Wer hat geknallt?: Allerlei Geschichten vom Urknall bis zum Gartenzwerg
Von Gregor Bähr
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Über dieses E-Book
Siebzehn Erzählungen, Kurzgeschichten und Mini-Storys, von amüsant über skurril bis nachdenklich, sind die ideale Begleitlektüre in der U-Bahn, am Strand oder als Betthupferl zum sanften Geleit in Morpheus Arme.
Gregor Bähr
Gregor Bähr wurde als Nachkriegsmodell geboren und in wirtschaftswunderlichen Zeiten am altsprachlichen Gymnasium mit Latein und Griechisch traktiert. Danach lernte er Offsetdrucker. Während der ersten Mondlandung absolvierte er seinen Militärdienst. Drei Jahre nach der Studentenrevolte studierte er in Berlin Wirtschaftskommunikation und Marketing. Es folgte ein zweijähriger Sidestep als Reiseleiter in Süditalien. Seither betrachtet er das Land als zweite Heimat. Nach seiner Rückkehr arbeitete er in Marketingagenturen als Kundenberater, Texter und Etat-Direktor. Seit dem Mauerfall schreibt er als freier Werbetexter und seit mehreren Jahren auch als Schriftsteller. Gregor Bähr lebt in Stuttgart.
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Buchvorschau
Wer hat geknallt? - Gregor Bähr
Angstschweiß im Angesicht des Publikums
Vor der Autorenlesung greift der erfahrene Literat nochmal prüfend an den Hosenschlitz, ob er auch zu ist und stürmt dann selbstbewusst aus der Kulisse an sein Lesepult. Der Debütant hingegen krallt sich hinterm Vorhang an einer Stuhllehne fest oder beißt verzweifelt in sein Leseexemplar, bevor er sich beim Stichwort der Gastgeberin oder des Begrüßungsredners mit weichen Knien dem Publikum nähert. Ich bin der Debütant. – – Also los!
Guten Abend, liebes Publikum!
Glauben Sie bitte nicht, dass ich wirklich der bin, den Sie hier vor sich stehen sehen. Schlimmer noch: Sie sehen quasi ein Mensch gewordenes Phantom. Und überdies sieht jeder von Ihnen ein anderes. Wenn also Sie als Publikum – ich zähle mal kurz durch – 17 Personen sind, dann stehe ich hier auf diesem kleinen Podest in 17-facher Ausfertigung vor Ihnen. Das wäre ein veritabler Männerchor! Da ich nun allem Anschein nach aber doch allein hier zu sehen bin, wäre ich folglich eine multiple Persönlichkeit. Dazu kommt, dass ich Sie ebenfalls sehe: 17 Personen, in der Mehrzahl weiblichen Geschlechts. Das wären schon 34 und damit eine Verdoppelung der Personenzahl, nun als gemischter Chor. Dann zähle ich mich als Einzelperson dazu. Denn ich glaube, dass ich nicht multipel, sondern einmalig bin - gerne auch im doppelten Wortsinne. Damit wären wir 35.
Diese verwirrende Vorstellung und natürlich die bange Frage: Wie werden Sie auf meine Lesung reagieren, treibt mir vor jedem Auftritt Fieberschweiß auf die Stirn – bis zu dem Moment, da ich vor Ihnen stehe und mit dem Satz beginne: Glauben Sie bitte nicht, dass ich wirklich der bin, den Sie hier vor sich stehen sehen … Dann werde ich augenblicklich total cool. – Das ist pure Psychologie. Ich muss mir nur die Zusammenhänge bewusst machen, dann erklärt sich mein Problem des Lampenfiebers und löst sich in Wohlgefallen auf.
