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Die Boten des Bösen
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Die Boten des Bösen
eBook570 Seiten6 Stunden

Die Boten des Bösen

Von Kortum

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Über dieses E-Book

Kriege sind so alt wie die Menschheit selbst und Gewalt ist eben Teil unserer Natur, so die gängige Meinung. "Das Gegenteil ist der Fall!", meint R. G. Kortum in dieser aufrüttelnden, etwas anderen Geschichte der Menschheit. Das Patriarchat, die Ausbeutung und Versklavung von Menschen seien eine "recht junge Erfindung", denn die längste Zeit ihrer Geschichte hätten Menschen friedlich, egalitär und kooperativ zusammengelebt. Bis indoeuropäische Invasoren ab vor ca. 6.000 Jahren in mehreren Wellen über u.a. Europa, den Nahen Osten und Indien hinwegfegten – mit verheerenden Konsequenzen bis heute.
Basierend auf den wegweisenden Forschungen der Archäologin Marija Gimbutas wie auf neuesten Erkenntnissen der Populationsgenetik stellt dieses Buch herkömmliche Konzepte über unser Menschsein radikal in Frage. In einer beeindruckenden Reise durch die Frühgeschichte der Menschheit bis zu den ersten Hochkulturen werden hier gänzlich neue Perspektiven aufgezeigt – auch für unsere Zukunft auf dem Planeten Erde.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Okt. 2023
ISBN9783384049520
Die Boten des Bösen
Autor

Kortum

R. G. Kortum forscht seit vielen Jahren zum Thema Gewalt sowie Entstehung von Hierarchien und verfolgt einen innovativen Ansatz, der anhand von fächerübergreifenden Studien aus den Bereichen Archäologie, Genetik sowie Sprachwissenschaft zu verblüffend neuen Erkenntnissen gelangt.

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    Buchvorschau

    Die Boten des Bösen - Kortum

    EINLEITUNG

    DIESES BUCH IST DURCH eine Reihe von Zufällen entstanden. Ich lese gern und interessiere mich immer wieder eine Zeitlang für ein bestimmtes Thema, um dann ein anderes interessant zu finden. Und so begegnete mir eines Sommers ein Werk von Marija Gimbutas, eine Archäologin, die bereits in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts die These vertrat, dass die Menschen im Neolithikum matrifokal (in mütterzentrierten Familienstrukturen) und egalitär gelebt hätten. Nachdem ich mir einige ihrer schweren Bildbände angesehen und mitsamt ihren sehr nüchternen Erklärungen gelesen hatte, stellte ich für mich fest, dass sich dies alles sehr plausibel anhörte, doch wohl ohne weitere Beweise sich diese Meinung nicht durchsetzen würde.

    Im Winter des gleichen Jahres begann ich mich wieder mit den verschiedenen Religionen auseinanderzusetzen. Ich nahm ein Interesse wieder auf, das ich bereits im Alter von 17 Jahren verfolgt hatte. Ich war gespannt, wie ich die Dinge jetzt nach so vielen Jahren beurteilen würde. Zuerst nahm ich mir die sieben großen Weltreligionen vor. Von diesen sieben Weltreligionen sind drei abrahamitische Religionen und drei eher philosophischen Ursprungs, die siebente, der Hinduismus, ist eine Mischung aus Polytheismus und Yoga-Praktiken. Auffällig ist, dass sie alle vor ca. 2.500 Jahren entstanden sein sollen, in der sogenannten Achsenzeit, ein Begriff, der von Karl Jaspers 1945 bis 1949 mitgeprägt wurde. Von dieser Achsenzeit wird behauptet, dass die Menschheit hier von Griechenland bis nach China einen evolutionären Sprung gemacht haben soll. Das fand ich merkwürdig, denn die Gegenden, in denen diese Religionsgründungen stattfanden, waren meines Wissens nach alle auf einem unterschiedlichen kulturellen Entwicklungsniveau gewesen. Ich vermutete, dass es wohl ganz sicher einen anderen, einen triftigeren Grund für diese »Gleichzeitigkeit« geben müsste!

    Als ich dann im darauffolgenden Frühjahr das schmale Buch von Svante Paäbo zur Entschlüsselung des Neandertaler-Gens, Die Neandertaler und wir, und das des Populationsgenetikers David Reichs, Who we are and how we got here, gelesen hatte, begannen plötzlich die verschiedenen Themen wie kleine Zahnräder ineinander zu greifen. Genetik, Marija Gimbutas Aussagen, die Weltreligionen – alles schien plötzlich in weiten Teilen irgendwie zueinanderzupassen. Also machte ich mich auf den Weg. Erst erkundete ich die Gebiete der indoeuropäischen Sprachen, also Europa und Indien, weitete meine Lektüre aus, bis ich meine Kernfragen formulieren konnte: Wann nahmen in der Geschichte der Menschheit eigentlich Hierarchien, Menschenopfer, Gewalt und Krieg ihren Anfang? Was war davor, was kam danach und gab es einen gemeinsamen Auslöser für all diese Entwicklungen?

    Die gängigen Forschungen zu Patriarchat, Hierarchien und der Entstehung von Kriegen und Gewalt gehen davon aus, dass diese mit dem Ackerbau entstanden seien aufgrund der vermeintlich damit einhergegangenen Entstehung von Eigentum. Es wurde und wird nach wie vor also alles primär durch die »Brille« Ackerbau gesehen. Dieser führte zu Eigentum und Eigentum zu Hierarchien, patriarchalischen Verhältnissen, Gewalt und Kriegen. Dies ist umso erstaunlicher, als dass unbestritten ist, dass der Ackerbau über Tausende von Jahren seit seiner Einführung nicht zu solchen Effekten geführt hat. Kein geringer Anteil der Wissenschaftler geht allgemein davon aus, dass die Gesellschaften sich in Entwicklungsstufen organisiert hätten – von eher egalitären hin zu hierarchischen Gesellschaften mit Oberhäuptern bis hin zu ganzen Staaten. Staaten sollen sich unabhängig voneinander entwickelt haben, ohne Kontakte zu anderen, ähnlichen Gesellschaftsstrukturen, in einem sozusagen »natürlichen« Prozess.

