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Ich möchte eine Pampelsine: Der tägliche Wahnsinn mit Demenz und anderen Tücken
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Ich möchte eine Pampelsine: Der tägliche Wahnsinn mit Demenz und anderen Tücken
eBook298 Seiten3 Stunden

Ich möchte eine Pampelsine: Der tägliche Wahnsinn mit Demenz und anderen Tücken

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Über dieses E-Book

Josi war einer von derzeit insgesamt ca. 1,6 Millionen an Demenz erkrankten Betroffenen in Deutschland. Er verstarb 2015 im Alter von 81 Jahren. Seine Ehefrau Lotti, die ihn mehr als 30 Jahre seines Lebens begleitete und mit ihm ihr Leben teilte, hat nun seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Ohne Scheu erzählt sie vom Verlauf der Erkrankung, wirft aber auch immer wieder einen nostalgischen Blick zurück in die Vergangenheit, in eine glückliche Zeit mit ihrem "Liebsten", als die Welt für sie beide noch in Ordnung war. Sie schreibt von ihren Ängsten und Nöten im Zuge der Krankheit und über ihre Trauer angesichts des stetig voranschreitenden Verlustes ihres ehemals so starken Partners. Lebendig, humorvoll und mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit schildert sie, wie es möglich ist, den täglichen Wahnsinn mit der Demenzerkrankung zu managen, gar zu überleben, und auch weitere Tücken im Leben erfolgreich zu meistern. Dabei betont sie die Wichtigkeit des Humors sowie kleinerer Auszeiten für die Angehörigen, um neue Energie und Kraft für die herausfordernde Aufgabe der Pflege zu tanken. Des Weiteren gibt sie konkrete und hilfreiche Tipps für betroffene Angehörige und klärt dabei sachlich und unpathetisch über das Thema der Demenz auf. Es ist eine Lektüre, in der sich jeder Betroffene wiederfinden und mitlachen bzw. -weinen kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. Dez. 2016
ISBN9783864609053
Ich möchte eine Pampelsine: Der tägliche Wahnsinn mit Demenz und anderen Tücken

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    Buchvorschau

    Ich möchte eine Pampelsine - Lotti Beitz

    Vorwort

    Viele Jahre lang war ich gezwungen, mich intensiv mit dem Thema der Demenz auseinanderzusetzen, denn mein Mann Josi hatte diese Erkrankung, und er und ich mussten lernen, damit umzugehen und zu leben. Ich habe mich entschlossen, meine Erkenntnisse, die ich in den letzten Jahren gewonnen habe, unter dem Pseudonym Lotti Beitz zu veröffentlichen, um anderen Betroffenen die Chance zu geben, aus meinen Fehlern zu lernen. Ich habe, insbesondere zu Beginn der Erkrankung, viel falsch gemacht, aber auch vieles intuitiv richtig. Da ich weder eine Ärztin noch eine ausgebildete Pflegekraft war und bin, sondern einfach nur die Ehefrau eines an Demenz erkrankten Mannes war, ist meine Sicht der Dinge laienhaft und nicht wissenschaftlich korrekt. Die vielen Fragen, die es zu diesem Thema gibt, werde ich also nicht fundiert beantworten können, vielmehr möchte ich einfach nur erzählen, wie die Geschichte der Demenzerkrankung anfing, und den Betroffenen Ratschläge geben, wie diese mit einer solchen Erkrankung ihrer Angehörigen besser umgehen können. Vielleicht könnt ihr daraus schon etwas mitnehmen, was euch weiterhilft, das würde mich glücklich machen. Da ich einen sehr eigenwilligen, fast schon skurrilen Humor habe – übrigens meine Rettung in all den Jahren – wird hier zwangsläufig mehr gelacht als geweint. Mein Mann Josi war in seinem früheren Leben Mediziner, was in manchen Situationen unserer letzten gemeinsamen Jahre hilfreich war, und er verstarb 2015 mit 81 Jahren. Ich, die liebe Lotti, bin inzwischen Mitte 60 und war früher einmal Möbeldesignerin.

    1. Ein erster Übungslauf

    Josi fragt: „Wem gehört das alles hier?"

