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Sehnsucht bei flacher Atmung: Mein Leben mit Depression
Sehnsucht bei flacher Atmung: Mein Leben mit Depression
Sehnsucht bei flacher Atmung: Mein Leben mit Depression
eBook483 Seiten6 Stunden

Sehnsucht bei flacher Atmung: Mein Leben mit Depression

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Über dieses E-Book

Komm mit, ich nehme Dich mit in meine Depression. Ich zeige Dir, wie das ist, wie sich das anfühlt, was sie angerichtet hat in meinem Leben. Ich zeige Dir die besonderen Momente, die Wende- und Scheidepunkte, wie meine Depression entstanden ist und wo sie eine andere Richtung nahm. Ich bin depressiv seit 52 Jahren, immer wieder anders, immer wieder neu. Glaube mir, ich habe zu erzählen. Schonungslos führe ich Dich in meine emotionalen Abgründe, zeige Dir, dass Depression nichts unberührt lässt und alles durchdringt, jeden Tag und jede Nacht. Ich zeige Dir meine Sicht auf Depression, wie ich Depression verstehe, wie sie funktioniert und was ich dagegen unternehme. Ich zeige Dir die Auswege und Konsequenzen für mein Umfeld. Depression wirkt verheerend auf die Freundschaften, die Partner, die Kinder. Mit Verve und munter berichte ich in diesem Buch, da ich eines vermeiden will: Sehnsucht bei flacher Atmung, denn davon habe ich genug.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Aug. 2023
ISBN9783347922266
Autor

Paul Kaufmann

Paul Kaufmann ist ausgebildeter Naturwissenschaftler, Jahrgang 1970 und Autor der Romanwelt Kap Kishon. Im Fokus der Romane, Erzählungen und Essays stehen neben dem Umgang mit der Männlichkeit, die Themen Depression und Sexualität. Explizit nimmt der Autor eine männliche Position ein, betrachtet die männlichen Perspektiven auf die Welt und stellt sich gegen männlichkeitsfeindliche Weltbilder. Es braucht starke Männer und starke Frauen, damit gelingen kann, was gelingen soll. Paul lebt polyamor, ist seit über zehn Jahren aktiver Teil der heterosexuellen Fetischszene und beschäftigt sich mit dem Wesen der Sexualität, mit Beziehungsformen und dem Werbungsverhalten von Mann und Frau. Seine erotischen Erzählungen spielen in Kap Kishon, einer fiktionalen Landschaft, in der es mehr gesellschaftlichen Spielraum für Sexualität gibt als in der leider sehr nüchternen Wirklichkeit. In diesen Erzählungen, Romanen und Essays spielt Sexualität eine große Rolle, wird uneingeschränkt gezeigt, beschrieben und ausgelebt, gerne mit Augenzwinkern, aber das Ziel ist der erotische Lesegenuss.

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    Buchvorschau

    Sehnsucht bei flacher Atmung - Paul Kaufmann

    Vorwort

    Etwa zwanzig Prozent des Tages möchte ich nicht mehr leben. Das ist ein Erfolg. Früher war es schlimmer. Früher war es immer.

    Und ehrlich gesagt erschrecke ich: Ja, es sind zwanzig Prozent, verdammt, so viel ist es. Jetzt, wo ich dieses Buch schreibe, bemerke ich es.

    Guten Tag lieber Leser und liebe Leserin. Mein Name ist Paul Kaufmann. Ich werde morgen zweiundfünfzig Jahre alt und bin depressiv. Schon immer depressiv. Mein ganzes Leben lang, aber nicht immer gleichförmig, nicht immer wirklich schlimm. Nicht immer zwanzig Prozent oder mehr so schlimm so sehr. Aber mehr Depression war auch schon. Viel mehr.

    Depression kann innerhalb eines Lebens sehr verschieden sein. Ich schreibe hier davon. Wenn euch dieser Sumpf, dieser Treibsand, diese Stimmung interessiert, dann seid mutig. Ich schreibe, wie es ist und für mich war; wie es gekommen ist, was ich denke über Depression.

    Ich berichte von innen. Es sind Innenansichten eines Depressiven. Es ist Privates öffentlich. Ich will zeigen, wie es ist, ein Beispiel ausplaudern ganz intim, damit mein Kampf nicht ganz so sinnlos ist. Dieses Spiel mit dem endlosen Remis geht schon so lange. Nie ist es Sieg.

    Und keine Angst: Depression ist nicht ansteckend, zumindest nicht auf diesem Weg. Zuweilen kann sie sogar witzig sein. Von außen, nur von außen betrachtet kann sie das.

    Aber, so richtig spritzig kann das Buch nicht werden, oder doch? Ich versuche es trotzdem. Niemand erwartet hier ein Feuerwerk des Frohsinns, denn das Depressive ist das Gegenteil. Depressive sind Energielöcher und scheinen mut- und kraftlos.

    Was bereits der erste Irrtum ist. So sind viele Depressive sehr lustig und witzig und voller Energie. In Sachen Humor sind sie besonders gut, denn so tarnen sie ihre Depression. Sie sind extrem gut darin!

    Kaum ein Zirkusclown, der nicht in Behandlung ist. Kaum ein Komiker, der den schwarzen Hund nicht kennt. Die Lustigsten, sind die Traurigsten.

