddelte im Rückwärtsgang von einer Seite des Beckens zur anderen. Dann stoppte er und sagte: „Dann hoffe ich, dass alles geklärt ist. Haben Sie noch Fragen?

    Ich dachte nach. „Eigentlich nicht."

    „Sehr gut. Mein Anwalt und Notar hat alles mitgehört und wird jetzt die Verträge bringen", erklärte mein schwergewichtiges Gegenüber.

    „Anwalt?", sagte ich verdutzt und suchte die Decke nach Kameras und Mikrofonen ab.

    In diesem Moment bewegte sich der regungslose Bodyguard, nickte Steigbügel zu und ging aus der Badehalle.

    „Anwalt", sagte ich begreifend und der Millionär nickte.

    Steigbügel schwamm zu mir herüber, stemmte seinen schweren Wanst aus der Suppe und trocknete sich mit einem herumliegenden Handtuch ab. Die graue Strähne hing im jetzt ins Gesicht.

    Sein ungewöhnlicher Anwalt kam zurück. Er hatte jetzt eine Brille auf, sagte mit sächsischem Akzent etwas Unverständliches, hielt uns die Verträge und Kugelschreiber zum Unterzeichnen hin und verschwand, nachdem ich einen flüchtigen Blick darauf geworfen und sie unterzeichnet hatte, wortlos mit einem Exemplar.

    Steigbügel guckte befriedigt. „Ich werde jetzt etwas essen. Beim Essen bin ich gerne allein. Ich hoffe, Sie verstehen das. Mennering wird Ihnen auch etwas kochen lassen. Dann wird er Sie in Ihr Gästezimmer bringen. Wir werden uns leider nicht mehr sehen, denn Sie müssen morgen früh raus."

    „Früh raus?"

    „Keine Sorge, ich schmeiße Sie nicht hinaus. Es ist nur so, dass Ihr Flug so früh geht. Und die Anfahrt muss man ja auch noch einberechnen. Außerdem muss man ja zwei Stunden vor Abflug am Check-In sein."

    „Flug, Flughafen, Abflug?", zählte ich begriffsstutzig auf.

    „Ganz recht. Wir hatten doch abgemacht, dass Sie in aller Abgeschiedenheit an meinem Buch arbeiten. Und was wäre abgeschiedener als Buthan?"

    Bhutan?"

    „Himalaya. Berge. Kaum Touristen. Kein Internet. Keine Ablenkung."

    „Sie schicken mich in den Himalaya?"

    „Ja. Aber keine Sorge. Ich komme für alle Kosten auf. Für die gesamten sechs Monate wird für sie gesorgt sein."

    Sechs Monate?"

    „Sie müssen sich um nichts kümmern. Außer ums Schreiben. Dazu bekommen Sie noch ein Taschengeld. Natürlich alles unabhängig von der Million. Sechs Monate reichen Ihnen doch?"

    „Ja. Natürlich. Aber..."

    „Keine Widerrede. Sie haben bereits unterschrieben. Auf dem Flug haben Sie ja die Zeit, das Kleingedruckte zu lesen. Und da werden Sie feststellen, dass dort nichts anderes steht als Bhutan."

    Das, was auf dem Vertrag wie Fliegenschiss ausgesehen hatte, war also das Kleingedruckte.

    Ich wurde panisch. „Jemand muss meine Frau informieren..."

    Er machte eine Handbewegung: „Ist alles schon erledigt. Ihre Frau weiß Sie in guten Händen. Sie ist einverstanden. Wir zahlen auch ihr eine monatliche Entschädigung, weil sie so lange auf ihren Mann verzichten muss. Einmal in der Woche werden Sie beide telefonieren können."

    „Kann ich vielleicht jetzt noch telefonieren?" Ich tastete meine Hüften ab und musste feststellen, dass mein Handy ja in meinem Anzug und mein Anzug in den Händen von Mennering war.

