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Herbststraße: Eine Familiengeschichte
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eBook260 Seiten3 Stunden

Herbststraße: Eine Familiengeschichte

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Über dieses E-Book

Die Geschichte des "Planatolwerks Willy Hesselmann" war eng mit der Stadt Rosenheim verbunden. Seit 1952 ist die Fabrik für Klebetechnik, die sich inzwischen in anderen Händen befindet, im
benachbarten Thansau ansässig. Zur selben Zeit bezog die Familie eine Villa in der Herbststraße.
Willy Hesselmanns Sohn Hans erzählt in diesem Band nicht nur die wechselhafte Geschichte der Firma, er zeichnet auch ein detailgetreues Bild der komplizierten Familienverhältnisse. Der erfolgreiche Geschäftsmann Willy Hesselmann war im Privatleben ein schwieriger Mensch, der in beiden Bereichen die uneingeschränkte Herrschaft ausübte. Anhand der Erinnerungen seiner letzten Frau Charlotte und ehemaliger Firmenangehöriger sowie zahlreicher schriftlicher Quellen und alter Fotos entsteht ein spannender und lesenswerter Roman.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Jan. 2018
ISBN9783475547911
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    Buchvorschau

    Herbststraße - Hans Hesselmann

    Danksagung

    Prolog

    Im Keller unseres Hauses steht ein alter, grauer und schon ziemlich ramponierter Umzugskarton. In ihm befinden sich zweihundertachtundzwanzig Briefe und mehrere Hundert Fotos, die meiner im Mai 2002 verstorbenen Mutter gehört hatten, alles von ihr akribisch nach Datum geordnet und sorgfältig aufbewahrt. Mein älterer Bruder Peter hatte den Karton bei der Auflösung ihres Haushalts an sich genommen und einige Jahre später an mich übergeben mit der Bitte, bei Gelegenheit zu entscheiden, was damit geschehen solle. Da ich zur damaligen Zeit noch berufstätig war und zunächst nicht die Muße fand, mich mit dem Inhalt des Kartons zu befassen, geriet er in meinem Kopf allmählich in Vergessenheit.

    Peter war es schließlich auch, der den Anstoß zu diesem Buch gab. Wann immer ich ihn in seinem Haus in der Nähe von Rosenheim besuchte, brachte er die bitteren Erfahrungen zur Sprache, die wir in unserem Elternhaus gemacht hatten. Die Familiengeschichte ließ ihn nicht los, ebenso wenig wie mich. Doch während er damals noch immer um Erklärungen für das schwer Verständliche rang, wollte ich von unserer gemeinsamen familiären Vergangenheit nichts mehr hören, um meinen über viele Jahre hinweg mühsam erkämpften und noch immer höchst fragilen Seelenfrieden nicht zu gefährden. Deshalb überhörte ich auch geflissentlich seine Worte, als er anfing, laut darüber nachzudenken, dass man eigentlich schriftlich festhalten müsste, was in unserer Familie alles vorgefallen sei, denn ich machte mir keine Illusionen, wen er damit meinte, wenn er von ›man müsste‹ sprach. Und deshalb lehnte ich auch umgehend ab, als er mich schließlich direkt fragte, ob ich die Familiengeschichte aufschreiben würde. Doch seine Worte waren nicht gänzlich wirkungslos verhallt. Sie hatten mich wieder an den alten Umzugskarton in unserem Keller erinnert. Und daran, dass ich über seinen Inhalt nach wie vor nicht mehr wusste, als dass er Briefe und Fotografien enthält.

    Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, als ich nach kurzem Zögern anfing, die Briefe meiner Mutter zu lesen, schließlich waren sie ja nicht an mich adressiert, und dennoch, meine Neugier war stärker als mein Schuldgefühl. Es sind insgesamt hundertdreißig Briefe in besagtem Karton, die aus der Feder meiner Mutter stammen, die meisten von ihnen aus den Jahren 1943 bis 1966, ihren Ehejahren mit meinem Vater. Es sind Briefe, die das Herz berühren. Und solche, die erschüttern, weil sie von bitteren Enttäuschungen und Demütigungen, von tiefer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit handeln. Welch ein Kontrast zu den Briefen und Fotografien meiner Mutter aus den dreißiger Jahren, die von einer glückstrahlenden und vor Lebenslust geradezu sprühenden jungen Frau erzählen! Als ich die Briefe meiner Mutter, die aus der Zeit ihrer Ehe mit meinem Vater stammten, gelesen hatte, war ich bestürzt. Dass sie mit ihm alles andere als glücklich geworden war, das hatte ich gewusst. Dass sie über den Zustand ihrer ehelichen Beziehung in Wahrheit jedoch tiefe Verzweiflung empfand, das hatte ich offenkundig aus meinem Gedächtnis verdrängt.