    Der Humor, gerne auch Zynismus, ist eine Abwehrreaktion, eine Art Übersprungshandlung aus ewiger Trauer und sie funktioniert einstweilen ganz gut. Es gibt dümmere Strategien.

    Ich bin ein Beispiel für Depression mit Humor. In Gesellschaft kann ich extrem witzig sein, die Menschen blendend unterhalten über Stunden und ein Zentrum der Energie sein. Aber … das täuscht. Das ist nur die eine, die offizielle Seite, das, was andere sehen. In mir ist es nur selten so.

    Heute, Februar 2023 stehe ich im Schnitt zwanzig Prozent des Tages unter vollem Angriff depressiver Stimmung. Voll bedeutet: beinahe Lähmung. Kaum bewegen kann ich mich dann. Klare Gedanken sind nicht möglich, zehn Minuten später aber ist alles anders und weicht zurück. Es gibt ein System im Tagesverlauf, trotzdem ist jeder Tag anders und manchmal fällt das System aus. Es geht dir gut und du weißt nicht warum.

    Zum Tag gehört auch die Nacht, also der Schlaf. Es hört nicht auf, nur weil du schläfst. Im Gegenteil füttert der Schlaf die Depression, denn sie sind einander wesensverwandt.

    Vielen Menschen ergeht es so wie mir. Verdeckte Depression. Du merkst es ihnen nicht an, wenn du vor ihnen stehst. Nicht einfach so. Nur, wenn es ganz schlimm ist, wenn du ein geschultes Auge hast, diese besonderen Bewegungen kennst, diese winzigen, verräterischen Muster, dann ja, dann ist es erkennbar.

    Depression hat viele Gesichter.

    Bei mir: Es ist eine Stimmung. Sie vergeht, kehrt aber immer wieder zurück und ist unberechenbar und ein sehr tiefes Loch. Es schwankt und ist verschieden tief. Nicht alle Tage sind gleich, mal ist es mehr, mal weniger.

    Und jedes Mal, denkst du, nein, weißt du, dass es kein Ende nehmen wird. Es ist jedes Mal immer wieder neu endlos. Scheinbar. Angeblich. Unvorstellbar ist das für einen Nichtdepressiven, ist aber so.

    „Das muss er doch irgendwann verstehen, es geht doch vorbei!", will man den Depressiven anschreien, und schütteln und wecken, aber nein. Eben nicht! Das ist ja die Folter der Depression! Es ist jedes Mal endlos und für alle Zeit. Für immer! Jedes Mal ist es neu komplett hoffnungslos.

    Das klingt gefährlich – nicht, dass der Paul sich noch umbringt! – aber nein, so ist es bei mir nicht. Das gibt es, aber nicht bei mir. Ich bin nicht suizidal, nie gewesen. Ich bin anders depressiv.

    Glaubt mir, es gab Phasen, da habe ich es mir gewünscht. Ich habe mir gewünscht, suizidal zu sein, damit die Sache vorbei ist. Das sind perverse Gedanken für Nichtdepressive, für Depressive ist es logisch und hält am Leben. Meine Depression ist zu stark und zu schwach für Suizid. Beides gleichzeitig. Depressive Logik ist ein wenig merkwürdig, ihr werdet sehen.

    Meine Depression ist nicht spektakulär, oder ein großer Schmerz wie ein Speer, der in mir steckt. Nein, es ist viel schlimmer. Wenn sie ist, ist alles beiläufig verzweifelt. Es lohnt sich nicht, ein Finale „Suizid zu starten. Nein, wenn es so ist wie bei mir, dann möchtest du zwischendurch, dass dein Leben aufhört, einfach ausläuft, die Sache erledigt, versickert, damit endlich, endlich, endlich Ende ist. Und für diese drei „endlich fehlt dir schon die Kraft.

    Eine halbe Stunde später ist alles wieder gut und die Sonne scheint. Da ist nur noch eine Ahnung, wie böse dir vor einunddreißig Minuten noch war. Da ist noch so ein Rest, so eine Schwere in der Lunge, die Schultern sind noch hart und verkrampft, da muss etwas gewesen sein. Aber … hey, es geht aufwärts, wo ist das Problem? War da etwas, fragst du dich und weißt ganz genau, was da war. Du willst es nur vergessen und tust so als ob.

    In der Depression bist du irgendwie am falschen Ort. Hundert Meter weiter wäre es viel schöner. Du kannst es sehen, die anderen stehen im Schönen, im Licht und der Sonne. Sie machen nicht viel anders als du und sie haben Spaß. Du nicht. Du hast dies hier gewählt und wählst jeden Tag neu. Es ist ein bisschen deine Schuld, denkst du, was sehr deprimierend ist. So schließt sich der Kreis.

    Etwa zwanzig Prozent des Tages ist das so mit voller Wucht. Meine Welt steht auf „Hoffnungslos", den Rest des Tages ist weniger. Manchmal nichts davon.

    Heute Morgen auf der Couch habe ich mich entschieden, dieses Buch zu schreiben, und wundere mich. Es ist ein spontaner Gedanke und er liegt so nah. Warum bin ich nicht schon längst darauf gekommen?

    Das ist doch ein nettes, kleines Projekt und für mich kein Problem. Drei Vorteile habe ich auf meiner Seite:

    Erstens: Ich bin Autor. Schreiben ist mein Beruf. Das macht es leicht.