Es ist doch so: Wir kontrollieren nicht fortwährend, was in unserem Oberstübchen passiert. Im Gegenteil, unser Gehirn arbeitet ganz überwiegend autonom. Wir können es bekanntlich auch nicht abstellen – obwohl manche Zeitgenossen zuweilen diesen Eindruck vermitteln. Nein, unbewusst läuft und läuft unser Gehirn im Hintergrund mit. Momentan sitzen Sie hier in Erwartung, was kommen wird. Das machen sie sich aber nicht bewusst, Sie denken nicht: Momentan sitze ich hier in Erwartung, was kommen wird. Statt dessen beobachten sie mich intuitiv und nehmen vielleicht das Bild auf: Typisch Schriftsteller, wie der daherkommt mit seinem braunen Cord-Sakko und Jeans – das passt doch überhaupt nicht zusammen. Ihre Nachbarin sieht mich gleichzeitig aber so: Ziemlich schmächtig, der Typ, kann wohl gerade mal die Schreibfeder halten. Oder Sie, Verehrteste in der ersten Reihe, haben den zwiespältigen Eindruck: kein Adonis, aber vielleicht schreibt er gut. – Das ist der zweite Knackpunkt: Wird mein Werk bei Ihnen ankommen? Wird Ihnen gefallen, was ich daraus vorlesen werde? Wobei ich nicht weiß, was mich mehr in Panik versetzt: die Vorstellung, von jedem von Ihnen anders wahrgenommen zu werden und Sie mich sozusagen in Einzelwahrnehmungen zerlegen, tranchieren und sezieren. Oder ist es die Befürchtung, dass ich mit meinem Buch Ablehnung, gar heftige Kritik einstecken muss?
Ich leide also unter der Angstvorstellung, dass ich für jeden und jede von Ihnen ein Anderer bin, obwohl ich doch von mir als einem Unikat überzeugt bin. Das gilt im Übrigen auch für mein Werk, aus dem ich gleich vorlesen werde. Sie nehmen ja nicht einfach nur zur Kenntnis, was ich Ihnen biete, sondern Sie bewerten das Gebotene. Ihre Wahrnehmungen sind an ein Bewertungssystem gekoppelt, das Sie sich im Lauf der Zeit aufgebaut haben. Alle machen das. In jedem Moment, in dem wir uns unter Menschen bewegen, gleichen wir unsere Wahrnehmungen mit dem Fundus dieses Bewertungssystems ab. Wir fungieren unbewusst ständig als Kampfrichter, die ihre Punktetäfelchen von 1 bis 10 hochhalten. Kleidung 1, Gestik 4, Vortrag 5, Handlung des Textes 8, Schreibstil 6. Wie anders kämen wir sonst zu einem Urteil, ob uns jemand sympathisch ist oder nicht? Oder ganz konkret, ob Ihnen gefällt, was ich Ihnen gleich vorlesen werde.
Indem Sie hier sitzen, bauen Sie - wohlgemerkt unbewusst - Steinchen für Steinchen Ihrer Beobachtungen zu einem Bild zusammen. Und weil das jeder für sich macht, kommt dabei eine Heerschar von Figuren heraus, die jede ich sein soll, obwohl keine mir ähnlich ist in der Art wie ich mich selbst sehe. Das kommt ja auch noch hinzu: mein riesiges Unbehagen über den tiefen Graben zwischen meiner Selbstwahrnehmung und Ihrer Fremdwahrnehmung.
Das sind die Gründe für mein höllisches Lampenfieber vor jeder Lesung: gescannt zu werden von zig Augenpaaren. Jeder legt eine andere Messlatte an. Jede und Jeder urteilt über mich. Es ist das Gefühl, von Ihren Blicken durchlöchert und von Ihren Gedanken ins Maß genommen zu werden. Das ist wie der Gang zum Schafott, als würde ich jedes Mal vor einer versammelten Schar von Scharfrichtern auftreten. – Ja, ich weiß, Sie sind ein braves Publikum, ein milde gestimmtes, aufgeschlossenes Publikum. Aber solche Selbstbeschwörungen noch 5 Minuten vor Lesungsbeginn nützen nichts, überhaupt nichts.
Deshalb diese kurze Vorrede, bevor ich in den Lesungsabend einsteige. Jede Veranstaltung beginnt damit. Indem ich das erzähle, sage ich es mir selbst vor. Ich tue nur so, als würde ich Ihnen das alles vortragen. Stattdessen nehme ich damit meine AntiLampenfieber-Medizin ein. Dieses Vorwort ist nichts anderes als Autosuggestion, ein Mantra: Om mani padme hum. Und ich sage Ihnen: Die Medizin wirkt. Sie wirkt jedes Mal – besser als jedes Beruhigungsmittel. – Ich bin ganz ruhig, habe kein Lampenfieber. Om mani padme hum. – So, dann wollen wir mal!
Ausgesperrt
Im Vorwärtsstürmen nach draußen durch die Haustür stoppte Tobi ruckartig, drehte sich auf dem Absatz um und setzte zu einem verwegenen Sprung an. Da machte es auch schon ‚Klack’. Ein metallisches Klack, das so unwiderruflich, so endgültig klang, dass er laut „Scheiße rief. Wütend trat er gegen das schwere, zweiflügelige Portal, da der automatische Schließer die Tür soeben zurück ins Schloss gedrückt hatte. Nun stand er draußen und die Schlüssel lagen drinnen. Synchron mit dem Tritt brüllte er noch einmal: „Scheiße!
