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Grundriss Geschichte des chinesischen Denkens
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eBook1.055 Seiten14 Stunden

Grundriss Geschichte des chinesischen Denkens

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Über dieses E-Book

Anne Chengs Standardwerk zur viertausendjährigen Geschichte der chinesischen Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert liegt nun endlich auch in deutscher Übersetzung vor. In ihrer meisterhaften Gesamtdarstellung verfolgt die vielfach ausgezeichnete Autorin die Entwicklung des chinesischen Denkens in seiner Kontinuität wie in allen Verwandlungen und Brüchen und bietet gleichzeitig ein hervorragendes Nachschlagewerk.
Als die »Histoire de la pensée chinoise« 1997 auf Französisch erschien, setzte sie sogleich Maßstäbe für eine schlüssige und zugleich umsichtige Darstellung der in der westlichen Philosophie oft nur bruchstückhaft bekannten, geschweige denn rezipierten chinesischen Philosophiegeschichte. Das Buch setzt ein mit der archaischen Kultur der Shāng und Zhōu im 2. Jahrtausend v. Chr. und behandelt in sechs Teilen die antiken Grundlagen des chinesischen Denkens (Konfuzius, Mòzǐ), die Zeit der Streitenden Reiche (Zhuāngzǐ, Menzius, Lăozǐ, Xúnzǐ, Legisten und kosmologisches Denken), die geistige Erneuerung während der Hàn­Dynastie, die buddhistische Umwälzung und anschließende Integration des Buddhismus in China, die Philosophie in der Zeit der Sòng­ und der Míng­Dynastien und schließlich die Entstehung des modernen Denkens. Auch wenn Cheng sich an den bekannten Schulen und Traditionslinien orientiert, berücksichtigt sie stets die Problematik, dass diese Schulen sich ihrem Selbstverständnis nach oft keiner Tradition zuordneten und Philosophiegeschichtsschreibung meist im Nachhinein konstruiert ist. Es gelingt der Autorin, unter enger Bezugnahme auf die jüngste sinologische Forschung den verschiedensten systematischen Aspekten des Philosophierens im traditionellen China gerecht zu werden – bei aller Eigenartigkeit, die diese Denkweisen in ihren Argumentationsstrukturen auszeichnet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Apr. 2022
ISBN9783787342044
Grundriss Geschichte des chinesischen Denkens
Autor

Anne Cheng

Anne Cheng ist Inhaberin des Lehrstuhls für »Histoire intellectuelle de la Chine« am Collège de France. Sie forscht seit mehr als vierzig Jahren zur Geistesgeschichte Chinas, zum Konfuzianismus und zur modernen chinesischen Philosophie. Anne Cheng übersetzte die Analekten des Konfuzius ins Französische und veröffentlichte eine Vielzahl an Büchern und Aufsätzen. Für ihre »Histoire de la pensée chinoise«, die in viele Sprachen übersetzt wurde, erhielt sie den Stanislas- Julien- und Dagnan-Bouveret-Preis der Französischen Akademie.

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    Buchvorschau

    Grundriss Geschichte des chinesischen Denkens - Anne Cheng

    China

    Was dringt heute aus China zu uns? Ein wirrer Lärm, in dem sich Wirtschaftswunderdinge, erschreckende politische Nachrichten und mehr oder weniger fundierte Kulturinterpretationen vermengen. China: ein großes Stück Menschheit und Zivilisation, das der westlichen Welt noch immer weitgehend unbekannt ist und doch seit je Neugier, Träume und Gelüste hervorruft – von christlichen Missionaren des 17. Jahrhunderts über Philosophen der Aufklärung bis zu maoistischen Eiferern und Geschäftsleuten von heute. Simon Leys hat dies sehr schön beschrieben:

    Aus der Sicht des Westens stellt China nicht mehr und nicht weniger als den Gegenpol der menschlichen Erfahrung dar. Alle anderen großen Zivilisationen sind entweder untergegangen (Ägypten, Mesopotamien, präkolumbisches Amerika) oder zu sehr vom Überlebenskampf in extremer Lage in Anspruch genommen (primitive Kulturen) oder uns zu nahe (islamische Kulturen, Indien), um uns einen solchen totalen Kontrast, eine so vollständige Andersartigkeit, eine so radikale und erhellende Eigenständigkeit wie China bieten zu können. Erst wenn wir uns mit China auseinandersetzen, können wir unsere eigene Identität genauer ermessen und zu erfassen beginnen, was von unserem Erbe universell menschlich und was nur indoeuropäische Idiosynkrasie ist. China ist dieses ganz Andere, ohne welches sich der Westen nicht wirklich der Konturen und Grenzen seines kulturellen Ich bewusstwerden kann.¹

    Heute, wo alle möglichen Ängste und Verlockungen des Irrationalen wieder auftauchen und uns zwischen Furcht vor der ›gelben Gefahr‹ und Schwärmerei für ›östliche Weisheit‹ schwanken lassen, erscheint es mehr als je zuvor nötig, Fundamente für ein authentisches Wissen zu legen, das auf Achtung des Anderen und wissenschaftlicher Redlichkeit statt auf verformten, meist für unausgesprochene Zwecke eingespannten Abbildern der Wirklichkeit gründet. Es bietet sich hier, in unserer Epoche auseinandersplitternder Identitäten und Gewissheiten, die seltene Chance, eine Bestandsaufnahme der unendlich reichhaltigen Möglichkeiten des menschlichen Denkens und Sehnens vorzunehmen. Auch die chinesische Kultur gelangt heute, nach einem Jahrhundert ständiger Unruhe, an einen Wendepunkt ihrer viertausendjährigen, kontinuierlichen Geschichte, und auch sie hat jetzt oder nie die Chance, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, um klar in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, ob sie sich noch aus ihrer eigenen Tradition nähren kann und was sie uns, die wir im modernen Westen leben, Wesentliches mitzuteilen hat.

    Wir treten an das chinesische Gedankengut zwangsläufig mit unseren eigenen geistigen Gewohnheiten heran. Aber ist es deshalb dazu verdammt, für uns etwas Exotisches, ganz Außenstehendes zu bleiben? Wenn wir wirklich wünschen, es kennenzulernen, ist es wichtig – wenn auch sehr schwierig –, seine Eigenständigkeit zu achten: es zwar auszufragen, aber dann auch zu schweigen zu wissen, um auf die Antworten zu hören, ja sogar zu lauschen zu beginnen, bevor wir es mit unseren Fragen bombardieren. Wir werden daher die chinesischen Autoren nicht unter methodischen Erörterungen begraben und schon gar nicht an ihrer Stelle reden, sondern ihnen so oft wie möglich das Wort erteilen und den Textauszügen breiten Raum lassen. Fangen wir damit an, unser Ohr daran zu gewöhnen, den Eigenklang herauszuhören und wiederkehrende Leitgedanken und innovative Themen zu unterscheiden.

    Wir ließen uns daher in diesem Buch von einem sowohl kritischen als auch (im etymologischen Sinn des Worts) sympathischen Geist leiten, von einem Standpunkt des Innen und des Außen. Es geht uns in erster Linie darum, Aufnahmebereitschaft zu erwecken. Wir wollen keine enzyklopädische Sammlung feststehender Wahrheiten liefern, sondern Interesse wecken und natürlich auch etwas bieten, um die geweckte Neugierde zu befriedigen, das heißt, dem Leser gewisse Schlüssel in die Hand geben, ob diese nun viel oder wenig taugen mögen, die ihm aber so lange nützlich sein können, bis er so weit ist, sich seine eigenen zu schmieden. Es liegt uns fern, ein endgültiges Wissensmonument errichten zu wollen. Wir möchten lediglich unseren von zwei Kulturen geschulten Blick und unser Vergnügen, großen Geistern zu begegnen, mit dem Leser teilen.

    Geschichte

    Eine Ideengeschichte zu schreiben, ist ein schwieriges, zwischen chronologischer Eingleisigkeit und gedanklichem Tiefgang schwankendes Unterfangen. Kann der Nutzen eines solchen Unterfangens innerhalb einer bestimmten, über gemeinsame Sprache und Bezüge verfügenden Kultur in Zweifel gezogen werden, so erscheint es berechtigter, wenn es darum geht, Laien eine vollständig andere Kultur näherzubringen, deren Ausdrucksweisen und Denkrahmen keinerlei Festpunkte zu bieten scheinen. Jacques Gernet schrieb: »Am schwierigsten ist es klar zu sein, wenn es darum geht, eine uns wirklich fremde und in einer immensen Tradition verankerte Kultur zu beschreiben. Die Gefahr irrtümlicher Gleichsetzungen ist groß …«²

    Auch wenn die chinesische Geistesgeschichte beim westlichen Betrachter den Eindruck von Wiederholung hervorruft – die Themen des 11., ja sogar des 18. Jahrhunderts greifen immer und immer wieder auf antike Begriffe zurück –, so bestätigt diese, weniger lineare als spiralförmige Entwicklung nicht das allzu verbreitete Bild einer zeitlosen, unveränderlichen Weisheit und macht keineswegs die diachrone Betrachtung überflüssig, für die auch die chinesischen Denker selbst ein helles Bewusstsein hatten, da es ihnen darum ging, auf die besonderen Fragen ihrer jeweiligen Epochen zu antworten. Die Betrachtung der chinesischen Tradition in ihrer langen Entwicklung zeigt uns deren Vielfalt und Lebenskraft und ermöglicht es, sowohl das sich Ändernde als auch das Bleibende zu sehen. Die historische Dimension sorgt darüber hinaus auch für die nötige Distanz, derer ein kritischer Geist stets bedarf, und bewahrt vor der stets lauernden Gefahr der Verallgemeinerung und voreiliger Schlussfolgerungen. In einer so langen Tradition entwickelte Begriffe nehmen nicht unbedingt in jeder Epoche dieselbe Bedeutung an, denn sie werden in stets neuen Problemfeldern und Zusammenhängen verwendet.

    Die Bedeutung der Geschichte beruht auch auf dem Stellenwert, der Gesellschaft und Politik in China immer beigemessen wurde, auch wenn das Individuelle in Zeiten der Wirren ebenfalls eine beachtliche Rolle spielte. Es muss hier an die besondere Stellung des Intellektuellen erinnert werden, der vor allem als Beamten-Gelehrter in der Kaiserzeit selten seine Rolle des ›Fürstenberaters‹ aus dem Auge verlor. Das Geschick des chinesischen Denkens ist untrennbar mit dem der Dynastien verbunden – von Konfuzius an, der im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung den Begriff des ›himmlischen Mandats‹ entwickelte, bis hin zum Verfall der kanonischen Tradition zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der direkt mit dem Untergang des Kaisertums in Zusammenhang steht.