    Zweitens habe ich – und ich weiß weder warum noch bilde ich mir etwas darauf ein – schon immer eine gewisse Klarheit in mir. Schon als Kind und Jugendlicher war ich mir relativ bewusst, was in mir und an mir passiert. Relativ! Relativ ist noch immer nicht viel, das bedeutet nicht echtes Bewusstsein. Doch ich habe schon in jungen Jahren an den Rändern erfasst, was mit mir passiert. Vieles war „sehenden Auges, und so fällt es mir heute leicht, davon zu berichten; womit wir zu dem „Drittens kommen:

    Drittens habe ich sehr viel verstanden. Ich weiß, was passiert ist. Ich weiß, warum ich meine Depression habe. Ich weiß, was die Ursachen sind, ich weiß, was ich tun muss, wenn sie sich anschleicht. All das habe ich mir erarbeitet in all den Jahren. Ich behaupte, ich habe meine Depression verstanden. Ja, viele Therapeuten und Professionelle lachen dazu und behaupten, ne das gehe nicht. Ich behaupte doch, im groben kann man seine Depression verstehen. Es ist sehr viel Arbeit, es dauert, es kostet viel, aber es ist möglich. Ich verstehe, wie es funktioniert, und ich verstehe warum. Okay, einige Details begreife ich bis heute nicht.

    Ich habe sogar Abwehrstrategien, die hin und wieder funktionieren.

    Dies ist ein sehr persönliches, ja gar rigoroses Buch. Ich berichte, wie es bei mir ist. Es sind meine privaten Erfahrungen. Ich hoffe, es langweilt nicht, es ist ja meins, meine Geschichte. Aber ich habe die Hoffnung, mit schonungsloser Ehrlichkeit andere Betroffene zu erreichen. Und wenn ich nur einen erreiche, dann ist es dieses Büchlein wert. Dann wäre sein Gefühl, – „Du bist nicht allein", – mein Lohn.

    Jeder der Depression erlebt, wird andere Erfahrungen haben. Es gibt so viele Formen, so viele Arten, so viele Varianten. Zudem ist Depression nie isoliert. Sie tritt immer vergemeinschaftet auf mit anderen psychischen Schwierigkeiten. Oft sind die nicht bewusst und werden es nie, aber es ist so. Depression ist ein Symptom, nicht die Ursache. Es mag einzelne Ausnahmen geben, aber bei mir und der Mehrheit meiner Depressions-Kollegen ist es nur Symptom. „Nur ist untertrieben, dieses „Nur treibt viele in den Tod.

    Ich für meinen Teil kenne die Ursachen. Ich weiß ganz genau, was der Ursprung ist, woher es kommt bis ins Detail. Ich weiß sogar, wie ich die Ursache beseitigen könnte. Nur kann ich das leider nicht.

    Jede Depression hat eine Geschichte, eine Vorgeschichte. Das kann die Genetik sein, oder anteilig die Genetik sein. Es gibt eine Depressions-Disposition erblich angelegt bei vielen. Da sind ein paar Voreinstellungen auf „Wenn Krise, dann Depression" gelegt.

    Ursachen können bestimmte Entwicklungen sein, Ereignisse in der Kindheit, Traumata und/oder daraus sich ergebende Erschöpfung, Krankheit natürlich, Überforderung, Schicksalsschläge. Depression kann man lernen und vieles mehr.

    Ich bleibe in diesem Buch bei mir, denn dieses Buch, beschreibt meinen Fall.

    Die folgenden Kapitel sind einzelne Fetzen, Gedanken und Aspekte. Ich interpretiere und erkläre, wie ich das persönlich sehe in meinem Fall und auch wie ich es bei anderen beobachtet habe. Ich ziehe Erfahrungen anderer hinzu, wenn es eine logische Lücke füllt. Ich analysiere auch. Es sind private Gedanken. Es ist meine Konstruktion, die ich mir montiert habe, damit ich verstehen kann, was bei mir passiert. Das muss nicht richtig sein. Andere Meinungen sind erwünscht und erlaubt.

    Nein, dies ist meine Sicht. So wurde und wird das von mir erlebt und so interpretiere ich es für mich!

    Meine Hoffnung, meine Idee ist, das bringt dem Leser etwas. Es könnte erhellen, was bei Depression so im Dunklen liegt. Ich weiß, dass die klinische Sicht eine andere ist.

    Medizinisch wird von Serotonin und anderen Stoffe gesprochen. Darum geht es hier nicht. Das können andere viel besser erklären als ich.

    Auch habe ich Gefühle und Sequenzen in Phantasien gepackt. So personifiziere ich meine Depression gerne als Dämon. Bitte nicht missverstehen: Depression ist kein Dämon, der in Besitz nimmt und ausgetrieben werden muss. In diesem Text ist es ein Stilmittel, ein erdachtes Gegenüber. So soll der „Gegner" greifbar werden, eine Figur, etwas mit Eigenschaft und Antrieb. Aber eine Depression ist in Wahrheit kein Dämon und kann auch nicht ausgetrieben werden.

    Es gibt Menschen, die glauben so einen Unsinn und wollen den austreiben. Hilfe, was für ein Blödsinn!

    Nein, hier ist der Dämon nur ein Bild; so wie eine Zielscheibe auf der Schießbahn kein echtes Ziel ist, sondern nur ein Piktogramm, auf das man zielen kann.