    Im Sommer 1990 stürzte mein Mann in der Nacht auf dem Weg zur Toilette so unglücklich, dass er sich einen Schädelbasisbruch zuzog. Da wir getrennte Schlafzimmer hatten, bekam ich davon zunächst nichts mit. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, roch ich wie immer den von Josi täglich frisch aufgebrühten Kaffee, wunderte mich aber, dass ich weder den obligatorischen Weckruf, „Ich muss los, mein Schatz, bis heute Abend, ich liebe dich, noch das Zufallen der Haustür gehört hatte. Ich lief nach unten in die Küche, um dort festzustellen, dass mich meine Sinne getäuscht hatten, denn es gab keinen frischen Kaffee. Erschrocken und beunruhigt rannte ich ins Schlafzimmer und fand dort einen blutüberströmten und bewusstlosen Josi, auf dem Bett liegend. Es war der Schock meines Lebens. Notarzt und Krankenwagen waren schnell zur Stelle und mein Mann landete auf der Intensivstation der Neurologie. Zehn Tage lang lag er im Koma und kämpfte um sein Leben. Als er endlich wieder aufwachte, konnte er keinen zusammenhängenden Satz mehr sprechen; wir fragten uns natürlich, ob er das Sprechen je wieder erlernen würde. Nach acht Wochen wurde er aus der Klinik entlassen, um sich kurze Zeit später zu einer Nachbehandlung an den Bodensee zu begeben. Tatsächlich sollte es jedoch sechs weitere Wochen dauern, bis endlich ein Platz frei wurde. Zwischenzeitlich gingen wir als Familie durch die Hölle und mussten uns daran gewöhnen, mit einem geliebten, aber sehr kranken Menschen geduldig umzugehen, vor allen Dingen aber lernen, aus seinen stammelnden Worten zu erraten, was er eigentlich sagen wollte. Im Laufe der Zeit eignete ich mir eine Methode an, ihn zu korrigieren, ohne dass er sich dabei belehrt oder verletzt fühlte. Seine Wortfindungsstörungen waren zwar nicht mehr zu leugnen, aber irgendwann konnte ich immer besser damit umgehen. Schlimmer waren andere Verhaltensauffälligkeiten. So starrte er ein Bild an und wiederholte Folgendes im Sekundentakt: „Das Bild hängt schief, das Bild hängt schief oder „Da ist eine Fliege an der Wand, da ist eine Fliege an der Wand. Natürlich rückte ich das Bild schnell wieder gerade und verscheuchte die Fliege; und damit war es dann gut. Er selbst war zu keiner Reaktion mehr fähig, sein Blick war dauerhaft leer und starr. Ich rief fast täglich in der Rehaklinik an, um mich nach dem neuesten Stand zu erkundigen. Am Ende drohte ich den zuständigen Leuten, dass sie demnächst zwei Betten reservieren müssten, weil ich langsam aber sicher auch verrückt würde. Endlich hatte man ein Einsehen und ich verfrachtete Josi mit Sack und Pack sowie seiner Golftasche ins Auto und düste zum Bodensee. Der Aufenthalt war für mehrere Wochen geplant und im Vorfeld organisierte ich, dass er jedes Wochenende Besuch bekommen würde. Ich selbst brauchte eine Pause, eine lange Pause. Ich mobilisierte deshalb die damals bereits erwachsenen Töchter von Josi, Veronika und Kathi, enge Freunde sowie bereitwillige Bekannte und es klappte wunderbar mit den regelmäßigen Ausflügen zum Bodensee. Die Feedbacks fielen dagegen sehr unterschiedlich aus. Die Kinder und Freunde waren begeistert über die Fortschritte, die ich natürlich beim abendlichen Telefonat täglich mitbekam und über die ich mich unendlich freute. Einige alte Weggefährten und Studienkollegen von Josi, ebenfalls Mediziner, nahmen dagegen kein Blatt vor den Mund und berichteten mir, dass mein Mann „bescheuert sei und sich so schräg benehme, sodass ein zweiter Besuch nicht mehr zumutbar sei. Nach diesem „Wort zum Sonntag strich ich die ehemaligen Kumpels – für die Josi in der Vergangenheit sehr viel getan hatte – sofort aus unserer Freundesliste und wir haben auch nie wieder von ihnen gehört. Im Laufe der nächsten Monate und Jahre verabschiedeten sich immer mehr alte „Freunde, denn Josis Wesen hatte sich schon sehr verändert und nicht jeder konnte damit umgehen. Aus „Bruder Lustig war ein Wahrheitsfanatiker geworden, der jedem seine Gedankengänge um die Ohren warf, und das kam nicht besonders gut an. Doch erst einmal wurde mein Mann nach sieben Wochen aus der Rehaklinik erlöst und unser fröhliches Wiedersehen ist mit Worten nicht zu beschreiben. Josi freute sich wie ein kleines Kind und ich lauschte verzückt seinen tadellos gesprochenen Sätzen, in denen es nur noch wenige Fehler gab. Die Ärzte und Logopäden hatten einen fantastischen Job gemacht. Auch zu Hause wurde er weiter von Logopäden und anderen Therapeuten betreut, sodass er eines Tages wieder so fit war, dass er tatsächlich als Arzt weiterarbeiten konnte. Es hatte mehr als ein halbes Jahr gedauert, bis wir unseren „alten Josi zurückhatten, der zu seinen Patienten und seiner Familie liebenswürdig und freundlich war. Leider war mein Mann durch den Unfall zum Epileptiker geworden. Er musste deshalb sein Leben lang Tabletten nehmen, aber er konnte damit die Krankheit in Schach halten und den Alltag gut bewältigen. Dass der Schädelbruch, bei dem auch Teile des Gehirns beschädigt wurden, und auch die Epilepsie für eine Demenz in der Folgezeit mitverantwortlich sein könnten, wussten wir glücklicherweise zum jenem Zeitpunkt noch nicht.

