Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

denn ihre Werke folgen ihnen nach
denn ihre Werke folgen ihnen nach
denn ihre Werke folgen ihnen nach
eBook261 Seiten3 Stunden

denn ihre Werke folgen ihnen nach

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Klug geflunkert, ist halb gewonnen - so lautet der Lebensgrundsatz Mario Kamovs, dessen Karriere als Bestsellerautor auf einem Diebstahl basiert: Die bei einem Verlagseinbruch entwendeten Manuskripte bearbeitete und publizierte er - mit beachtlichem Erfolg - als eigene Werke. Jahrzehnte später wird ihm seine Irreführung zum Verhängnis. Um aller Welt zu beweisen, dass er ein angesehener Schriftsteller ist, trotzdem man ihn immer der Unterhaltungsliteratur zurechnete, nimmt er einen Lehrauftrag für Poetik an einer Universität an. Unter seinen Studierenden befindet sich auch Luca, Sohn einer der vom ihm bestohlenen Autoren. Bestrebt Luca zu kontrollieren, wird Mario Kamov sein Mentor. Er beginnt eine Beziehung mit Lucas Mutter, schnüffelt in der Wohnung des jungen Mannes und analysiert dessen Werke, um herauszufinden, ob und welche Gefahr ihm drohe. Lucas Mentor zu sein, das stellt sich bald als keine leichte Aufgabe heraus, denn der Jungautor entpuppt sich als enfant terrible, erscheint zu Lesungen in Frauenkleidern, Kunstleder-Outfits oder Thomas-Bernhard-Hosen.
Das Katz-und-Maus-Spiel wird in diesem originell konstruierten und spannenden Roman letztlich zu einem Konkurrenzkampf, den nur einer von beiden überleben kann. Allzu gern würde Mario seinen Mentee ins Jenseits befördern, was er nicht wagt, denn sein ist das Wort, aber nicht die Tat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Feb. 2013
ISBN9783701362042
denn ihre Werke folgen ihnen nach

Mehr von Marlen Schachinger lesen

Ähnlich wie denn ihre Werke folgen ihnen nach

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für denn ihre Werke folgen ihnen nach

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    denn ihre Werke folgen ihnen nach - Marlen Schachinger

    XXXV.II

    I

    Ich schlug die Zeitung auf. Unter den Kulturnachrichten prangte schwarz umrandet die Bildzeile:

    »Kein Gericht der Welt würde mich schuldig sprechen, und dennoch trage ich die Verantwortung für Luca H.s Tod.«

    II

    Nein, ich habe keine Schreib-, nennen wir es: -probleme. Es ist bloß eine momentane Desorientiertheit, die sich ein wenig breiter macht als gewöhnlich, es handelt sich nur um eine kurze Phase der Inspirationslosigkeit, denn es anders zu bezeichnen, hieße, dem Schicksal Tür und Tor öffnen. Ich glaube an die Macht der Wörter; dass sie Zustände herbeirufen können, die alsdann eintreten müssen, ja, man könnte sagen, ich bin abergläubisch, das dreimalige Spucken über die Schulter der Schauspieler ist mir vertraut.

    Ich suche nach einem Thema, das ich gestalten könnte, klicke Webseiten an und weg, Gemälde, Fotos, Zeichnungen. Ich finde nichts Bewegendes. Vielleicht suche ich seit Tagen auf der falschen Ebene, möglicherweise ist mir eine bloß visuelle Anregung nicht genug? Ich wechsle also zu Cartoons, die weisen zumindest einen Kurztext auf, und als würde ich über Korrekturfahnen sitzen, murmle ich ihre Zeilen in den Raum. Eventuell wäre es möglich, drei oder vier miteinander zu verbinden, eine Kürzestgeschichte, die so entsteht, weshalb nicht? Um zweihundertfünfzig Seiten zu füllen, bräuchte ich folglich siebenhundertfünfzig bis tausendsiebenhundertfünfzig Cartoons, Mittelwert eintausendzweihundertfünfzig, möglicherweise ließe sich ein Textdrittel auch mehrfach nutzen, ohne dass es jemandem auffällt? Es wäre einen Versuch wert. Man könnte es InterTextGewebe nennen.

