Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Zürich bei Nacht
Zürich bei Nacht
Zürich bei Nacht
eBook323 Seiten4 Stunden

Zürich bei Nacht

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Marco Biondi hat einige Jahre als Journalist gearbeitet. Was ihn am Journalismus gereizt hat: »Sich in etwas vertiefen zu können, im Dreck zu wühlen.« Warum er sich vom Journalismus abgewendet hat: »Leider erwarten die meisten Zeitungen und Zeitschriften, dass man nicht im Dreck wühlt, sondern welchen absondert.« Heute schreibt Biondi stattdessen schlechte Drehbücher für noch schlechtere Serien – und versucht sich als Privatdetektiv. Regelmäßig bietet er seine Dienste in Zeitungsinseraten an und wundert sich doch, dass es tatsächlich noch Leute gibt, die das Kleingedruckte lesen. Referenzen hat er keine. Umso erstaunlicher, dass eine gewisse Katharina Boxler ihn tatsächlich engagiert: Biondi soll ihren verschwundenen Bruder ausfindig machen, der, dem Alkohol verfallen, auf der Straße lebt. Bei seinen Recherchen wird Biondi mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, den bewegten Jahren in der autonomen Szene Zürichs. Und er begegnet alten Freunden aus einer Zeit, in der alles möglich schien. Auch Mord?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Okt. 2022
ISBN9783715270135
Zürich bei Nacht

Ähnlich wie Zürich bei Nacht

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Zürich bei Nacht

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Zürich bei Nacht - Roger Graf

    Für Ruth, my love

    1

    Der Anruf kam, als das Null zu Eins fiel. Ich hatte gerade eine Druckperiode des Gegners überstanden und freute mich auf das glückliche Unentschieden, als neben meinem Computer das Telefon klingelte und gleichzeitig ein Spieler namens Smith meinen Torhüter bezwang. Während ich den Hörer abnahm und mich meldete, vergingen die letzten Spielminuten, und mein Team musste die erste Heimniederlage der Saison hinnehmen. Ich starrte auf die Resultate der übrigen Partien, während sich Katharina Boxler unsicher erkundigte, ob sie sich nicht verwählt hatte.

    »Ich habe Ihre Anzeige gelesen, Herr Biondi.«

    »Es gibt also noch Leute, die das Kleingedruckte in der Zeitung lesen?«

    »Suchen Sie auch vermisste Personen?«

    »Aber sicher.«

    »Tatsächlich? Wie viel Vermisste haben Sie schon gefunden?«

    »Einen.«

    Die Stimme am Telefon klang mit jeder Sekunde misstrauischer, doch das störte mich nicht, denn eigentlich hätte ich sowieso lieber noch ein paar Runden Fußballmanager gespielt.

    »Ich möchte nicht die Polizei einschalten«, sagte sie. »Vielleicht taucht er von selber wieder auf. Ich bin einfach ein wenig beunruhigt.«

    »Wer ist der Vermisste?«

    »Mein Bruder. Er hat sich seit zwei Wochen nicht bei mir gemeldet. Normalerweise ruft er einmal in der Woche an. Können Sie ihn finden?«

    »Finden kann man jeden, fragt sich nur, wo man suchen muss. Ich schlage vor, Sie kommen zu mir und wir reden in aller Ruhe darüber.«

    »Ich weiß nicht. Haben Sie so etwas wie Referenzen?«

    Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Ich schaute mir die Tabellenlage meines Clubs an. Oberes Mittelfeld. Das war nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut.

    »Sind Sie noch dran?« Ihre Stimme klang ein wenig empört. »Ich habe das Gefühl, dass Sie gar nicht an einem Auftrag interessiert sind.«

    »Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so recht. Wie Sie in meinem Inserat gelesen haben, mache ich Nachforschungen aller Art. Das heißt, ich suche mir aus, was ich mache.«

    »Verstehe. Vielleicht sollten wir uns in der Stadt treffen. Im Odeon? Um halb drei?«

    Ich sagte ihr, dass ich erst um drei könne, sie war einverstanden. Eine volle halbe Stunde schaute ich mich auf dem Transfermarkt um. Ein starker Verteidiger war nicht zu haben. Nur mittelmäßige Kicker zu übersetzten Preisen. Mein Starstürmer fiel noch vier Wochen aus; der Idiot hatte sich das Schlüsselbein gebrochen. Ich nahm eine kleine Umstellung vor und brachte den erst zwanzigjährigen Miller als rechten Außenverteidiger. Der Kerl hatte Zukunft. Ich spielte zwei Partien. Ein Sieg und ein Unentschieden. Das war nicht schlecht. Als ich mein Büro verließ, tat ich das als Manager einer Mannschaft, die in der englischen Premier League Platz sieben belegte.