    1999 wurde Josi mit 65 Jahren von seiner Klinik in Pension geschickt, seine Zeit als aktiver Kardiologe war damit beendet. Jetzt hatte ich einen todunglücklichen Mann zu Hause sitzen, der mit sich und seiner neu gewonnenen Freizeit nur wenig anzufangen wusste. Er war mit Leib und Seele Arzt gewesen und auch sehr berühmte Menschen hatten in den vorangegangenen Jahren seine Dienste in Anspruch genommen, seine Kompetenz, seine Leidenschaft für seinen Beruf, sein weltweites Netzwerk, seine Geduld und Gründlichkeit geschätzt. Den Patienten konnte er stundenlang zuhören und ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wenn auch er schließlich mit seinem Latein am Ende war, kannte er Spezialisten, die weiterhelfen konnten.

    Vor inzwischen mehr als zehn Jahren, genauer gesagt im Jahr 2005, kam ein Brief von der BMW-Hauptverwaltung aus München mit der Ankündigung, dass in der Folgewoche der neue 7er-BMW in Luxusausführung vor unserer Tür stünde. „Haha, wohl ein Witz, ebenso wie der Preis von um die 70.000 Euro, dachte ich. Ich fragte meinen Mann, ob er etwas davon wüsste, aber er schüttelte nur empört den Kopf. „Nein, keine Ahnung, sagte er. „Was sollen wir denn auch mit so einem großen Schlitten?"

    Ich setzte mich ans Telefon und fand schnell heraus, dass er den Wagen ein halbes Jahr zuvor bestellt hatte, in Schwarz und mit hellen Ledersitzen. Er bestritt das heftig, gab aber immerhin zu, sich daran zu erinnern, ein paar Monate zuvor irgendeinen Wisch – „Das ganze klein geschriebene Zeug auf dem Papier konnte man ja gar nicht so schnell lesen" – unterschrieben zu haben.

    Durch die Vermittlung eines sehr guten Freundes schafften wir es am Ende, die Kuh bzw. die Luxuskiste, die keiner wollte, vom Eis zu bekommen und diese gegen ein kleineres Modell einzutauschen. Das war gerade noch einmal gut gegangen und ich speicherte das Ereignis unter „kann ja mal vorkommen" in meinem Gehirn ab und vergaß es für den Moment wieder.

    Josi war zeit seines Lebens immer ein sehr korrekter Mensch gewesen, der Verträge vor der Unterschrift lieber dreimal durchlas, ehe er sie unterschrieb. Andererseits war er aber auch bequem und verließ sich gerne auf die Ratschläge von Freunden oder Mitarbeitern, ohne großartig zu hinterfragen, ob nun alles seine Richtigkeit hatte, weil ihn ein bestimmtes Thema nicht interessierte oder langweilte. Bei dem Autokauf hatte er wahrscheinlich beizeiten seine Ohren auf Durchzug gestellt, weil ihn die Details, die ihm der BMW-Verkäufer aufzählte, nicht weiter kümmerten; und da er den guten Mann schon lange kannte, vertraute er ihm und setzte am Ende „seinen Wilhelm" unter die Bestellung.

