Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Geheimnis der Mozartova 4: Roman
Das Geheimnis der Mozartova 4: Roman
Das Geheimnis der Mozartova 4: Roman
eBook259 Seiten3 Stunden

Das Geheimnis der Mozartova 4: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

An ihrem 80. Geburtstag übergibt die in Prag geborene und in Baltimore lebende Großmutter ihrem Enkel das Familienalbum und erzählt ihm die wechselvolle Geschichte ihrer amerikanisch / tschechisch / österreichischen Familie. Diesen Spuren folgt der Enkel zurück bis in das Jahr 1918, erwirbt das Haus der Familie in Prag zurück und entdeckt in dessen Keller ein grausiges Geheimnis.

Beim Lösen dieses Geheimnisses erfährt er viel über die Liebe und die Opferbereitschaft seines Urgroßvaters und die Stärke seiner Großmutter. Wird das Geheimnis den Zusammenhalt der Familie sprengen?
SpracheDeutsch
HerausgeberMedimont
Erscheinungsdatum22. Mai 2024
ISBN9783911172608
Das Geheimnis der Mozartova 4: Roman
Autor

Gerhard Appelshäuser

Gerhard Appelshäuser, dessen Lebensmittelpunkt in Wien liegt, wurde durch diese facettenreiche Stadt zum Schreiben inspiriert. Viele Reisen, erworbene Erfahrungen und seine Neugier sind die Stützen seiner Fantasie. Mit Kurzgeschichten begann sein schriftstellerischer Weg. Inzwischen verfasst er auch Romane und Erzählungen. Bislang wurden sieben Kriminalromane und ein Roman aus seiner Feder veröffentlicht: • Der Tote auf Bahn 4 • Der Maler der zwei Mal starb • Auch der Tod arbeitet im Weinberg • Tod in der Puszta“, • Das versperrte Paradies • Als der Renoir aus dem Rahmen fiel • Mord beim letzten Akkord • Das Geheimnis der Mozartova Nr. 4

Mehr von Gerhard Appelshäuser lesen

Ähnlich wie Das Geheimnis der Mozartova 4

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das Geheimnis der Mozartova 4

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Geheimnis der Mozartova 4 - Gerhard Appelshäuser

    Baltimore

    Oktober 2003

    Mein Vater, Francis II Lee Alexander, innerhalb der Familie nur Lee genannt, rannte wutschnaubend aus meiner Wohnung. Die Eingangstür knallte er heftig hinter sich zu, um seinem Ärger auch akustisch das notwendige Gewicht zu verleihen. Streit mit meinem Vater versuchte ich, seit meiner Kindheit, zu vermeiden. Eigentlich wollte ich mit niemand im Streit leben, und soweit ich zurückdenken kann, ist mir dies auch meistens gelungen. Aber in den letzten Jahren, genau genommen, seit er mit Miranda, seiner zweiten Frau verheiratet ist, genoss ich es, wenn er sich ärgerte. Eine kleine Revanche für die Niederlagen, die er mir seit meiner Kindheit zugefügt hatte und die ich mir gefallen ließ, ohne mich zu wehren.

    Den Grund seiner Wut konnte ich sogar verstehen, auch wenn der Anlass mehr als traurig war. Wir stritten darüber, den Willen seiner vor zwei Wochen verstorbenen Mutter, meiner geliebten Großmutter, zu erfüllen. Vor einigen Monaten ernannte sie mich zu ihrem Anwalt und Testamentvollstrecker und nicht ihren Sohn. Ich fand in ihren Unterlagen einen an mich gerichteten Brief mit der Verfügung, sie in der Gruft ihrer Eltern und nicht in der Familiengruft ihres Mannes beizusetzen. Die Grabstätten liegen auf verschiedenen Friedhöfen.

    Die Familie Alexander, eine in Baltimore alt eingesessene Anwaltsfamilie, unterstützte immer die Westminsterkirche der Presbyterianer. Deswegen besitzt sie dort eine Familiengrabstätte, nicht weit entfernt vom Grabmal des Dichters Edgar Allen Poe. Sie darf noch immer genutzt werden, obwohl der Friedhof in der Zwischenzeit geschlossen worden ist. Wie mir Großmutter erzählt hatte, brach schon einmal, beim Tod ihres Vaters, Streit darüber aus, wo er beerdigt werden sollte. Damals weigerte sich die Familie, einen eingewanderten Europäer, der darüber hinaus noch katholisch war, bei stolzen protestantischen Maryländern ruhen zu lassen.