    Ein weiteres Cartoon, auf diesem sind drei Bischöfe zu sehen, sie stehen dickbäuchig und vor Begehren sabbernd um einen Computer. Dass kein Porno über ihren Bildschirm flimmert, sondern sie das Modell einer Internetbeichte vor sich haben, verleitet mich nicht zum Lachen: Wehe dem, der nicht brav seine Buß-Rosenkränze bete, er werde von höllischen Computerviren heimgesucht werden – wo soll da der Witz sein, oder bin nur ich heute zu griesgrämig, um angemessen zu reagieren? Wer würde über so etwas lachen und gibt es Internetbeichten in Wirklichkeit?

    Ich tippe das Wort in die Suchmaschine ein. Wer erteilt bei einer solchen Form der Beichte seinen Segen und wie? Kommt der Segen über das Modem? Eine Seelenreinigung durch Versprachlichung einer Befindlichkeit, die sich nicht erfüllen kann, weil sie bereits Vergangenheit ist: Ich weiß, ich habe eine Schreibblockade, obgleich ich es vorziehe, sie anders zu nennen, und diese Verfälschung der Wahrheit ist bedenklich, doch bietet sie Schutz usw. usf. – und danach sollte es einem besser gehen? Wer sagt, dass ich sie mit meiner Inspirationsverzögerung belangen muss? Ich könnte mir doch irgendetwas passend zu den Zehn Geboten herbei fabulieren, stehlen, lügen, begehren, schließlich bereue ich meinen Aberglauben und all seine Konsequenzen, und der Segen, den ich erhielte, er müsste allumfassend sein…

    Hier steht, es sei eine Entscheidung Gottes, ob er gebe, was er gebe, wann er gebe, man könne nur bitten.

    Aufschreiben statt aussprechen – würde Freud sich heute auch mit elektronischer Post begnügen, um die gequälten Seelen seiner Patienten zu behandeln? Liegt darin eine Geschichte, die ich gestalten könnte?

    Ein Engel flattert über die Seite, reichlich kitschig sieht der aus, dazu obendrein das Glockengedröhn, als wäre die Zeit seit Jahrhunderten stillgestanden. In einem Roman würde mir die Lektorin ›Klischee‹ kritisch anmerken.

    Ich könnte ausprobieren, was geschieht, wenn einer auf diese Art beichtet. Anderes habe ich schließlich ohnehin nicht zu tun. Ihnen eine Geschichte erzählen, ihnen oder ihm, dem einen Leser, das kann doch nicht so schwierig sein.

    Ich starre auf das Feld, in welches die Nachricht einzufügen ist. Das weiße Rechteck blickt mich vorwurfsvoll an. Die vorgegebene Fläche, um eine Beichte einzufügen, ist klein. Alles, was ich schriebe, verschwände sogleich nach oben. Das ist beruhigend. Ich könnte lügen, mich als Mörder, Vergewaltiger, mehrfach Abtreibende ausgeben. Das aber würde Arbeit bedeuten, ich müsste ein Figurenporträt einschließlich biografischem Hintergrund entwerfen, ihm oder ihr eine bestimmte Umgebung zuschreiben, aus alldem eine mögliche Geschichte entwickeln – nein, eine Handlung entlang der wahren Begebenheiten stellte einen weitaus geringeren Arbeitsaufwand dar; nicht »annähernd wahr« oder »den Tatsachen entsprechend«, denn was ist Wahrheit?

    Niemals hätte ich die Geschichte eines Sohnes erfunden, denn mir hätte dabei in der Mutterfigur meine eigene Mutter in die Quere kommen können. Ebenso wenig könnte ich mir eine Erzählung über einen Bruder ausdenken, denn es wäre möglich, dass darin – zuerst noch unbemerkt – meine Schwester auftauchen würde, und irgendeines schönen Tages wäre dann wahr geworden, was ich mir ausgedacht hatte. Mag es Aberglaube sein! Ich bin überzeugt, dass Wörtern eine prophetische Kraft innewohnt, dass Ereignisse sich herbei sprechen lassen.

    Dies ist ja die quälende Quelle meiner Schreibhemmung: Dass ich mir dies und das als Thema verwehre. Man stelle sich vor: Ich schreibe über einen Bruder, der gesteht, er habe seine Schwester – nein, nicht einmal zu denken wage ich es. Die prophetische Kraft der Wörter, ich bleibe dabei, ich könnte es mir nie verzeihen, käme meine Schwester durch mich zu Schaden.