    Konträr dazu hat Marija Gimbutas in ihren Arbeiten drei Thesen aufgestellt, die dieser Annahme – für Europa jedenfalls – widersprechen:

    1. These: Die Gesellschaften im neolithischen Europa und Nahen Osten waren friedlich, egalitär und glaubten an weibliche Gottheiten (Fruchtbarkeitsgöttinnen, Venusgöttinnen oder auch Muttergöttinnen).

    Diese These vom Glauben an weibliche Gottheiten begründete sie u. a. durch unzählige Funde von weiblichen Figurinen in Europa und im Nahen Osten. Auch wenn das von den verschiedenen Wissenschaftlern noch heute in Zweifel gezogen wird, gelten Figurinen, die heute als Venus- oder Muttergöttinnen bezeichnet werden, inzwischen als ein weltweit verbreitetes Phänomen.

    2. These: Vor ca. 6.000 bis 5.000 Jahren haben große gesellschaftliche Umbrüche stattgefunden – mit den Einwanderungen der Indoeuropäer aus dem Gebiet zwischen Wolga und Don (Kurgan-Hypothese).

    Zur Frage der Urheimat der Indoeuropäer gibt es im Prinzip zwei favorisierte wissenschaftliche Hypothesen: einerseits die Kurgan-Hypothese und andererseits die Anatolienbzw. Armenien-Hypothese (südlich des Kaukasus) neben einer Reihe von anderen mehrheitlich abgelehnten Thesen. Der Anthropologe David W. Anthony, der umfangreiche archäologische Forschungen in der Ukraine, Russland und Kasachstan durchführte, bestätigt Marija Gimbutas Kurgan-Hypothese. Sein Buch The Horse, the Wheel and Language: How Bronze-Age Riders from Eurasian Steppes Shaped the Modern World gilt inzwischen als ein Standardwerk zur indoeuropäischen Forschung.

    Aktuelle genetische Analysen zur Ursprungsheimat der Indoeuropäer in Südrussland bestätigen diese These nur teilweise. Für uns hier ist es nicht wirklich relevant, ob die Indoeuropäer ursprünglich aus Armenien südlich des Kaukasus kamen und dann Richtung russische Steppe zogen, um von da aus später Richtung Balkan und Europa zu ziehen, oder ob sie ursprünglich zwischen Wolga und Don gesiedelt haben und dann Richtung Europa und den Südkaukasus aufgebrochen sind. Genetisch sind sie früh im Südkaukasus, Nordkaukasus und in der russischen Steppe verbreitet gewesen.

    3. These: Die egalitären, matristischen (hier gleichbedeutend mit matrifokalen) Kulturen Europas vor ca. 6.000 bis 5.000 Jahren wurden in mehreren Wellen durch kriegerische, patriarchalische indoeuropäische Invasoren erobert, die in der Folge in Europa eine indoeuropäische Oberschicht gebildet haben. Dem widerspricht David W. Anthony, der von einer weniger kriegerischen Einwanderung ausgeht, obwohl er die Hinterlassenschaften von Kriegen nicht leugnet, wohl aber deren Ausmaß. Die aktuellen genetischen Analysen bestätigen allerdings Marija Gimbutas These – und um es mit David Reichs Worten zu sagen: »Prior to the explosion of ancient DNA data in 2015, most archaeologists found it inconceivable that the genetic changes associated with the spread of the Yamnaya culture (indoeuropäische Kultur, A. d. A) could be as dramatic as the archaeological changes. Even the archaeologist David Anthony, a leading proponent of the idea that the spread of Yamnaya culture was transformative in the history of Eurasia, could not bring himself to suggest that its spread was driven by mass migration. Instead, he proposed that most aspects of Yamnaya culture spread through imitation and proselytization.« [Reich, 2018, S. 108]. Weiter heißt es: »The Yamnaya expansion also cannot have been entirely friendly, as is clear from the fact that the proportion of Y chromosomes of steppe origin in both western Europe and in India today is much larger than the proportion of steppe ancestry in the rest of the genome.« [Reich, 2012, S. 239–240]. Es zeigt sich also in genetischen Analysen die Dominanz einer kleinen Anzahl von indoeuropäischen Männern, die sich bei ihren Invasionen in Europa und Indien verbreitet haben.

    Man kann die neuesten Entwicklungen in der Paläogenetik mit der Entschlüsselung des Neandertaler-Gens durch Svante Pääbo (der dafür 2022 einen Nobelpreis erhalten hat) und der Forschung des Populationsgenetikers David Reich nicht hoch genug einschätzen. So lässt sich erstmals das Ausmaß der indoeuropäischen Invasionen z. B. in Europa und Indien zweifelsfrei genetisch nachweisen. Die Forschungsergebnisse der Populationsgenetik haben bereits und werden auch in Zukunft den Blickwinkel auf die Geschichte der Menschheit verändern.

    Wann haben Hierarchien, Gewalt und Kriege angefangen? Dies ist die Kernfrage, die mich in meiner Reise zu den ersten Hominiden außerhalb Afrikas, den ersten Hochkulturen bis zu den Zeiten der ersten Herrscher und Kriege, und zwar weltweit, geleitet haben. Diese Reise hat mein Weltbild fundamental verändert.

    Ich bin in einem christlich und darwinistisch geprägten Kulturkreis aufgewachsen. Das hat nichts damit zu tun, ob ich tatsächlich christlichen Glaubens bin, das christliche Weltbild hat trotzdem meine Vorstellungen von der Welt geprägt. Genauso wie Darwin immer herangezogen wird, um zu rechtfertigen, dass der Stärkere den Schwächeren, der Mann die Frau oder der Weiße den Farbigen unterdrückt (auch wenn Darwin selbst das nie so gesagt hat). Unsere Erkenntnisse zum Menschen und zu unseren Vorfahren sind immer auch durch unser jeweiliges Bild des Menschen bzw. unsere Vorurteile über das Wesen des Menschen geprägt. Ob archäologische Funde oder soziale Modelle – es scheint so, als ob diese prinzipiell immer aus der sozial darwinistischen Sicht analysiert und interpretiert werden.