    Schon im frühesten Altertum, ab Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, zeigt die chinesische Zivilisation in ihren allerersten schriftlichen Zeugnissen besondere Züge, die ihre Wurzeln im Ahnenkult und in der besonderen Rolle der Wahrsagerei bei der Ausbildung von Schrift und Rationalität haben.

    Konfuzius setzt kühn auf den Menschen und erarbeitet eine Ethik, die das Bewusstsein der Menschen in China bleibend beeinflussen sollte. In der entscheidenden Epoche der Streitenden Reiche (4.–3. Jahrhundert v. Chr.) erlebt China einen großartigen Ideenaustausch zwischen zahlreichen Gedankenrichtungen und ein subtiler Gedankenausdruck bildet sich heraus. In dieser Zeit zeichnet sich alles Spätere ab: Ausgangspunkte, Lösungsansätze, Fragestellungen, Orientierungen.

    Mit der Einigung des Reichs durch den Ersten Qín-Kaiser im Jahr 221 v. Chr. kommt der Pluralismus der Streitenden Reiche zum Stocken. Das sprudelnde geistige Leben der Vorkaiserzeit erfährt zur Zeit der Hàn-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) eine erste Stabilisierung: Es bilden sich die Institutionen und politische Gepflogenheiten heraus, die das chinesische Kaisertum während seines zweitausendjährigen Bestehens in den Hauptzügen bestimmen werden, und es zeichnet sich eine kulturelle Identität ab, die auf einer Reihe gemeinsamer Begriffe und schon in bestimmte Formen gebrachte Denkweisen fußt.

    Die Pax sinica scheint zu triumphieren, doch dann eröffnet sich mit dem Sturz der Hàn-Dynastie im 3. Jahrhundert und der Aufsplitterung des politischen Raums eine neue Epoche. Die ganze Weltsicht der Hàn-Zeit stürzt ein, die Denkrichtungen der Streitenden Reiche leben wieder auf und China wird mit einem ›Außen‹ konfrontiert: Der Buddhismus dringt aus Indien ein und fasst in China Fuß. Die Denkweise des Buddhismus, dem chinesischen Denken zunächst völlig fremd, passt sich einerseits der Gesellschaft und den Gebräuchen an und formt anderseits alle kulturellen Errungenschaften tiefgreifend um, sodass es schließlich zur Blütezeit der Táng-Dynastie kommen kann.

    Angesichts des gewaltigen buddhistischen Einflusses unternehmen die Denker der Sòng-Zeit ab Ende des ersten Jahrtausends ebenso gewaltige Anstrengungen, ihre Gelehrtentradition völlig neu zu überdenken. In der Míng-Zeit im 15.–17. Jahrhundert wird diese Erneuerung dann als zu stark der Buchgelehrsamkeit verhaftet aufgefasst und man wendet sich wieder stärker der Innenschau zu, was anschließend, beschleunigt durch die Errichtung der Mandschu-Dynastie der Qīng, als Gegenreaktion eine Neubesinnung auf praktische Werte hervorruft.

    Als das chinesische Denken die Assimilierung des Buddhismus abgeschlossen hat, wird es mit der ihm noch fremderen Tradition des Christentums und der europäischen Wissenschaften konfrontiert, zunächst durch Missionare, dann durch im Laufe des 19. Jahrhunderts ständig zunehmende Kontakte und schließlich durch die Angriffe der westlichen Mächte. An der Wende zum 20. Jahrhundert ist China zwischen der erdrückenden Last seines Erbes und der dringenden Notwendigkeit, Antworten auf die neue Herausforderung des als Inbegriff der Modernität aufgefassten Westens zu finden, hin- und hergerissen. Unsere Betrachtung endet mit der symbolträchtigen, alles Hergebrachte über den Haufen werfenden Bewegung des 4. Mai 1919: Als erste Bewegung solchen Ausmaßes kehrt sie der zweitausendjährigen Tradition entschlossen den Rücken und läutet eine neue Ära ein, deren Widersprüche und Konflikte noch nicht gelöst sind.

    Tradition

    Im Zentrum unseres Buchs, dem die zeitliche Abfolge Rahmen und allgemeine Anhaltspunkte gibt, stehen die wichtigsten Anliegen der chinesischen Denker, das, was im Herzen der Diskussionen steht und strittig ist, und auch das, was unausgesprochen bleibt, weil es als selbstverständlich und keiner Erläuterung bedürfend aufgefasst wird. Im Gegensatz zu dem in der Nachfolge des griechischen Logos stehenden philosophischen Denken, das stets das Bedürfnis verspürt, seine Grundlagen und Behauptungen zu begründen, kann das chinesische Denken, das von einem implizit akzeptierten gemeinsamen Substrat ausgeht, nicht als eine Aufeinanderfolge theoretischer Systeme dargestellt werden. Sagte nicht schon Konfuzius, der doch als erster in eigenem Namen sprechender chinesischer Denker gilt: »Ich übermittele und schaffe nichts Neues«³.

    Es erscheint daher sinnvoller, den Schwerpunkt auf die Entwicklung der Begriffe zu legen, welche meist durch die Tradition weitergeleitet werden und nicht einem bestimmten Autor zuzuschreiben sind.⁴ Da das chinesische Denken von einer Reihe vorgegebener Voraussetzungen ausgeht, besteht die eigentliche Arbeit des Historikers darin, die Streitpunkte und Debatten zu erfassen, die mehr anhäufend als dialektisch die Entwicklung der Tradition voranbringen. Chang Hao spricht heute von »internen Dialogen«, die »eine spezifische Form von intellektuellen Diskussionen darstellen, die in der ganzen chinesischen Tradition über Jahrhunderte fortgesetzt wurden. Diese Tradition hat sich, wie auch Traditionen anderer Hochkulturen, entwickelt, indem sie einen Grundstock von Fragen und Gedanken aufhäufte, der die Welt der Intellektuellen von Generation zu Generation in Spannung hielt.«⁵ Es ist, als würde aus diesen ›internen Dialogen‹ im Laufe der Zeit ein Wandteppich gewoben, und wir wollen in unserem Buch zeigen, wie sich schließlich deutliche Motive auf dem Gewebe abzeichnen. Es handelt sich daher nicht nur darum, dem Zeitfaden zu folgen, sondern auch einen gestalteten Raum zu zeichnen, in dem wir uns zurechtfinden können.⁶

    Denken oder Philosophie?

    All das oben Gesagte scheint es uns zu verbieten, das chinesische Denken als Philosophie zu bezeichnen – ein Begriff, den die Erben des Logos, andere Anwärter eifersüchtig abweisend, für sich allein in Anspruch nehmen: Das chinesische Denken befände sich somit in einem »präphilosophischen Stadium« oder wird auf den Bereich der »Weisheit« verwiesen. Wir seien genötigt, anzuerkennen, dass die »Philosophie griechisch redet«⁷, und was nütze es da, der »Kunst, Begriffe zu schaffen«, ihr keines Beistands bedürfendes Monopol streitig machen zu wollen? »Der Orient«, so erfahren wir, »kennt keine Begriffe, denn er begnügt sich damit, neben eine ganz abstrakte Leere ohne jede Vermittlung ein ganz triviales Sein zu setzen«.⁸ Solche Urteile sind Ausdruck eines intellektuellen Hochmuts, welcher, zusammen mit der Vormachtstellung des Westens, verständlich macht, warum das Etikett ›Philosophie‹ heute vielerorts so heiß begehrt ist und jede Kultur es um ihrer Würde willen für sich in Anspruch nehmen möchte. Wie Joël Thoraval gezeigt hat, hat sich auch China diesen Wunsch nach Anerkennung nicht versagt und nimmt die Kategorie ›Philosophie‹ für sich in Anspruch, die sie mit einer Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Japanischen entlehnten Wortneuschöpfung bezeichnet (zhéxué 哲學, japanisch tetsugaku).⁹

    Angesichts der Heterogenität der Texte der chinesischen Denker (neben Abhandlungen, die ein Thema oder einen Begriff zusammenhängend behandeln, gibt es eine reiche Literatur von Kommentaren hauptsächlich zu den Klassikern sowie – bunt gemischt – Gedichte, Briefe, Vorworte und aus bestimmten Anlässen verfasste Texte) kommt man allerdings nicht umhin festzustellen, dass es schwierig ist, einen wirklich ›philosophischen‹ Korpus von ›religiösen‹, ›literarischen‹ oder ›wissenschaftlichen‹ Texten zu trennen (haben sich aber nicht auch die Stoiker in poetischer Form und Briefen ausgedrückt?). Man kann aber auch nicht bestreiten, dass sich in dieser blühenden Literatur eine gewisse Anzahl von Texten mit fruchtbaren Intuitionen findet, die das Denken über Jahrtausende belebten und deren Auffassungen über die Welt und den Menschen wohlgestalteten Zusammenhang und beständige Bemühung um bessere Formulierung zeigen. Es entwickelte sich schon zur vorkaiserlichen Zeit eine Ausdrucksweise, die zwischen dem 5. und 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zu einem hervorragenden, wunderbar zugeschliffenen Werkzeug ausgefeilt wurde und die bestens geeignet ist, in alle Spalten der Wirklichkeit einzudringen und sich subtilem Denken anzupassen.

    Wenn also die Ausdrucksweise keineswegs, wie so oft behauptet, dem Vagen huldigt, sondern im Gegenteil nach immer präziserer Formulierung strebt, so ist die Form der Texte jedoch selten geradlinig, einem logischen Faden folgend und autonom in dem Sinne, dass der Text selbst die Schlüssel zu seinem Verständnis liefern würde. Meist bilden die Texte ein Gewebe im eigentlichen Sinn des Wortes (unser Wort ›Text‹ leitet sich aus dem lateinischen Wort für ›weben‹ ab), das beim Leser die Vertrautheit mit den wiederkehrenden Motiven voraussetzt. Sie erwecken den Eindruck, ständig nur traditionelle Äußerungen zu wiederholen, wie ein Weberschiffchen, das unermüdlich auf denselben Kettenfäden hin- und hergleitet. Auf was wir achten müssen, ist das Motiv, das sich dabei langsam abzeichnet, denn es ist das Sinntragende.

