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Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder: Ein viktorianischer Krimi
Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder: Ein viktorianischer Krimi
Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder: Ein viktorianischer Krimi
eBook245 Seiten3 Stunden

Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder: Ein viktorianischer Krimi

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Über dieses E-Book

London 1896 – Bei Bauarbeiten am neuen U-Bahn System stoßen Arbeiter auf den in Badetücher gewickelten Leichnam eines Mannes. Sämtliche Spuren führen in ein Dorf bei Edinburgh. Chief Inspector Donald Swanson sieht sich gezwungen, den Zug zu besteigen und gemeinsam mit Sergeant Phelps in seine schottische Heimat zu reisen.
Dort versucht Frederick Greenland, der reiche Lebemann aus Bloomsbury, derweil mehr über die Herkunft seines Ziehsohnes in Erfahrung zu bringen. Das gefällt offenbar nicht jedem. Ein paar Mal entgeht er nur um Haaresbreite dem sicheren Tod.
Wer steckt hinter den Anschlägen? Und welche Rolle spielt der Fremde, der ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen scheint? Schützenhilfe bekommt Frederick von Arthur Conan Doyle, der dort gerade seinen alten Professor besucht. Doch als ein weiterer Mord geschieht, überschlagen sich die Ereignisse. Selbst Swanson muss sich eingestehen, dass ein perfider Mörder sie an der Nase herumführt …
SpracheDeutsch
HerausgeberDryas Verlag
Erscheinungsdatum20. Nov. 2023
ISBN9783986720469
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    Buchvorschau

    Inspector Swanson und das Haus der verlorenen Kinder - Robert C. Marley

    Vorbemerkung

    Im 19. Jahrhundert kam der merkwürdige und zweifelhafte Beruf der Babyfarmerinnen auf. Junge Mütter – ob mittellos oder aus anderen Gründen nicht dazu in der Lage, die von ihnen geborenen Kinder großzuziehen – zahlten eine Summe Geldes an Pflegemütter, die versprachen, die Babys in ihre Obhut zu nehmen und für ihr weiteres Wohlergehen zu sorgen. Eine Vorgehensweise, die uns aus heutiger Sicht bereits erschaudern lässt. Doch es war weit schlimmer.

    Obwohl es zahlreiche seriöse »Babyfarmerinnen« gab, die der eingegangenen Verpflichtung tatsächlich nachkamen, waren doch die schwarzen Schafe in der Überzahl. Nicht selten wurden die Kinder, wenn sie fünf oder sechs Jahre alt waren, weiterverkauft – an windige Geschäftsleute, die sie für sich arbeiten ließen und wie Sklaven hielten.

    1896 stand in London mit Amelia Dyer eine skrupellose Frau vor Gericht, die das Geschäft mit den Pflegekindern noch mehr pervertierte. Dyer ließ sich von den Müttern die vereinbarte Summe aushändigen und tötete die Kinder anschließend sofort. Auf diese Weise starben 200 oder sogar mehr Kleinkinder durch ihre Hand. Nach Leichenfunden in der Themse, die zu ihr zurückverfolgt werden konnten, wurde sie schließlich verhaftet und erhielt die Todesstrafe.

    Und noch 1903 wurden Amelia Sach und Annie Walters – als Babyfarmer von Finchley berüchtigt – für den Mord an mindestens zwölf Kleinkindern zum Tode verurteilt und im Londoner Gefängnis Holloway gehängt.

    Die Handlung des folgenden Romans ist natürlich frei erfunden. Dennoch möchte ich Sie bitten, diese Tatsachen während der Lektüre im Gedächtnis zu behalten.

    R. C. M.

    PROLOG

    » ›Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;

    Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.‹

    Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!

    Erlkönig hat mir ein Leids getan! – «

    Johann Wolfgang v. Goethe

    Fairweather Manor, Bilston, Schottland,

    21. Mai 1887

    Der Regen klatschte in jener Nacht in wilden Böen gegen die hohen Fenster, während die gezackten Blitze wie Peitschenhiebe über den bewegten, schwarzen Himmel zuckten und das Grollen des Donners die Fensterscheiben erzittern ließ.

    Henry Fairweather stand der Schweiß auf der Stirn. Die Woche war ungewöhnlich heiß gewesen, und der Regen hatte kaum Kühlung gebracht. Nervös ging er auf dem Gang vor dem Schlafzimmer seiner Gattin auf und ab, die Hände hinter dem Rücken, wie es seine Gewohnheit war, wenn er nachdachte.