    Die herrschende Meinung, dass der Mensch als »Krone der Schöpfung« kriegerisch, gewalttätig und ausbeuterisch sei, er seinesgleichen ohne Not töte und versklave, wie es übrigens im Tierreich (und wir sind nichts weiter als Tiere) in der Weise gar nicht vorkommt, scheint nie außer Frage zu stehen und auch nie Fragen aufzuwerfen – außer heute bei Psychologen. Sie wurde über Jahrhunderte als das »Natürliche« angesehen, als den Menschen eben auszeichnende Eigenschaft betrachtet. Im Gegenzug dazu wurde allen Tieren, auch Säugetieren, jegliche Gefühlswelt und Seele abgesprochen, und das bis in die heutige Zeit. Es ist die gleiche Argumentation, die zur Zeit der Sklavenhaltung für den afrikanischen Sklaven angewandt wurde.

    Der Neandertaler als Kannibale ist ebenso eine Meinung, die in die gleiche Kerbe schlägt. Alle Funde, die auch nur entfernt beim Neandertaler Kannibalismus andeuten könnten, werden reißerisch in der Presse ausgeschlachtet. Im Gegenzug ist es keine Nachricht wert, dass der Neandertaler oder/und der Homo erectus schon so etwas wie die Seefahrt beherrscht haben muss. Denn das Bild des überlegenen, kriegerischen Homo sapiens, der sich die Welt untertan macht, wird von den Wissenschaftlern entsprechend ihrem Weltbild favorisiert und die archäologischen Funde jahrzehntelang dementsprechend interpretiert. Im weiteren Verlauf dieses Buches soll nichts Geringeres nachgewiesen werden, als dass Macht und Gewalt keine Konstanten in der Existenz des Menschen sind, sondern sich erst durch die Invasionen der Indoeuropäer verbreitet haben.

    Machen wir uns also hier auf den Weg, die Welt, basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aus verschiedensten Bereichen, aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Denn letztendlich war alles ganz anders als bisher angenommen….

    Alle Zeitangaben in diesem Buch fangen mit dem ältesten Zeitpunkt an und gehen bis zum jüngsten Zeitraum, gerechnet ab heute, angelehnt an die Zeitangaben der populationsgenetischen Publikation von David Reich Who we are and how we got here.

    TEIL I

    DIE DNA-STORY DER SPEZIES HOMO UND IHRER WANDERUNGEN

    DIE ANFÄNGE DES MENSCHEN, also der Spezies Homo, liegen ca. sieben bis fünf Millionen Jahre zurück. In diesem Zeitraum fingen Primaten und die Spezies Homo an, sich separat voneinander zu entwickelt. Der erste Hominide (Homo erectus/ergaster) außerhalb Afrikas wanderte vor 1,9 bis 1,8 Millionen Jahren von dort über das östliche Mittelmeer nach Europa und Asien ein. Die unterschiedlichen Datierungen von Funden in Afrika, Europa und Asien zeigen eine Verbreitung des Homo erectus über einen Zeitraum von 1,9 Millionen Jahren.² Keine andere Hominiden-Art kann auf eine so lange Zeit zurückblicken!

    Die verschiedenen Linien von Hominiden haben sich aus deren Wanderbewegungen entwickelt. Abhängig von den jeweiligen Wanderungsrichtungen bildeten sich im Lauf der Zeit separat voneinander eigene Arten heraus. Die Abspaltung des Neandertalers, des Denisovas und des Homo sapiens von der gemeinsamen Ursprungslinie dem Homo heidelbergensis fand vor 770.000 bis 550.000 Jahren statt.³

    Populationsentwicklungen können genetisch gut über die Mitochondrien, also Zellteilen, die eine eigene DNA besitzen, verfolgt werden. Mitochondrien werden nur von der Mutter an ihre Kinder beiderlei Geschlechts weitergegeben, auf diese Weise ist die Verfolgung der sogenannten Ur-Mutter von Populationen möglich. Über einen Vergleich der Mutationen in der mDNA (mitochondrielle DNA) bei verschiedensten Populationen auf der ganzen Welt wird eine Rekonstruktion der ältesten gemeinsamen Homosapiens-Vorfahrin, die ausschließlich in der Sub-Sahara (südlich der Sahara) zu finden ist, möglich. Alle Nicht-Afrikaner sind Nachkommen dieses Sub-Sahara-Zweigs. Basierend auf der ermittelten Mutationsrate in der mDNA, muss man davon ausgehen, dass die »mitochondriale Eva« vor ca. 160.000 Jahren gelebt hat. Alle heutigen Menschen haben Teile ihrer mDNA!⁴,³

    Afrika, die Wiege des Menschen?

    Die heutigen Populationen in Afrika haben in ihrer DNA eine wesentlich höhere Varianz zwischen den Populationen als alle Menschen außerhalb Afrikas untereinander.³

    Früheste Funde von anatomisch modernen Menschen in Afrika lassen sich auf vor 300.000 bis 280.000 Jahre datieren, außerhalb Afrikas sind nur wenige Funde mit anatomisch modernen Menschen älter als 50.000 Jahre. Die aus Afrika ausgewanderten Homo-sapiens-Populationen werden in ziemlich kleinen Gruppen zwischen zwanzig und wenigen hundert Mitgliedern gewandert sein. Die genetische Vielfalt war deshalb von vornherein sehr reduziert.³ Eine »nicht aufzuhaltende Expansion von Homo-sapiens-Populationen, die alles verdrängt haben«, wie es oft heißt, ist auch deshalb sehr unrealistisch!

    Vergleicht man alle Populationen auf der ganzen Welt mit dem frühesten Zweig des Homo sapiens, dann stellt man fest, dass die SAN-Jäger-und-Sammler (!Kung mit der Klicklautsprache) aus Südafrika diesem am ähnlichsten sind. Die Trennung der Vorfahren der SAN und der frühen Homo-sapiens-Populationen aus einer gemeinsamen Linie fing vor 200.000 Jahren an und war vor 100.000 Jahren abgeschlossen.³ Von dieser gemeinsamen Ursprungspopulation hatte sich eine kleine Population abgespaltet und über Afrika hinaus ausgebreitet.