    So liegen der Urgroßvater und später auch meine Urgroßmutter auf dem katholischen Friedhof und dort wollte auch meine katholische Großmutter begraben werden; ein Skandal für meinen Vater.

    Aber die Verfügung meiner Großmutter war eindeutig:

    Mein lieber Enkel Karel,

    Ich, Josefine Mary Alexander, Tochter des Karl Emanuel Wittighofer und seiner Frau Jennifer, in Prag am 12. April 1921 geboren, verfüge, dass meine Asche im Grabmal meiner Eltern beigesetzt wird.

    Du, mein geliebter Karel, wirst mir einen letzten Dienst erweisen und diese Verfügung gegenüber Deinem Vater, meinem Sohn Francis II Lee, durchsetzen, der mich sicherlich neben meinem geliebten Mann Francis Morton in der Gruft der Alexanders beerdigen will.

    Da ich mich aber, mit Ausnahme bei meinem leider schon früh verstorbenen Mann, nur in meiner eigenen Familie geborgen gefühlt habe, wirst Du meinen Wunsch sicherlich verstehen.

    Baltimore, am 18.04.2003

    Josefine Mary Alexander

    Wütend warf mein Vater das Dokument auf den Tisch.

    »Carl, du wirst doch diesen Blödsinn einer alten, störrischen Frau nicht ernst nehmen. Sie hat immer in der alten Welt gelebt und spöttisch auf uns Amerikaner herabgesehen. Gar nicht zu reden von der Missachtung unserer alteingesessenen Familie.«

    Er nennt mich Carl, so wie ich getauft wurde, aber alle, die mich lieben, sagen Karel zu mir, so wie meine tschechische Mama.

    »Als Anwalt solltest du wissen, dass solche Verfügungen gültig sind und ihnen auch entsprochen werden muss, so sie keine Gesetze verletzen. Das tun sie nicht in diesem Falle. Oder willst du den letzten Willen von Grandma wegen geistiger Verwirrung anfechten?«

    »Natürlich nicht; glaubst du, ich mache mich in der Stadt lächerlich? Aber das ist eine Angelegenheit innerhalb der Familie und da brauchen wir kein Gericht. Es wird Zeit, dass du dich in unsere Familie eingliederst.«

    Das arrogante Gesicht meines Vaters wurde dabei noch eine Spur arroganter. Nicht was er sagte, sondern wie er es sagte, veranlasste mich, ihm gegenüber den letzten Respekt zu verlieren.

    »Ich werde Grandma dort beerdigen, wo sie es wollte. Du kannst an der Beerdigung teilnehmen, falls du noch einen Funken Anstand besitzt, oder ihr fernbleiben; ich glaube, Grandma hat von dir nichts anderes erwartet.«

    Ich hatte meinen Vater noch nie so schnell aus einem Sessel aufstehen gesehen; immerhin ist er schon siebenundfünfzig Jahre alt. Mit schriller Stimme schrie er mich an:

    »Du gehörst nicht mehr zu unserer Familie. Du hast drei Tage Zeit, mein Haus zu verlassen und deine Wohnung zu räumen. Morgen erwarte ich deine Kündigung im Büro!«

    Der harte Ton klang noch eine Weile im Raum nach, als er diesen schon längst verlassen hatte. Gelähmt blieb ich noch einige Minuten unter der alten Stehlampe sitzen. Ihr Lichtkegel leuchtete nur die beiden Sessel aus, in denen unsere Unterhaltung so abrupt beendet wurde. Im milden Licht war die leichte Delle im Leder noch zu erkennen, die mein Vater hinterließ. Ungewollt starrte ich darauf und dachte über seine letzte Bemerkung nach.

    Aus welcher Familie hatte er mich gerade hinausgeworfen?

    Aus der, deren Name ich trage?

    Gehörte ich je zu dem Alexander-Clan oder eher zu der Wittighofer-Familie?