    2

    Es war kein Flanierwetter, der Wind blies kühl durch die Straßen, der Himmel war mit Regenwolken verhangen. Im Odeon saß nur etwa ein Dutzend Leute. Junge Paare, ein paar Schwule und Geschäftsleute, die schnell einen Kaffee tranken; das Übliche. Sie saß ganz hinten an einem kleinen Tisch. Ein Wasser vor sich, gespannt auf den Eingang starrend. Sie realisierte erst spät, dass ich es war, auf den sie wartete. Sie war in meinem Alter, Anfang dreißig, lange dunkle Haare mit ein paar neckischen grauen Strähnen. Elegant, aber dezent gekleidet. Viel Rot, auch auf den Lippen. Ich nannte ihr meinen Namen. Sie lächelte.

    »Ich heiße Katharina. Ich habe mir dich ganz anders vorgestellt, Marco.«

    »Als Wandschrank mit beschränkter Haftung?«

    »So ähnlich.«

    »Also gut. Von vorne. Ich habe früher als Journalist gearbeitet. Heute schreibe ich schlechte Drehbücher für miserable Serien. Programmiere ein wenig auf dem Computer und daneben suche ich Aufgaben, die mich davor bewahren, als Alkoholiker zu enden.«

    Ich bestellte mir eine Cola light, nicht aus Prinzip, aber ich mag es nicht, tagsüber angesäuselt zu sein. Sie nickte, schaute an mir vorbei auf einen Mann an der Bar, der ihr offenbar gefiel. Er war in eine Diskussion mit einem blonden Schönling vertieft. Katharina wandte sich erst nach einigen Sekunden wieder mir zu, was mein Ego ein wenig beleidigt zur Kenntnis nahm.

    »Du machst das nur zum Spaß?«

    »Nein. Das Einzige, was mich am Journalismus gepackt hat, waren die Nachforschungen, sich in etwas vertiefen zu können, im Dreck zu wühlen. Leider erwarten die meisten Zeitungen und Zeitschriften, dass man nicht im Dreck wühlt, sondern welchen absondert. Als ich damit aufhörte, begann ich gezielt nach Wühlarbeit zu suchen. Ich inserierte regelmäßig in der NZZ. Ich forschte nach Stammbäumen, arbeitete an Konzerngeschichten, und ab und zu suchte ich nach Personen. Ein alter krebskranker Mann wollte zum Beispiel, dass ich ihm seine Jugendliebe ans Sterbebett bringe.«

    »Und? Hast du sie gefunden?«

    »Ja«, sagte ich. »In einem Altersheim in Solothurn. Sie konnte sich nicht mehr an ihre Jugend erinnern. Ich brachte sie dennoch zu ihm ins Spital. Es war eine seltsame Angelegenheit. Er hat sie berührt und sie saß einfach nur da, ohne Erinnerung. Er starb eine Woche später. Sie lebt wieder im Altersheim. Vermutlich kann sie sich mittlerweile auch nicht mehr an den Besuch im Spital erinnern.«

    »Mein Vater hat auch Alzheimer. Frühes Stadium. Wenn ich daran denke, was noch kommen wird, habe ich Angst.«

    »Kann ich gut verstehen.«

    Sie trank Mineralwasser. Ihr Blick folgte dem Mann an der Bar, der sich vom blonden Schönling verabschiedete und nach draußen ging. Ihre Augen folgten ihm durch das Glasfenster. Mein Ego war eifersüchtig, auch wenn ich keinerlei erotisches Interesse an Katharina verspürte. Das Ego ist wahrscheinlich immer eifersüchtig. Irgendetwas muss es schließlich tun. Sie schaute auf die Uhr.