    Ein paar Wochen nach diesem Vorfall klingelte es um die Mittagszeit an der Haustür. Als ich öffnete, sah ich mich einem gut aussehenden Mann ausländischer Herkunft gegenüber, der mir strahlend verkündete, dass er jetzt da sei und die Teppiche nach oben bringen könnte. „Ja gut, wer sich zu Hause langweilt, darf sich ruhig ein paar Leute einladen, warum nicht?, dachte ich. „Und wenn die einem bei der Gelegenheit schöne Teppiche zeigen, ist das doch in Ordnung. Den hübschen jungen Mann konnte ich jedoch ziemlich problemlos abwimmeln und als ich die Worte „nicht zurechnungsfähig und „Polizei in meinen Redeschwall einfließen ließ, trat er eiligst und ohne zu murren den Rückweg an. Diese beiden relativ kurz aufeinander folgenden Ereignisse ließen bei mir absolut keine Alarmsirenen schrillen, denn Josi kümmerte sich weiterhin sehr gewissenhaft um alltägliche Dinge, um die er sich schon ewig gekümmert hatte. Er kontrollierte beispielsweise den Ölstand der Heizung und den Chlorgehalt des Schwimmbads, er holte Wasser und Wein aus dem Keller, sortierte seine Bankauszüge und seine Medikamente, machte Überweisungen, fuhr zu den Meetings der Rotarier, sammelte Belege für die Steuererklärung, las die Tageszeitung, blätterte Illustrierte durch oder goss die Pflanzen in unserem Garten. Wenn er all diese Dinge nicht tat, saß er in seinem Lieblingssessel am Fenster und schlief. Josi war nun bereits seit fünf Jahren pensioniert und sein Tagesablauf war nicht wirklich spannend.

    In den Sommermonaten saßen wir anfangs viel und lange draußen auf der Terrasse und unterhielten uns, im Winter lief das ähnliche Programm vor dem Kamin ab. Einzig sein Weinkonsum nahm stetig zu und der war einer unserer größeren Streitpunkte. Auf diesen, in meinen Augen übertriebenen und nie versiegenden Weingenuss schob ich alles, das endlos lange Schlafen bis in den späten Vormittag, die Schlaforgien während des Tages im Sessel ebenso wie seine ständige Fragerei. Egal, was ich sagte, ich musste es mindestens dreimal wiederholen. Spätestens beim dritten Nachfragen und Wiederholen flippte ich aus und brüllte den Satz, um den es eigentlich ging. Darauf reagierte Josi zwangsläufig ebenfalls aggressiv und beschimpfte mich als „bösartige Meckerziege, die nur den ganzen Tag herumschreit". Solche Szenen gab es über die Jahre hinweg mindestens zweimal täglich und sie raubten mir den letzten Nerv.

    Andererseits konnte ich, wann immer ich wollte, das Haus verlassen, ihn störte das nicht, solange er wusste, wo ich war und wann ich wiederkäme. Eine Zeit lang interessierte es ihn sehr, was ich während meiner Abwesenheit erlebt hatte, und ich musste ihm in epischer Breite darüber berichten. Wann es anfing, dass er sich mit „Es war nett" begnügte und nicht mehr hinterfragte, was ich gegessen hatte oder ob ich gut oder schlecht Golf gespielt hatte, weiß ich nicht mehr.

    Wie so vieles andere schlich sich eine gewisse Sprachlosigkeit in unsere Beziehung ein, auf jeden Fall geschah dieser Prozess jedoch so langsam, dass es mir ewig nicht auffiel. Vielleicht war ich auch die pausenlose Nachfragerei und die ständigen Wiederholungen eines Satzes oder einer Frage so sehr leid, dass ich selbst immer sprachloser wurde. Ich kann das im Nachhinein nicht mehr exakt zeitlich festlegen. Ich kompensierte die mangelnde und mir sehr fehlende Kommunikation in unserem Haus mit langen Telefonaten mit Freunden oder der Familie.

    2. Ein Wechselbad der Gefühle

    Josi sagt: „In meinem Kopf ist alles dunkel!"

    Immer häufiger begann ich, darüber nachzudenken, ob ich nicht ein anderes Leben haben wollte. Wie sollte das mit Josi und mir weitergehen? Es traf mich hart, als ich im Sommer 2006 bemerkte, dass auch ich anfing, mich zu verändern, und zwar im negativen Sinne. Ich nahm an Gewicht zu, schwankte stimmungsmäßig zwischen Apathie, gekünstelter Euphorie und Aggression. Ich hatte keine Ziele und keine Träume mehr und eigentlich nur permanent den Wunsch, wegzurennen: raus aus dem Haus, raus der Stadt, raus aus meinem Leben, egal wohin, Hauptsache weg, bloß möglichst weit weg. Aber ich schob den endgültigen Bruch immer wieder hinaus.