    Selten wird der Gegenstand der Debatten klar genannt, was nicht bedeutet, dass es keine Debatte gegeben hätte. In den Texten der Zeit der Streitenden Reiche werden echte Ideenkämpfe ausgetragen, allerdings auf eine recht kuriose Weise, vor allem wenn wir sie mit der offenen Auseinandersetzung der griechischen Tradition vergleichen, die sich in der Redekunst der Agora und der Gerichte und in kontradiktorischen, mit Sophistik und Logik gespeisten Debatten entfaltet hat. Man sollte es sich bei der Betrachtung des Schachbretts der geistigen Auseinandersetzungen im alten China zur Regel machen, immer zu verstehen zu versuchen, auf welchen Begriff und auf welche Debatte das Gesagte Bezug nimmt und auf Grundlage welcher Denkweise eine andere verstanden werden kann. Die chinesischen Texte erhellen sich, wenn wir wissen, wem sie antworten. Sie bilden daher keine geschlossenen Systeme, da sich ihr Sinn aus dem Netz ihrer Bezüge ergibt. Statt sich in Begriffen zu konstruieren, entwickeln sich die Gedanken in diesem großen Wechselspiel der Verweise, was eben Tradition, und zwar lebendige Tradition darstellt.

    Das Fehlen einer theoretischen Untermauerung in der Art der Griechen oder Scholastiker erklärt sicherlich die chinesische Tendenz zum Synkretismus. Es gibt hier keine absolute und ewige Wahrheit, sondern Dosierungen. Daraus folgt insbesondere, dass Widersprüche nicht als unlösbar, sondern eher als Alternativen aufgefasst werden. Statt Urteile, die sich ausschließen, haben wir eher Gegensätze, die sich ergänzen, bei denen es ein Mehr und ein Weniger geben kann: Man schreitet in unmerklichen Übergängen vom Yīn zum Yáng, vom Undifferenzierten zum Differenzierten.

    Zusammenfassend gesagt, das chinesische Denken geht nicht so sehr linienförmig oder dialektisch als vielmehr spiralförmig vor. Es erfasst sein Thema nicht ein für alle Mal durch eine Reihe von Definitionen, sondern indem es immer engere Kreise um es zieht. Das ist nicht Zeichen eines zögernden oder ungenauen Denkens, sondern vielmehr des Willens, einen Sinn zu vertiefen, anstatt einen Begriff oder einen Denkgegenstand zu erhellen. Vertiefen bedeutet, den Sinn einer (aus dem beharrlichen Studium der klassischen Schriften entnommenen) Lektion, einer (von einem Meister erteilten) Belehrung, einer (selbst erlebten) Erfahrung immer tiefer in sich, in seine Existenz einsinken zu lassen. Dem entspricht die Verwendung der Texte in der chinesischen Ausbildung, wo sie nicht einfach gelesen, sondern eingeübt wurden: zunächst auswendig gelernt und dann durch Studium der Kommentare, durch Diskussion, Reflexion und sinnende Betrachtung vertieft. Als Zeugnisse der lebendigen Worte von Meistern richten sie sich nicht nur an den Verstand, sondern an den ganzen Menschen. Wichtig ist nicht, sie zu bekritteln, sondern sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie einzuüben und sie letztendlich zu leben. Denn das eigentliche Ziel ist nicht die intellektuelle Freude an Gedanken. Es geht nicht um geistige Abenteuerlust, nicht darum, immer besser zu begründen, sondern darum, in ständiger Anspannung nach Heiligkeit zu streben, unser Menschenwesen in immer größerer Harmonie mit der Welt zu leben.

    Denken und Wirklichkeit auf gleicher Ebene

    Die Sprache der Texte des alten China ist also weniger deskriptiv oder analytisch als instrumental. Wenn das chinesische Denken niemals das Bedürfnis verspürt, die Fragestellung, das Thema oder den Gegenstand explizit zu nennen, dann deswegen, weil es ihm nicht darum geht, irgendeine theoretische Wahrheit zu finden. Vielleicht hängt dies mit der chinesischen Schrift zusammen, die von den europäischen phonetischen Alphabeten grundlegend verschiedenen ist. Dieser Schrift – deren Ursprünge in der Wahrsagerei liegen – werden, wie sichtbaren Zeichen überhaupt, magische Kräfte zugeschrieben.

    Statt sich auf begriffliche Konzeptionen zu stützen, gehen die chinesischen Denker von den Zeichen selbst aus. Diese sind keine Verkettung von in sich sinnleeren phonetischen Elementen, sondern jedes von ihnen bildet eine sinntragende Einheit und wird als ein ›Ding unter den Dingen‹ wahrgenommen. Wenn ein chinesischer Autor zum Beispiel vom ›Wesen‹ (des Menschen) spricht, so denkt er an das Schriftzeichen 性, das sich aus den Bestandteilen 生, was Geburt oder Leben, und 忄, was Herz bzw. Geist bedeutet, zusammensetzt, wodurch seine Überlegungen in eine vitalistische Richtung gelenkt werden. Das chinesische Denken kann sich durch die besondere Natur der Schrift der Vorstellung hingeben, es reihe sich ins Reale ein, statt sich ihm zu überlagern.¹⁰ Die Nähe oder Verschmelzung mit den Dingen entspringt einerseits sicherlich dieser besonderen Form der schriftlichen Darstellungsweise, und sie bedingt anderseits auch eine bestimmte Form des Denkens, die – statt seine Objekte in kritischer Distanz aufzubauen – dazu neigt, in das Reale eingetaucht zu bleiben, um dessen Harmonie besser zu fühlen und zu bewahren.

    Neben der Schrift müssen auch die grammatischen Besonderheiten des Altchinesischen beachtet werden. Die antike griechische und lateinische Philosophie ist ohne Verneinungspräfixe, abstrahierende Suffixe usw. unvorstellbar. Es ist bekannt, dass die mittelalterliche Scholastik zu einem großen Teil Überlegungen zu den grammatischen Kategorien des Lateinischen entstammt: Unterscheidung zwischen Substantiv und Adjektiv, zwischen Passiv und Aktiv (Subjekt/Objekt), das Verb ›sein‹ usw. Das Chinesische ist dahingegen keine flektierende Sprache, bei der die Rolle eines jeden Satzelements durch Geschlecht, Singular- und Pluralkennzeichen, Deklination, Konjugation usw. bestimmt wäre, sondern die Bezüge werden nur durch die Stellung der Wörter (bzw. Schriftzeichen, da jedes Schriftzeichen eine Sinneinheit darstellt) in der Satzfolge ausgedrückt. Es gibt daher keine Grundstruktur des Typs Subjekt – Prädikat, die etwas über etwas aussagt und damit implizit die Frage aufwirft, ob eine Aussage wahr oder falsch ist. Eine der auffälligsten Besonderheiten des Altchinesischen im Vergleich zu den indoeuropäischen Sprachen ist das Fehlen des Verbs ›sein‹ als Prädikat. Die Identität wird einfach durch ein Nebeneinanderstellen ausgedrückt. Jean Beaufret drückte es so aus: »Die Quelle ist überall als Unbestimmtes da, sei es im Chinesischen, Arabischen oder Indischen … aber die Griechen hatten das seltsame Privileg, diese Quelle Sein zu nennen«.¹¹

    Es ist daher nicht verwunderlich, dass das chinesische Denken nicht in die Fachgebiete der Epistemologie und Logik mündete, welche auf der Überzeugung aufbauen, dass das Reale Gegenstand einer theoretischen Beschreibung sein kann, indem seine Strukturen in Parallele zu denen des menschlichen Verstands gesetzt werden. Der analytische Ansatz beginnt mit einer kritischen Distanz, die sowohl das Subjekt als auch das Objekt schafft. Das chinesische Denken ist dahingegen völlig im Wirklichen eingetaucht: Es gibt hier keine Vernunft außerhalb der Welt.

    Wissen und Tat: das Dào

    In diesem, mit der Realität auf gleicher Ebene stehenden Denken gelten die Überlegungen weniger dem Wissen als solchem als vielmehr seinem Bezug zur Tat. Es gibt dabei zwei Hauptrichtungen: Die eine setzt die Tat als Horizont des Wissens (und ist daher stets bemüht, nur nach für die Tat relevantem Wissen zu suchen), die andere streitet dem Bezug zwischen Wissen und Tat jede Gültigkeit ab (und damit jeder Begründung von Tat durch Wissen und jedem tatorientierten Wissen). Der ersten Richtung, bestens vertreten durch die konfuzianische Tradition, geht es hauptsächlich um den tatsächlichen Übergang vom Wissen zur Tat, was in den chinesischen Begriffen als Übergang vom Latenten zu seiner sichtbaren Manifestation verstanden wird. Ihre Hauptalternative hingegen, die taoistische Tradition, bevorzugt und pflegt das, was diesseits des Sichtbaren, vor dem Sichtbaren liegt. Die Achse Wissen – Tat hat somit zwei Seiten: die des politischen Anliegens (als Gestaltung der Welt entsprechend der Sicht des Menschen) und die der künstlerischen Sicht (als Beteiligung des Menschen am Gebären der Welt). Es ist daher kaum verwunderlich, dass wir diese Gesichtspunkte oft in ein und derselben Person vereint vorfinden, die sich mit größter Selbstverständlichkeit gleichzeitig als Dichter-Maler-Kalligraph und als Berater eines Fürsten oder Staatsmanns betätigt.

    Wissen im konfuzianischen Geist – aufgefasst als das, was noch nicht Tat ist, aber werden soll – bedeutet weniger ein ›Wissen, was‹ (das heißt Kenntnis von Aussagen, deren Inhalt im Idealfall die Wahrheit sein sollte) als vielmehr ein ›Wissen, wie‹: zu wissen, wie Unterscheidungen anzustellen sind, damit wir unser Leben richtig lenken und den gesellschaftlichen und kosmischen Raum richtig gestalten. Es handelt sich um ein Wissen, das nicht intellektuell Aussagen beurteilt, sondern die Gegebenheit der Sachen und Sachverhalte einzubeziehen strebt. Zumindest bis zum radikalen Wandel durch den Buddhismus sind die Texte der chinesischen Denker in dem Sinn instrumental, dass sie stets und zuerst auf die Tat ausgerichtet sind. Konfuzius war der erste, der sagte, dass er Angst davor habe, seine Rede könne seine Taten übersteigen. Die Tat ist nicht nur das Anwenden des Gesagten, sie ist sein Maß, und das Gesagte hat nur Sinn, wenn es direkt auf die Tat wirkt.