    »Mein Bruder hatte vor acht Jahren einen Unfall. Er fiel von einem Balkon. Nicht sehr tief, knallte aber voll auf den Rücken und den Kopf. Er hatte eine schwere Gehirnerschütterung. Seither ist er arbeitsunfähig. Er hat häufig Kopfschmerzen und, wie er es selber nennt, Bienen im Kopf. Das war wohl auch der Grund, weshalb er zu trinken anfing. Wenn er trinkt, sind die Bienen weg, sagt er. Auf jeden Fall hat der Unfall Spuren hinterlassen. Er ist nicht blöd, nein, er hat manchmal einfach so etwas wie Anfälle. Da wird er rastlos, hält es nirgends lange aus. Er streunt dann richtiggehend durch die Stadt, lebt im Freien und trinkt. Wie ein Penner.«

    »Wie lange macht er das schon?«

    »Fünf, sechs Jahre. Er hat bei mir ein Zimmer. Ich besitze ein kleines Haus, das eigentlich unserer Mutter gehört. Ich wohne da zusammen mit einer Freundin. Meine Mutter weiß nicht, dass Martin ein Zimmer im Haus hat. Es sind zwei Wohnungen und zwei Mansardenzimmer. Mein Bruder kommt manchmal für ein oder zwei Wochen, dann verschwindet er wieder. Aber, wie gesagt, er ruft regelmäßig bei mir an. Das hat er mir versprochen. Ich habe ihm eine Telefonkarte geschenkt.«

    »Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

    »Vor einem Monat. Er hat danach noch zweimal bei mir angerufen, zuletzt am Dritten. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

    »Hat er Freunde?«

    »Wenige. Und die wechseln ständig. Er lebt oft auf der Straße. Natürlich kennt er ein paar Junkies, denen geht er aber eher aus dem Weg, weil sie ihm schon öfters Geld geklaut haben. Am wohlsten fühlt er sich unter Pennern.«

    »Hast du in der Bäckeranlage nach ihm gesucht?«

    Die Bäckeranlage ist ein kleiner Park, in dem etwa ein halbes Dutzend Penner leben und von der Polizei mehr oder weniger geduldet werden.

    Sie schüttelte den Kopf.

    »Ich gehe da nicht hin. Aber ein Bekannter war da und hat nach ihm gesucht. Mehrmals. Mein Bruder ist seit über zwei Wochen nicht mehr gesehen worden.«

    »Und die Polizei? Wie wäre es mit einer Vermisstenanzeige?«

    »Ich habe meinem Bruder versprochen, nie die Polizei auf ihn zu hetzen. Dieses Versprechen möchte ich halten, solange es geht.«

    »Verstehe«, sagte ich. »Hat dein Bruder Geld?«

    »Er bekommt eine Invalidenrente. Wenn er zusätzlich Geld braucht, gebe ich ihm welches. Ich bin aber nicht reich. Das Haus, in dem ich wohne, ist hoch mit Hypotheken belastet. Meine Mutter möchte nicht, dass ich Martin unterstütze. Aber er kriegt so wenig Rente.«

    »Kann er frei über sein Geld verfügen?«

    »Ja. Er hat keinen Vormund, wenn du das meinst. Er ist kein Asozialer. Er ist kein Genie, aber auch nicht hirnlos. Er kann sich selber durchschlagen. Allerdings trinkt er sehr viel. Immer mehr. Leider.«

    Sie schaute auf ihr leeres Glas.

    »Hast du Einblick in seine Konten? Hat er Geld abgehoben?«

    »Nein. Seit drei Wochen nicht. Am Dritten, das war der Tag, als er mich anrief, da hat er fünfhundert mit der EC-Karte abgehoben. Er braucht nicht viel Geld.«

    »Ich brauche ein Foto von ihm, möglichst neu.«

    »Ich habe nur Fotos, die ihn frisch geduscht und rasiert zeigen. Wenn er drei Wochen auf der Straße lebt, sieht er manchmal zum Fürchten aus. Ich kann dir aber eine Zeichnung mitbringen. Die Freundin, die bei mir wohnt, ist Illustratorin, und sie kennt Martin.«

    Ich erklärte ihr, dass ich möglichst viel über die Gewohnheiten ihres Bruders wissen müsste. Sie nickte.