    Werft mir also bitte nicht vor: „Aber das ist bei mir ganz anders! – natürlich ist es das. Du bist ja auch ein anderer Mensch. Oder: „Im Lehrbuch steht aber… – ja, steht da bestimmt.

    Dieses Buch ist rein subjektiv. Dieses Buch ist ein Angebot an den Leser in meinen Fall als Beispiel zu schauen. Mehr nicht. Vielleicht ist es nicht einmal ein gutes Beispiel für Depression, aber es ist das Beste, das ich habe.

    Und jetzt, hinein in den Treibsand der Depression. Es sind Zitate aus meinem Leben.

    Sie sind nicht chronologisch. Ich musste mich entscheiden: Mache ich es in zeitlicher Reihenfolge oder mache ich es logisch. Ich habe mich für die Logik entschieden. Du sollst verstehen, wie was wovon wie bedingt und ich gestalte die Texte verschieden in Art und Stil. Der Clown in mir bemüht sich es locker und luftig und bunt erscheinen zu lassen. Es ist geschummelt und geschönt. Die Grundfarbe der Depression ist tristes, ausgewogenes, endloses Anthrazit.

    Innenwelt

    Depression spielt sich im Wesentlichen im Innen ab, der inneren Welt. Deshalb wird dieser Abschnitt des Buches der größte.

    Das, was innen passiert, ist das dicke Paket, aber natürlich ist es mit der äußeren Welt, der Umgebung, dem Leben und dem Drumherum verknüpft. Kaum trennen kann man das. Ich habe es trotzdem versucht, damit es übersichtlich bleibt.

    Also zunächst: Die Innenwelt

    Treibsand

    Dem Nichtdepressiven ist schwer zu vermitteln, wie Depression empfunden wird. Depression ist etwas Eigenes und dann wieder nicht. Trauer oder traurig reicht nicht aus. Zäh ist Depression auf jeden Fall und Niedergeschlagenheit ist ein Effekt. Aber, das ist es nicht. Es trifft nicht wirklich das Gefühl, denn es ist ein Bündel aus Gefühlen. Gleichzeitig ist es etwas Negativ-energetisches und etwas Körperliches.

    Ich versuche es mit einer Metapher:

    Treibsand – Ein Depressiver befindet sich in einem Treibsandfeld. Es ist psychischer Treibsand. Die Psyche sinkt ein in zähen Brei. Genauer, wenn man es ganz genau betrachtet, wenn man viele Jahre Gelegenheit dazu hatte und es „ermeditiert" hat, dann weiß man: Es ist der Körper, der einsinkt in das Gefühl und die Psyche folgt diesem Gefühl. Der Körper sinkt ein, erlebt etwas und die Psyche vollzieht die Bewegung verzweifelt mit und seufzt dazu.

    Das ist wichtig zu verstehen! Depression ist etwas Körperliches! Sie sieht nur nicht so aus. Es fühlt sich nur nach Kopf an, als sei es nur der Geist, da die Psyche den Körper abschert. Sie kann das körperliche Gefühl nicht ertragen und blendet es aus. In Wahrheit löst der Körper es aus!

    Deshalb: Helfe deinem Körper, so hilfst du deinem Geist. Später mehr davon.

    Treibsand ist kalt. In Filmen und Comics wird das falsch dargestellt und auch wird dort das Bild von heißer Wüste mit Treibsandfeldern verbreitet. Das ist Unsinn. Treibsand findet man an Küsten und Stränden der Polargebiete, gerne unterhalb von Gletschern. Treibsand ist mit Wasser übersättigter Sand einer bestimmten Korngröße.

    Entgegen der landläufigen Meinung kann man in Treibsand nicht ertrinken bis überkopf. Das ist physikalisch unmöglich. Das spezifische Gewicht des Sandes ist höher als das des Menschen oder eines Tieres. Daher sinkt er oder es maximal bis zur Hüfte ein. Niemand versinkt gänzlich und erstickt im Treibsand, es fühlt sich nur anfangs so an.

    So auch die Depression. Niemand stirbt an der Depression. Niemand erstickt oder der Körper stellt den Betrieb ein, weil da zu viel Depression ist. Nein, wenn, stirbt der Depressive an seiner Unfähigkeit sich zu befreien. Er stirbt an Erschöpfung. Besonders schnell sinkt man in Treibsand, wenn man sich dagegen wehrt. Auch bei der Depression ist das so. Die Metapher ist stimmig, auch mit dem Folgenden:

    Es gibt Techniken sich aus Treibsand zu befreien, nur sinkt man sehr schnell neu wieder ein, was sehr deprimierend ist. Immer wieder, immer wieder, immer wieder und der Depressive weiß, dass er mit dem nächsten Schritt wieder einsinken wird. Sowohl im Sand wie auch in der Psyche.

    So ist das Tückische die Erschöpfung. In Treibsandfeldern ist die Gefahr der Erschöpfungstod, nicht der Erstickungstod. Irgendwann kann Mensch oder Tier nicht mehr, gibt auf und stirbt. Auch droht Unterkühlung, denn die Umgebung und das Wasser sind kalt.

    Im Treibsand, wie auch in der Depression, ist es kalt. Jeder Depressive ist einsam und alleine. Die anderen können einen nicht erreichen, vielleicht berühren, für einen kurzen Moment, ja das ist möglich, aber befreien muss der Depressive sich selbst. Gemeinsam im Treibsand mit anderen ist nur möglich, wenn man gemeinsam versinkt.