    Er gab sich untröstlich. „Ausgeschlossen. Ihr Auftrag setzt voraus, dass Sie sich ab jetzt ganz darauf konzentrieren. Sie werden dafür die Möglichkeit haben, schon heute mit dem Projekt zu beginnen. Wir stellen Ihnen einen Laptop und Papier. Etwas Anderes brauchen Sie nicht. Ich will nicht, dass Sie irgendetwas recherchieren. Das Buch soll ganz in Ihrer Phantasie entstehen."

    „Ich bekomme jetzt also etwas zu essen?", gab ich jeden Widerstand auf. Der Hunger machte mich erpressbar.

    „Natürlich. Nachdem Sie sich geduscht und angezogen haben."

    „Und dann bräuchte ich noch meinen Anzug und mein Handy."

    „Anzug und Handy bleiben vorerst hier. Die schicken wir Ihnen mit dem Auto nach Hause. Ihr Pass befindet sich ja in Ihrem Koffer. Ihre Frau hat mitgedacht. Keine Sorge, nichts geht verloren. Wir haben das Navi aus dem Wagen retten können. Sobald er wieder zusammengepuzzelt ist, fährt einer meiner Chauffeure ihn an die Startadresse Ihrer Hin-Strecke. Wenn Sie morgen zum Flughafen gebracht werden, werden Sie die Gelegenheit haben, ihn kennenzulernen."

    Die Flut an Überraschungen drohte mich wegzuschwemmen. Schon im Augenblick des Hörens verdrängte ich alles Unbehagen und entschied mich endgültig, all das zu machen, was mir eine Million einbringen würde. Und ich nahm innerlich Abschied von meiner Frau: „Bis bald, Beate", fuhr es mir durch den Kopf.

    Steigbügel spannte sich die Kordel des Bademantels über den Bauch, strich sich die Strähne zurück auf die Glatze und reichte mir abschließend die Hand. Als ich aufstand, um ihm die meine hinzustrecken, fiel die Badehose herunter. Der alte Mann betrachtete stumm mein Glied und reichte mir den Bademantel.

    Nun saß ich im Taxi von der Hauptstadt Thimphu ins Gebirge und fror. Das Taxi war nicht geheizt und gleichzeitig nicht sonderlich neu, überall zog es durch. Ich hatte eine Liste mit Kapiteln in dem Aktenkoffer, den mir Steigbügel hatte zukommen lassen. Weiter hatte ich meinen Koffer mit Herbstkleidung. Und eine dünne Jacke. Die trug ich gerade. Den Herbst hatte ich hinter mir gelassen. Hier schien es eher Winter zu sein. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, dass das Königreich Bhutan ja auf der Nordhalbkugel lag und dort deshalb nicht der Frühling anbrach, wenn uns der Herbst gerade auf den Weg in den Winter schickte. Dazu kam, dass ich hier im Himalaya war, im höchsten Gebirge der Welt. Jedes Kind wusste, dass es im Gebirge ganzjährig kälter war als in der norddeutschen Tiefebene, wo Beate und ich wohnten. Der Winter hielt hier schlicht zwei Monate früher Einzug als bei uns. Steigbügel musste das einfach nicht bedacht haben, Bhutan hörte sich exotisch an und Exotik verbindet man nun mal mit besseren klimatischen Bedingungen als in Europa. Als Kind hatte ich mal eine Bhutan-Briefmarke gehabt und wollte unbedingt dorthin. Nun aber wünschte ich, er hätte mich auf eine Pazifikinsel geschickt, auf Hawaii oder ähnliches. Noch fuhren wir durch eine weite grüne Talsohle, aber ich wollte nicht wissen, wie ungemütlich es noch werden würde, schickte man mich in die Berge hinauf, deren ewiger Schnee mich mit seinem Leuchten aus ferner Höhe grüßte. An meinem Ziel sollte ich erfahren, wohin mein weiterer Weg mich führte. Daher ging ich davon aus, dass ich nicht dort bleiben würde. Mein Taxifahrer und Führer hatte Weisung, mich zu einem Hotel in meinem Zielort zu bringen. Alles verlief reibungslos. Immer wieder wusste jemand, wohin ich als nächstes gefahren oder geflogen werden sollte. Eines musste man Steinbügel lassen: Seine Mitarbeiter hatten alles akribisch vorbereitet.