    »Jetzt im Frühling ist er oft am See. Er liebt es, auf die Wellen zu schauen und zu träumen. Ich war fast jeden Tag unten, wenn ich zur Arbeit ging oder zurückkam, aber ich habe ihn nie gesehen. Er war meistens am Zürihorn, da, wo sie im Sommer nackt baden.«

    »Trägt er einen Pass oder eine ID auf sich?«

    »Ja, eine ID. Es ist aber unwahrscheinlich, dass er ins Ausland gegangen ist. Vielleicht ist er in einer anderen Stadt. Manchmal ging er nach Bern oder Basel, einmal auch nach Locarno, aber nie mehr als zwei, drei Tage. Er braucht eine vertraute Umgebung. Er ist in Zürich aufgewachsen. Er liebt diese Stadt.«

    »Gut«, sagte ich. »Ich werde deinen Bruder suchen.«

    »Brauchst du einen Vorschuss? Ich habe einen Tausender bei mir. Reicht das?«

    »Tausend genügen fürs Erste. Wenn ich mehr brauche, sage ich es dir.«

    »Okay«, sagte sie. »Mehr als fünftausend kann ich aber nicht ausgeben. Ich möchte nur, dass du das weißt. Ich lasse dir die Fotos und die Zeichnung per Kurier zukommen. Wenn du Fragen hast, kannst du mich anrufen.«

    Sie gab mir ihre Karte. Ich gab ihr meine. Ich ging danach einkaufen und zurück in mein Büro. Während ich an einem Stück Zwetschgenkuchen knabberte, überlegte ich mir, ob ich noch zwei, drei Runden spielen sollte, ließ es dann aber bleiben. Irgendwo in der Stadt irrte vielleicht Martin Boxler umher. Ihn zu suchen, war mindestens so unterhaltsam wie die Suche nach einem guten Verteidiger.

    3

    Das Foto und die Zeichnungen zeigten zwei Ausgaben ein und desselben Mannes. Auf dem Foto lachte er mir fröhlich mit breiten Wangenknochen, nach hinten gekämmten Haaren und makellosen Zähnen entgegen. Auf der Zeichnung sah ich einen geknickten Mann, der mindestens zehn Jahre älter aussah, eine wirre Mähne trug, unrasiert war und wie ein verängstigtes Tier dreinschaute. Außer den markanten Wangenknochen hatten die beiden Männer nicht viele Gemeinsamkeiten. Er kam mir vor wie die Zürcher Ausgabe von Jekyll and Mister Hyde. Ich konnte wohl davon ausgehen, dass Martin Boxler zurzeit eher Mister Hyde verkörperte, deshalb schaute ich mir die Zeichnung genauer an als das Foto. Es war eine gute Zeichnung, die Frau hatte Talent, das Bild des Mannes war präzise und strahlte so etwas wie Leben aus, wenn auch ein kaputtes Leben. Unter der Zeichnung stand der Name der Illustratorin. Melanie Mahrer. Klang auch nicht übel. Katharina hatte auf einem Blatt zusammengefasst, was ich ihrer Meinung nach über ihren Bruder wissen sollte. Es war nicht viel, aber es genügte, um mir zusammen mit der Zeichnung ein präziseres Bild von ihm zu machen.

    Ich kaufte mir ein Sixpack Bier und machte mich auf zur Bäckeranlage. Vor zwei Wochen war das Areal geräumt worden. Das geschah alle paar Monate, wenn sich Nachbarn über die Penner beschwerten oder es zu Schlägereien kam. Wenn sich alles beruhigt hatte, tauchten die Penner wieder auf, mit neuen Matratzen und Zeitungen, und richteten sich häuslich ein. Einige Mütter gingen dennoch mit ihren Kindern in den Park, es war weit und breit die einzige Spielmöglichkeit und die Penner galten als friedlich. Einige davon waren schon in der Zeitung oder auf einem der lokalen Fernsehsender porträtiert worden. Immer nach dem Motto: leben und leben lassen. Einen der Penner kannte ich vom Sehen. Er nannte sich Charly und hatte die Angewohnheit, Passanten anzubrüllen und Frauen zu beleidigen. Er stank meist fürchterlich nach Pisse und Kotze. Eine Journalistin, die ich gut kannte, hatte Charly einmal porträtiert. Sie schilderte mir danach voller Abscheu, wie Charly versucht hatte, ihre Brüste zu berühren, und wie er sich ständig zwischen den Beinen kratzte. In ihrem Artikel las ich kein Wort davon, da stand nur, er verberge seine Verletzlichkeit unter einer rauen Schale.