    Die SAN bzw. Kung sind noch heute als egalitäre Gemeinschaft ohne übergeordnete Führungsstruktur organisiert. Sie kennen traditionell keine Bezeichnungen für Konzepte wie Staat, Gesetz oder Polizei. Sie haben keine Wörter, die Konzepte wie Krieg, wie Generäle, Truppen oder Kanonen bzw. Waffen, ausdrücken. Auch Besitz, der gezählt oder bestimmt werden muss, ist ihnen unbekannt, es gibt keine Wörter für Plus oder Minus, kaum Zahlwörter und keine bestimmten Wörter für Zahlen über sechs. Sie leben in kleinen Gruppen zwischen 40 und höchstens 100 Personen auf Basis von Verwandtschaftsbeziehungen oder persönlichen Vorlieben zusammen.⁵,⁶

    Aber bevor wir uns mit dem Homo sapiens näher beschäftigen, wenden wir uns erst einmal dem Homo erectus und dem Neandertaler zu. Wie haben sie gelebt? Wohin sind sie gewandert? Wie war die Welt, in der sie lebten?

    Der Homo erectus

    Der Homo erectus verließ Afrika vor ca. zwei Millionen Jahren und wanderte über den Nahen Osten nach Europa und Asien. Jedenfalls zeigen das die ältesten Funde in Europa aus Dmanisi in Georgien, aus Java in Indonesien und aus China von vor 1,8 Millionen Jahren. Damals war noch ganz Nordeuropa (Skandinavien, Sibirien, England, Island) von Inlandeis bedeckt und für Hominiden ohne dickstes Fell oder Feuer nicht bewohnbar. Der älteste Nachweis von Hominiden, die Feuer nutzten, stammt aus Afrika, er ist 1,5 bis 1,2 Million Jahre alt.⁷ Der früheste Nachweis von Feuernutzung nördlich der Sahara stammt aus dem Norden Israels von vor 790.000 Jahren wahrscheinlich vom Homo erectus.⁸ Die Nutzung von Feuer ist also mit den verschiedenen Auswanderern aus Afrika gekommen.

    In Bilzingsleben bei Thüringen wurde ein prähistorischer Lagerplatz bzw. eine Siedlung gefunden mit 370.000 Jahre alten, mit Strichen gravierten Knochenstücken. Aus diesen Funden konnten drei bis vier Wohnbauten rekonstruiert werden. 29 Schädelreste, 9 Zähne, zahllose Steinartefakten, 30 werkstattähnliche Plätze mit Amboss, Geräte aus Knochen, Elfenbein, Holz, tierisches und pflanzliches Material wurden hier ebenso gefunden. Auch die Nutzung von Feuer ist nachweisbar. Die Siedlung hat einen runden »gepflasterten« Platz von neun Metern Durchmesser, eine Steinreihe aus 12 Kalksteinblöcken führt von Westen her genau auf diesen Platz zu. Es werden unter Forschern unterschiedliche Klassifizierungen der möglichen Bewohner dieser Anlage diskutiert, aber der Homo erectus wird favorisiert. Die Funde zeugen von einer längeren Besiedelung dieses Platzes als Basislager. Hier lebten und arbeiteten diese frühen Menschen, sie zogen auf Jagd- und Streifzüge und brachten die Beute ins Lager. Die Jagd auf die heute ausgestorbenen Großsäuger (z. B. sechs Meter große Elefanten), deren Reste ebenso entdeckt wurden, zeigt ein planvolles, kooperatives Vorgehen, genau wie der zentrale Platz und die gravierten Knochen. Es ist davon auszugehen, dass diese frühen Menschen auch sprachliche Fähigkeiten hatten. Es wurden zertrümmerte Schädel gefunden, die erst postmortal im schon skelettierten Zustand zerschlagen worden sind.⁹ Es gab also vielleicht eine Art Schädelkultur oder besondere Bestattungsrituale.

    Der Homo erectus konnte mit ziemlicher Sicherheit schon mit Booten oder Ähnlichem über Wasser fahren. Wenn der Homo erectus, der Richtung Asien wanderte, der Vorfahre des Homo floresiensis³,¹⁰ war, was sehr wahrscheinlich ist, dann muss er mit Wasserfahrzeugen auf die heute indonesische Insel Flores gekommen sein. Diese Insel ist immer, auch in der Eiszeit, von Wasser umgeben gewesen und der kürzeste Abstand zwischen Flores und dem damaligen Festland Sunda war immerhin eine Strecke von 20 Kilometern.¹¹

    Der Homo erectus konnte also schon Feuer machen, er baute zeltartige Wohnhäuser, Gemeinschaftsplätze und scheinbar auch Boote. Er stellte die unterschiedlichsten Werkzeuge aus verschiedensten Materialien her, war künstlerisch tätig, hatte sich eventuell mit dem Tod beschäftigt und konnte höchst wahrscheinlich sprechen. Nichts davon entspricht unserer langläufigen Meinung über den Homo erectus.

    Der Neandertaler

    Es gibt drei Mythen über den Neandertaler bzw. über den Neandertaler und den Homo sapiens:

    1. Neandertaler und Homo sapiens waren Feinde.

    2. Der Homo sapiens kam nach Europa und löschte den Neandertaler aus.

    3. Der Neandertaler hatte kannibalistische Neigungen.

    Keine dieser Mythen lässt sich objektiv bei näherem Hinsehen aufrechterhalten.

    Die Nachfahren des Homo erectus und Homo heidelbergensis, die Neandertaler, zogen nach den neuesten archäologischen Funden spätestens vor 430.000 Jahren durch das eiszeitliche Europa,³ sie hatten sich hauptsächlich in Süd-, Mittel- und Osteuropa verbreitet, aber nicht in Afrika. Zu der Zeit war Nordeuropa von Eis bedeckt, der Permafrost zog sich bis über die Alpen und fast bis zum Schwarzen Meer. Dementsprechend knapp war das Nahrungsangebot, die Populationsgruppen müssen klein gewesen sein.