    Andere können helfen, wenn man im Treibsand steckt. Aber dies gelingt ihnen nur, stehen sie selbst auf festem Grund. Stehen sie das nicht, sinken sie mit.

    Meist noch selbst am Rand des Treibsandfeldes taumelnd, finden die Helfer meist den rettenden Weg zurück. Der Depressive aber nicht!

    Depression ist für die Umstehenden, die Angehörigen, die Miterlebenenden schrecklich zu erleben. Sie leiden mit, drohen mitgezogen zu werden, denn die Stimmung – nicht die Depression! – steckt an.

    Der Depressive, der im Sand Versinkende, weiß das. Er spürt das alles, was ihn noch mehr verzweifeln lässt. Er fühlt sich schuldig, da er andere mit in sein Treibsandfeld zieht. Er bräuchte doch nur zu gehen, Fuß vor Fuß zu setzen, es scheint so einfach. Er kann es aber nicht, denn er sinkt immer wieder ein und haftet fest.

    Hilflos schauen die Zuschauer vom Rand aus zu, wie das Opfer in Sichtweite leidet, sich immer wieder zu befreien versucht und im schlimmsten Fall elend verreckt oder sich nicht mehr befreien will.

    Das ist kaum zu ertragen. Denn:

    „Jemanden zu lieben, der Depression hat, ist wie London. Es ist die tollste Stadt der Welt, aber es regnet jeden Tag" – so ist es. Das hat Sophie Manleitner sehr schön gesagt. Das Zitat ist von ihr.

    Depression ist ein Treibsandfeld. Es ist endlos und ohne Horizont. Die Metapher ist gut und trifft zu bis ins Detail.

    Nur in der Ferne locken vielleicht Fels und sicherer Grund und hilflos kämpft man gegen etwas an, was immer wieder neu bremst und hemmt.

    Da draußen stehen die anderen, stehen fest und kommen weiter und haben Freude und du versinkst und versinkst und versinkst immer neu, erschöpfst dich oder erfrierst.

    Depressive schauen, so sie sich unbeobachtet fühlen, immer nach unten, denn unten ist der Feind, unten die zähe, alles erschöpfende Gefahr, der Treibsand.

    Wie jedem Erfrierendem wird ihm gegen Ende betörend heiß. Er denkt, ihm sei warm und kuschlig und schön und er will verweilen. Kurz vor dem Erfrierungstod ziehen sich Erfrierende aus, da der Körper suggeriert, ihm sei zu heiß, er würde gar brennen.

    So auch der Depressive. Er empfindet es wohlig warm in seinem eiskalten Sumpf. Er will verbleiben und lehnt alles Wärmende, jede Zuwendung ab. Nur wenigen Depressiven gelingt es, das emotionale Fenster zu anderen Menschen offen zu halten, dann meistens nur zu einer besonderen Person.

    An dieser Stelle: So du einem Betroffenen helfen willst, dann dort, an dieser Stelle. Wärme ihn, wende dich ihm zu, auch wenn er die Wärme ablehnt. Er ist ein Erfrierender, der sich der Erschöpfung ergeben will und nicht versteht, wo er ist. Er friert in Einsamkeit. Ihm ist nicht warm! Er wird getäuscht! Es ist ein körperlich-geistiger Irrtum. Er kann es nicht verstehen, also bleibe bei ihm. Das ist die einzige Stelle, wo du ihm helfen kannst.

    Selbst wenn dem armen Opfer die Befreiung einstweilen gelingt, droht ein neues Treibsandfeld. Er weiß, dass es ganz viele davon gibt.

    Mehr braucht es nicht. Die Verzweiflung, diese endlose Verzweiflung kommt von selbst und bleibt im Hintergrund, sogar, wenn er gar nicht im Treibsand steckt.

    Die Erfahrung bleibt lebenslang. Man kann von Depression nicht genesen im Sinne von löschen, tilgen oder besiegen. Man kann sie nur zurückdrängen, kaltstellen, anderes Gelände benutzen. Das ja, das ist sehr gut möglich und sehr erfolgreich sogar lebenslang. Aber es ist nie gänzlich verschwunden. Einmal Depression und es ist gespeichert. Es ist eine körperliche Erfahrung, eingelagert im Körperspeicher. Der Körper weiß: Ein falscher Schritt und es ist wieder so weit.

    Aber die meisten finden wieder hinaus, keine Angst. Die meisten schon irgendwann.

    Guten Morgen

    Ich erwache und es ist tiefe Nacht. Als sei ein Schalter umgelegt, bin ich wach und voll da. Halb hänge ich noch in einem zähen Traum. Da ist eine Erinnerung, doch sie zerrinnt in Sekunden. Das Gefühl bleibt, zerrt unschön an mir. Vier Atemzüge Freiheit, dann kommt es mit voller Wucht und drückt mich in mein Kissen.

    Was drückt, sind die Gedanken. Schwer wie Blei liegt eine Erkenntnis auf mir. Irgendein Thema. Ein Problem ist unlösbar groß. Es überhöht, scheint viel größer, als es ist.