    Als ich die Anlage betrat, war ich froh, Charly nirgends zu sehen. Vor dem kleinen Rondell saßen zwei Penner, die ich nicht kannte. Als ich mich zu ihnen gesellte, trat eine Frau hinzu. Sie war aufgedunsen und bewegte sich so andächtig wie ein Rhinozeros. Sie begrüßte die beiden Männer lautstark und fluchte über einen anderen Mann, der sie versetzt hatte. Die beiden Männer nickten nur und rauchten. Einer trank Wein aus einer Flasche. Ich setzte mich auf die Steinstufen und stellte das Sixpack neben mich. Einer der Penner schaute mich an, zog es dann aber vor, seinen Kopf sofort wieder wegzudrehen. Die Frau stellte sich vor mich hin und stemmte ihre Arme in die Hüften.

    »Das ist mein Platz.«

    »Schon gut«, sagte ich. »Ich habe deine Markierung nicht gerochen.«

    »Was ist?«

    Der Mann neben mir lachte und schaute mich an. Die beiden oberen Schneidezähne fehlten ihm und über der linken Augenbraue hatte er eine verkrustete Wunde. Ich stand auf und machte der Frau Platz. Sie nickte nur, setzte sich aber nicht.

    »Dich habe ich hier noch nie gesehen.« Der Mann ohne Schneidezähne bot mir eine Zigarette an, ich schüttelte den Kopf.

    »Ist auch gesünder«, sagte er.

    »Ich heiße Marco«, sagte ich. »Ich suche jemanden.«

    »Godi.« Der Mann ohne Schneidezähne streckte mir seine Hand hin. Die Frau neben mir grunzte und suchte in ihrer Hosentasche nach etwas. Der andere Mann schwieg noch immer und starrte auf seine gelben Finger, die den Stummel einer filterlosen Zigarette hielten. Ich zeigte auf das Bier. Godi nickte und nahm sich eine Dose. Der andere schaute gar nicht hin. Die Frau setzte sich neben Godi und begann mit ihren Fingern in ihren Zähnen zu kratzen. Was an ihren Fingern kleben blieb, strich sie unter der Achsel an ihrem Pullover ab. Der Zwetschgenkuchen in meinem Magen machte sich bemerkbar. Ich versuchte, die Frau nicht mehr zu beachten, was mir aber nicht gelang. Sie kratzte erneut in ihren Zähnen. Godi leerte eine der Dosen, ohne abzusetzen.

    »Nicht schlecht«, sagte er. »Trinke gerne Bier. Die anderen mögen lieber Wein. Muss man weniger pissen.«

    Ich hielt Godi eine Kopie der Zeichnung hin. Er blinzelte. Dann nickte er.

    »Das ist Martin. Lieber Kerl. Hat was im Kopf. Trinkt nur, weil er Schmerzen hat. Ist noch ziemlich jung.«

    »Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«

    »Wann? Schwierig. Wann war Martin zuletzt hier?«

    Er schaute zuerst die Frau an, dann den anderen Mann, schließlich wieder die Frau. Der Mann reagierte nicht, zündete sich eine neue Zigarette an. Die Frau hatte in der Zwischenzeit den Zeigefinger gewechselt. Sie schaute sich neugierig an, was auf der Fingerspitze zu sehen war, und strich es unter die andere Achsel. Ich atmete tief durch. Godi zuckte die Schultern.

    »Weiß auch nicht mehr, wann das genau war. Eine Woche, vielleicht zwei. Martin ist manchmal monatelang nicht aufgetaucht. Er wohnt bei seiner Schwester.«

    »Vor zwei Wochen habe ich ihn gesehen«, sagte die Frau plötzlich. Sie bohrte mit ihrem Zeigefinger nun im Ohr herum. Vermutlich gehörte das alles zu ihrer täglichen Körperhygiene.

    »Bist du da ganz sicher?«, fragte ich sie.