    Karte 1: Europa während der Eiszeit vor 300.000 bis 12.000 Jahren

    Der Neandertaler hatte einen robusten Körper mit gewaltigen Muskeln, mehr oder minder ausgeprägte Überaugenwülste, eine große Nase, helle Haut und oft rötliche Haare.¹² Sein täglicher Kalorienverbrauch lag geschätzt bei circa 4.500 bis 5.040 kcal pro Tag.¹³ Seine dem Homo sapiens ähnliche Form des Zungenbeins¹⁴ und das bei ihm entdeckte Sprachgen FOXP2 lassen auf Sprache und Kommunikation schließen.¹⁵ Er war ca. 1,60 bis 1,70 m groß (der frühe Homo sapiens lag bei ca. 1,77 m) und sein Gewicht lag ungefähr bei dem eines heutigen Europäers bei 50 bis 90 kg.¹⁶ Insgesamt lagen die Körpermaße des Neandertalers in der Variationsbreite des heutigen Menschen, das Gesicht sah wahrscheinlich etwas anders aus.¹⁶

    Wie schon der Homo erectus beherrschte auch er das Feuer.¹⁶

    Er jagte u. a. Mammuts und stellte aus den Fellen seiner Beute Fellbekleidung her. Die ältesten gefundenen Speere sind von vor 300.000 Jahren, der Neandertaler war vielleicht sogar der erste, der so auf Jagd ging. Das schien nicht immer so einfach gewesen zu sein, denn Funde zeigen männliche Neandertaler mit verheilten Knochenbrüchen.⁷ Für seine Steingeräte benutzte er bessere Rohmaterialien als der Homo erectus oder der Homo heidelbergensis, er gestaltete diese auch standardisierter und ästhetischer. Er benutzte zum ersten Mal auch so etwas wie Klebstoff zur Befestigung von Holzschäften.¹² Die Siedlungen hatten scheinbar neben den reinen Wohnräumen und Feuerplätzen auch Plätze z. B. für das Häuten, Schlachten von Tieren oder die Werkzeugherstellung.⁷

    Auch der Neandertaler scheint schon zur See gefahren zu sein. Im östlichen Mittelmeer gibt es Hinweise auf seefahrende Neandertaler. Auf dem Festland waren sie seit vor 300.000 Jahren ansässig, auf den Inseln Lefkada, Kefalonia und Zakynthos seit vor 110.000 Jahren.¹⁷ Während Lefkada in diesem Zeitraum Teil des Festlandes war, waren die anderen beiden Inseln und die Insel Ithaka 5 bis 7,5 km vom Festland entfernt und von 180 m tiefem Wasser umschlossen, sie müssen also über Boote erreicht und besiedelt worden sein. Auf Kreta wurden 130.000 Jahre alte Werkzeuge gefunden, zu einer Zeit, in der der Sapiens noch nicht in Europa lebte. Kreta ist seit 5,3 Millionen Jahren vollständig von Wasser umgeben und das nächste Festland ist 40 km entfernt. Die Hominiden müssen also per Boot auf die Insel gekommen sein! Sie hinterließen Artefakte, die vom Neandertaler, Homo erectus oder Homo heidelbergensis stammen müssen.

    Die Neandertaler waren offensichtlich die ersten Hominiden, die ihre Toten mit Grabbeigaben bestatteten, außerdem kümmerten sie sich nachweislich um ihre Kranken und Schwachen.³,⁷ Das ist ein wichtiger Punkt, denn es zeigt eine gewisse Fähigkeit zu abstraktem Denken, zu einer Vorstellung von Leben und Tod, die über das reine »Da-sein« oder »Nicht-da-sein« hinausgeht. Gleichzeitig weist dieses Verhalten schon auf tiefe emotionale Bindungen hin, die wir heutige Menschen oftmals allen anderen Lebewesen außer uns selbst absprechen.

    Der Sinn für Ästhetik ist an den vorzüglich bearbeiteten Steinwerkzeugen der Neandertaler, ihrem Schmuck (120.000 Jahre alte Funde)¹² und beispielsweise gesammelten Versteinerungen zu sehen. In der Grotte de Bruniquel, im heutigen Südwestfrankreich, sind ca.180.000 Jahre alte Stalagmiten-Konstruktionen gefunden worden, die auf zeremonielle Funktionen und regelmäßigen Besuch der Neandertaler schließen lassen.¹² Die ältesten Höhlenmalereien sind 65.000 Jahre alt. Damit ist eindeutig belegt, dass die Neandertaler die ersten Höhlenkünstler waren, der Homo sapiens war zu jener Zeit noch nicht in Europa. Während man lange davon ausging, dass Männer ihre Jagderfahrungen in den Höhlenmalereien verewigten, zeigen neuere Analysen, dass drei Viertel der farbigen Handabdrücke, die dort hinterlassen wurden, von Frauen und auch viele von Jugendlichen stammten.¹² Wie wir später noch beim Homo sapiens sehen werden, deutet dies auf bestimmte Glaubenskonzepte und Zeremonien hin. Was im ersten Moment vielleicht belanglos erscheint, zeigt eindeutig, dass der Neandertaler viel weiter entwickelt und dem frühen Homo sapiens viel ähnlicher war, als vielfach landläufig noch geglaubt wird.

    Verschiedene Fundorte zeigen: Neandertaler und Homo sapiens haben nicht nur die gleichen Werkzeuge benutzt, sondern auch ihre Gene ausgetauscht. So wurden bei den vor ungefähr 130.000 bis 100.000 Jahren nach Zentralasien bis ins Altaigebirge gewanderten Neandertaler-Populationen Genvarianten vom Homo sapiens gefunden, welche eine Vermischung von Neandertalern und Homo sapiens vor 100.000 Jahren belegen. Es muss also schon vor 100.000 Jahren eine kleine Population von Homo sapiens Afrika verlassen haben, dies passt auch zu dem Fund von Zähnen des Homo sapiens in China, die auf vor 120.000 bis 80.000 Jahren datiert werden.¹⁸ Sapiens und Neandertaler haben sich im Nahen Osten oder auf dem Weg Richtung Zentralasien vermischt, eine oder mehrere Neandertaler Gruppen inkl. ihrer hybriden Nachkommen sind danach ins Altaigebirge und nicht nach Europa gewandert. Gleichzeitig zeigt das eine frühe Einwanderung nach Asien, und zwar von den beiden Hominiden-Arten.³

    Was sagen uns die genetischen Analysen von Neandertalern und Homo sapiens?