    So weiß ich, dass ich verarme. Mein Kontostand, mein Guthaben der Girokonten ist zweiundachtzigtausend Euro. Ich bin nicht arm, aber ich weiß, ich fühle mit jeder Faser, dass ich erledigt und pleite bin. Nichts wird mehr gehen. Ich werde verarmen, ich weiß es, definitiv. Ich bin ruiniert finanziell und die Erkenntnis liegt auf mir wie Blei. Die Erkenntnis ist definitiv-unverrückbar! Die Realität, die zweiundachtzig tausend Haben, wirken nicht. Was wirkt, ist nur das Gefühl: Ich verarme.

    Meine Seele steht. Sie steht, sie steht, sie steht. Ich weiß, dass es Unsinn ist. Sie steht, sie steht, sie steht. Dann lockert sie sich. Minuten sind vergangen und ich lebe noch. Ich habe geatmet, muss so sein, habe keine Ahnung, wie es mir gelungen ist.

    Zäh ziehe ich mich aus dem Kissen, wende mich auf den Rücken. Die Verarmungsgewissheit vergeht und die nächste Schwere erscheint: Wie bekomme ich das Problem mit der Gastherme gelöst? Ich muss das heute erledigen, weiß aber nicht wie. Atmen, ich muss atmen. Zweihundert Kilo schwer drückt mich das Problem in die Matratze und die Verzweiflung ist grenzenlos. Wie eine Zwinge spannt sich das Problem um mich. Kaum kann ich den Brustkorb heben und das Problem rückt plötzlich zurück, taucht ab, denn ich höre die Katze. Die Katze will herausgelassen werden und ich atme schwer, schwer, schwer, schwer. Und nochmal schwer. Und schwer. Und schwer.

    Da ist Verzweiflung. Die Katze, die verdammte Katze! Sie drängt und springt auf das Bett. Ich kann nicht. Ich will diese Katze nicht! Ich kann mich nicht heben, denn mein Körper haftet auf der Matratze. Die Katze kann nichts dafür, also dränge ich meine Wut auf die Katze zurück.

    Aus einer Quelle, die ich nicht kenne, schöpfe ich Kraft und stehe auf. Meine Glieder scheinen zu wabern. Das Körpergefühl schleppt sich hinter meiner Bewegung hinterher. Es ist verzögert. Erreiche ich das Bad, holt es mich erst am Waschbecken ein. Das kenne ich bereits. Gehe ich, so fehlt das Körpergefühl. Bleibe ich stehen, fängt es mich von hinten wieder ein. Wir sind zeitweise getrennt. Für Sekunden bin ich ein Zombie.

    Die Katze – sie drängt. Ich weiß, dass sie drängt. Sie ist eine Katze, hey! Das liebe Tier kann nichts dafür.

    Verzweifelt tastet mein Blick nach der Kleidung des Vortags. Das Anziehen gelingt, obwohl mich eine Socke neu zur Verzweiflung bringt. Das Problem ist winzig, die Verzweiflung echt und ich kraftlos. Aber geschafft! Was Socken-Anziehen angeht, bin ich richtig erfolgreich heute Morgen!

    Den Flur entlang ist kein Problem. Die Treppe nehme ich mit heiterem Schritt. Vorbei an der Haustüre, ich mache Licht in der Küche.

    Ich schalte die Espressomaschine an, suche meinen Tabak. Eine Zigarette drehe ich mir, noch ist alles gut, denn mein Körpergefühl ist noch auf der Treppe. Es hat mich noch nicht eingeholt und es ist gar nicht so verkehrt ein Zombie zu sein. Zumindest fühlt es sich besser an, als das Gefühl, das gleich folgen wird.

    Vor der Terrassentüre ist es so weit. Es ist da! Es hat mich eingeholt. Meine Stirn sinkt gegen das Glas. Da ist diese Schwere. Drei Atemzüge warte ich, bis ich die Schwere besiegen kann.

    Auf der Terrasse ziehe ich vier Mal an der Zigarette und die Ungeduld presst. Es dauert zu lange die Zigarette zu rauchen. Ich weiß, dass es irrational ist, aber ich werfe die Kippe weg, da die Unruhe unerträglich ist. Kaum bewege ich mich, ist die Unruhe verschwunden, aber die Trägheit zerrt an mir, als hänge ich an einem Gummiband. Es ist ein Hin und Her von Gefühlen, die nicht ineinanderpassen.

    Zurück in der Küche mache ich Kaffee. Zwei Uhr dreizehn. Tiefe Nacht. Ich bin hellwach.

    Zum Kaffee schiebe ich mich durch die Nachrichten mit dem Handy in der Hand. Es ist deprimierend, da meine Psyche das Negative überhöht. Aus einer Schlagzeile wird eine persönliche Katastrophe. Meine Verzweiflung ist echt für je zehn Sekunden, mündet in absolute Teilnahmslosigkeit. Dann Aggression und Belustigung und wieder zurück zur Verzweiflung, diesmal aber anders und strukturell:

    Mein Empfinden, meine Empathie, meine Risikowahrnehmung ist dejustiert, reagiert völlig unpassend und falsch, meldet Falsches an mich. Mein Urteilsvermögen ist defekt. Aus Erfahrung weiß ich das, nehme es nicht ernst. Aber das Gefühl ist da. Es ist ein rationaler Imperativ. Also lege ich das Handy rational weg. Das bringt nichts.

    Ich muss handeln, irgendetwas. Hier nur zu sitzen ist sinnlos einsam. Da wird man ja depressiv in so stiller Nacht.