    Fühle ich mich als Amerikaner oder als Europäer?

    Diese Fragen stellten sich mir schon lange, aber jetzt musste ich sie beantworten. Damit konnte ich nicht warten, bis Grandma beerdigt worden ist. Zuviel passierte in den letzten Jahren, was ich noch nicht verarbeitet habe. Seit mir Grandma das Familienalbum mit der Bitte, es in Ehren zu halten, überreicht und an einigen Abenden danach die dazugehörige Geschichte ihrer Familie erzählt hatte, wurde mein Leben durcheinander gewirbelt. Ich aber hatte andere Pläne.

    »Grandma, warum soll ich mich um die Geschichte unserer Familie kümmern und nicht mein Vater, der nächste in der Reihe nach dir?«

    Das hatte ich sie gefragt, als sie mir das Album mit den alten Fotos an ihrem 80. Geburtstag in die Hand drückte, nachdem alle anderen Gäste gegangen waren.

    »Weißt du, Karel, unsere Familie wurde mehr von Europa als von Amerika geprägt. Die Ausnahme ist dein Vater, der größte Yankee seit Generationen, das jedenfalls hat dein Grandpa immer behauptet und da war Lee noch in der Pubertät. Auch du hast mehr europäisches Blut in den Adern und europäischen Geist im Kopf als er. Wenn ich einmal tot bin, dann wirft er das Album sicherlich in den Müll.«

    Hätte ich damals gewusst, auf was ich mich einließ, ich glaube nicht, dass ich Grandma versprochen hätte, mich um die Familientraditionen zu kümmern. Aber sie hatte schon recht. Ich war nicht nur in Gedanken, sondern auch im Herzen in Europa zu Hause, auch wenn ich es damals noch nicht so oft besucht hatte. Vor allem wurde mir das Pflichtbewusstsein ihrer Familie vererbt. Das zwang mich jetzt nicht nur, ihren Letzten Willen zu erfüllen, sondern auch eine Art Familienchronik anzufertigen für unsere Nachkommen. Harriet, die ich wahrscheinlich nie ohne das Familienalbum geheiratet hätte, erwartet unser erstes Baby und diesem Kind möchte ich meine Erfahrung mit der Familie ersparen.

    Baltimore

    Grandmas Beisetzung

    Drei Tage nach dem großen Streit mit meinem Vater setzten wir Großmutters Urne in der Familiengruft der Wittighofers bei. Alle noch lebenden Freunde meiner Großmutter waren gekommen, sogar der Oberbürgermeister der Stadt und natürlich auch mein Vater mit seiner neuen Frau. Seit dem Streit hatten wir uns nicht mehr gesprochen, obwohl wir uns in der Kanzlei kaum aus dem Weg gehen konnten.

    Der Bischoff von Baltimore zelebrierte die Totenmesse und sprach sehr warmherzig am Grab meiner Großmutter.

    »Mit Josefine Mary Alexander verliert die Stadt und vor allem die Gemeinde eine Frau, die sich seit ihrer Ankunft aus Europa nach dem großen Krieg, immer und unermüdlich um die neu Angekommenen und die Bedürftigen gekümmert hat. Sie wurde als Amerikanerin in Europa geboren, hat Freud und Leid dieses Kontinents miterlebt, hat die Schrecknisse des Krieges am eigenen Leib verspürt, wurde verfolgt und dank des Zusammenhalts ihrer Familie gerettet. Die Freiheitsliebe Amerikas und das soziale Gewissen Europas haben Josefine Mary Alexander ihr Leben lang geprägt und geleitet. Sie wird uns als leuchtendes Beispiel fehlen. Der Herr nehme sie in Güte auf. Amen.«

    Bei der kurzen Ansprache des Bischofs beobachtete ich meinen Vater und bemerkte zum ersten Mal Betroffenheit und Trauer in seinem Gesicht. Natürlich war ich nicht aus meiner Wohnung in der Alexander-Villa ausgezogen und beabsichtige dies auch nicht. War es doch Grandmas Wohnung, die sie mir nach ihrer Übersiedlung in ein kleines Appartement in der Stadt überlassen hatte.