    Diese Auffassung des Verhältnisses zwischen Wissen und Tat sowie, allgemeiner gesprochen, der stete Zweifel an der Rede als Selbstzweck erklären, warum sich das antike chinesische Denken nicht so sehr mit dem Phänomen des Wissens (dem Gegenstand der Epistemologie) auseinandergesetzt hat als vielmehr mit dem Verhältnis zwischen Rede und Tatsächlichkeit (in chinesischen Begriffen ausgedrückt: zwischen ›Name‹ und ›Realität‹). Daher rührt auch der Gedanke, dass die Art, wie ein Ding benannt wird, selbst Einfluss auf die konkrete Realität hat. Wahrheit ist zunächst etwas Ethisches, da die Hauptsorge der richtigen Verwendung der Rede gilt und nicht dem, was die Wahrheit von Einstellungen, Gedanken, Aussagen oder Begriffen ausmacht.¹² Es handelt sich dabei jedoch nicht so sehr um ein auf das ›Praktische‹, ›Pragmatische‹ reduziertes Denken, sondern es ist angebrachter, von einem Denken zu sprechen, das von vornherein in Situation und Bewegung ist wie die Parallelperspektive in der Malerei, die keinen idealen Fixpunkt setzt, sondern sich mit dem Blick durch den Bildraum bewegt.

    Die verschiedenen Denkrichtungen des alten China wollen keine abgeschlossenen Systeme anbieten, die innewohnende vitale Möglichkeiten ersticken könnten, sondern ein Dào (道, in westlichen Sprachen bisher üblicherweise ›Tao‹ geschrieben). Dieses Wort, das oft fälschlich als Alleinbesitz der Taoisten angesehen wird, ist in Wirklichkeit ein häufig verwendeter Begriff der antiken Literatur, welcher ›Straße‹ und im weiteren Sinn ›Methode‹, ›Vorgehensweise‹ bedeutet. Unser Wort ›Weg‹ gibt diese engere und weitere Bedeutung wieder. Da jedoch die Übergänge zwischen den Wortarten im alten Chinesisch fließend sind, kann dào als Verb auch ›gehen‹, ›voranschreiten‹ sowie – interessanterweise – auch ›sprechen‹, ›etwas sagen‹ heißen. Jede Denkrichtung hat ihr Dào, was bedeutet, dass sie in Form von Aussagen eine Lehre anbietet, deren Gültigkeit nicht theoretischer Art ist, sondern eine Lebensweise darstellt. Das Dào strukturiert die Erfahrungen und ist somit Synthese einer Perspektive, ohne welche die Wahrheit des expliziten Inhalts eines Textes nicht eingeschätzt werden kann.

    Es geht dabei weniger darum, das Ziel zu erreichen, als vielmehr darum, gehen zu können. »Was wir Dào nennen«, sagte Zhuāngzǐ im 4. Jahrhundert v. Chr., »ist das, was wir benutzen, um gehen zu können«.¹³ Oder an anderer Stelle: »Hafte deinen Geist nicht an ein ausschließliches Ziel, sonst wirst du gehbehindert im Dào«. Der WEG ist niemals vorgezeichnet, sondern zeichnet sich ab, während man ihn begeht. Man kann daher unmöglich über ihn sprechen, wenn man nicht einen Fuß vor den anderen setzt. Das chinesische Denken ist kein Denken des Seins, sondern des Prozesses, welcher sich im Laufe seiner Entwicklung festigt, bestätigt, vervollkommnet. Unter Zuhilfenahme einer echt chinesischen Dichotomie können wir sagen: Die Beschaffenheit (體) einer jeden Realität nimmt in ihrer Funktionsweise (yòng 用) Gestalt an.

    Einheit und Kontinuität: der Hauch

    Das chinesische Denken wurzelt im Grundvertrauen des Menschen in die Welt, in der er lebt, und in der Überzeugung, dass der Mensch in der Lage ist, das Ganze der Realität mit seinem Wissen und seiner Tat zu umarmen – das Ganze als das Eine, auf das sich die unendliche Vielfalt seiner Teile bezieht. Die Welt als organische Ordnung wird nicht außerhalb des Menschen gedacht, und der Mensch, der auf natürliche Weise in die Welt gehört, denkt sich nicht außerhalb der Welt. So gilt es, die Harmonie, die im natürlichen Lauf der Dinge herrscht, im Leben und in den Beziehungen der Menschen zu wahren. Die Welt wird nicht aus der Perspektive eines fernen Sterns für analysierbar oder nichtig befunden, sondern als Ganzes aus ihrem eigenen Inneren heraus wahrgenommen: Das ist der Sinn des berühmten Bilds vom Yīn und Yáng – der Weg eines Punktes, der vom zunächst beginnenden und dann reifen Yīn ins Yáng umschlägt und so einen Kreis, Inbegriff des Globalen, beschreibt.

    Die vom chinesischen Denken im Laufe seiner ganzen Entwicklung erstrebte Einheit ist die Einheit des Hauchs (氣). Das ist die Lebensenergie oder der Lebensstrom, der das ganze Universum belebt. Jegliche Wirklichkeit, sei sie physikalisch oder geistig, ist nichts als Lebensenergie. Das Denken ist nicht über oder neben, sondern im Leben, es ist der Fluss des Lebens selbst. Der Geist arbeitet nicht losgelöst vom Körper: Es gibt eine Physiologie der Gefühle, des Geistes und der Gedankenwelt, so wie es eine Spiritualität des Körpers als Verfeinerung und Sublimierung der physikalischen Materie gibt.

    Der Hauch ist sowohl Geist als auch Materie. Er sorgt auf allen Ebenen für die organische Kohärenz der Welt des Lebendigen. Er zirkuliert als Lebensstrom ständig zwischen seiner unbestimmten Quelle und der unendlichen Vielfalt seiner sichtbaren Manifestationen. Der Mensch wird nicht nur durch ihn in allen seinen Aspekten belebt, sondern er schöpft aus ihm auch seine Wertkriterien, sowohl die moralischen als auch die künstlerischen. Das ist Quelle der moralischen Energie. Es ist keineswegs ein abstrakter Begriff, sondern wird zutiefst im Wesen und im Leib verspürt. Es ist zwar ganz konkret, jedoch nicht immer sicht- oder greifbar: Es kann das Temperament einer Person, die Stimmung eines Orts, die Ausdruckskraft eines Gedichts oder die Fracht der Gefühle eines Kunstwerks sein. Seit Cáo Pī, der im 3. Jahrhundert n. Chr. die Meinung vertrat, dass »in der Literatur der Hauch das Wichtigste ist«, und Xiè Hè, der zweihundert Jahre später sagte, dass »es in der Malerei darum geht, die harmonischen in lebendige Bewegung zu bringen«, steht das im Mittelpunkt nicht nur des ethischen, sondern auch des ästhetischen Denkens. Es wird daher gesagt, dass die chinesische Kultur eine Kultur des Hauchs sei.

    Wandlung

    In einer Denkweise, die das generative Modell (dessen Urform möglicherweise im Ahnenkult zu finden ist) gegenüber dem kausalen bevorzugt, ist die relevante Scheidelinie nicht die zwischen Transzendenz und Immanenz, sondern zwischen Virtuellem und Manifestem. Da diese als zwei Aspekte ein und derselben, stets hin- und herpendelnden Wirklichkeit aufgefasst werden, führen sie nicht zu ›disjunktiven Begriffen‹ wie Sein/Nichts, Geist/Körper, Gott/Welt, Subjekt/Objekt, Realität/Anschein, Gut/Böse usw. Da die Chinesen ein Gefühl für die dem Dualismus innewohnende Gefahr hatten, das Kreisen des Lebenshauchs in einem ausweglosen Zweikampf erstarren zu lassen, bevorzugten sie die Polarität von Yīn und Yáng, die den Wechselstrom des Lebens und das korrelative Wesen aller organischen Realität – Koexistenz, Kohärenz, Korrelation, Komplementarität … – wahrt. Daraus ergibt sich eine Sicht der Welt nicht als Menge von diskreten und unabhängigen Einheiten, die jede für sich eine Essenz darstellen, sondern als ein kontinuierliches Netz von Beziehungen zwischen dem Ganzen und den Teilen, ohne dass Ersteres Letztere transzendiert.

    Wird die Welt als Kontinuum aufgefasst, wird man eher zum Begriff eines zyklischen Rhythmus (sowohl beim natürlichen Lauf der Dinge als auch in den menschlichen Angelegenheiten) neigen als zum Gedanken eines absoluten Beginns oder einer Schöpfung ex nihilo. Auch wenn die chinesischen Texte gelegentlich auf kosmogonische Vorstellungen eines Ursprungs oder einer Genese der Welt Bezug nehmen, so wird die Welt doch überwiegend als etwas dargestellt, das sich wandelnd »von selbst so ist«. Die Überlegungen zu den Grundlagen des Universums befassen sich kaum mit den Elementen, aus denen sie aufgebaut ist, und noch weniger mit der Frage der Existenz eines Schöpfergottes: Was als ursprünglich angesehen wird, ist der Wandel. Dieser ist die Triebfeder der universellen Dynamik, das heißt des Lebenshauchs.