    Da ist die Idee, eine Erinnerung. Gestern wollte ich doch … also gehe ich in mein Büro und erstaunlich leicht und gut gelingen mir fünf Seiten meines Romans. Meine Hände fliegen über die Tastatur. Ich habe einen richtigen Lauf! Es ist eine Befreiung. Ich bin in meine Arbeit geflohen und es hat wunderbar funktioniert. Das war richtig gut. Romane schreiben sich gut in der Nacht.

    Vier Uhr einunddreißig, die Müdigkeit holt mich ein. Also wieder hinunter.

    Im Wohnzimmer lege ich mich auf die Couch, ziehe mir eine Decke provisorisch über den Leib. Zwei Sekunden später schlafe ich ein, übermüdet, wie ich bin.

    Etwas weckt mich. Irgendein Geräusch muss es gewesen sein. Mein Leib ist aus Blei. Ich will nicht erwachen, denn ich weiß, dass niemand mich will. Sehnsucht zieht an mir. Ich wünsche mir Hände auf meinem Rücken, eine Umarmung. Ich wünsche mir etwas, was ich nie bekommen werde. Nie. Nie.

    Minuten vergehen und mein Gefühl dreht sich in schneller Routine.

    Die Routine verändert sich, wird konkreter. Ich fühle es auf meinem Körper.

    Ich habe Sehnsucht bei flacher Atmung.

    Es ist ein Loop, eine körperlich empfundene Schleife. Ich wünsche mir Hände auf meinem Leib. Frauenhände. Gar nicht viel, auf den Flanken vielleicht. Gar nicht mehr. Ich bekomme es nicht. Ich bekomme es nie. Ich wünsche mir Hände auf meinem Leib. Frauenhände. Ich bekomme es nicht. Ich bekomme es nie. Ich wünsche mir Hände auf meinem Leib. Frauenhände. Ich bekomme es nicht. Ich bekomme es nie. Ich wünsche mir …

    Der Loop hält eine Stunde an.

    Plötzlich ist er aus. Der Loop ist vorbei und halb richte ich mich auf. Meine Glieder sind steif, denn ich habe mich eine Stunde nicht bewegt bei geöffneten Augen.

    Es ist so ein sinnloses Gefühl, eine Stunde so ein Loop! Die Sehnsucht hängt noch in meinen Gliedern. Es ist so schändlich-dümmlich in so einer sinnlosen Schleife zu denken, die nichts bringt. Es zerstört mich! Es zerstört meinen Selbstwert, es zerstört alles, denn ich versage.

    Ich lasse mich wieder auf das Kissen sinken. Der Loop setzt neu ein. Wunderbar, wunderschön. Ja, ich mag das. Ich mag es und es ist irrational und widert mich an.

    Etwas abgewandelt setzt der Loop ein und er gelingt mir nicht. So ist es nicht schön. So will ich das nicht.

    Da ist ein Geräusch in der Küche. Die Küchentüre schlägt. Viertel vor Sieben. Meine Tochter. Sie macht sich ihr Frühstück. Ich kann sie hören von hier. Sie schlurft vor dem Kühlschrank herum hin und her.

    Ich stehe auf. Zwei zähe Sekunden sind es, dann ist da Energie. Alles Blei, alles Zähe bleibt auf der Couch zurück. Alles ist gut und normal. Ich bin aufgestanden und bin da! „Guten Morgen Anna! Wie ist es dir?", frage ich fröhlich meine Tochter. Und ich bin fröhlich. Es ist nicht gespielt. Das Gefühl ist echt!

    Was bleibt, ist der Silberfaden, die feine Spur, ein Hauch des Gefühls von zuvor, dieses Loops auf der Couch und die Gewissheit eines strukturellen Versagens. Ich denke in sinnlosen Schleifen. Stundenlang. Es ist so vernichtend dämlich. Ich bin vernichtend dämlich!

    Meiner Tochter geht es gut. Mir auch. Wir scherzen. Ich liebe es, morgens mit meiner Tochter in der Küche zu sein und um Gurke und Salami zu streiten. Einfach schön. Meine Tochter ist toll! Mir mache ich Kaffee.

    Ach, und dann mache ich einmal Feuer. Warum nicht? Die Gelegenheit ist gut. Ich hole das Holz. Unbeschwert, alles cool. Ich stopfe den Ofen, drücke das Papier dazu. Mein Feuerzeug fehlt. In der Tasche ist es nicht. Wo hatte ich es, frage ich mich und mit Urgewalt ist es wieder da. Wie Blei sind meine Glieder und der nächste Atemzug ist, als sei die Luft aus Gel.

    Da sind keine Hände auf meinem Leib. Nie. Nie werden sie sein. Nie. Und ich werde es nicht ändern können. Und das Feuerzeug … das Feuerzeug … das Feuerzeug … – meine Gedanken stehen. Stehen, stehen, stehen. Ich weiß nicht, wo es ist. Blei! Es ist … für eine Sekunde bin ich unfassbar wütend. Wütend auf alle Feuerzeuge der Welt. Und auf meine Mutter. Das Gefühl taucht wieder ab und ich schlucke, damit ich nicht weinen muss. Schwer kippt mein Kopf, träge gelingt mein Atem.