    Anfang 2007 war ich für mehrere Wochen bewegungsunfähig. Mein Mann war nun eigentlich für diese Zeit für die Beschaffung von Lebensmitteln zuständig, also theoretisch. Praktisch klappte es nur mäßig und ich hatte die Rechnung tatsächlich ohne den Wirt gemacht. Immerhin schaffte es Josi, mit großen Zetteln bewaffnet, ab und an beim Metzger Fleisch und etwas Aufschnitt zu besorgen. Ich war furchtbar wütend auf mich, weil ich es in der Vergangenheit versäumt hatte, ihn öfter zu kleinen Botengängen zu schicken, damit er sich daran gewöhnen konnte.

    Ursprünglich wollte ich für den Zeitraum meiner Unpässlichkeit einen Koch engagieren, aber mein Mann hatte mir das ausgeredet und mich sehr glaubwürdig davon überzeugt, dass er durchaus dazu in der Lage sei, mich rund um die Uhr zu versorgen und zu verwöhnen. Wenigstens verlor ich in jener Zeit viel an Gewicht und meine Laune verbesserte sich. Anscheinend tat es meinem Körper und meiner Seele gut, untätig herumzuliegen und viel nachzudenken. Aus dem zaghaften Galgenhumor entwickelte sich plötzlich mein alter Humor zurück und fast übermütig geworden, meldete ich mich bei einer Kochsendung im Fernsehen an.

    Für die Tage der Dreharbeiten – im Sommer 2007 – quartierte ich Josi in der Nähe von Münster in einem Golfhotel ein, damit er mir zu Hause nicht vor den Füßen herumlief. Ich könnte mich noch heute über meine Naivität ärgern und mich für das Nichterkennen seines Zustandes ohrfeigen. Noch immer bricht mir der kalte Schweiß aus, wenn ich nur daran denke. Ich schickte ihn einfach weg, ohne mir einen Kopf darüber zu machen, in welch gefährliche Situation ich ihn und auch andere damit hätte bringen können.

    Er brauchte Stunden für die knapp 100 Kilometer und ist wohl verzweifelt im Kreis gefahren, bis er endlich das Hotel gefunden hat. Auch ist er wohl nur ein einziges Mal mit seiner Golfkarre losgezogen und dabei stundenlang im strömenden Regen herumgeirrt, weil er den Weg zurück nicht mehr fand. Details bekam ich erst im Laufe der Zeit aus ihm herausgequetscht, logischerweise wollte er mir die ganzen Dramen ersparen. Mir reichten die Infos auch so schon. Glücklicherweise landete er unbeschadet nach einigen Tagen wieder zu Hause, aber mir war erstmals bewusst, dass es ein zweites Experiment dieser Art nicht mehr gäbe.

    Josi liebte es früher, Auto zu fahren, und kein Ziel war ihm zu weit. Da er einen unglaublichen Orientierungssinn hatte, kamen wir immer sehr rasch und ohne Umwege von A nach B. Vor der Abfahrt schaute er sich die Straßenkarte an und schon wusste er Bescheid. Auch in späteren Jahren, als wir schon die Navigation im Wagen hatten, verließ er sich lieber auf sein eigenes Gefühl und stellte das Gerät nie an. Am Anfang unserer Ehe überließ er mir nur selten das Steuer, vor allen Dingen wohl auch, weil er sich sicherer fühlte, wenn er selbst fuhr. Als Beifahrer benahm er sich dagegen unmöglich und feuerte im Sekundentakt irgendwelche Kommandos ab. „Du fährst ja viel zu schnell, warum kriechst du denn so, Achtung, Vorsicht, Stopp, Halt, der Vordermann bremst gleich, achte auf die Ampel da vorne, hast du keine Augen im Kopf usw. usw." Er hörte nicht auf, mich zu verbessern. Als wir einmal auf der Rückfahrt von Rotterdam waren und ich am Steuer saß, habe ich auf dem Seitenstreifen der Autobahn angehalten und bin schreiend und schimpfend aus dem Auto gesprungen. Josi musste selbst weiterfahren und ich hockte beleidigt und schweigend neben ihm. Gelernt hat er allerdings nichts durch diese Szene.

    3. Lotti nimmt Fahrt auf

    Josi fragt: „Darf ich mit der Tablette auf die Toilette?"