    Im linken Seitenflügel wohnt mein Vater. Die Villa gehört jetzt uns beiden, nur weiß er das noch nicht.

    Ich arbeite auch weiterhin in unserem Anwaltsbüro und denke nicht daran, zu kündigen; er hat auch nicht mehr danach gefragt. Er wird sich sowieso noch bei der Testamentseröffnung wundern.

    Die Feier war kurz, denn das Wetter entsprach dem traurigen Anlass. Die große Schar der Trauergäste fröstelte unter ihren Mänteln und die aufgespannten Regenschirme boten nur einen notdürftigen Schutz gegen den dauerhaften Nieselregen. Die Nässe und die Kälte waren untypisch für diese Jahreszeit. Die Steine der Nachbargräber konnten wir nur schemenhaft erkennen. Die vielen tröstenden Worte nahm ich gar nicht richtig wahr und konnte mich später auch nicht mehr daran erinnern. Ich merkte noch nicht einmal, dass sich die Trauergemeinde rasch verlaufen hatte.

    In meinen Gedanken war ich weit weg. Ich sah Grandma als junges Mädchen in Prag in der Zeit zwischen den Kriegen. Erlebte mit ihr die Flucht nach Salzburg, die Hochzeit mit meinem Großvater, dem Captain der US-Armee, die ersten Jahre in Baltimore, ihrer neuen Heimat, die sie noch nie gesehen hatte. Ich erinnerte mich an meine Kindheit im Garten unserer Villa, an meine tschechische Mutter, die sich mit ihrem lustigen Akzent mühte, mit mir englisch zu sprechen und so früh verstarb. Als wäre es erst gestern geschehen, spürte ich meine Großmutter, wie sie mir nach dem Tod meiner Mutter Nestwärme gab, mir Schutz und Trost spendete und mich den strengen und kalten Vater ertragen ließ.

    Heute bin ich erwachsen und stark genug, selbst für mich zu sorgen. Aber mir wurde plötzlich bewusst, dass ich keinen in der Familie mehr hatte, den ich um Rat fragen konnte. Dass niemand mehr da war, dem ich meine innersten Gedanken anvertrauen konnte; mit Ausnahme von Harriet, meiner Frau. Jetzt merkte ich, dass mir Grandma fehlen würde. Die aufsteigenden Tränen ließ ich laufen.

    Ich wusste nicht, wie lange ich weinend am Grab meiner Großmutter stand. Als ich meine Tränen trocknete und mir den Regen aus dem Gesicht wischte, sah ich mich um. Nur Harriet stand neben mir, sonst keiner mehr. Sie hatte sich unbemerkt bei mir eingehakt, und hielt teilnahmsvoll meine Hand. Sie wusste, was in mir vorging, obwohl wir noch nicht so lange verheiratet sind. Gedankenverloren betrachtete ich den Grabstein mit seinen Inschriften:

    Karl Emanuel Wittighofer

    geboren 1890 in Wien, gestorben 1955

    Jeniffer Wittighofer

    geboren 1901 in Boston, gestorben 1985

    Josefine Mary Alexander

    geboren 1921 in Prag, gestorben 2003

    Meine Mutter und mein Großvater liegen in der Gruft auf dem Friedhof an der Westminsterkirche. Wir beschlossen spontan, trotz des schlechten Wetters, dorthin zu fahren. Das Taxi brauchte eine knappe halbe Stunde. Wir ließen es warten und betraten den alten Garten, der hinter der Kirche liegt. Die Grabstätten ruhen im Schatten großer Bäume, und auf vielen Steinen haben sich schon Moos und Flechten angesetzt. Lange war ich nicht mehr hier gewesen. Um mich an geliebte Menschen zu erinnern, brauche ich keine besonderen Plätze, ich trage sie in meinem Herzen.

    Die Gruft der Alexander Familie ist eine der größten auf dem Friedhof, dunkler, fast schwarz grauer Marmor, geputzt und sauber, frische Blumen in drei Vasen vor der Statue, die den Gründervater der Alexander-Familie darstellen soll, wie mir mein Großvater einmal erklärt hatte. Eine lange Liste von Namen ziert die Ahnentafel, die mir alle fremd sind. Nur die beiden Letzten kannte ich.