    Der Hauch ist eins, aber nicht als kompakte, statische, starre Einheit – ganz im Gegenteil ist er lebendig und kreist ständig. Er ist seinem Wesen nach Wandel. Hier handelt es sich um eine eigenständige chinesische Intuition. Wenn Konfuzius ohne Umschweife mit der Unterscheidung der verschiedenen Lebensalter das Gesetz der Zeit bejaht, so handelt es sich um eine Zeitlichkeit, die nicht erlitten, sondern im Gegenteil in allen Stufen ihrer Wandlung voll gelebt und akzeptiert wird und in eine Art von ›Freiheit‹ mündet – Freiheit nicht im Sinne einer Entscheidungsfreiheit, sondern einer völligen Übereinstimmung mit der Weltordnung. Eine der Kernintuitionen des Lăozǐ (besser bekannt als Tao Te King) ist, dass sich alle Dinge in ihrer Rückkehr erfüllen, welche schlechthin die »Bewegung des Dào«, das heißt des Lebens, ist. Rückkehr zur ursprünglichen Leere: Dies darf nicht als Vernichtung aufgefasst werden, sondern ist synonym mit lebendig und konstant. Lebendig deswegen, weil die Leere nicht ein Ort ist, in dem die Dinge resorbiert werden, sondern das, woraus der Hauch immer wieder neu quillt. Konstant deswegen, weil die Leere die Wandlung ermöglicht und gleichzeitig das ist, was sich nicht wandelt. In der Auslegungstradition des berühmten Buchs der Wandlungen (Yìjīng, in europäischen Sprachen oft I-king geschrieben) treffen sich Konfuzianer und Taoisten insofern, als sie beide das intuitive Verständnis des Lebenshauchs als Wandel teilen, wobei die Konfuzianer die Wandlung als »Leben, das ohne Unterlass Leben gebiert« verstehen, wohingegen für die Taoisten die Leere als Inbegriff der Virtualität paradoxerweise Wurzel des Lebens ist, während alles, was seine ›Fülle‹ erreicht hat, sich verhärtet und vergeht.¹⁴

    Beziehung und Mittigkeit

    Die Kontinuität zwischen den Teilen und dem Ganzen fließt auch in die Betrachtungen der chinesischen Denker über Beziehungen überhaupt ein. Die Beziehung ist hier nicht einfach eine Verbindung zwischen bis dahin deutlich getrennten Einheiten, sondern sie bildet die Wesen in ihrem Sein und Werden. Konfuzius beginnt damit, unsere Menschlichkeit in der Beziehung zu sehen, die uns eint, weil wir zusammenleben. Die Gegensatzpaare, die die chinesische Sicht der Welt und der Gesellschaft strukturieren (Yīn/Yáng, Himmel/Erde, Leere/Fülle, Vater/Sohn, Herrscher/Minister usw.), führen nicht zu einer dualistischen Denkweise im oben erwähnten disjunktiven Sinn, sondern zu einer ternären, da sie das Zirkulieren des Hauchs zwischen den beiden Begriffen miteinbeziehen. Die kreisende, spiralige Bewegung des Hauchs weist auf ein Zentrum hin, das zwar niemals lokalisierbar oder im Voraus feststehend, aber nichtsdestoweniger real und konstant ist.

    Das Paar Himmel/Erde ist nicht einfach die Addition zweier Begriffe, sondern es schafft, indem es die Wechselwirkung ihres Bezugs, ihr wechselbezügliches Werden impliziert, einen dritten Begriff, nämlich den der organischen, lebendigen, schöpferischen Beziehung, durch die das Paar gebildet wird. Der dritte Begriff ist in der kosmologischen Spekulation nichts anderes als der Mensch selbst, der durch seine aktive Beteiligung das kosmische Werk ›vollendet‹. Am Menschen und dem, was ihn mit dem Universum verbindet, setzen die Überlegungen der chinesischen Denker zur ›Mitte‹ (中) als dem ›dazwischen Geborenen‹ und zur Bedeutung dieser Mitte für das moralische Verhalten an.

    Die Übersetzung des Begriffs zhōng bzw. zhòng (中) als »Mitte« ist problematisch und führt leicht zu Missverständnissen. Das Wort ist sowohl Substantiv (zhōng) als auch Verb (zhòng) und bezeichnet nicht nur die räumliche Mittigkeit, sondern auch eine dynamische und wirkende Kraft. Als Substantiv ist es der richtige Weg, der die Angemessenheit von Ort und Zeitpunkt beinhaltet. Als Verb ist es die Bewegung des Pfeils, der das Ziel in der Mitte durchbohrt (was das Schriftzeichen bildlich darstellt: 中). So wie der Bogenschütze dank der Treffsicherheit seiner natürlichen, völlig mit dem Dào im Einklang stehenden Bewegung ins Schwarze trifft, so ist zhòng ungestörte Wirksamkeit der Riten. Das hat nichts zu tun mit der Sorge, die ›richtige Mitte‹ zwischen zwei Extremen zu wahren oder sich mit feigen Kompromissen, die sich mit einem ›Mittelmaß‹ begnügen, abzugeben. Das Allerparadoxeste ist, dass die Mitte von chinesischen Denkern als »Firstbalken (jí 極)« bezeichnet wurde, der ganz oben das ganze Gebäude zusammenhält und aus dem sich alles ableitet.¹⁵ Im Großen Plan des antiken Buchs der Dokumente erscheint die Mitte schon als höchste Anforderung:

    Nicht schräg, nicht voreingenommen: groß ist der Königsweg.

    Nicht voreingenommen, nicht schräg: eben ist der Königsweg.

    Kein Zurückschreiten, kein Abweichen: rechtschaffen und gerade ist der Königsweg.

    Alles in ihm mündet in der äußersten Anforderung, alles in ihm kehrt zu ihr zurück.¹⁶

    Die MITTE ist somit kein abstandsgleicher Punkt zwischen zwei Gegebenheiten, sondern eher der Pol, der uns nach oben zieht, der in jeder Lebenssituation eine Spannung schafft und aufrechterhält, durch die wir immer mehr nach dem Besten von dem streben, was zwischen uns aus unseren Beziehungen erwächst. Dies ist in den Augen der chinesischen Denker von entscheidender Bedeutung: Ohne diese Spannung, diese ständig im Wandel aufrechterhaltene Anforderung, kann die Lebensordnung, welche das Dào ist, sich nicht schaffen und nicht fortdauern. Die Mitte ist in der Tat nichts anderes als das Gesetz des Dào. In der Leere der Taoisten ist das Zentrum erkennbar, wo sich die Lebenskräfte für einen harmonischen und dauerhaften Wandel schaffen und erneuern.

    »Besser ist es, in der Mitte zu bleiben«¹⁷, sagt Lăozǐ. Statt der Versuchung zu erliegen, die Zweige – die sichtbaren und schön anzusehenden Teile – zu pflegen, ist es besser, die Wurzel des Baums zu hegen, welche, indem sie Nahrung aus der Tiefe der Erde schöpft und – komme was da wolle – gen Himmel strebt, das perfekte Bild der chinesischen Weisheit, ihres Gefühls für das Ausgeglichene und ihres Vertrauens in den Menschen und in die Welt darstellt. Das chinesische Denken muss wohl mit seinen Wurzeln und nicht mit seinen Zweigen in den geistigen Austausch mit seinen Gesprächspartnern – früher den Buddhisten, heute dem Westen – treten. Das ist der Preis seiner Erneuerung.

    ¹Simon Leys, L’Humeur, l’Honneur, l’Horreur. Essais sur la culture et la politique chinoises, Paris, Robert Laffont, 1991, S. 60–61.

    ²L’Intelligence de la Chine. Le social et le mental, Paris, Gallimard, 1994, S. 303.

    ³Gespräche VII, 1. Siehe Übersetzung von Anne Cheng, Paris, Édition du Seuil, 1981. So wie man einen chinesischen Autor nicht außerhalb der Tradition verstehen kann, die ihn trägt, so zeigt auch die Verwendung des Worts 家 jiā, »Familie« oder »Sippe«, als Bezeichnung von Denkrichtungen, dass geistige Traditionen wie Familientraditionen weitergegeben werden. Eine Lehre wird in Enzyklopädien, Gliederungen oder Katalogen nicht nach einem Autor, sondern nach einem von Generation zu Generation weitergegebenen Textkorpus definiert.

    ⁴Bibliografische Angaben haben wir daher sehr kurz gehalten und nur insofern angeführt, als sie zum Verständnis der Gedanken eines Autors beitragen können.

    Chinese Intellectuals in Crisis: Search for Order and Meaning 1890–1911, Berkeley, University of California Press, 1987, S. 10.

    ⁶Die Besonderheit des chinesischen Denkens zeigt sich viel mehr in den Anliegen, um die es geht, als in seinem theoretischen Inhalt. Es scheint daher nötig, die chinesische Ideengeschichte neuzuschreiben. Es haben sich in dieser Gattung ›Monumente‹ wie die Werke von Féng Yŏulán und Hóu Wàilú etabliert, die versuchen, die chinesische Philosophiegeschichte als Abfolge von Theorien darzustellen, und dabei vor allem nach Übereinstimmungen mit westlichen Systemen – marxistischem Materialismus, kantianischem Idealismus oder angelsächsischem Pragmatismus – Ausschau halten. Siehe Féng Yŏulán, Zhōngguó zhéxuéshĭ (Geschichte der chinesischen Philosophie) in 2 Bänden, Erstausgabe Shanghai 1931 und 1934; Hóu Wàilú et al., Zhōngguó sīxiăng tōngshĭ (Allgemeine Geschichte des chinesischen Denkens), Shanghai, Sānlián Shūdiàn, 1950. Dem Werk von Feng Féng Yŏulán war besonderer Erfolg beschieden dank der hervorragenden englischen Übersetzung von Derk Bodde, A History of Chinese Philosophy, 2 Bände, Princeton University Press, 1952–1953; stark zusammengefasst und gekürzt auf Französisch, Précis d’histoire de la philosophie chinoise, Éd. du Mail, 1985. Zur komplexen Geschichte der verschiedenen Fassungen von Féng Yŏuláns Philosophiegeschichte siehe Michel Masson, Philosophy and Tradition. The Interpretation of China’s Philosophic Past: Feng Yu-lan 1939–1949, Taipei, Paris, Hongkong, Institut Ricci.

    Auf Englisch verfügen wir außerdem über ebenso monumentale, jedoch stärker auf die Texte ausgerichtete Zusammenstellungen: W. T. Barry, Chan Wing-tsit und Burton Watson, Sources of Chinese Tradition, New York, Columbia University Press, 1960, und Chan Wing-Tsit, A source Book in Chinese Philosophy, Princeton University Press, 1963. Auf Französisch hat Marcel Granet den Weg der thematischen Untersuchung mit einem klassisch gewordenen, aber etwas veralteten Werk eröffnet: Marcel Granet, La Pensée chinoise, 1934, Neuausgabe Albin Michel, 1986, auf Deutsch: Das chinesische Denken. Inhalt – Form – Charakter, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1963. Jacques Gernet zeichnet die Ideengeschichte des klassischen Chinas in einer allgemeineren historischen Zusammenschau: Le monde chinois, Paris, Armand Colin, 1972, 4., überarbeitete und erweiterte Neuauflage 1999.

    Auf Deutsch: Alfred Forke, Geschichte der alten chinesischen Philosophie; Geschichte der mittelalterlichen Philosophie; Geschichte der neueren chinesischen Philosophie. Neudruck Hamburg: Cram, de Gruyter und Co. 1964; Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück. Paradiese, Utopien, Idealvorstellungen. München: Hanser 1971; Geschichte der chinesischen Philosophie (hrsg. von Hans van Ess) München: C. H. Beck, 2001; Heiner Roetz und Hubert Schleichert, Klassische chinesische Philosophie. Eine Einführung, Frankfurt a. M., Klostermann, 2009.