    ► Die gemeinsame Abstammungslinie vom Neandertaler und modernem Menschen trennt sich vor 770.000 bis 550.000 Jahren.³

    ► Neandertaler und Homo sapiens haben sich mindestens noch über einen Zeitraum von vor 100.000 bis 40.000 Jahren immer wieder vermischt. Heute haben alle Nicht-Afrikaner – ob Europäer, Ostasiaten oder erste Amerikaner – 1,5 bis 6 Prozent Neandertaler-DNA, Ostasiaten etwas mehr als Europäer.³

    ► Der Homo sapiens ist vor 130.000 bis vor 50.000 Jahren in zwei Wellen aus Afrika in den Nahen Osten gewandert und der Neandertaler wiederum vermutlich vor 60.000 bis 49.000 Jahren aus Europa wieder in den Nahen Osten zurück. Hier haben sich Neandertaler und Homo sapiens vor ca. 54.000 bis 49.000 Jahren ebenfalls wiederholt vermischt.³ Der früheste Fund eines Homo sapiens in Europa (Rumänien) hatte gleichzeitig mit 10 Prozent einen starken genetischen Anteil vom Neandertaler.²⁶

    ► Die ursprünglichen europäischen Jäger-und-Sammler, die vor 9.000 Jahren lebten, haben den gleichen Prozentsatz an Neandertaler-Genom wie Ostasiaten. Die heutigen Europäer haben aber einen niedrigeren Anteil an Neandertaler-Genom, das heißt, zwischen der Zeit vor 9.000 Jahren und heute müssen sich die Europäer mit einer Gruppe von Menschen vermischt haben, die sich vor der Vermischung des Homo sapiens mit dem Neandertaler bereits aus dieser Linie abgespalten haben, also vor ca. 49.000 Jahren.³ Wer diese Menschen gewesen sind und woher sie kamen, dazu später mehr.

    Prinzipiell wird die Vermischung von Homo sapiens und Neandertaler höher gewesen sein, als die Prozentanteile der DNA vermuten lassen. Der niedrige Prozentsatz an Neandertaler-Genen hängt nämlich sicher auch mit einer äußerst wahrscheinlichen reduzierten Fruchtbarkeit der Hybriden aus Neandertaler und Homo sapiens zusammen bzw. einer höheren Sterblichkeitsrate dieser Nachkommen. Dieses Phänomen ist auch aus dem Tierreich bekannt, und zwar wenn sich Arten vermischen, die zwar verwandt sind, aber sich schon zu lange auseinanderentwickelt haben, dann kommt es zu Unfruchtbarkeit. So waren die männlichen hybriden Nachkommen von Neandertalern und Homo sapiens wahrscheinlich zeugungsunfähig oder konnten nicht ausgetragen werden.³ Dem entsprechend muss es also viel mehr Verbindungen zwischen Neandertaler und dem modernen Menschen gegeben haben, als rein genetisch sichtbar ist, weil wahrscheinlich nur die Hälfte der hybriden Nachkommen sich vermehren konnte und sich so der Anteil an Neandertaler-Genen in den Sapiens-Populationen »verdünnt« hat. Andererseits, jede nicht-afrikanische Person hat Geneanteile vom Neandertaler, aber nicht alle die gleichen. Die von den Neandertalern vererbten genetischen Bruchteile machen zwischen 35 und 70 Prozent des Neandertaler-Gesamtgenoms aus.¹⁹ Kombiniert mit der wahrscheinlich reduzierten Fruchtbarkeit der Neandertaler-Sapiens-Hybriden ergibt das eine höhere Vermischung als bis dato angenommen.

    Neandertaler wie auch Homo sapiens haben beide ähnliche Werkzeuge benutzt, sie haben beide Kleidung genäht, das Feuer beherrscht, Essen erhitzt, Höhlenwände bemalt, ihre Alten und Kranken gepflegt und durchgefüttert und sie hatten Sex miteinander. Aber was sie nicht hatten, das waren Kriege – darauf gibt es keinen einzigen Hinweis!

    Ein weiterer Mythos rund um die Neandertaler ist deren immer wieder heftig diskutierter angeblicher Kannibalismus. Es gibt in Europa über 80 Fundstellen mit Neandertaler-Resten und 35 »Gräber« bzw. Bestattungsorte. Die Bestattungen fanden meisten in Höhlen oder unter bzw. bei Felsvorsprüngen statt in flachen höchstens einen Meter tiefen Gruben. Diese Orte sind von den Neandertalern immer wieder besucht worden!⁷ Unter diesen Begräbnisstätten gibt es höchstens vier, wo bearbeitete Knochen gefunden wurden, die als Zeichen von Kannibalismus interpretiert werden.

    ► In der Kalksteinhöhle El-Sidron im Norden Spaniens sind 12 Neandertalerskelette gefunden worden. Alle zeigen auf Grund der Zahnanalysen deutlichen Nahrungsmangel. Schnittstellen und Bruchstellen an den Knochen haben zu der Vermutung von Kannibalismus geführt, allerdings war kurz nach dem Tod der Gruppe der Boden der Höhle eingebrochen und so stürzten die Toten 20 m tief in eine unterirdische von Wasser ausgespülte Kalksteinkammer. Von daher sind die Schnittstellen und Bruchstellen nicht wirklich weiter bestimmbar.²⁰

    ► Die 45.500 bis 40.500 Jahre alten Knochenfunde aus der Goyet-Höhle in Belgien zeigen Schnitt- und Schlagspuren bei einem Drittel der gefundenen Knochen. Vier Knochen wurden eventuell zur Nachbesserung von Steinwerkzeugkanten benutzt. Dazu dienten üblicherweise nur Tierknochen. Die Funde in der Goyet-Höhle werden als erster eindeutiger Nachweis für Kannibalismus bei Neandertalern gesehen, auch wenn mögliche Begräbnis-Rituale nicht ausgeschlossen werden.²¹

    ► In der Höhle von Moula-Guercy in Frankreich wurden Neandertalerknochen von sechs Individuen unter Knochen von Rothirschen gefunden. Die Schädel, Bein- und Armknochen waren gewaltsam gebrochen worden und Schabspuren zeugen vom Entfernen des Fleisches. Da die Knochen bei den Tierknochen lagen, wird vermutet, dass sie wie andere Reste einer Mahlzeit vor 120.000 bis 100.000 Jahren dort landeten.²²

    ► Bei Krapina in Kroatien sind zahlreiche 130.000 Jahre alte Artefakte von Neandertalern gefunden worden. Auch hier wurde ein Jahrhundert lang diskutiert, ob die Funde auf Kannibalismus hinweisen. Das ist nun widerlegt. Hier geht man inzwischen bei den Schnittspuren von einem rituellen Entfernen von Fleischresten als Begräbnisvorbereitung für eine Zweitbestattung aus. Die Brüche und weiteren Zerstörungsmerkmale sind auf spätere Zerstörungen und Einstürze von Decken zurückzuführen.²³

    Bestattungsrituale

    Kommen wir zu den Bestattungsritualen, die nicht nur der Neandertaler, sondern auch der Homo sapiens über Jahrtausende praktizierte, in einigen Gegenden der Welt sogar heute noch. Erinnern wir uns noch einmal daran, dass zu Zeiten des Neandertalers und auch des Homo sapiens bis vor 11.000 Jahren große Teile von Europa und Asien von Eis bedeckt und weitere Flächen Permafrost-Gebiete waren, Gebiete also, in denen es wenig oder gar kein Holz für Feuerbestattungen gab und in denen der Boden zu gefroren war, um Gräber ausheben zu können.