    Capt. Francis Morton Alexander,

    geboren 1920 in Baltimore, gestorben 1986

    Lucia Renata Lugmanova-Alexander

    geboren 1950 in Prag, gestorben 1988

    Mein Großvater und meine Mutter, die nur 38 Jahre alt wurde, und die mich im Alter von 14 Jahren allein zurückließ. So zerrissen, wie meine Familie begraben liegt, so zerrissen fühle ich mich gerade jetzt. Mit Ausnahme meiner Mutter liegen hier nur die presbyterianischen Teile und auf dem katholischen Friedhof die katholischen Teile meiner Familie begraben. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich zwar protestantisch getauft, keiner Kirche angehöre. Mein Vater will sicherlich hier begraben werden. Wo ich dereinst ruhen werde, weiß ich nicht.

    Ich muss das gelegentlich mit Harriet besprechen. Ich war heute zum ersten Mal mit ihr hier. Friedhöfe besuchen wir beide nicht gern. Wir sind noch zu jung, um uns jetzt schon mit dem Tod zu beschäftigen.

    Bei Grandma war das anders. Sie fing mit ihrem achtzigsten Geburtstag an, alles für ihren Tod vorzubereiten; nur haben wir das damals nicht bemerkt. Mir war nicht aufgefallen, wie die Zeit verrann, hätte mich der Taxifahrer nicht aus meinen Gedanken gerissen.

    »Sir, Madam, ist alles OK mit Ihnen? Sie waren lange weg und ich machte mir Sorgen.«

    Wir ließen uns nach Hause fahren. Im Taxi redeten wir kaum miteinander. Irgendwie wirkte die ganze Trauerfeier noch in uns nach. Ich fürchtete schon, die Stimmung wäre für unser Kind in Harriets Bauch nicht gut, aber sie beruhigte mich. Unser Kind würde noch viel mehr ertragen müssen bis zu seinem ersten Schrei.

    Zu Hause angekommen, ließen wir das Holz im Kamin anzünden und saßen noch ein paar Stunden vor dem flackernden Feuer. Immer wieder erinnerten wir uns an einzelne Geschichten und Episoden, die uns im letzten Jahr passiert waren. Es genügte ein Stichwort und wir redeten darüber als wäre es gestern geschehen. So frisch waren unsere Erinnerungen. Wie sie wohl unser zukünftiges Leben beeinflussen werden? Ich weiß nicht, ob das beim Tod eines geliebten Menschen immer geschieht.

    Damals, als meine Mutter starb, war ich noch ein Kind und empfand ihren Tod anders. Lange sprachen wir auch über mein spannungsgeladenes Verhältnis zu meinem Vater.

    »Karel, du solltest versuchen, dich mit deinem Vater zu vertragen, schon um unseres Kindes willen, das einen Großvater braucht.« Und nach einer Weile fuhr sie fort »Auch Miranda sollten wir in unsere Familie aufnehmen, selbst wenn du sie nicht ausstehen kannst. Ich halte sie auch für etwas einfältig, aber sie hat mehr Herzenswärme als dein Vater und auch das wird unserem Kind gut tun.«

    Wie immer sah meine Frau die Dinge nüchtern und praktisch.

    Zwei Tage später suchte uns der Familiennotar im Büro auf, um die Testamentseröffnung vorzunehmen. Wir trafen uns mit meinem Vater und mit seiner neuen Frau im kleinen Konferenzraum. Ich kann mich noch immer nicht an sie gewöhnen und vermeide es, sie Miranda zu nennen. Albert Davy, den ich schon seit meiner Kindheit kenne, betreut seit Urzeiten unsere Familie. Er ist, ich weiß nicht genau, der wievielte Albert in der ehrwürdigen Kanzlei Davy and Sons.

    Er putzte umständlich seine Brille, öffnete seinen Aktenkoffer und legte ein großes verschlossenes Kuvert vor sich auf den Tisch. Alle blickten ihn gespannt an.

    »Lee, Miranda, Carl, Harriet ihr seht, der Umschlag ist versiegelt und unbeschädigt«.

    Dabei hielt er den Umschlag hoch, drehte ihn langsam nach allen Seiten, griff nach einem Brieföffner, den er seinem offenen Aktenkoffer entnahm, und erbrach das Siegel.