    Im Januar erst war sein jüngerer Bruder Roderick ums Leben gekommen. Ertrunken in den eisigen Fluten des Atlantiks. Das Schiff auf dem er fuhr, die Kapunda, war auf dem Weg von London nach Fremantle vor Brasilien mit einer Bark kollidiert und innerhalb von Minuten gesunken. Nur sechzehn der 319 Passagiere und Besatzungsmitglieder waren gerettet worden. Roderick war nicht darunter gewesen. Er hatte Roderick abgeraten, die Reise zu unternehmen. Ihre Diamantenminen in Afrika warfen mehr Profit als genug ab. Doch sein Bruder war nicht zu bremsen gewesen. Ein Pionier und Abenteurer, überzeugt davon, Australien würde West-Griqualand noch den Rang ablaufen. Einzelne Funde waren vielversprechend gewesen. Zum goldenen Jubiläum der Königin im Juni wollte er zurück sein …

    Was, wenn nun auch noch Clara …?

    Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Bilder seiner Ahnen blickten streng und mahnend von den goldgerahmten Porträtauf ihn herab. Er blieb am Fenster stehen und klaubte seine Taschenuhr hervor, die am Ende einer silbernen Kette am Knopfloch baumelte.

    Gleich fünf vor zwölf. Wo, zum Teufel blieb der Arzt?

    Ungeduldig spähte Fairweather durch die schweren Regenschleier vor den hohen Bleiglasfenstern hinunter auf den Vorplatz und den Rundbogen der Einfahrt. Vor Stunden, wie es ihm vorkam, hatte er Watkins, seinen Diener, mit der Nachricht fortgeschickt. Stand nur zu hoffen, dass der Mann mit dem Fahrrad die Stadt überhaupt lebend erreicht hatte.

    Die Schlafzimmertür wurde geöffnet, und Mimi, das Hausmädchen, streckte ihren Kopf heraus. Sie sah besorgt aus. »Die Missus verlangt Sie zu sehen, Sir.«

    Clara lag auf dem Bett, die Wangen rot und die Augen fiebrig. Eine dünne Decke bedeckte ihren zierlichen Körper und spannte sich über ihren gewölbten Bauch. Das blonde Haar trug sie offen. Wie ein Schleier lag es ausgebreitet auf dem Kissen. Sie lächelte schwach, als sie ihn ansah.

    Er setzte sich auf die Bettkannte und nahm ihre Hand. »Es kann nicht mehr lange dauern, Liebling«, sagte er ermunternd. »Er muss jede Minute hier sein.«

    »Ja«, sagte sie. »Er muss. Ich halte es nicht mehr lange aus. Sie kommen alle zehn Minuten.«

    Er blickte sie fragend an. »Wer kommt?«

    »Die Wehen, Liebling«, hauchte sie. »Sehen Sie ihn sich an, Mimi. Unwissend wie jedes Exemplar seiner Gattung.« Sie lächelte wieder, herausfordernd diesmal.

    Das Hausmädchen tauchte schmunzelnd den Schwamm in die Schale mit Essigwasser und betupfte sanft ihre Stirn.

    Fairweather nahm es gelassen. Solange sie ihren Humor noch nicht verloren hatte, dachte er bei sich, waren seine Sorgen vermutlich unbegründet. Er bemerkte das Magazin auf ihrem Nachttisch. »Du hast im Lady’s World Magazine gelesen? Sprachst du nicht erst neulich davon, wie banal und voller Tratsch es sei?«

    »Oh, es ist nicht mehr trivial, Liebling«, entgegnete sie mit schwacher Stimme. »Ich war selbst ganz überrascht. Dieser lustige Oscar Wilde, von dem jetzt alle reden, betreut es neuerdings. Es gibt Artikel über Erziehung und Reinlichkeit. Er scheint wirklich etwas davon zu verstehen.«

    »Wie schön.« Er ließ ihre Hand los und erhob sich vom Bett. Am Fenster stehend schob er die Vorhänge beiseite.

    Ein greller Blitz erhellte die gotischen Wasserspeier rechts und links des schmiedeeisernen Tores. Es regnete noch immer.

    In der Ferne sah er zwei flackernde Lichter in der Nacht, die schaukelnd näherkamen. Das musste die Kutsche des Arztes sein! Kurz darauf drangen das Rasseln und Klappern eines Wagens und das Trampeln eisenbeschlagener Hufe auf regennassem Kies an seine Ohren. Sie kamen die Auffahrt hinauf! Endlich.

    »Gott sei Dank, sie sind da, Clara!«, rief er, hüpfte über die Wäschetruhe, rannte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppen nach unten und riss die Tür auf. Der Arzt und Watkins liefen gebückt durch den strömenden Regen auf ihn zu.