    Das als Exkarnation (oder Dekarnation)24bezeichnete Bestattungsritual ist in sehr frühen Zeiten entstanden, als harter oder gefrorener Boden und fehlendes Feuer bzw. Feuerholz keine andere Möglichkeit zuließ, um die Toten angemessen zu bestatten. Bei dieser Bestattungsart werden die Knochen der Toten vom Fleisch befreit und nur sie als Träger der Seele bestattet. Dies erfolgte auf verschiedene Arten:

    ► durch Auslösen des Fleisches mit Messern

    ► durch Begraben, Verwesen lassen und wieder Ausgraben

    ► durch Aussetzen der Toten zum Fraß für Vögel, bis nur die Knochen übrigbleiben.

    Danach wurden diese Knochen in Erst- oder Zweitbestattung begraben, manchmal wurde vorher auch das Knochenmark entfernt. Das mag sich für uns heute merkwürdig anhören, aber über lange Zeiträume gab es gar keine andere Möglichkeit. Gleichzeitig basiert diese Begräbnisart auch auf einem gewissen Glaubenskonzept, wie wir später noch sehen werden. Exkarnation als Bestattungsritual ist seit der Jungsteinzeit belegt und wird noch heute von den Völkern Papua-Neuguineas, den Parsen und Tibetern praktiziert.

    Von den vier Fundstellen, bei denen Kannibalismus vermutet wurde, ist eine eingestürzt, die Knochenverletzungen können auch daher stammen. Zwei zeigen Zeichen von Exkarnation und eine der Fundstellen könnte von späteren Hominiden besucht worden sein, die die Knochen benutzt haben, um Werkzeuge zu machen. Sollten die Knochen aus den Goyet-Höhlen zur Nachbesserung von Steinwerkzeugen tatsächlich von den gleichen Individuen verwendet worden sein, die das Fleisch entfernt hatten, ist das tatsächlich keine Begräbnisvorbereitung gewesen. Alle anderen Funde sind aber höchstwahrscheinlich Teil eines Bestattungsritus mit Exkarnation. Kein weiterer der 35 Neandertaler-Begräbnisfundorte in Europa zeugt von irgendeiner Art von Gewalt oder Kannibalismus.

    Und was hat es mit dem dritten Mythos auf sich, demzufolge der Homo sapiens nach Europa einwanderte und den Neandertaler verdrängte oder tötete?

    Homo sapiens und der Neandertaler lebten bis zum Aussterben des Neandertalers ganz offensichtlich friedlich zusammen. Vor 39.000 Jahren brach allerdings in Südwestitalien ein Vulkan aus, dessen Supereruption eine 37 bis 40 km hohe Aschewolke mit einer Ausdehnung von 430 bis 680 km³ entwickelte. Diese Tephra oder Asche ging über eine Entfernung von über 1.500 km nieder (auf Nordägypten, Syrien, der Türkei, Georgien, Kasachstan, Montenegro, Albanien, Mazedonien, Rumänien, Moldawien, der Ukraine bis Südrussland) und hinterließ eine teilweise mehrere Meter dicke Ascheschicht. Das hatte nicht nur für mehrjährige Winter gesorgt, sondern auch das Trinkwasser und die Pflanzen vergiftet!³,²⁵

    In dieser Zeit hatten sich Eis und Permafrost in Europa zwar schon weiter zurückgezogen, aber sie bedeckten immer noch größere Teile des Landes. Man kann sich also vorstellen, was für eine Auswirkung das auf den Lebensraum der Menschen gehabt haben muss. Infolgedessen kam es vor ca. 36.000 Jahren zu Massenaussterben von zahlreichen Tierarten (u. a. Mammut, Wisent, Wolf, Höhlenbären und Hyänen). Diese Tierarten wurden teilweise von osteuropäischen und nordasiatische »Verwandten« ersetzt, bis auf die Hyänen, die blieben verschwunden.²⁶

    Abgesehen von Neandertaler-Populationen verschwanden auch Homo-sapiens-Populationen.³ Vielleicht waren Überlebende auch Richtung Westen gezogen, um der Kälte und der Asche zu entkommen. Aber die Neandertaler hatte es definitiv stärker oder schlimmer erwischt, oder? Die Neandertaler-Populationen waren klein!

    Man geht davon aus, dass die Gesamtzahl der Neandertaler in Europa ungefähr 10.000 betragen hat, die in Gruppengrößen von 50 bis 60 Individuen gelebt haben.¹⁶ Der Neandertaler brauchte 4.500 bis 5.040 kcal pro Tag im Vergleich beispielsweise zum Inuit, der täglich ca. 3.000 bis 4.000 kcal. benötigt.¹³ Die mehrjährigen Winter werden zu Nahrungsknappheit geführt haben und der Neandertaler hatte einen höheren Kalorienbedarf als der Sapiens.