    Durch die Lektüre ihrer sorgsam gehüteten Korrespondenz stieß ich aber auch auf zahlreiche Personen und Ereignisse in unserer Familiengeschichte, die mir bis dahin völlig unbekannt geblieben waren und nun meine Neugier weckten. Ich begann zu recherchieren, zog zwei Interviews zu Rate, die mein Sohn Oliver in den neunziger Jahren mit seiner Großmutter über ihr Leben geführt und auf Tonträgern aufgezeichnet hatte, ich befragte Peter, konsultierte nahe und ferne Verwandte, sprach mit ehemaligen Arbeitern und Angestellten meines Vaters, besuchte Archive und Bibliotheken – und hatte bald Blut geleckt. Am Abend des 2. November 2012, im dritten Jahr meines Ruhestands, hatte ich die ersten Sätze unserer Familiengeschichte zu Papier gebracht.

    Ich habe eine Familiengeschichte geschrieben, in deren Zentrum meine Eltern stehen. Das war auch von Anfang an so beabsichtigt, denn es ging mir vor allem um eine Auseinandersetzung mit ihren Persönlichkeiten, insbesondere der meines Vaters, um ihr Denken und Handeln besser verstehen zu können, wenigstens im Nachhinein. Ich habe mich in meiner Familiengeschichte so nahe wie möglich an die historischen Ereignisse gehalten. Die Schilderung einiger Begebenheiten entspringt meiner Annahme, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie sich so zugetragen haben.

    Aus rechtlichen Gründen wurden die Namen mehrerer Personen, die in diesem Roman eine Rolle spielen, geändert.

    Ein unerwarteter Todesfall

    Rosenheim, Freitag, 18. Februar 1966. Es war vier Uhr morgens, als mich das schrille Klingeln des Telefons weckte. Ein Anruf um diese Zeit? Das war beunruhigend. Als ich mein Zimmer verließ und auf den Gang hinaustrat, schwieg das Telefon. Im Haus blieb alles ruhig. Niemand schien etwas gehört zu haben. Ob ich mich geirrt hatte? Als das Klingeln wieder einsetzte, anhaltend und eindringlich, wuchs meine Beunruhigung. Ich lief die Treppe in die nachtdunkle Eingangshalle hinunter und nahm den Hörer ab.

    Peter war am Apparat.

    »Ich habe eine schlechte Nachricht, Hans. Der Vater ist tot.«

    Die Wucht dieser Worte machte mich sprachlos. Ich stand in der kalten, düster wirkenden Eingangshalle und versuchte zu begreifen, was er mir gerade gesagt hatte.

    »Hans, bist du noch dran?«

    »Ja.«

    »Herr Merkel hat mich gerade angerufen.«

    »Wo ist er gestorben? Und wie?«

    »Herr Merkel war mit unserem Vater auf einer Geschäftsreise in Frankreich. Auf dem Rückweg sind sie gestern Abend in einem Hotel am Straßburger Bahnhof abgestiegen. Sie waren mit dem Zug unterwegs. Gegen zwei Uhr nachts hat der Chef ihn plötzlich im Hotelzimmer angerufen und verzweifelt um Hilfe gebeten. Als Herr Merkel kam, klagte Vater über Übelkeit und starke Schmerzen in der Brust. Herr Merkel ließ einen Notarzt rufen, aber es war schon zu spät. Als der Arzt eintraf, konnte er nur noch Vaters Tod feststellen.«

    »Und woran ist er gestorben?«

    »Der Arzt vermutet Herzinfarkt. Genaueres wissen wir aber erst, wenn die Obduktion stattgefunden hat. Sein Todeskampf muss furchtbar gewesen sein. Er hat wohl sehr gelitten. Es sei erschütternd gewesen.«

    »Wissen es Theo und Karl-Heinz schon?«

    »Theo habe ich schon informiert. Karl-Heinz kann ich nicht erreichen, weil er für die Firma in Amerika unterwegs ist. Schlafen Mutter und Herbert noch?«

    »Ja.«

    »Du musst sie wecken und es ihnen sagen. Theo und ich fahren jetzt mit Vaters Mercedes nach Straßburg, um alles Notwendige zu erledigen.«

    Ich schwieg.