    »Bin losgebraust, wie der Teufel, Sir«, sagte der Diener, als er in die Halle stolperte. »Aber der verdammte Drahtesel ging auf den letzten Metern zu Bruch.«

    Der Arzt trat hinter ihm ein, in der einen Hand einen Weidenkorb, in der anderen seine Tasche. »n‘abend, Henry. Bin so schnell gekommen, wie es ging.« Sein Mantel triefte vor Nässe. »Clara hält sich wacker?«

    »Wie gut, dass du da bist, Val«, meinte Fairweather, derweil Watkins dem Arzt den Mantel abnahm. »Sie hat gesagt, sie kommen jetzt alle zehn Minuten.«

    »Offenbar halluziniert sie bereits. Was sagt sie, wer kommt?«

    »Val, mein Gott!« Fairweather rang die Hände. »Die verfluchten Wehen!«

    »Ich brauche heißes Wasser, Handtücher und einen doppelten Brandy. Schnell!« Der Arzt packte den Korb und die Tasche. Dann eilte er die Treppen hinauf und verschwand im Schlafzimmer.

    Der Diener lief in die Küche, um alles zu besorgen und lieferte die Sachen an der Zimmertür ab. Von nun an hieß es warten.

    Watkins brachte ihm zwischendurch einen Brandy. »Wird schon alles gut ausgehen, Sir«, meinte er. Doch die Minuten zogen sich wie Stunden. Auf dem Gang umhergehend hörte er Clara stöhnen und wimmern. Dann wurde Mimi hinausgeschickt, um mehr heißes Wasser zu holen. Und nach einer weiteren Viertelstunde noch einmal.

    Jetzt war es gespenstisch still. Henry Fairweather drückte sein Ohr an das Türblatt. Nichts.

    Dann, nach einer Ewigkeit – es war mittlerweile weit nach zwei Uhr am Morgen –, da öffnete sich die Schlafzimmertür, und der Arzt trat auf den Flur hinaus, den geschlossenen Weidenkorb in der rechten Hand.

    Fairweather stürzte sogleich auf ihn zu. »Wie geht es Clara?«

    »Sie ist wohlauf«, antwortete der Arzt. »Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Das Mädchen ist bei ihr. Sie schläft.«

    Glücklich strahlte er über das ganze Gesicht. »Und das Kind?«

    »Es tut mir aufrichtig leid, Henry.« Der Arzt sah ihn traurig und ernst an. »Das Kind hat es nicht geschafft. Es war zu schwach.«

    »Es ist tot?«

    »Die Nabelschnur. Sie hatte sich um seinen Hals geschlungen.«

    Fairweather schluckte schwer, bemüht, die Tränen zurück zu halten, die bereits in seinen Augen glänzten. »War es ein Mädchen oder ein Junge?«

    »Ein Junge«, entgegnete der Arzt.

    »Kann ich ihn sehen, Val?« Er zitterte, als er jetzt den geschlossenen Weidenkorb anstarrte.

    »Das kann ich nicht zulassen, Henry.« Der Arzt legte ihm die Hand auf den Arm. »Es ist ein entsetzlicher Anblick. Das Beste wird sein, du vergisst, dass das Kind überhaupt geboren wurde.«

    »Es vergessen?« Er dachte an die Monate der Aufregung und Vorfreude, an die bangen Stunden auf dem Flur, und die Tränen schossen ihm in die Augen. »Nein.«, sagte er. »Nein, Clara hat ihn zur Welt gebracht. Und ich …« Er rieb sich die Augen. »Und ich werde ihn mit allem gebotenen Anstand beerdigen.«

    Der Arzt drückte seinen Oberarm und wandte sich zur Tür. »Du hast natürlich ganz recht, Henry. Es ist dein Kind. Ich werde die nötigen Schritte in die Wege leiten.« Er hielt kurz inne, so als sei ihm im Nachhinein ein Gedanke gekommen. »Abgesehen vom Begräbnis, sind einige rechtliche Formalitäten zu erledigen, fürchte ich. Ich werde mich darum kümmern.«

    Fairweather nickte unter Tränen. »Danke.«

    »Keine Ursache. Kümmere dich um Clara. Aber sag es ihr noch nicht.«

    Entsetzt und fahrig sah er ihn an. »Sie weiß nicht Bescheid? O mein Gott!«

    »Es wäre nicht gut. Niemand weiß, wie sie die Nachricht aufnähme. Wir müssen jegliche Aufregung vermeiden. Sonst könnte es womöglich noch zum Wochenbettfieber kommen.« Er seufzte schwer. »Um ihre vollständige Rekonvaleszenz nicht zu gefährden, halte ich es für ratsam, es ihr frühestens übermorgen zu sagen – nach der Beisetzung.«

    »Was so schnell bringen wir ihn unter die Erde?«

    »Das ist absolut notwendig, glaub mir. Ich werde alles Nötige veranlassen.«

    »Also schön, Val.« Fairweather straffte sich. »Wenn du es für richtig hältst.«

    »Vertrau mir, Henry«, entgegnete er. »Clara wird es dir eines Tages danken.« Er ging zur Tür.