    Parallel zur Rückwärtsentwicklung meines Mannes nahm ich wieder Fahrt auf und erlangte meine ursprünglich positive und optimistische Lebenseinstellung zurück. Die Fernsehaufnahmen hatten mir neue Energie gegeben und mir gezeigt, dass es außerhalb unserer vier Wände auch für mich noch einiges zu erleben gab. Voller Elan machte ich mich daran, über mein Leben zu schreiben, denn im Jahr darauf, also 2008, würde ich 60 Jahre alt werden und die Zeit wurde knapper, noch etwas zu reißen oder etwas Verrücktes auf die Beine zu stellen. Plötzlich verschwand auch meine Wut auf Josi und seine Unzulänglichkeiten, weil ich zu ahnen begann, dass er die meisten Dinge nicht machte, um mich zu ärgern, sondern weil er einfach nicht anders konnte. Ich wurde wieder ruhiger und geduldiger und ganz automatisch gab es weniger Stress im Haus.

    Als mein Mann begann, ab und an merkwürdige Dinge zu sagen oder auch schon einmal ewig nach dem richtigen Wort oder Ausdruck zu suchen, erinnerte ich mich wieder an die schreckliche Zeit nach dem Schädelbasisbruch, als er monatelang keinen richtigen Satz mehr zusammenbrachte. Allerdings begann ich so langsam zu ahnen, dass sich dieses Mal der Zustand nicht verbessern, sondern eher verschlechtern würde. Damals hatte er sich verbissen zurück in sein Leben gekämpft, sogar drei Arbeitsprozesse gewonnen und es zurück auf den Chefsessel geschafft. Er hatte sich durch nichts unterkriegen lassen und ist wahrhaftig der Herr im Hause geblieben, dem alle Respekt zollten.

    Mit dem Schreiben des Buches hatte ich eine optimale Situation geschaffen: Ich saß am Esstisch und lebte in einer anderen Welt, war beschäftigt, ausgeglichen, fröhlich und glücklich. Keine drei Meter von mir entfernt, verbrachte mein Mann seine Tage in seinem geliebten Ohrensessel, blätterte in Illustrierten oder der Tageszeitung, er konnte mich sehen, mal ein Wort mit mir wechseln, aber niemand meckerte, keiner schrie oder kommandierte ihn herum und für uns beide war die Welt wieder in Ordnung. Nachmittags verschwand er meistens für zwei Stunden in seinem eigenen Zimmer und schaute sich Serien im Fernsehen an, ich nannte es die „KiKa-Stunden", und ich war glücklich, dass er beschäftigt war. Davor oder danach gingen wir zusammen, aber manchmal auch er alleine, eine Runde um den Block. Glücklicherweise wohnten wir in einer Sackgasse mit wenig Autoverkehr, aber dafür umgeben von reiner Natur, die einen immer wieder zu kleinen Spaziergängen nach draußen lockte. Um Punkt 17.00 Uhr eilte er wie unter Zwang die eiserne Treppe hinab in unsere Garage, wo der Wein lagerte. Da ich das nicht verhindern konnte und obwohl sich mir beim ploppenden Geräusch des Entkorkens der Flasche schier der Magen umdrehte, fügte ich mich in mein Schicksal, klappte mein Laptop zu und zündete die Kerzen an. Dann saßen wir zwei Alten vor den brennenden Kerzen und plauderten belangloses Zeug, mir war alles egal, Hauptsache mein Mann war glücklich und ausgeglichen. Während er weiter in die Flammen schaute oder auch ab und an dabei einschlief, machte ich das Abendbrot.

    Im Sommer 2007 gab es ein kleines Highlight, auf das ich mich schon Wochen vorher gefreut hatte. Es war mir gelungen, für Josi und mich zwei Karten in der Klitschko-Lounge zu ergattern; natürlich zu einem horrenden Preis. Das Rematch gegen Lamon Brewster fand am 7. Juni in der damaligen Kölnarena, der heutigen Lanxess Arena, statt. In der Vergangenheit liebte Josi Boxkämpfe und er schien freudig erregt, als es endlich losging. Wir konnten vor dem Kampf bereits in den VIP-Bereich und bekamen kostenlos Getränke und Kleinigkeiten zu essen. Hunderte von Stars und Sternchen und Möchtegern-Promis hüpften um uns herum und ich bemerkte, dass sich Josi immer mehr zurückzog. Mit einem Drink in der Hand saß er in einer Ecke und rührte sich nicht mehr vom Fleck, während ich ein wenig herumschlenderte, um mir die „Berühmtheiten" aus nächster Nähe zu betrachten.

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