    Ich könnte mit Markus und Darian beginnen, ich könnte von damals erzählen, als wir jung waren:

    »De Puff’n bleibt im Auto!«

    »Herst Oida, spinnst?«

    »Di oda i!«

    »Geh, Muffi, hoit dein’ Rand, und setz die Mask’n auf!«

    Ich weiß, damit haben Sie nicht gerechnet, gestatten Sie mir bitte trotzdem, die Geschichte authentisch zu erzählen, denn ohne schonungslose Ehrlichkeit macht keine Beichte Sinn, oder? Und eben darum sollte es hier doch gehen. Manche Karrieren beginnen auf absurde Weise, und am Beginn der meinen standen ebenjener Wortwechsel sowie eine Pistole. Knapp einen Monat zuvor hatten wir unseren Grundwehrdienst beendet; wir, das hieß zu jener Zeit stets Markus, Darian und ich. Die Weltwirtschaft steckte mal wieder in der Krise, und keiner in unserem Trio hatte einen Job, ganz zu schweigen von der Aussicht darauf. Markus ging es mit seiner Ach- und-Krach-Matura noch am besten, aber Darian und ich? Mittlere Reife, neun abgebrochene Lehren – er und ich, zusammengezählt.

    Doch auch die Wahrheit hinter meinen drei Abbrüchen veränderte kein bisschen jenen Gesichtsausdruck, den ich zu sehen bekam, stellte ich mich in Personalbüros vor, weil man so gnädig (oder mangelhaft vorbereitet) war, mich zu einem Gespräch einzuladen. Drei Lehren. Niemanden interessierte, dass alle dem Einzelhandel zuzurechnen waren, dass ich die erste Stelle, Buchhandel übrigens, bei der man mich einzig als Putz- und Tragekraft einsetzte, gegen eine zweite in der gleichen Branche tauschte, weil man mir eine Stelle in einem vielversprechenden Laden anbot, der jung und hip war, ein Buchcafé, gerade erst von einem Kollegen aus der ersten Lehre gegründet. Dass er nach fünf Monaten Pleite machte und ich somit auch meinen Job verlor, interessierte niemanden. Danach folgte die dritte Lehre, in einem anderen Teilbereich der Branche, denn durch den Wechsel gab man mir in keiner Buchhandlung mehr eine Chance. Ich wählte den – wie ich dachte – sicheren Sektor Elektrogeräte, der mich jedoch nicht interessierte, was meine neue Chefin natürlich innerhalb der Probezeit herausfand und mir deshalb auch sogleich kündigte. Dass diese drei misslungenen Versuche, im Berufsleben Fuß zu fassen, also sehr wohl ihren Hintergrund hatten, tangierte keinen Personalchef.

    Obendrein hatte ich während der vergangenen Wochen ausgemachtes Pech gehabt, war nach allen Regeln der Kunst hereingelegt worden. – Darüber zu schreiben fällt mir schwer; nicht weil es meinem damaligen Empfinden nach ehrenrührig gewesen wäre oder es keinesfalls zum ersten Mal geschah, dass ich bis über beide Ohren im finanziellen Debakel steckte – kein Wunder, ich hatte gerade eben dreihundertneunzig monatlich zur Verfügung und mein WG-Zimmer verschlang bereits knapp dreihundert, alles inklusive, zumindest. Ich erzähle deshalb nicht gerne davon, da ein gebrochenes Herz hinzukam. Wer, frage ich Sie, gibt freiwillig zu, dass die innere Einsamkeit einen dazu gebracht hat, einem fremden Menschen den versprochenen Honigmund zu glauben, sich rettungslos zu verfangen, weil ›sie‹ einem per SMS einflüstert, man sei so süß, das Foto, im Internet gefunden, ›sie‹ habe sich sogleich verliebt und hätte es sich nie verziehen, wenn ›sie‹ ihrer Feigheit nachgegeben und mich nicht kontaktiert hätte, solch eine Chance erhalte man nur einmal im Leben. Damit hatte sie nicht Unrecht. Ehe du es dich versiehst, gibst du dein Privatestes preis, schreibst Geheimnisse in die Nacht, und ›sie‹ antwortet mit all dem Gesäusel, das Verliebte von sich geben; mit kühlem Kopf betrachtet wirkt es stets bloß pathetisch, purer Kitsch. Zwei Wochen danach bekam ich die Mitteilung, meine Telefonrechnung betrage rund siebenhundert Euro, und meine Mutter erklärte mir unumwunden, dieses Mal könne ich ihrerseits mit keinem Cent rechnen, genug der »Spompanadeln«, wie sie meinen Lebensentwurf verärgert nannte, ich solle mir verdammt nochmal eine Arbeit suchen, auf welchem Niveau auch immer.