    ⁷François Châtelet, »Du mythe à la pensée rationnelle«, in: Pierre Aubenque, Jean Bernhardt, François Châtelet, Histoire de la philosophie: La philosophie païenne (du VIe siècle av. J.-C. au IIIe siècle apr. J.-C.), Paris, Hachette, 1972, S. 17.

    ⁸Zitierte Meinung in Gilles Deleuze, Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie? Paris, Éd. de Minuit, 1991, S. 90.

    ⁹Siehe »De la philosophie en Chine à la ›Chine‹ dans la philosophie: Existe-t-il une philosophie chinoise?«, Esprit Nr. 201 (Mai 1994), S. 5–38. »Y a-t-il une philosophie chinoise? Un état de la question«, Extrême-Orient, Extrême-Occident n° 27 (2005).

    ¹⁰Aus diesem Grund erschien es uns wichtig, dem Leser zumindest einige wenige chinesische Schriftzeichen, deren Gestalt zum Verständnis der dargestellten Begriffe entscheidend ist, zu zeigen. Zur chinesischen Schrift können insbesondere zu Rate gezogen werden: Viviane Alleton, L’Écriture chinoise, Presses Universitaires de France, collection »Que sais-je?«, 1970, 6. überarbeitete Auflage 2002 (von derselben Autorin in derselben Reihe: Grammaire du chinois, 1973, 3., überarbeitete Auflage 1997); Jean François Billeter, L’Art chinoise de l’écriture. Essai sur la calligraphie, Genf, Skira, 1989, Neuauflage Skira/Seuil, 2001; William G. Boltz, The Origin and Early Development of the Chinese Writing System, New Haven (Conn.), American Oriental Society, 1994; Qiu Xigui, Chinese Writing, aus dem Chinesischen übersetzt von Gilbert L. Mattos & Jerry Norman, Berkeley, 2000.

    ¹¹Zitiert in: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie, S. 90–91. Es sei erinnert an die Feststellungen von Benveniste über die entscheidende Bedeutung des Verbs ›sein‹ bei der Ausarbeitung des ontologischen Denkens in den indoeuropäischen Sprachen. Siehe zu diesem Thema den wichtigen Artikel von Angus C. Graham, »›Being‹ in Western Philosophy Compared with shih/fei and you/wu in Chinese Philosophy«, Asia Major, Neue Serie, 8, 2 (1961), S. 79–112.

    ¹²Zur Frage der semantischen Wahrheit: Chad Hansen, »Chinese Language, Chinese Philosophy and Truth«, Journal of Asian Studies, 44, 3 (1985), S. 491–520; und die Kritik von Christoph Harbsmeier, »Marginalia Sino-logica«, in: Robert E. Allinson, Understanding the Chinese Mind: The Philosophical Roots, Oxford University Press, 1989, S. 155–161.

    ¹³Zhuāngzĭ 25 und 17, Ausgabe Zhuāngzĭ jíshì von Guō Qìngfān, in der Reihe ZZJC, S. 396 und 258. Zu Zhuāngzĭ siehe Kapitel 4.

    ¹⁴Zu Konfuzius, Lǎozǐ und dem Buch der Wandlungen siehe die Kapitel 2, 7 und 11.

    ¹⁵Siehe zum Beispiel Chéng Yí (Philosoph des 11. Jhds., siehe Kapitel 18), Yíshū 19, in: Èr Chéng jí. S. 256.

    ¹⁶Siehe Séraphin Couvreur, Chou King, les annales de la Chine, Neuauflage Cathasia, 1950, S. 201. Zum Großen Plan (Hóngfàn), ein Kapitel des Buchs der Dokumente (Shūjīng), siehe Kapitel 10, Fußnote 20.

    ¹⁷Lǎozǐ 5.

    Die antiken Grundlagen des chinesischen Denkens

    (2. Jahrtausend – 5. Jahrhundert v. Chr.)

    Was üblicherweise als chinesisches Altertum bezeichnet wird, umfasst in den Texten drei große Dynastien vor allem in Nord- und Zentralchina: Xià, Shāng und Zhōu. Ihre Herrschaften folgten gemäß der rückblickenden traditionellen Geschichtsschreibung geradlinig chronologisch aufeinander. Es ist jedoch sicherlich sinnvoller, hinter diesen Dynastien nebeneinander wohnende Kulturkreise oder Zweige eines gemeinsamen kulturellen Stamms zu sehen.¹ Zwei wichtige Eigenarten scheinen diese Kulturen zu teilen: Die herrschenden Geschlechter lebten verschanzt in befestigten Städten, und es wurden Lehen an Angehörige der königlichen Familien verteilt. An die mehr oder weniger legendäre Dynastie der Xià, die die traditionelle Geschichtsschreibung im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung beginnen lässt,² schloss sich etwa im 18. Jahrhundert die historisch gesicherte Dynastie der Shāng (auch Yīn genannt) an, die, wie archäologische Funde bezeugen, schon eine subtile Kultur und ein sehr ausgebildetes politisches und religiöses System besaß.

    Etwa im 11. Jahrhundert v. Chr. wurde der Kulturkreis der Shāng von dem rohen, kulturell weniger hochstehendem Kriegervolk der Zhōu, das am westlichen Rand der damaligen chinesischen Welt lebte, überrannt. Die Macht der Zhōu war unter ihrem König Wén schnell angewachsen und so konnte sein Sohn Wŭ um das Jahr 1000 v. Chr. die Shāng-Herrscher stürzen und seine eigene Dynastie errichten, die acht Jahrhunderte bis zur Errichtung des zentralisierten Reichs durch die Qín im 3. Jahrhundert v. Chr. andauern und eine grundlegende Rolle für die gesamte weitere chinesische Geschichte spielen sollte.³

    Die Anfangsperiode der Zhōu-Dynastie war eine relativ friedliche Zeit, die vom 11. bis zum 8. Jahrhundert reichte und als Westliche Zhōu-Dynastie bezeichnet wird, zur Unterscheidung gegenüber der sich anschließenden Verfallszeit der sogenannten Östlichen Zhōu-Dynastie. Die Zeit der Westlichen Zhōu-Dynastie steht in der chinesischen Tradition als politisches Modell in höchstem Ansehen, vor allem in der konfuzianischen Geistesrichtung, für die sie das Goldene Zeitalter schlechthin darstellt. Im Zentrum der mythischen Aufarbeitung der Zhōu-Dynastie durch die Konfuzianer stehen die Gründerkönige Wén und Wŭ (posthume Kunstnamen, die für kulturelles Raffinement – 文 wén – und kriegerische Macht – 武 – als sich gegenseitig ergänzende Symbole stehen) und der Herzog von Zhōu, der als Regent seines jungen Neffen, des späteren Königs Chéng, regierte, ihm dann die Macht übergab und damit die freiwillige Machtabtretung symbolisiert, die ein wichtiges Ideal des konfuzianischen politischen Denkens darstellt. Betrachten wir, wie die Regentschaft des Herzogs von Zhōu in der konfuzianischen Geschichtsrekonstruktion idealisiert beschrieben wird:

    Zhoùxīn, letzter Herrscher der Shāng, stürzte die Ordnung des Universums um. Er trieb sein Unwesen so weit, dass er den Feudalherrschern den Markgrafen Guǐ als Trockenfleisch zum Verzehr auftafelte. Deswegen half der Herzog von Zhōu König Wŭ, diesen letzten Herrscher der Shāng zu stürzen. Als König Wŭ starb, war König Chéng [sein Sohn] noch jung und schwach. Der Herzog von Zhōu nahm daher die Stellung des Himmelssohns ein, um die Ordnung im Universum aufrechtzuerhalten. Sechs Jahre lang huldigten ihm die Feudalherren im Lichtpalast, und er regelte die Riten, schuf Musik, ordnete Maße und Proportionen an, sodass sich ihm das Universum ganz unterwarf.

    Sehen wir vom Legendären ab, scheint die Ordnung der Zhōu auf drei Pfeilern geruht zu haben: Königtum, Erblichkeit der Ämter und Titel und die einigende Macht eines religiösen Systems, in dessen Mittelpunkt der König und die Gottheit, auf die er sich beruft – der Himmel (tiān 天) – stehen. Die Zhōu schufen anscheinend zu Beginn nach ihrem Sieg über die Shāng Lehen und übergaben sie Mitgliedern ihrer Familie und verbündeter Sippen, um ihre Macht in den eroberten Gebieten zu festigen. Die Feudalherrscher hatten insbesondere das Recht, den Gründern ihrer Herrschaftshäuser einen Kult zu widmen, so wie der Herrscher der Zhōu-Dynastie ihn dem Urahnen seines Königshauses widmete. Die politische Organisation und Struktur hängt somit eng vom System der Ahnen- und Familienkulte ab. Hier mag der Ursprung der Vorstellung des Staats als Familie liegen – noch im modernen Chinesisch wird der Staat Guójiā (wörtlich ›Landesheim‹) genannt.

    Das ›Feudalwesen‹ der Zhōu kann als Pyramide dargestellt werden, an deren Spitze der König (wáng 王) oder ›Sohn des Himmels‹ (tiānzǐ 天子) steht. Über ihm steht nur der Himmel, und er allein hat das Recht, den Ahnen der Dynastie und der höchsten Gottheit zu opfern. Er verfügte über eine königliche Domäne, die am Mittellauf des Gelben Flusses (in der Gegend der heutigen Städte Xī’ān und Luòyáng) lag und in der er direkt herrschte. Das sogenannte Feudalwesen dieser Zeit ruht auf dem Grundsatz der Machtübertragung, indem der König einen Teil seiner Macht an seine Vasallen delegiert, deren politische Rolle umso wichtiger ist, je näher sie mit der Königsfamilie verwandt sind, was die Vermischung von politischen und familiären Strukturen bestätigt.

    Einige Elemente der archaischen Kultur verdienen es, besonders hervorgehoben zu werden: Dies sind zunächst einmal die Schriftzeichen, die ursprünglich vor allen Dingen der Wahrsagerei dienen (Inschriften auf Knochen oder Schildpatt, aus denen sich auch die Symbole des Buchs der Wandlungen ableiteten). So entwickelte sich in China eine Art von Rationalität, die in der besonderen Rolle der Wahrsagerei wurzelt. Ein weiteres wichtiges Element ist der erwähnte Kult der Königsahnen, der in China sehr früh eingesetzt zu haben scheint und der in großem Maße die Bedeutung der Sippen- und Familienstrukturen in der chinesischen Kultur erklärt. Schließlich eine Tendenz zur Kosmologisierung der Weltsicht, die den Übergang von den Shāng zu den Zhōu trotz vieler kontinuierlicher Elemente auszeichnet: Aus dem Gedanken eines persönlichen höchsten Gottes oder Urahns wird unter den Zhōu der unpersönlichere Begriff des Himmels als normative Instanz des kosmischen Prozesses und, parallel dazu, des menschlichen Verhaltens.