    Gleich im Anschluss an meinen Vertragsabschluss im Saunabad hatte es Abendessen gegeben. Man hatte mir im Dienstbotenzimmer Schweinebraten mit Mayonnaise gereicht. Beilagen hatte es keine gegeben, aber das war mir ziemlich egal gewesen, so konnte ich mehr Fleisch essen, um das Maul meines Magens endgültig zu stopfen. Mein Gästezimmer war karg gewesen, hatte aber über einen Schreibtisch mit Lampe verfügt, über dem ich jedoch bald eingeschlafen war. Mitten in der Nacht hatte ich mich ins Bett geschleppt und nur wenige Stunden später war ich geweckt worden. Herr Mennering hatte mir das Badezimmer gezeigt und ich hatte gerade genug Zeit gehabt, um einen Happen zu frühstücken. Dann war ich in einen Mercedes gesetzt worden und der Chauffeur hatte mich in die nächste Großstadt zum Flughafen gefahren. Dort war ich gut betreut worden und nach zwei Stunden in das pünktlich abfliegende Flugzeug gestiegen.

    Ich war nie ein großer Reisender gewesen. Ich liebte das Reisen nicht besonders, aber ich hatte auch keine Flugangst. Mir fehlte lediglich etwas die Erfahrung mit Flugzeugen. Aber die Stewardess passte auf mich auf wie auf ein allein reisendes Kind. Als ich auf die Toilette musste und meinte, jemand habe sich darin eingeschlossen, zeigte sie mir, mit welchen Handgriffen man die Tür aufbrachte. Sie half mir beim unbequemen Essen auf dem Economy-Class-Sitz und stellte mir den Videoplayer so ein, dass ich den gewünschten Film sehen konnte. Später, als ich einnickte, verstellte sie meine Rückenlehne so, dass ich etwas mehr lag als saß.

    Erst mit dem Aufenthalt in den Emiraten kamen die Probleme. Da wurden meine Betreuer durch einen Transitausweis aus Plastik ersetzt. Also irrte ich mit dem Ausweis durch die endlosen Korridore und Hallen dieser Plastikwelt, mit ihren Shopping-Malls und sterilen Restaurants, ohne genau zu wissen, wo ich hin sollte. Da ich drei Stunden Aufenthalt hatte, konnte in den ersten zwei Stunden niemand etwas mit meinem Transitausweis anfangen. In der letzten Stunde aber gab sich jeder vom Flughafenpersonal unglaublich hilfsbereit. Jeder wollte mir den Weg weisen, was jedoch meinen vorläufigen Untergang bedeutete. Denn keiner wusste genau Bescheid. Ich rannte von einem Ende des Terminals zum anderen. Ich bettelte, dass man mich in den zweiten Terminal wechseln ließ, nur um dann nach aufwendigem Gezerre und Gesuche festzustellen, dass ich doch in den Ursprungsterminal musste. Ich fragte andere Fluggäste, die mir nicht helfen konnten, sondern die ich durch meine Fragerei eher selbst noch verwirrte, bis sie im Kollektiv das Flughafenpersonal bestürmten.

    Als ich mich vor einen Infostand stellte und mich weigerte, mich zu bewegen, bis ein Vorgesetzter kam und eine Lawine an Telefonaten los trat, an deren Ende man eine kleine Asiatin eigens dazu abstellte, mich zu meinem Gate zu begleiten, merkte ich, wie hungrig ich war. Das Bordessen war schon einige Stunden her. Damit kam die zweite Herausforderung. Ich hatte kein Bargeld dabei, auch meine Kreditkarte hatte mir Steigbügel verweigert. Ich bettelte meine Begleiterin an, aber sie lächelte mich nur mitleidig und befangen an und tat gar nichts.