    »Ich werde ihn Roderick nennen. Nach meinem verstorbenen Bruder.«

    »Gewiss. Das ist ein guter Name. Ich gebe es an den Steinmetz weiter.«

    Aus dem Korb drang ein schwaches aber hörbares Geräusch. Es klang wie ein leises Fiepen. Der Arzt hüstelte.

    »Was war das?«

    »Die Faulgase, Henry.« Der Arzt machte ein ernstes Gesicht. »Es ist höchste Zeit. Es beginnt bereits, sich zu zersetzen. Ich sagte ja, es sei ein entsetzlicher Anblick.«

    Fairweather nickte und schlug die Hände vors Gesicht.

    »Du musst jetzt stark sein. Für euch beide. Ich sehe morgen Nachmittag nach Clara und bringe die Papiere mit.« Er öffnete die Tür, und der Regen wehte herein. »Auf bald, Henry.«

    »Auf bald.« Fairweather zog die Tür hinter sich zu. Dann sank er langsam mit dem Rücken daran herab, bis er auf dem blanken, regenfeuchten Steinfußboden hockte und begann hemmungslos zu weinen.

    Am folgenden Nachmittag kehrte der Arzt nach Fair­weather Hall zurück. Desinteressiert und das Herz voller Kummer kritzelte Henry Fairweather seine Unterschrift unter die Papiere, die Val ihm hinlegte.

    Die Beisetzung fand tags darauf um die Mittagsstunde in aller Stille auf dem nahegelegenen Friedhof von Bilston statt. Nur er, der Arzt und der Priester waren anwesend. Die Sonne schien hell und warm an diesem Tag.

    Er hatte mit Mimi gesprochen. Sie hatte seinen Sohn in jener Nacht zu Gesicht bekommen. Ganz rot sei er gewesen. Und friedlich habe er ausgesehen, hatte sie zu ihm gesagt. So, als schliefe er nur.

    Henry Fairweather erfuhr nie, dass das Kind, das ihm seine liebste Clara geboren hatte, dass sein Sohn und Erbe, noch am Leben war.

    Erster Teil

    Unter der Erde

    » Königlich ruhst du in deiner Verlassenheit,

    Garten –und selten nur tust du die Tore weit …

    Mit deiner steilen Gebüsche

    verschwiegnem Verlies. «

    Stefan Anton George (1868–1933)

    KAPITEL 1

    Baker Street, London, 16. September 1896

    Tief unter den Straßen Londons, war es stockdunkel, stickig und heiß. Nur die schwachen Lichter der Öllampen der vorauseilenden Arbeiter tanzten an den gewölbten Tunnelwänden des U-Bahnschachts wie aufgescheuchte Gespenster in einer Gruft.

    Chief Inspector Donald Swanson versuchte, in der Dunkelheit mit den zwei Männern Schritt zu halten. Sergeant Peter Phelps, der mit einer eigenen Lampe hinter ihm ging, schnaufte vor Anstrengung.

    Die Meldung, man habe bei Bauarbeiten eine Leiche gefunden, war vor gut einer Stunde eingetroffen. Swanson hatte sich sofort Peter Phelps geschnappt und war mit einem Hansom Cab zum U-Bahnhof Baker Street gefahren, wo zwei Arbeiter sie am Eingang erwarteten. Von dort waren sie zunächst durch unzählige helle Gänge voller Menschen gelaufen, hatten dann abseits der Reisenden zwei eiserne Wendeltreppen nach unten genommen, und waren schließlich in den im Bau befindlichen Tunnel gelangt. Die ersten fünfhundert Yards war er noch beleuchtet gewesen, wenn auch spärlich. Ein paar elektrische Lichter an der gewölbten Decke. Immerhin hell genug, um zu erkennen, wohin man trat. Doch nun war es seit einer Ewigkeit, wie es Swanson vorkam, finsterste Nacht um sie herum. Die Arme vor sich ausgestreckt, stolperte er blind hinter den auf und ab hüpfenden Lichtschimmern der Laternen her und hoffte das Beste.