Es war am frühen Abend des letzten Freitags vor Weihnachten.
Tobias Lackschus, kurz Tobi oder auch Lacki genannt, war Grafik-Designer. Er hatte sein Atelier, das sich im Hochparterre des vierstöckigen, denkmalgeschützten Geschäftshauses befand, etwas überhastet verlassen.
Eigentlich war Tobi ein sanfter Mensch. Nur bei versehentlich sich schließenden Türen, die er dann nicht mehr öffnen konnte, bekam er einen Wutanfall. Und im Malträtieren von Türen hatte er Erfahrung. Denn die Haustür zu seinem Atelier war nicht die erste, die ihm mit diesem charakteristischen ‚Klack‘ den Wiedereintritt in die jenseitige Atmosphäre verweigerte. Seine Wohnungstür beispielsweise, von schwarzen Striemen gezeichnet, konnte ein Lied über solche Misshandlungen singen. Die Wut, die jedes Mal bei diesem Geräusch in ihm aufstieg, entsprang dem Gefühl, plump überrumpelt worden zu sein. Dazu spielte sich zwanghaft in seinem Kopf dieser stumme und unversöhnliche Dialog zwischen der Tür und ihm ab:
Die Tür: „Schlüssel?"
Tobi: „Liegt drinnen."
Tür: „Und jetzt?"
Tobi: „Ich muss rein."
Tür: „Vergiss es."
Deshalb empfand er die Situation stets als einen Akt der persönlichen Zurückweisung durch die Tür. Sie stellte sich ihm in den Weg, verweigerte die Korrektur seines vergesslichen Handelns und ließ ihn nicht zurückkehren, um so wieder in den Besitz seines Schlüssels zu kommen.
Im Prinzip sei doch eine Tür, so entwickelte er gerne seine Theorie, nichts weiter als ein rechteckiges Loch in der Wand – genau genommen ein Nichts, das seine Wahrnehmbarkeit nur seiner materiellen Umgebung verdanke. Wenn dieses Nichts sich erdreiste, als selbst ernannter Türsteher ihm den gewohnten Zugang zu verwehren, betrachte er dieses Konstrukt als seinen persönlichen Feind.
Diese abstruse Argumentation führte regelmäßig zu einer völlig verqueren Diskussion. Wie bitte schön, könne man ein Nichts, also etwas, was es Tobis Aussage zufolge gar nicht gab, als Feind betrachten? Und überhaupt: Eine Tür sei ein Gegenstand, dem man weder menschliche Eigenschaften noch absichtliche Verhaltensweisen unterstellen könne.
Tobi aber ließ sich nicht davon abbringen, dass er mit Türen, vor allem mit verriegelten Türen, auf Kriegsfuß stand – nicht weil er es provozierte, sondern weil Türen, die sich nur von innen ohne Schlüssel öffnen ließen, per se hinterhältig seien.
Dabei verdanke die Tür, so fuhr er zunehmend empört fort, ihre Machtstellung doch nur dem Umstand, dass er den passenden Schlüssel als Legitimation für den ungehinderten Zugang nicht vorweisen und benutzen könne. Diese ihr so unverhofft zuteil gewordene Macht nutze die Tür ungerechtfertigt aus und wende sie schamlos gegen ihn an …
Wie dem auch sei, – hätten seine Freunde das Geschehnis zwischen dem vergeblichen Sprung zurück zur Haustür und der lauthalsen Frust-Äußerung mit anschließendem Fußtritt beobachtet, hätten sie wohl gemeinsam schmunzelnd und einhellig nur gesagt:
„Typisch Tobi", was sich auf eines seiner persönlichen Markenzeichen bezog: Er war der Inbegriff des Zerstreuten, des Hans Guckindieluft, des Träumers, der sich viel lieber mit absurden Gedanken und phantastischen Bildern in seinem Kopf beschäftigte, als mit der Wirklichkeit um sich herum. Aus dieser Geistesabwesenheit ergaben sich immer wieder merkwürdige Situationen, die nur Tobi passieren konnten.
Ein weiteres Markenzeichen des überaus kreativen Grafikers war seine eigenwillige Garderobe, mit der er wie sein eigener Opa daherkam: verknitterte Baumwollhemden