    Ihr Fluch ist kein unwesentliches Detail der Geschichte, denn mir verdeutlichte diese Redeweise, welche mit ihrem sonstigen korrekten Lehrerinnenton nicht in Einklang stand, unmissverständlich, dass ihre Geduld am Ende sei, und ich hatte keinen Job in Aussicht. Nicht einmal als Budensteher am Adventmarkt fand ich Gehör: Wer wisse, ob man mir trauen könne, mit solchen Worten wimmelte man mich ab. Dass ich in meinem Innersten Künstler sei wie sie, beeindruckte sie ebenso wenig wie meine finanzielle Not.

    An jenem Abend, da mich die Standverkäufer der Reihe nach abwiesen, erzählte ich Markus und Darian von meinem Debakel, und angeregt durch meinen flapsig hingeworfenen Schlussstrich, ›Woher nehmen, wenn nicht stehlen?‹, subsumierte Darian seinen Plan, und ich stimmte ihm zu. (Darian erhielt übrigens jenen Namen, weil seine Mutter – Anne Foster – einen Literaturtick hat und vor seiner Geburt ein Buch nach dem anderen von Dario Fo las, den sie in einer Neuübersetzung im Verlag, in dem sie arbeitete, herausbrachte; Darian Foster, das klang ihr vielversprechend. Leider ist jedoch ein Name nicht grundsätzlich ein Omen, das dachte sich seine Mutter wohl mittlerweile gleichfalls, denn Darian las – abgesehen von Comics und Mahnungen – freiwillig keine Zeile – obwohl, ich bin mir nicht einmal sicher, ob er sich letztere wirklich Wort für Wort zu Gemüte führte, in solchen Mengen, wie sie bei ihm eintrudelten. Das hätte in eine Situation, die man als gestresst bezeichnen könnte, ausarten müssen, zumindest zeitweise, solchen Umständen aber verstand sich Darian seit jeher zu entziehen.) Markus hatte sich unserer Unternehmung angeschlossen, weil wir alles zu dritt machten, seit Jahren schon.

    Markus machte sich am Schloss zu schaffen, endlich würde sich die jahrelange Ferialarbeit in der Werkstatt seines Vaters bezahlt machen, und er erzählte, er habe beim letzten innerfamiliären Wettbewerb im Knacken von Schlössern den Alten sowie Bruder samt Gesellen um eine Minute, achtunddreißig Sekunden geschlagen, es war also kein Wunder, dass wir kurz darauf im Stiegenhaus standen, die Treppe hoch, die Tür Nummer 7, ein Kinderspiel. Es gab nicht einmal eine Alarmanlage, alles war exakt so wie Darian es versprochen hatte. Gemäß unseres Plans schwärmten wir aus, leerten unterwegs die Bundesheertaschen von ihrer Fülle aus Gratiszeitungen, streiften mit dem Licht der Taschenlampen durch die Räume; ja, wir hatten unser Abenteuer vorbereitet. Womit wir hingegen nicht gerechnet hatten war, dass auch hier offenbar die Weltwirtschaftskrise dominierte: Der PC vor mir war nicht Schnee von gestern, sondern bereits versickertes Schmelzwasser; in den Schubladen des Schreibtisches – unverschlossen – konnte man außer Stiften, Radiergummis, einem Häufchen Centmünzen und Heftklammern nur einen halben Schokoriegel und eine Flasche Whiskey finden – billiger, amerikanischer Fusel; auf dem Tisch: Post, Bücher, stapelweise Papier; und im Regal Unmengen von Büchern. Das war es. Und wie ich deutlich Darians gehetztem Atem und Markus’ Fluchen entnehmen konnte, sah es in den beiden anderen Bürozimmern nicht besser aus.

    Ich betrat den angrenzenden Raum, offensichtlich die Kaffeeküche.

    »Haben’s dir ins Hirn g’schissen, oder was? Bei einem Verlag gibt’s sicher was zu holen, ich weiß das, weil meine Mama da arbeitet – was is hier zu holen?«

    Mir ist sehr wohl bewusst, dass dies kein angemessenes Vokabular für eine Beichte ist, aber damals waren wir jung, zornig, manchmal verzweifelt. Darian hätte übrigens Markus beim besten Willen keine Antwort geben können, hochrot im Gesicht, die Maske herabgerissen, kämpfte er mit einem Hustenanfall, stammelte unverständliches Zeug.