    »Wir sind da, Sirs!«, rief einer der Arbeiter vor ihnen, als sie an eine riesige Konstruktion aus glänzendem Eisen kamen – eine mächtige hydraulische Presse, die bis an die Tunneldecke reichte. Der Lichtschein der schaukelnden Lampen huschte hektisch darüber und beleuchtete dann eine schmale Kluft rechts davon. »Kommen Sie, drücken Sie sich seitlich vorbei. Aber passen Sie auf Ihren Kopf auf.« Und damit verschwand er in dem schmalen Spalt zwischen der Maschine und der Tunnelwand.

    Swanson musste den Bauch einziehen und sich mit kleinen Schritten seitlich hindurchquetschen, um ihm überhaupt folgen zu können. Irgendetwas fegte ihm den Bowler vom Kopf. Es war sinnlos im Dunkeln danach zu suchen. Als er auf der anderen Seite herauskam, wartete der Arbeiter bereits auf ihn. Swanson duckte sich unter einem herabhängenden Flaschenzug hindurch, und kurz darauf gingen nacheinander surrend einige elektrische Lampen an.

    Hier war es noch heißer als im übrigen Teil des Tunnels. Swanson lockerte den Knoten seiner Krawatte und öffnete den obersten Knopf seines Kragens.

    »Wir müssen da raufklettern, Sir«. Der Mann deutete auf das bis unter die Decke reichende Gerüst aus Eisenträgern, das aus vertikalen Stützpfeilern und horizontal verlaufenden Trägern bestand, die zusammen sechs Abteilungen bildeten. Swanson erinnerten sie entfernt an Bienenwaben.

    »Was ist das?«, fragte er. »Eine Bohrmaschine?«

    »Nein, Sir.« Der Mann hob belustigt die Augenbrauen. »Graben müssen wir schon noch mit Spitzhacke und Spaten. Das da ist nur der sogenannte Rahmen. Schützt uns bei der Arbeit vor herabfallenden Steinen und Erdreich.« Der erste Querträger des Rahmens befand sich auf Augenhöhe. Der Arbeiter zog sich kraftvoll daran hoch, drückte die muskulösen Arme durch und stemmte sich auf die Hände. Dann schwang er, elegant wie ein Trapezkünstler, die Beine nach oben und lugte über den Rand zu Swanson herunter. »Sie sehen es nur von hier aus, Sir. Meinen Sie, Sie schaffen das?«

    »Mein Sergeant wird mir raufhelfen«, sagte er. Er reichte seine Lampe nach oben und winkte Peter Phelps heran, der eben mit Swansons Bowler in der Hand aus dem Spalt ins Licht trat. »Sie werden mir raufhelfen müssen. Ich glaube zum klettern bin ich zu alt.«

    »Kein Problem, Sir.« Der Sergeant reichte ihm den Hut. Und als Swanson ihn aufgesetzt hatte, verschränkte Phelps die Finger, stellte sich breitbeinig hin und nickte dem Chief Inspector zu. »Geben Sie mir Ihren Fuß, ich hebe Sie hinauf.«

    Oben packten vier Hände Swansons Arme und Achseln, und eine Sekunde später stand er auf dem Querbalken. Phelps tat es dem Arbeiter gleich und zog sich mit einer Leichtigkeit auf die Plattform, die Swanson beeindruckte.

    Der Arbeiter wandte sich um. Swanson hob seine Lampe auf und folgte ihm.

    »Hier haben wir ihn gefunden«, sagte der Mann und streckte den Zeigefinger aus.

    Swanson blickte ratlos geradeaus. Er sah nichts weiter als eine Wand aus Erde und Lehm. »Ich sehe nichts weiter als eine Wand aus Erde und Lehm«, sagte er schließlich. »Wo genau ist er?«

    »Sie müssen schon näher rangehen. Erst haben wir gedacht, das sei bloß eine tief ins Erdreich ragende Baumwurzel.« Der Mann robbte auf Knien bis ganz an die dunkle Wand heran. »Als wir uns das aber näher angesehen haben, da war klar, das ist ‘n Mensch, Sir.«

    Swanson duckte sich unter einem quer verlaufenden Eisenträger hindurch, ging neben dem Arbeiter in die Hocke und schaute dem Mann dabei zu, wie der am unteren Teil der Wand vor sich ein Stück der vermeintlichen Wurzel mit einem Lappen vom Dreck befreite.

    Nun sah er es auch. Ein haariges, weißes, zur Hälfte von Erdreich umgebenes menschliches Bein kam, von der Hüfte abwärts, zum Vorschein. Der Rest des Körpers steckte allem Anschein

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