    »Klar. Was willst du von ihm?«

    »Seine Schwester sucht ihn.«

    »Bist du ein Detektiv oder so was?«

    »So was. Ich möchte herausfinden, wo sich Martin zurzeit aufhält.«

    »Vor zwei Wochen traf ich ihn hier. Am Abend. Er war mit Anna zusammen.«

    »Wer ist Anna?«

    »Du stellst vielleicht Fragen.«

    Sie leckte sich den Finger ab und öffnete eine Dose. Sie war noch etwas schneller leer als jene, die Godi ausgetrunken hatte.

    »Ich weiß nicht, wer sie ist. So wie sie aussieht, nimmt sie Drogen. Ganz dünn ist sie, und Narben hat sie an den Armen. Die haben doch alle Narben, oder?«

    »Nimmt Martin auch Drogen?«

    »Nein, das glaube ich nicht. Nein. Martin nicht. Der trinkt nur.«

    »Hast du eine Ahnung, wo Martin pennt?«

    »Nein. Keine Ahnung. Mir auch egal. Bin froh, dass er wieder ging mit dieser Anna. Möchte nicht, dass all die Junkies hier auftauchen. Das Dealerpack steht ja überall herum. Weißt du, um die Junkies machen sie ein Riesentheater, denen geben sie jetzt sogar die Drogen gratis ab. Eine Frechheit ist das. Wir müssen uns unseren Stoff selber kaufen. Mir schenkt keiner was.«

    Sie nahm eine zweite Dose und kippte das Bier hinunter. Am anderen Ende des Parks stritten zwei Kinder um einen Ball. Die Mutter versuchte zu schlichten. Sie nahm den Ball und hielt ihn in die Höhe. Wie sie so dastand, sah sie aus wie eine Statue, die die Weltkugel vor den bösen Mächten der Finsternis schützt. Die Kinder verbündeten sich gegen ihre Mutter und versuchten, sie gemeinsam aus dem Gleichgewicht zu bringen. Eine andere Frau erschien mit einem Kinderwagen. Sie setzte sich auf eine Parkbank und zündete sich eine Zigarette an. Ich stand nur da und schaute mich um. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Godi stieß mich sanft vom Rondell weg, Richtung Rasen. Ich wich einem langen, dicken Hundekot aus und drehte mich zu Godi um. Er sprach leise, wollte offenbar nicht, dass die anderen ihn hörten.

    »Martin ist ein guter Kerl. Weshalb können die Ärzte ihm nicht helfen? Es summt in seinem Kopf. Da muss man doch verrückt werden, oder?«

    »Weißt du, wer diese Anna ist?«

    »Seine Freundin. Er hat mir von ihr erzählt. Ich habe sie aber nie gesehen. Auch ein armes Ding. Ist schwer süchtig. Hat vielleicht AIDS. Die Drogensüchtigen haben doch alle AIDS, oder?«

    »Wo wohnt Anna?«

    »Wo soll sie schon wohnen? Auf der Straße. Vielleicht im Asyl. Martin sagte, dass sie auf dem Letten gelebt hat. Was für ein Scheißleben. Ich war nie da. Finde das schon richtig so, dass sie da aufgeräumt haben. Hier räumen sie ja auch manchmal alles weg. Weißt du, das hat auch seine guten Seiten. Martin hat gesagt, man dürfe sich nicht an das Getto gewöhnen. Da hat er recht. Ich habe mich daran gewöhnt. Und auch wieder nicht.«

    »Möchtest du raus aus der Scheiße?«, fragte ich.

    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was erwartet mich? Einen Job krieg ich nicht mehr. Irgendein Loch in einer Hütte, wo alles geregelt ist. Keine Haustiere und so. Hatte mal einen Hund, möchte wieder einen.«

    Er zündete sich eine Zigarette an. Er sah jetzt jünger aus, als es zuerst den Anschein hatte. Mitte vierzig vielleicht. Seine Finger waren gelb, die Fingerkuppen schwarz, am rechten Daumen fehlte ihm der halbe Nagel. Sein Gesicht war eingefallen, die Augen wachsam. Die Falten um seinen Mund verrieten, dass er gerne lachte oder zumindest Grimassen schnitt.

    »Gehen wir was trinken?«, fragte ich ihn.