    In einem Kiosk, wo es Zeitschriften auf Englisch, Arabisch und Russisch gab, Staubfänger aus dem Golf, Zigarettenstangen und Matroschkafiguren, klaute ich einen Schokoladenriegel und eine Cola. Die Asiatin sah es, duldete es jedoch. Die Währung, in der die Waren ausgeschrieben waren, war mir ganz und gar unbekannt und Preise von 20 Geldeinheiten für ein Stück Schokolade erinnerten mich an Vor-Euro-Zeiten. Um die Ecke verdrückte ich die Schokolade und kippte die Cola in meinen Rachen. Ich gab ein jämmerliches Bild ab. Meine Begleiterin nahm für die Dauer des Mahls einen gebührlichen Abstand zu mir ein.

    Kurz bevor ich mein Gate erreichte, wollte ich noch einmal die Toilette aufsuchen. Ich sah wohl nicht genau hin oder verwechselte die eine arabische Buchstabenfolge mit der anderen, weil sie sich so ähnlich sahen. Jedenfalls landete ich nicht auf der Toilette, sondern in einem Raum, der nur dafür geschaffen worden war, dass Starkraucher sich hier ihrer Sucht voll und ganz hingeben konnten, bevor sie im Flugzeug für viele Stunden wieder darben mussten. Ich erstickte beinahe an so viel Rauch in meinen Atemwegen. Ich hatte selbst nie geraucht und Passivrauchen immer als besonders unangenehm empfunden. Aber was in diesen Stuben mit meiner Lunge geschah, ging weit über Passivrauchen hinaus. Ich glaube, ich atmete mehr Rauch ein als die Menschen, die dort nur an ihrer Zigarette sogen. Nach wenigen Sekunden schon stellte ich mir vor, wie ich wegen Rauchvergiftung in ein Emirate-Krankenhaus eingeliefert werden würde, wo ich, weil ich keine Zahlungsmittel dabei hatte, kein Essen und keine Behandlung bekäme, bevor man mich ins Gefängnis sperrte, weil ich ohne Devisen eingereist war. Also stürzte ich zur Tür und brach vor dem Raum hustend auf dem Boden zusammen. In der eigentlichen Toilette trank ich anschließend Wasser und spülte meinen Mundraum aus. Erst am Gate befand ich mich in Sicherheit. Gierig knabberte ich Erdnüsse, die man uns in Minipackungen zusammen mit Gratiszeitungen gereicht hatte.

    Der Flug nach Neu-Delhi glich aufgrund der Klimaanlage einer Winterreise. Der Weiterflug nach Bhutan verlief weitgehend reibungslos, nur dass eine litauische Familie neben mir saß, die mich nicht nur mit ihrer Lautstärke, sondern auch mit ihrer schrecklichen Sprache piesakte, so dass ich schon beim Landeanflug dem bhutanischen Singsang entgegen fieberte, der dagegen nichts als Balsam für meine Ohren sein würde.

    Beim Ausgang der Gepäckabholung traf ich sofort auf meinen nächsten Verbindungsmann. Er hielt ein Schild mit meinem Namen hoch, und obwohl man Stahl mit AH schreibt und nicht mit Doppel-A, ließ sich unschwer erkennen, dass er mein Mann war. Er war vielleicht Mitte vierzig. Er stellte sich als Kimpong vor. Kimpong, Dongsai, um genau zu sein, und ich wusste nicht, welcher nun sein Vorname und welcher sein Nachname war. Schließlich nannte ich ihn Kim, was mir im Zusammenhang mit Asiaten ein angebrachter Name zu sein schien.