    »Das Einzige, was hier zu holen ist«, sagte ich, »ist das da«, und reichte Darian ein Glas Wasser.

    »Scheiße, was willst du denn mit einer Kaffeemaschine?«

    »Das ist keine Maschine, sondern der Rolls-Royce unter den Kaffeevollautomaten, das Beste vom Besten. Weiß ich aus meiner dritten Lehre, der hier kostet fast 2.000 Euro, 1.890, um genau zu sein. Zumindest war das sein Preis vor drei Monaten.«

    Ich überschlug die vermutliche Verkaufssumme geteilt durch drei und war zufrieden; der restliche Betrag zur Bezahlung meiner durch Leichtgläubigkeit entstandenen SMS-Schuld würde sich schon irgendwo finden, schließlich wäre in Kürze Weihnachten.

    Unter Flüchen verstaute Markus in seiner Bundesheertasche das Aluminium-Ding, dessen ›markante Linien die Form der Kaffeebohne‹ aufgreifen, wie unsere Chefin uns fortwährend angehalten hatte, den Werbeslogan zu zitieren. Ich legte das Glas, aus dem Darian getrunken hatte, dazu, DNA, versteht sich von selbst. Das war’s, wir konnten abziehen.

    Ein Pop-up-Fenster schob sich plötzlich in die Mitte des Bildschirms und hinderte mich daran, weiter zu schreiben: Die maximale Zeichenanzahl, die dem Beichtenden zur Verfügung stünde, sei erreicht. Der Beicht- und Predigtdienst bedaure. Ich strich ein, zwei unnötige Sätze, eine Aktivität, die mir leicht fiel, und vermerkte am Ende des Textes, dies sei Teil eins meiner Beichte, Teil zwei werde in Kürze folgen, drückte den ›Sende‹-Button. Der Online-Seelsorger des Predigt- und Beichtdienstes versprach eine Antwort innerhalb von fünfzehn Minuten, die ID sei gesegnet.

    Ich öffnete ein weiteres Schreibfenster, setzte meine Erzählung fort:

    Im Vorraum blieb Darian so plötzlich stehen, dass ich gegen ihn prallte. Er wies mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf einen Rollladenschrank neben dem Eingang, welcher durch ein Vorhängeschloss gesichert war. Niemals sollte man mit der Hoffnung der Menschen spielen, und bevor Markus sein Werkzeug auspacken konnte, hatte Darian das Schloss mit einem Knall in hundert Teile zerlegt, was Markus wegen des Lärms erneut in Rage brachte. Ich hingegen zog den Rollladen auf: Nichts. Gar nichts. Außer Papierstapel. Darian, der es nicht glauben konnte, fetzte die Blätter zu Boden, während Markus bereits zur Tür hinaus war.

    »Komm schon, los!«

    Ich packte Darians Arm, schob meinen Freund zum Ausgang. Er hielt noch immer ein Bündel Papier umklammert – »Wohin damit?«. Ich riss meine Tasche auf, er warf alles hinein, wir rannten die Treppe hinab, zerrten die Masken herunter. Das Starten der alten Karre funktionierte erst beim dritten Versuch, dennoch blieb uns ausreichend Zeit: keine Polizei, keine erleuchteten Fenster.

    Am nächsten Morgen stand es in der Zeitung: Der in der Innenstadt gelegene renommierte Verlag D. sei letzte Nacht ausgeraubt worden, die Täter hätten abgesehen von einer Kaffeemaschine (Kaffeevollautomat, bitte!), die der Verlag einem Tick der Cheflektorin L. S. verdanke, nichts erbeutet; Sachschaden an einem Schrank, den ein übereifriger Praktikant mit einem Schloss gesichert habe, obgleich darin bloß unverlangt eingesandte Manuskripte darauf warteten, dass man endlich ausreichend Geld für einen Schredder haben würde, so L. S. zum Journalisten, und danach folgte ein Zitat der Cheflektorin: »Die ermittelnden Beamten gehen davon aus, dass nichts gelesen wurde…«

    Wenn das keine Aufforderung war! Ich leerte die Bundesheertasche auf mein Bett.