    Dann fällt es mir wieder ein. Es - das Feuerzeug – liegt in der Küche, neben dem Herd. Ich setze mich in Bewegung, aber zäh zieht an mir: Die Hände auf meinem Leib fehlen und werden es immer, für immer, für immer, für immer, für immer, für immer, für immer, für immer und alles zieht nach unten an mir.

    Voraussichtlich hält der Zustand etwa zwei Stunden an.

    Sieben Uhr, der Tag beginnt.

    Hat euch das gefallen? Ich wollte euch eine Freude machen, denn das war ein guter Start in den Tag. Wenn es schlimm ist, ist es viel schlimmer.

    Und keine Sorge, ich werde funktionieren. Ich werde funktionieren, während im Hintergrund ohne Unterlass im ständigen Wechsel dieses Programm abläuft. Es wird anstrengend sein, aber ich werde funktionieren. Ich kann das. Ich mache das seit über fünfzig Jahren.

    Der Umfang

    Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob sich das Schreiben lohnt. Ist das eigentlich schlimm, was ich da erlebe? Das ist doch normal, oder nicht?

    Das ist ein großes Problem. Es fällt gar nicht leicht zu unterscheiden, ist das Depression, oder ist das einfach ein schlechter Tag? Oder ist das, was meine Innenwelt da abspult, generell normal? Ist das die Normalität bei Menschen und es geht jedem so und ich weiß nichts davon?

    Ganz ehrlich, jetzt wo ich im vorangegangenen Kapitel beschrieben habe, wie mein Erwachen verläuft, frage ich mich: Interessiert das jemanden? Ist das schlimm? Ist das überhaupt der Rede wert? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich fühle mich dümmlich, mimosenhaft, als würde ich über etwas schreiben, was jeder so erlebt.

    In den kommenden Tagen werde ich dieses Kapitel ein paar Bekannten vorlegen und fragen, ob das normal ist, ob sie das auch haben. Ich bin verunsichert. Dabei habe ich das schon hundertfach gefragt, aber ich glaube es noch immer nicht. Es ist meine Normalität! Und … jeder hat doch schlechte Tage, schlechte Stimmungen. Ist das bei mir besonders, oder stelle ich mich nur an?

    Das ist auch kein Wunder, denn es gibt viel Schlimmeres, viel schlimmere Zustände. Viel, viel, viel! Das ist dann wirklich schlimm, da sind solche Dinge, solch „kleine, trübe Sauce morgens vor sieben", die mich ständig begleitet, kaum der Rede wert. Hilfe! Wo bin ich mit meinen Gefühlen? Stelle ich mich nur an oder leide ich wirklich an etwas?

    Was ich damit sagen will, ist: Die Relationen fehlen mir.

    Bei mir wurde die Depression mit achtundzwanzig diagnostiziert. Bis dahin wusste ich nicht, dass ich das habe. Depression war irgendeine Vokabel. Es war meine gefühlte Normalität. Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass etwas nicht „normal sei bei mir. Es war so unauffällig, so sehr Normalität, dass meine Depression in den ersten beiden Jahren meiner Psychotherapie nicht aufgefallen ist. Sinngemäß: Du weißt nicht, dass du Kopfschmerzen hast, wenn du immer Kopfschmerz hast. Du kennst den Unterschied, das „ohne Kopfschmerz nicht.

    All diese Gedanken und Gefühle, die ich oben beschrieben habe, und in den folgenden Kapiteln beschreiben werde, laufen zunächst unbewusst ab. Du weißt davon nichts, bis du es dir bewusst machst. Das Einzige, was du davon spürst, ist die Stimmung, die Wirkung. Deine Gedanken stehen oder alles ist trübe und schwer und du leidest.

    Aber selbst, dass du leidest, kann dir unbewusst sein. Du kannst es nicht sehen, nicht, solange du es dir nicht bewusst gemacht hast. Irgendetwas zerrt an dir herum und du hast keine Ahnung was. Ich konnte das viele Jahre nicht erkennen und viele können das nicht oder nie.

    Aber es wirkt, es ist da! Du bist so und du weißt nicht, wie dir geschieht.

    Dieses Problem haben auch Menschen mit episodischer oder einmaliger Depression oder depressiver Verstimmung. Sie fragen sich: Wie grenze ich das ab? Bin ich schlecht drauf, oder bin ich depressiv? Wo ist der Unterschied?

    Es gibt ihn, aber die Psyche will das nicht sehen. Niemand sagt sich: Hey, ich habe Depression, läuft bei mir! Man will diese Krankheit nicht. Man will nicht so sein. Es wird vernebelt und verdrängt.

    Gut, es gibt den Effekt sich darin zu aalen, sich mit der Depression zu entschuldigen. „Ich kann nicht anders, ich habe Depression. Oder „Seht alle her, wie schlecht es mir geht! Das gibt es auch, aber das ist etwas anderes.

    Normalerweise will man sich das nicht eingestehen. Die Psyche wehrt sich gegen diese Klassifikation. Die Antwort eines Depressiven „geht schon" auf die Frage, wie es ihm gehe, ist der Versuch, es nicht an das Licht zu zerren. Auch will er/sie/man anderen damit nicht zur Last zu fallen. Ich komme noch darauf zurück, wie belastend diese Eingeständnisse sind.

    Aber so oder so ist Depression eine Aufgabe, ein Projekt. Es stört nicht nur, es kostet Energie. Es lähmt, verhindert

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