    Interessanterweise sprach er deutsch. Als ich ihn fragte, wie dies komme, sagte er, er sei in jungen Jahren in der DDR ausgebildet worden. Seine Regierung habe ihn dorthin geschickt, damit er die demokratischen Prinzipien kennen lerne und seinen König darin unterrichte. Es habe aber ein Missverständnis gegeben, und eigentlich hätte die BRD sein Ziel sein sollen, aber da man Helmut Kohl wegen seines Aussehens für einen Kommunisten hielt, Honecker aus demselben Grund hingegen für einen lupenreinen Demokraten, habe man angenommen, die DDR sei die BRD und umgekehrt. So sei er schließlich in Karl-Marx-Stadt gelandet, wo er gelernt habe, wie man Zahnräder mit Getriebestangen verschraubt. Nach dem Jahr, das für seine Ausbildung vorgesehen war, habe er ausreisen wollen, da er in diesem Alter unbedingt zum ersten Mal heiraten wollte, man ihn aber keine deutsche Frau heiraten ließ. Das Ausreisen habe man ihm aber ebenso wenig gestattet, weil die Behörden ihn für einen Vietnamesen hielten und die vietnamesische Regierung ihm keine Freigabe erteilte. Zu diesem Zeitpunkt sei seiner Regierung noch nicht klar gewesen, dass es jenem Land an Demokratie genauso mangelte wie an brauchbaren Zahnrädern. Deshalb habe sein Land auch nichts für seine Ausreise unternommen und stattdessen sein längeres Bleiben begrüßt und der Deutschen Demokratischen Republik für ihre Gastfreundschaft gedankt. Schließlich habe er keinen anderen Weg mehr gesehen, als zu fliehen. Er habe erfahren, dass die Grenze von Soldaten strenger bewacht wurde als der Korphu-Bergpass in Tongsa vom Wetter. Deswegen habe er sich akribisch auf die Flucht vorbereitet. Monatelang sei er nach der Arbeit in sein winziges Zimmer gekommen und habe an den Details der Flucht gefeilt. Es habe mehrere vergebliche Anläufe gegeben, bei denen er beinahe erwischt worden wäre. Eines Nachts sei er jedoch, unentdeckt von Scheinwerfern und Hunden, durch die Todeszone gekrochen, habe sich einen Arm gebrochen und vom Stacheldraht die Beine aufreißen lassen, und sei bei Tagesanbruch erschöpft auf BRD-Boden liegengeblieben, nur um am selben Tag zu erfahren, dass die Grenze am Vorabend geöffnet worden war.

    Dies alles erzählte er mir in seinem Wagen, einem uralten, rostigen Taxi, auf dem Weg vom Flughafen Paro in die Hauptstadt Thimpu. Er sagte mir, er sei für die Dauer meines Aufenthalts mein Betreuer, und obwohl er in Thimpu lebe und arbeite, werde er mich in die Berge begleiten und seine Frau mitnehmen, man bezahle ihn ja so gut dafür, dass er auf's Taxifahren während der Zeit verzichten könne. Bevor es jedoch in die Berge gehen könne – ich sah nach draußen und wollte meinen, wir seien schon in den Bergen -, müssten wir noch einen Abstecher in die Hauptstadt machen. Die Gesellschaft, für die er arbeite, wolle sichergehen, dass ich auch angekommen sei und er mich unter seiner Obhut habe. Sie müsse dann dem Auftraggeber in Deutschland - meinem Arbeitgeber? -, eine Nachricht schicken, so dass dieser wisse, dass alles geklappt habe. Ich sagte, dass sei für mich alles kein Problem und ohnehin ziehe es mich nicht sofort in die Berge. Fröstelnd schaute ich hinaus auf die Bergspitzen.

    „Was mach Hea Genosse in Bhutaan?", fragte Kim während er den Lenker herumriss.

    Ich sagte ihm, dass er mich bei meinem Namen nennen könne, und er löcherte mich weiter nach dem Grund meines Kommens.

    „Arbeiten", sagte ich.

    „Was albeit Sie?"

    „Dies und das."

    „Ahhh." Er lächelte aufrichtig. Er hatte gute weiße Zähne. Sein Haar war im Nacken sehr kurz geschnitten. Der Kragen seiner Jacke war fellgesäumt und er hatte eine

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