    »Ihr wisst, wir Davys sind schon immer die Notare euerer Familie gewesen und so habe auch ich die große Ehre, euch das Testament der Verstorbenen Josefine vorzulesen.«

    »Albert,« unterbrach ihn mein Vater, »das ist allen hier im Raum bekannt und wir haben auch vollstes Vertrauen zu dir, aber bitte, erspar uns die lange Einleitung und ließ endlich vor.«

    »Wie du willst, Lee, also der Letzte Wille der Verstorbenen:

    Ich Josefine Mary Alexander, geboren am 12. April 1921 in Prag verfüge über mein Vermögen wie folgt:

    Die mir allein gehörende Villa »Alexanders Court« vermache ich zu gleichen Teilen meinem Sohn Francis II Lee und meinem Enkel Carl. Nach dem Tod meines Sohnes soll die Villa alleine meinem Enkel und seinen Nachkommen gehören. Meine Schwiegertochter Miranda erhält nach dem Tod meines Sohnes ein Wohnrecht bis zu ihrem Lebensende bzw. einer eventuellen Wiederverheiratung.

    Meine Anteile an der Anwaltskanzlei Alexander & Alexander in Höhe von 50% erbt mein Enkel Carl zur Gänze, sodass er mit seinen eigenen Anteilen zusammen, eine Mehrheit hält. Er ….«

    An dieser Stelle schob mein Vater seinen Stuhl abrupt und geräuschvoll zurück und verließ kommentarlos mit wutverzerrtem Gesicht den Raum, seine verdutzte Frau hinter sich herziehend. Überrascht sah der Notar von seinem Dokument auf und hielt kurz mit dem Vorlesen inne.

    »Aber ich bin doch noch nicht fertig! Warum ist er beleidigt, es war doch der Letzte Wille seiner Mutter« und nach mehrmaligem, Unverständnis signalisierendem Kopfschütteln, fuhr er fort. »Kannte er den Inhalt des Testaments nicht?«

    »Offensichtlich nicht, obwohl ich Grandma mehrmals gebeten hatte, es ihm zu sagen.«

    »Ja was machen wir denn jetzt? Soll ich weiter vorlesen? Du kennst doch das Testament?«

    Ja ich kannte es. Grandma vergab noch einige Legate an die Kirche, an den tschechischen Emigrantenverein; bedachte einige Hausangestellte, denen sie sich verbunden fühlte und setzte eine ziemlich üppige Rente für Pawels Tochter und Enkelin fest. Zu Pawel hatte sie seit ihrer Kindheit ein inniges Verhältnis. Obwohl er nur der Fahrer ihres Vaters war, prägte er ihren Charakter wesentlich. Ich wurde zum Testamentvollstrecker ernannt. Wäre mein Vater da geblieben, so hätte er noch erfahren, dass ich Grandmas Anteile nicht an Dritte verkaufen darf und mein Vater bis an sein Lebensende in der Kanzlei als Seniorchef arbeiten kann.

    Über ihr erst kürzlich in Prag aufgefundenes Vermögen hatte sie keine Verfügung getroffen. Sie überließ mir die Entscheidung, was damit geschehen soll. So beschlossen der Notar und ich, Vater das Testament zustellen zu lassen. Mein Vater war nicht mehr im Büro, als ich ihn aufsuchen wollte, gleich, nachdem mich der Notar verlassen hatte. Ich erfuhr von seiner Sekretärin, dass er alle Termine für die nächsten zwei Tage abgesagt hatte und mit Miranda nach Hause gefahren war. Wenn er in ein paar Tagen die Testamentsabschrift erhalten wird, will ich nochmals mit ihm sprechen. Harriet und ich verließen ebenfalls bald unsere Kanzlei. Während wir uns in meiner alten Stammkneipe um die Ecke hinter unserem Büro noch einen Schlummertrunk genehmigten, erinnerte ich mich, wie alles mit Grandmas achtzigstem Geburtstag begann…

    Baltimore, 12. Juni 2001

    Grandmas 80. Geburtstag

    Schon seit Generationen besitzt meine Familie ein

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1