    Was wir nicht wissen: Wie sah die Geburtenrate bei beiden Populationen aus? Bei Arten, die kleine Geburtsraten haben, wie z. B. bei Walen (3 bis 7 Jahre) und Elefanten (5 bis 6 Jahre), schlagen Katastrophen solcher Größenordnung sofort auf die längerfristige Populationsentwicklung durch und können dadurch für das Aussterben einer ganzen Art sorgen. Statistische Bevölkerungsmodelle zeigen, dass schon wenige Prozente von niedrigeren Reproduktionsraten durch längere Abstände zwischen zwei Geburten reichen, um in wenigen tausend Jahren zum Aussterben einer Art zu führen. SAN- bzw. Kung-Frauen z. B. bekommen in ihren natürlichen Geburtsabständen alle vier Jahre Nachwuchs, die Stillzeiten von drei Jahren, knappe Ernährung und vielleicht auch pflanzliche Geburtenkontrolle verzögern die Empfängnis.²⁷ Wenn der Homo sapiens gleichzeitig weniger Kalorien brauchte und vielleicht eine höhere Geburtsrate hatte, dann konnte er trotz der widrigen Bedingungen aufgrund des Vulkanausbruchs und darauffolgende mehrjährige Winter als Gattung besser überleben.

    Die Menschen der sogenannten Aurignacien-Kultur (vor ca. 40.000 bis 31.000 Jahren) sind wahrscheinlich nach dem Ausbruch erst weggewandert und dann später wieder zurückgekommen, etwas später kamen außerdem noch die Menschen der Gravettien-Kultur (vor 33.000 bis 22.000 Jahren) hinzu.³ Es wanderten also neue Sapiens-Populationen in das verseuchte Gebiet ein, während die Anzahl der Neandertaler-Populationen, die den Vulkanausbruch und die mehrjährigen Winter danach überlebten, wahrscheinlich kleiner waren und wohl auch in den letzten Homosapiens-Populationen aufgegangen sind.

    Was wir feststellen können ist, dass unter der vom Vulkanausbruch verursachten Ascheschicht in Europa und Nordafrika oft Schichten mit Spuren von Neandertalern liegen und über der Ascheschicht Schichten mit Spuren reiner Sapienskulturen.³ Trotzdem, es gibt keinerlei Hinweise kriegerischer oder gewalttätiger Handlungen, die zum Aussterben des Neandertalers geführt haben könnten. Neben der wiederholten Vermischung mit den Homo sapiens, belegen verschiedene Funde in Europa und im Nahen Osten, dass der Neandertaler und der Homo sapiens sehr ähnliche Lebensweisen hatten mit ihren Werkzeugkulturen, ihren Wohnsiedlungen und Begräbniskulturen.⁷ So ist inzwischen genetisch belegt, dass die 44.500 bis 41.000 Jahre alten Funde von anspruchsvollen Werkzeugen und Schmuckstücken in der Grotte du Renne (Frankreich) nicht wie bis dahin angenommen vom Homo sapiens, sondern vom Neandertaler hergestellt worden waren. Man schließt daraus, dass zwischen beiden Hominiden-Arten ein reger Kulturaustausch stattgefunden hat.²⁸ Auch eng nebeneinander liegende Funde im Nahen Osten belegen, dass die beiden Gruppen 60.000 Jahre nebeneinander, aber vielleicht auch miteinander gelebt haben.⁷ Vermischungen zwischen Homo sapiens und Neandertaler haben in der Levante, in Europa und Sibirien stattgefunden. Der Neandertaler verschwand vor 27.000 Jahren⁷ oder ging in anderen Populationen auf. Inzwischen hat sich unser Bild vom Neandertaler durch die Ergebnisse der genetischen Analysen sehr verändert. Veröffentlichungen der letzten drei Jahre stellen den Neandertaler viel intelligenter und freundlicher dar, eher als sympathischen Verwandten denn als barbarischen, tumben Vorfahren.

    Gehen wir einfach davon aus, dass der Homo sapiens den Neandertaler nicht ausgerottet hat. Dafür gibt es einfach überhaupt gar keine Hinweise, weder aus der Genetik noch aus der Archäologie!

    Wir sollten uns darüber klar sein, dass jeder von uns auch heute noch genetisches Erbgut aus jener Zeit in sich trägt, als Neandertaler und Menschen zusammen über die Erde wanderten. Und ich finde, das ist ein schöner Gedanke.

    Doch es gibt noch weitere Hominiden.

    Der Denisova

    Zur Erinnerung, die Trennung des Homo sapiens und des Neandertalers von der gemeinsamen Abstammungslinie fand vor ca. 770.000 bis 550.000 Jahren statt. Der Neandertaler hatte sich wahrscheinlich durch seine Wanderungen und durch das Verlassen des gemeinsamen Gebietes separiert. Ein Teil der Neandertaler-Populationen ist wahrscheinlich Richtung Europa gewandert und ein anderer Teil Richtung Asien. Wann genau wissen wir nicht. Die ältesten Neandertaler-Populationen, die in Europa gefunden wurden, sind auf vor 430.000 Jahren datiert. Zu dem Zeitpunkt war der Neandertaler bereits genetisch der Neandertaler, wie er heute beschrieben wird. Bereits zuvor aber hatte sich der Denisova (benannt nach der Höhle im Altaigebirge, in der er zuerst gefunden wurde) von der Linie des Neandertalers abgespalten. Dieser war wahrscheinlich vor 470.000 bis 380.000 Jahren Richtung Asien gezogen, wo sich dann vor 400.000 bis 280.000 Jahren die Denisova-Population geteilt hatte. Die eine Hälfte wanderte Richtung Sibirien, die andere Richtung Südasien bis Australien und Neuseeland.³ Wie sieht der Denisova genetisch aus und wo hat er seine Spuren hinterlassen?

    ► Die Ureinwohner Papua-Neuguineas und Australiens hatten ca. 3 bis 6 Prozent ihrer Gene vom Denisova.³

    ► Die erste entdeckte Höhle des Denisova im Altaigebirge liegt 9.000 km von Neuguinea entfernt, das Klima zwischen den beiden Orten könnte nicht unterschiedlicher sein, auf der einen Seite sibirische Winter auf der anderen Seite tropische Sommer. Die Kreuzung der Denisova mit den Vorfahren der Neuguineaner muss vor ca. 59.000 bis 44.000 Jahren stattgefunden haben. 3 bis 6 Prozent des Genoms des Neuguineaner stammt vom Denisova, vom Neandertaler hat der Neuguineaner nur einen Anteil von 2 Prozent. Somit haben die Neuguineaner heute in ihrem Genom 5 bis 8 Prozent archaische Gene und damit den höchsten bekannten Anteil aller modernen menschlichen Populationen.³

    ► Ostasiaten haben ca. 0,2 Prozent Denisova-Gene und Südasiaten 0,3 bis 0,6 Prozent, über

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