    »Ich melde mich, wenn wir in Straßburg angekommen sind.«

    »Ja.«

    Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, blieb ich noch einen kurzen Augenblick unschlüssig in der Eingangshalle stehen und ging dann in die angrenzende Küche, öffnete einen der dunkelgrünen hölzernen Fensterläden, setzte mich an den lang gestreckten Arbeitstisch und starrte hinaus in die nächtliche Stille. Die Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite warf ein fahles Licht auf die hochgewachsene Hecke, die den schmalen Vorgarten unseres Hauses begrenzte. Ich war sehr aufgewühlt, und es fiel mir schwer, meine verwirrenden Gedanken und Empfindungen zu ordnen. Die Vorstellung, dass der Vater in einem anonymen Hotelzimmer sterben musste, erschütterte mich und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Unwillkürlich musste ich aber auch daran denken, wie symbolisch dieser Tod für sein Verhältnis zur Familie war. Hatte er nicht immer wieder unmissverständlich erkennen lassen, dass er von uns nichts wissen wollte? War er es nicht gewesen, der die Ablehnung, mit der er seit vielen Jahren unserer Mutter begegnete, auch seine beiden jüngsten Söhne, Herbert und mich, deutlich spüren ließ? Hatten wir beide nicht schmerzlich erfahren, dass er von uns nichts hielt? Bilder der Nichtachtung, der Ablehnung und der Demütigung, die sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hatten, gingen mir durch den Kopf. Und ich erinnerte mich wieder an die letzte lautstarke Auseinandersetzung zwischen unseren Eltern, die mein jüngerer Bruder Herbert und ich miterlebten. Als wir nicht mehr ertragen konnten, wie er unsere Mutter herabwürdigte, gingen wir mit den Fäusten auf ihn los. Zitternd vor Erregung saßen wir danach in meinem Zimmer, schweigend und von Schuldgefühlen bedrängt, und doch empfanden wir ein befreiendes, ein ermutigendes Gefühl: Wir hatten nicht mehr still erduldet. Wir hatten uns gewehrt und Partei ergriffen.

    Trotz der Trauer über den tragischen Tod des Vaters verspürte ich auch jetzt wieder ein Gefühl der Befreiung, als würde die Anspannung nachlassen und der ganze Ballast unserer gescheiterten Beziehung langsam abfallen. Und leise Hoffnung keimte in mir auf. Würde die wortlose Angst in unserer Familie, die wie ein schleichendes Gift, wie ein Krebsgeschwür ihre Seele auszehrte, jetzt endlich ein Ende finden? Würde unser Haus, das durch die kalte Atmosphäre zu einem düsteren, unwirtlichen Ort geworden war, jetzt ein Zuhause werden? Ich musste wieder daran denken, dass uns der Vater nach der handgreiflichen Konfrontation keines Blickes mehr gewürdigt hatte und wenig später zu seiner Geschäftsreise nach Frankreich aufgebrochen war, von der er nicht mehr nach Hause zurückkehren sollte. Wie so oft in den vergangenen Jahren zogen wir nur aus seiner Abwesenheit die Schlussfolgerung, dass er wohl verreist sein musste. In diesem Augenblick wurde mir wieder schmerzlich bewusst, wie wenig wir über unseren Vater wussten. Er hatte so gut wie nie über sich und nur ganz selten mit uns gesprochen. Er war uns immer fremd, unnahbar, unerreichbar geblieben. Hätten wir auf ihn zugehen und ihn fragen sollen, warum er uns so verschlossen und abweisend begegnete? Was uns entfremdet hatte? Warum die Familie in seinem Leben keinen Platz fand? Hätten wir ihm sagen sollen, was wir so sehr entbehrten? Dass wir unter Ängsten und Selbstzweifeln litten, weil uns die Zuneigung und Anerkennung des Vaters versagt blieben? Hätten wir versuchen sollen, mehr über ihn zu erfahren und an seinem Dasein Anteil zu nehmen, um ihn besser zu verstehen? Mangelte es bei uns an Sorge um ihn? Jetzt hätte ich so gerne mit ihm gesprochen, aber es war zu spät. Ich konnte ihm nichts mehr sagen, ihn nichts mehr fragen. Er würde seine Gedanken und Gefühle, seine Sorgen und Ängste, seine Hoffnungen und Sehnsüchte, seine Unergründlichkeit mit ins Grab nehmen.