    Die erste Geschichte war eine schwachsinnige Erzählung über einen Mann an einem See, der nichts anderes tat, als fischen; tagaus, tagein, Seite für Seite, er sitzt, wirft die Angel aus, holt sie ein, wirft sie aus – eine Metapher für unser Leben, so stand es zumindest im beigelegten Exposé. Möglicherweise habe ich die Story aber bloß nicht kapiert, weil die ersten vierzig Seiten fehlten, wer weiß? Dafür hörte die zweite Geschichte, drei Frauen in einem Café, (Gott sei Dank!) bei Seite sechsunddreißig unvermittelt auf. Der Bandenkrieg war abgekupferter Müll, und der angeblich überaus spannende Thriller über einen UNO-Mann in Bedrängnis häufte auf den mir vorliegenden fünfundvierzig Seiten siebenhundertdreiundsechzig Klischees aufeinander. Markus rief an: Was denn nun mit der Kaffeemaschine sei – Vollautomat!, du Vollkoffer!, und: Er solle warten, ein paar Tage, bis Gras über die Sache gewachsen war, danach würde ich unser Angebot schon auf den Markt bringen, einen Monat noch bis Weihnachten, wäre ja gelacht, und während ich dachte, was für ein Glück wir hatten, dass bislang kein Schnee gefallen war, setzte ebenjener ein, zuerst sanken nur wenige Flocken herab, dann mehr und mehr.

    Ich zog mir die Bettdecke ans Kinn und das fünfte Manuskript heran, es war beinahe vollständig, im Mittelteil fehlten rund zwanzig Blätter, was, wie ich es im Kopf überschlug, bei über fünfhundert Seiten bloß einen Verlust von nicht einmal vier Prozent ausmachte; eventuell hätte ich doch die Buchhaltungslehre beim Heer beginnen sollen, denn Mathe war mir seit jeher leicht gefallen, obgleich mich dieses Wissensgebiet nicht fasziniert. Die Kunst der Berechnung, genau darum ging es in dieser Geschichte, die nun vor mir auf dem Bett lag, oder vielmehr ging es um Marin Mersenne, der sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Naturwissenschaftler einen Namen machte – Primzahlen und Pendel zur Zeitmessung – sowie als Theologe, weshalb Sie ihn vermutlich kennen werden, nicht wahr? Die Autorin, eine gewisse J. Hofer, ließ den Erzähler des Langen und Breiten über Mersennes ärmliche, erbärmliche, mitleiderweckende Kindheit lamentieren – mir wurde während des Lesens selbst das Gähnen zu langweilig. Und hinsichtlich der Strukturprinzipien, die sie anwandte, greift die Bezeichnung ›katastrophal‹ noch zu kurz: Mersenne am Totenbett erzählt unter schmerzvollem Stöhnen und Schnauben dem jungen Mönch, der gleichfalls Marin heißt, sein Leben. Also: Kindheit, Stöhnen, Mutter, Stöhnen, Kindheit, Stöhnen, Primzahl – Was für ein Schwachsinn! Marin Mersenne, es musste über den Mann doch irgendetwas wahrhaft Interessantes zu erzählen geben, und ich zückte in Gedanken den Rotstift, als Darians Anruf mich unterbrach:

    »Was denn nun?«

    Er solle sich gedulden, ich hätte jetzt wirklich keine Zeit…

    Wir alle, davon bin ich überzeugt, sind das Produkt unserer Erziehung, und so tat ich nach fünfhundertzweiunddreißig Seiten Lektüre, was ich jahrzehntelang bei meiner Mutter gesehen hatte: Ich schnaubte vor Wut über die mir zugemutete Dummheit, recherchierte, verbesserte, schrieb um. Was dabei herauskam, war ein gänzlich anderes Werk: Marin Mersenne galt nicht umsonst als erster Networker der Menschheitsgeschichte, denn sein Arbeitsprinzip war Zusammenarbeit und Austausch der Gelehrten untereinander, und des Weiteren legte ich ein Augenmerk auf seine Verteidigung Galileo Galileis gegen die Angriffe der katholischen Kirche; Marin Mersennes Verteidigung Galileo Galileis gegen die Angriffe der katholischen Kirche – das war einfach zu recherchieren, hatte Dynamik und Sprengkraft, insbesondere weil Mersenne den guten Galileo zuerst verteufelte, bevor er ihn zehn Jahre später auf den Sockel hob.

    Vor allem aber: Ich strich. Aus fünfhundertzweiunddreißig Seiten Kindheits-Klage wurden fünf Seiten Realismus. Verfasst in knappen, klaren Sätzen, jedes Lehrbuch zum Schreiben hätte meine Leistung mit Stolz zitiert.

    Nach einundzwanzig Tagen und siebenundneunzig (vermutlich

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1