    Wahrsagerische Rationalität

    Wie mögen wohl die Chinesen zur Zeit der Shāng und Zhōu gedacht haben? Die ältesten schriftlichen Zeugnisse, über die wir verfügen, reichen bis zum Beginn des zweiten Jahrtausends zurück. Es handelt sich um wahrsagerische Inschriften auf Schulterblättern von Schafen und Rindern und auf Schildkrötenpanzern. An diesen wurden Aushöhlungen vorgenommen und mit brennenden Holzscheiten berührt, wodurch Risse entstanden, die es zu deuten galt. Die Fragen wurden an ganz bestimmten Stellen der Knochen oder Panzer eingeritzt. Später, ab Beginn der Zhōu im 11. Jahrhundert, wurden Bronzegefäße als Schreibunterlage bevorzugt.⁶ Die Schriftzeichen, die wir auf diesen alten Inschriften vorfinden, enthalten die typischsten Eigenschaften der chinesischen Schrift und Rationalität, welche auch später niemals ihre in der Wahrsagerei liegenden Wurzeln verlieren sollten. Nach Léon Vandermeersch beruht diese wahrsagerische Rationalität »auf einer Logik der Formen, einer Morpho-logie. Die Beziehungen eines Ereignisses zu einem anderen werden in der Wahrsagerei nicht als eine Kette von Ursachen und Zwischenwirkungen aufgefasst, sondern als ein Wechsel einer Diagrammkonfiguration, als Zeichen einer globalen Änderung des Zustands des Universums, welche für jedes noch so geringe Ereignis nötig ist. […] Die wahrsagerische Rationalität steht so im Gegensatz zur theologischen Rationalität, die jedes Ereignis als Ergebnis eines göttlichen Willens, der die Mittel in Hinblick auf transzendente Ziele gestaltet, in eine Teleo-logie einordnet, was zur Beschäftigung mit dem Verhältnis von Mittel und Ziel, das heißt zwischen Ursachen und Wirkungen, führt.«⁷ Es mag paradox erscheinen, von ›wahrsagerischer Rationalität‹ zu sprechen und diese für unser heutiges Denken unvereinbaren Begriffe zusammenzufügen, aber, wie Jean-Pierre Vernant schreibt, »in Gesellschaften, in denen die Wahrsagerei nicht wie bei uns eine Randerscheinung oder Absurdität, sondern ein normales, oft sogar obligatorisches Verfahren darstellt, erscheint den Menschen die Logik der Wahrsagerei nicht als fremdartig und die Rolle des Wahrsagers als unanfechtbar. Die wahrsagerische Rationalität bildet in diesen Kulturen keinen Sonderbereich, der den Argumentationsweisen des Rechts, der Verwaltung, der Politik, der Medizin oder des täglichen Lebens entgegenstehen würde. Sie reiht sich schlüssig in das gesamte Denken der Gesellschaft ein, sie gehorcht in ihrer Denkweise analogen Regeln, so wie sich auch die Stellung des Wahrsagers präzise in die Hierarchie aller für das Leben der Gruppe verantwortlichen Ämter einfügt.«⁸ Die Wahrsagerei im China der Shāng-Zeit fügt sich umso besser ins tägliche Leben ein und ist umso kompatibler mit der Rationalität, als ihre Orakelsprüche sehr klar und nüchtern sind in der Art: »Es wird regnen« oder »Es wird nicht regnen«, »Die Ernte wird gut sein« usw. Sie ähneln ganz und gar nicht den Orakelsprüchen der Pythia, und das Zufällige des Wahrsagens wird nicht in eine sibyllinische Sprache gehüllt, die es anschließend richtig zu entschlüsseln gälte, sondern hier steht einfach die Wahl zwischen Ja und Nein. So sind auch viele Orakelanfragen als zwei parallele Aussagen formuliert, eine bejahende und eine verneinende: »Der König sollte sich mit jenem Stamm verbünden« und »Der König sollte sich nicht mit jenem Stamm verbünden«. Der Mensch stellt hier vor eine klare Alternative und die göttlichen Mächte können nur mit Ja oder Nein antworten. Der Dialog zwischen dem Menschen und dem Göttlichen ist prosaisch nüchtern. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, mit dem Übernatürlichen zu kommunizieren, in Trance zu geraten oder den natürlichen Verlauf des bewussten Denkens auf welche Weise auch immer aufzuheben.

    Ahnenkult

    Die zentrale Rolle der Wahrsagerei in der antiken chinesischen Kultur muss zum Kult der Ahnen in Bezug gesetzt werden, denen der Großteil des religiösen Lebens der Shāng gewidmet war. Es gab Kulte für verschiedene Naturkräfte wie den Gelben Fluss, die nährende Erde, manche Berge, Winde oder die Himmelsrichtungen, aber die meisten Opfer- und Wahrsagehandlungen richteten sich an die Königsahnen. Während der Kult der Naturkräfte als buntes Wirrwarr erscheint, war der Kult der Königsahnen sehr ausgestaltet.

    Auch wenn der Ahnenkult vielleicht aus einem prähistorischen Totenkult entstanden ist, ist er nicht damit gleichzusetzen. Die Ahnen werden zwar als in der Welt der Toten lebende und dadurch zur Vermittlung mit den übernatürlichen Kräften fähige Geister angesehen, aber sie bewahren auch eine organische Verbindung mit ihrer lebenden Nachkommenschaft. Über die Leben und Tod scheidende Grenze hinaus spielen sie weiter eine Rolle als Mitglieder ihrer Familiengemeinschaft, und ihre Stellung in der Familie verliert nichts von ihrer Bedeutung. Anders ausgedrückt sind die Beziehungen, die die verstorbenen Vorfahren mit den Lebenden verbinden, nicht wesentlich verschieden von den Beziehungen zwischen den Lebenden. Es besteht kein Bruch zwischen den religiösen Opfern, die den Ahnen dargebracht werden müssen, und den rituellen Regeln, die gegenüber Lebenden eingehalten werden müssen. Der Ahnenkult ist gerade als religiöse Erscheinung Ausdruck der Verwandtschaftsgruppe als Paradigma der gesellschaftlichen Organisation, und dies ist sicherlich der Grund, warum er über seine eigentlich religiöse Funktion hinaus in China zur Entwicklung einer bestimmten Konzeption der gesellschaftspolitischen Ordnung beitrug.

    Der Ahne ist in der damaligen Vorstellungswelt weniger ein Geist im Jenseits als eine Stellung oder Rolle in der Familie. Er geht so sehr in dieser Rolle auf, dass er fast völlig ohne persönliche Geschichte und individuelles Schicksal erscheint. Sein mythisches Potential ist daher ziemlich gering, und die Mythenarmut der religiösen Kultur Chinas könnte sich durchaus nicht nur dadurch erklären, dass die konfuzianischen Überlieferer alte Mythen bewusst verschwiegen hätten, sondern auch durch das Wesen der Vorstellungen von den Ahnen und des Ahnenkults, die die Grenze nicht nur zwischen Leben und Tod, sondern auch zwischen Menschlichem und Göttlichem durchlässig machten.

    Diese Durchlässigkeit wurde vorschnell mit der Theorie des Euhemerismus der antiken griechischen Mythologie in Verbindung gebracht, das heißt der Erhebung echter Menschen früherer Zeiten zu Göttern oder Halbgöttern. In China handelte es sich jedoch, wie Derk Bodde sagte, eher um »eine Transformation von Mythen und Göttern in scheinbar wahre Geschichten und in Menschen«⁹. So paradox es auch erscheinen mag, hat dieser Vorgang in der chinesischen Mentalität die Tendenz zum Anthropomorphismus der Griechen, die den Gottheiten Eigenschaften des Menschen – als individuellen, schöpferischen, kurz, freien Wesen – zuschrieben, nicht begünstigt. Die Gottheit, die die Gestalt des Ahnen annimmt, zeichnet sich nicht durch freien oder gar launischen Willen aus, sondern wird in ihrer Stellung wahrgenommen und in die Familienordnung, die als Grundlage jeglicher Harmonie aufgefasst wird, eingefügt.

    Ritualisierung des religiösen Bewusstseins

    Die Opferriten, die an die Ahnen gerichtet wurden, um ihre Fürsprache beim höchsten Wesen zu erbitten, waren präzise und peinlich genau, fast bürokratisch gestaltet und nichts wurde dem Zufall oder gar übernatürlichen Fantasievorstellungen überlassen. Die Ahnen, deren ›Gerichtsbarkeiten‹ Gefahr liefen, sich zu überschneiden, wurden nach Generation und Altersrang geordnet und ihre Opfer folgten einem kompliziert ausgearbeiteten Zeitplan. Die Rolle der Wahrsagerei beschränkte sich dabei darauf, Anzahl und Art der einem bestimmten Ahnen an einem bestimmten Tag darzubringenden Opfer zu bestimmen. Gegen Ende der Shāng bestand ihre Rolle sogar nur noch darin, die Ahnen zu unterrichten, dass ein Opfer in Gang sei, und den Wunsch auszudrücken, dass dabei kein Fehler unterliefe oder Unglück geschehe.

    Mit Wahrsagerei wurde damals in China in gewisser Weise nicht so sehr versucht, die Absichten der Geister zu erraten, um zu wissen, ob sie einen bestimmten Wunsch erfüllen, sondern es ging mehr darum, dafür zu sorgen, dass er erfüllt wird. Sie ist ein Mittel, den Ahnen die Wünsche der Menschen mitzuteilen, und die Tatsache, dass die Geister die Wünsche zur Kenntnis genommen haben, wirkt beruhigend. Der Wahrsager befragt die Geister nicht eigentlich, sondern beobachtet ihre Reaktion auf eine Opfergabe. Sein Können besteht nicht darin, Antwort auf eine gestellte Frage, sondern Zeichen der mysteriösen Wirkungen seiner vermeintlichen Handlungen zu erhalten. Das – nebenbei bemerkt sehr komplizierte – Einritzen der Fragen auf die Knochen oder Schildkrötenpanzer scheint in der Tat eine solche beschwörende Funktion gehabt zu haben. So erstaunlich dies auch erscheinen mag, so ist die Wahrsagerei der ausgehenden Shāng-Zeit kein Erkunden des Unbekannten, sondern ihre zu einem schon vorher abgesteckten Bereich gestellten Fragen könnten als rhetorisch bezeichnet werden. Die Wahrsagerei ist in China nicht prophetisch, sondern rituell. So gesehen ist sie in China weniger ein Kind der Magie als der Religion, und dies erklärt sicherlich, warum sie die religiöse Mentalität so tief beeinflusst hat.