    »Essen wäre besser.« Er lachte. Bis auf die fehlenden Schneidezähne sah sein Gebiss noch ganz ordentlich aus.

    Wir verließen die Anlage und gingen einige Querstraßen Richtung Langstrasse. Das Milieu hatte sich in den vergangenen Jahren breitgemacht wie nie zuvor in Zürich. Überall stieß man auf Erotikstudios und Prostituierte, die aus dem Fenster schauten oder einkaufen gingen. Es war kurz vor fünf, der Feierabend nahte und mit ihm die Feierabendbumser. Godi blieb ab und zu stehen, schaute sich einige der Nutten genauer an, gab Kommentare ab und lachte.

    »Manchmal hätte ich schon Lust auf einen Fick. Aber dann denke ich, was ist, wenn ich ihn nicht hochkriege? Wenn ich den Hunderter versaufe, weiß ich wenigstens, was ich davon habe.«

    Auf dem Straßenstrich sah man vor allem Südamerikanerinnen. Ganz junge Frauen um die dreißig, dünne, vollbusige, kleine, größere, die Auswahl war riesig. Straßenzug um Straßenzug hatten sich die Zuhälter zusammengekauft oder eingemietet. Da, wo einst eine Jugendfreundin von mir wohnte, war aus dem ganzen Haus ein verkapptes Bordell geworden. Ich erinnerte mich daran, wie wir mit dem Fahrrad um die Autos gekurvt waren und uns in Hauseingängen geküsst hatten. Unschuldig und naiv. Nebenan wohnte der Metzger, der seine Frau verprügelte, und zwei Häuser weiter Herr Wattenwyl, der immer die neuesten Brettspiele zu Hause hatte. Ein paar Jahre später wurde er wegen Unzucht mit Minderjährigen eingelocht. Herr Wattenwyl würde sich fürchterlich aufregen über das, was aus der Straße mittlerweile geworden war. Alle regen sich darüber auf. Ich fragte Godi, ob bei ihm vor zehn Jahren alles besser war.

    »Vor zehn Jahren? Verdammt lang her. Nein, war nicht besser. Wohnte bei meiner Mutter. Hab damals schon gesoffen. Wir flogen aus der Wohnung, meine Mutter starb. So hat die Scheiße begonnen. Weiß nicht, ob das schon zehn Jahre her ist. Weißt du, ich könnte wieder arbeiten. War ein guter Arbeiter. Auf dem Bau, als Magaziner oder im Service. Habe alles Mögliche gemacht. Die Chefs waren mit mir zufrieden. Martin hat gesagt, ich solle es versuchen. Ich mache mir aber keine Illusionen. Schau doch all die Leute, die keine Arbeit finden. Die sind jünger und gescheiter. Und die saufen nicht. Noch nicht. Ohne Arbeit beginnen die meisten zu saufen, früher oder später. Ist doch so, oder?«

    Ich schlug ihm ein italienisches Restaurant vor, er schüttelte nur den Kopf und zeigte nach vorne. Wir gingen die Langstrasse runter. Die Straße war halbseitig gesperrt, viele Radfahrer waren unterwegs. Einige Dealer standen herum und warteten auf Süchtige. Bei den Auslagen eines Kleidergeschäftes diskutierten ein paar Frauen und hielten Kinderkleider in das trübe Licht der sich neigenden Sonne. Viel war vom Frühling noch nicht zu spüren. In den Hinterhöfen lagen vereinzelt noch kleine Schneehügel, schwarz eingefärbt. Kinder sprangen umher, spielten Fangen. Wir gingen durch den Tunnel auf die andere Seite der Geleise. Godi zeigte auf ein chinesisches Fast-Food-Restaurant.

    »Ich habe einmal bei einem Chinesen gearbeitet. In der Küche. War einer der ersten Chinesen hier in der Stadt. Sauteuer. Aber ich durfte gratis essen, so viel ich wollte. War ein netter Kerl. Weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Sein Laden ist jetzt thailändisch. Ist mir zu scharf. Das Essen meine ich, nicht die Weiber.«

    Godi bestellte Schweinefleisch mit Reis und einen Kaffee. Ich nahm frittierte Shrimps mit Reis und eine Cola. Wir setzten uns ans Fenster zur Langstrasse hin. Godi

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1