    Dadurch, dass der Ahnenkult vom Vaterkönig oder Familienoberhaupt ohne die Hilfe einer spezialisierten Priesterkaste ausgeführt wird und dass die Wahrsagerei, nachdem sie als Zutat nach dem Opfer ausgeführt wurde, diesem schließlich vorangeht und dessen Ablauf bestimmt, trennt sich die Wahrsagerei zunehmend vom eigentlich religiösen Aspekt der Opferhandlung und es wird ihr eine rituelle Form und Funktion zugewiesen. Diese rituelle Formalisierung beginnt zu Ende der Shāng-Zeit und festigt sich in der Zeit des Übergangs zur Zhōu-Dynastie. Die weltliche Kultur der Zhōu kann in diesem Sinn als rationalisiertes Erbe der magisch-religiösen Kultur der Shāng aufgefasst werden. Studiert man die Orakel, kommt man zu der Vermutung, dass verhängnisvolle Ereignisse nicht mehr so sehr als Ergebnis launischer, boshafter Absichten verstorbener Ahnen, sondern als Folge der Taten ihrer lebenden Nachfahren ausgelegt wurden, die man mit einem schlüssigen System religiöser Werte berücksichtigen konnte. Aus dieser immer vorhandenen Möglichkeit einer Kommunikation zwischen der Welt der übernatürlichen Kräfte, welche die Ahnen sind, und der Welt der Lebenden entspringt vielleicht die Vorstellung einer Kontinuität zwischen Himmlischem und Menschlichem, die wir später bei den antiken chinesischen Denkern wiederfinden werden.

    Vom ›Herrscher oben‹ zum ›Himmel‹

    Die Orakelinschriften zeigen, dass es über den Naturgeistern und den Manen der Ahnen, die anscheinend eine Vermittlerrolle spielten, ein allmächtiges höchstes Wesen gab, das der ganzen Natur befiehlt und den Menschen seinen Willen aufzwingt. Er wurde 帝 (oder Shàngdì 上帝 ›Oben-Herrscher‹) genannt, ein Wort, das später die Missionare aufgriffen, um den Begriff ›Gott‹ wiederzugeben. Die neueren Untersuchungen sind sich einig, dass die Vorstellung von dieser Gottheit mit der Herrschaft der Shāng aufkommt, deren letzte Herrscher sich in einem offensichtlichen Streben nach Apotheose selbst den Titel zulegten. So wurde das Wort zur Bezeichnung einer Herrschaftsform, die über dem normalen Königtum steht, was im Französischen üblicherweise mit dem Wort ›Empereur‹ und im Deutschen mit ›Kaiser‹ wiedergeben wird. Der Titel war zunächst den antiken mythischen Herrschern vorbehalten, bis der König von Qín sich bei der Einigung Chinas im Jahr 221 v. Chr. anmaßte, ihn zu führen, indem er sich ›Erster Erhabener ‹ nannte. Diese Verwendung des Titels »Erhabener « wurde von den Herrschern der damit beginnenden sogenannten Kaiserzeit mehr als zwanzig Jahrhunderte lang beibehalten.

    Der Ahnenkult ist bei den Shāng ein Vorrecht des Königs: Nicht nur, dass er allein seinen Ahnen einen Kult darbringen darf, sondern er ist Priester für alle, denn er vollzieht den Kult für Ahnen, die ebenso seine wie die der ganzen Gemeinschaft sind. Daher kommt es, dass es keine unabhängige Priesterkaste gibt, was zeigt, wie sich die Politik schon seit den Shāng des Religiösen annahm. Das Vorrecht des Königs, den Willen der Ahnengeister durch Wahrsagerei zu bestimmen und durch Gebete und Opfer zu beeinflussen, legitimiert die Konzentration der gesamten politischen Macht in seinen Händen. Der Gedanke, dass der eine Gott in der menschlichen Ordnung sein Gegenstück in einem Universalherrscher hat – direkte Folge des lückenlosen Zusammenhangs zwischen der Welt der Ahnen und der Welt der Lebenden – wird im politischen Denken und Tun bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundlegend bleiben.

    Die herausragende Bedeutung des Ahnenkults im antiken China führte zu einer kosmogonischen Vorstellung, die weit mehr auf einem Modell organischer Fortpflanzung als auf einem Kausalitätsmodell oder einer Schöpfung ex nihilo durch eine transzendente Macht gründet. Als der Ahne schlechthin erscheint die höchste Gottheit nicht als allmächtiger Schöpfer oder Erstbeweger, sondern als Ordnungsinstanz und Achse zwischen der kosmischen Welt, die aus Wesen und Energien in harmonischer Wechselwirkung besteht, und der Welt der Menschen, die von einem gesellschaftspolitischen Netz familiärer und hierarchischer Beziehungen und rituellen Verhaltensvorschriften gelenkt wird.

    Die Ordnung, um die es sich hier handelt, ist kein rationales Prinzip, die das Irrationale und Übernatürliche ausschließen würde, sondern ein Begriff, der alle Aspekte der menschlichen Erfahrung und dessen, was über dem Menschen ist, umfasst, wodurch er jedoch dessen mythisches und eigentlich religiöses Potential klein werden lässt. Der Übergang von den Shāng zu den Zhōu stellte diesbezüglich eine Transformation des religiösen Bewusstseins dar, das schrittweise zu einem rituellen Bewusstsein wesentlich kosmologischer Art wird. Dieser Wandel lässt sich an gewissen Zeichen erkennen wie dem fehlenden Sinn für Gebet und für theologische Systematisierung der Mythen. Wir sprachen schon über die Mythenarmut des alten China, zumindest insoweit uns die alten Mythen überliefert sind. Dies geht so weit, dass wir uns (in Anlehnung an den Buchtitel von Paul Veyne¹⁰) fragen können, ob die Chinesen an ihre Mythen wirklich glaubten. In China scheint die Kosmologie sehr früh eine wichtigere Stellung als die Kosmogonie eingenommen und die Mythen verdrängt zu haben. Wenn es wahr ist, dass der Mythos Hand in Hand mit einer gewissen Form von religiösem Denken geht, dann wäre die Verdeckung der Mythen in der chinesischen Kultur zu dem geistigen Umbruch in Beziehung zu setzen, der sich in dem Übergang von einem religiösen zu einem kosmologischen Denken zur Zeit des Wechsels von der Shāng- zur Zhōu-Dynastie äußert. Die Inschriftenfunde zeigen eine fast systematische lexikalische Verschiebung von (höchste Gottheit) zu Tiān (Himmel). Dieser Himmel ist »immer weniger transzendent im Sinne einer Welt oberhalb der Menschen, die von Geistern bevölkert wäre, die die Naturkräfte lenken. Er bleibt nur als normative Transzendenz gegenüber dem, was ihm unterworfen ist, die Transzendenz des Urprinzips gegenüber den zehntausend Wesen, die aus ihm hervorgehen.«¹¹ Der Himmel äußert sich zwar weiter als aktiver Wille, aber er wird immer mehr als Quelle und Garant einer rituellen Ordnung und einer prästabilierten Harmonie aufgefasst.

    Die von den Zhōu eingerichtete Ordnung stützt sich auf eine ziemlich klare politisch-religiöse Botschaft. Sie setzen die höchste Gottheit ihrer Vorgänger, den ›Herrscher dort oben‹, mit ihrer eigenen höchsten Gottheit, dem Himmel, gleich und weisen damit jegliches Verwandtschaftsverhältnis zwischen der Gottheit und einem bestimmten Königsgeschlecht zurück. Auch hier scheint die Änderung der Wortwahl bewusst zu sein: Aus den ›Befehlen des Herrschers dort oben‹ wird der ›Auftrag des Himmels‹ (tiānmìng 天命). Dieser berühmte Gedanke des Himmelsmandats, welcher Grundlage der gesamten politischen Theorie in China ist, wurde erstmals von den Zhōu in Anspruch genommen, um ihren Umsturz der vorhergehenden Dynastie zu rechtfertigen: Weil die letzten Herrscher der Shāng-Dynastie nicht mehr würdig waren, zu regieren, habe der Himmel die Zhōu beauftragt, sie zu strafen und zu ersetzen.

    Die Machtausübung war somit nicht mehr einem bestimmten Geschlecht allein durch erbliche Übertragung vorbehalten, wie es seit der Gründung der Dynastie Xià durch Yŭ den Großen der Fall gewesen sein soll. Das Himmelsmandat konnte sich ändern und von einem Geschlecht auf ein anderes, des Regierens würdigeres übergehen. Der Ausdruck ›Wechsel des Mandats‹ (gémìng 革命) wurde von den fortschrittlichen Denkern des 19. Jahrhunderts eingesetzt, um den Begriff der ›Revolution‹ zu übersetzen. Es ist bezeichnend, dass schon eine der allerersten Gedankenkonstruktionen über den Himmel politische Tragweite hatte: In China ist die Ausgestaltung des Universums auch und in erster Linie Ausgestaltung des menschlichen Raums, gesellschaftliche und kosmische Ordnung treffen zusammen und verschwimmen.¹²

    Ordnung und Ritus

    Unter welchem Blickwinkel – Verwandtschaftssystem, Religionsausübung, politische Organisation – wir das Denken im antiken China auch betrachten, so zeigt sich eine starke Vorliebe für Ordnung oder besser für das Ordnen aus. Ordnung hat den Rang eines höchsten Gutes inne. Ordnung wird mit dem Begriff liĭ 理 (hier anders als in der üblichen Umschrift mit geschrieben, um ihn von den homophonen Riten zu unterscheiden) ausgedrückt, der ursprünglich die natürlichen Äderungen der Jade bedeutet haben soll. Der Begriff drückt eher eine rituelle als eine objektive, teleologische Ordnung aus: »Während das griechische Denken vom Geist des Töpfers geprägt ist, der mit der formlosen Lehmmasse arbeitet, sie zunächst schön knetbar macht und dann ganz seiner Idee entsprechend

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