    Inzwischen war es sechs Uhr morgens geworden. Noch herrschte nächtliches Schweigen. Nur das Motorengeräusch eines Fahrzeugs, das in die Straße vor unserem Haus einbog, unterbrach für einen Augenblick die Stille. Das Scheinwerferlicht tastete sich an der gegenüber liegenden Mauer entlang und ließ sie flüchtig aufscheinen. Im Hause regten sich jetzt die ersten Lebenszeichen. Ich hörte die leisen Schritte der beiden Hausmädchen in ihren Dachkammern. Sie würden sich bald in der Küche zu schaffen machen. Auch unsere Mutter würde jeden Augenblick aufstehen, um sich für ihren Arbeitstag in der Firma zurechtzumachen. Es war Zeit für das Unvermeidliche. Wie würde sie Vaters Tod aufnehmen? Unruhig und zögerlich ging ich die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Als ich sie weckte und ihr das Geschehene mitteilte, schwieg sie lange und starrte gedankenverloren in das Halbdunkel des Zimmers. Der schwache Lichtschein der Nachttischlampe ließ ihr Gesicht aschfahl und hohlwangig aussehen. Was in diesem Augenblick in ihr vorging, konnte ich nur vermuten. Schließlich sagte sie mit leiser, tonloser Stimme:

    »Ich muss in die Firma, mit der Belegschaft und der Geschäftsleitung reden, ich muss wissen, was jetzt zu tun ist.«

    Die Angst vor dem, was nun unabwendbar auf sie zukommen würde, ließ sie schwer atmen, und ich spürte, wie sie nach Halt suchte in der Haltlosigkeit, in der sie sich sichtlich fühlte.

    Willy Hesselmann, Gründer und Alleininhaber der Firma Planatolwerk W. Hesselmann, Chemische und Maschinenfabrik für Klebetechnik mit Niederlassungen in den oberbayerischen Orten Rosenheim und Thansau, war am 18. Februar 1966 kurz vor drei Uhr morgens im Alter von 71 Jahren im ›Hôtel des Vosges‹ am Bahnhofsplatz in Straßburg verstorben. Die Obduktion seines Leichnams fand zwei Tage später im Institut für Rechtsmedizin der dortigen Universität statt. Sie bestätigte die Vermutung des Notarztes, denn der Direktor des Instituts, Professor Chaumont, der als amtlicher medizinischer Sachverständiger die Autopsie durchgeführt hatte, stellte in seinem Gutachten abschließend fest:

    Herr Wilhelm Hesselmann starb eines natürlichen Todes: Herzinfarkt infolge einer arteriosklerotischen Verstopfung der Koronararterien.

    Der Verstorbene hatte auch nicht zum ersten Mal an dieser Erkrankung gelitten, wie Professor Chaumont in der knapp gehaltenen Zusammenfassung seiner Untersuchungsergebnisse attestierte:

    Das Leiden war alt, wie einige frühere perlmuttartige Infarkte belegen. Ob der Betroffene von seinem Zustand gewusst hat und ob er bei einem Kardiologen in Behandlung war, entzieht sich meiner Kenntnis. In jedem Fall ergibt sich eine besondere Anfälligkeit für einen plötzlichen Tod durch die Erheblichkeit der anatomischen Schädigungen.

    Der Vater muss von seinem bedrohlichen Gesundheitszustand gewusst haben, ohne jedoch die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Und mit uns als seiner Familie hat er nie darüber gesprochen.

    Beisetzung

    München, Freitag, 25. Februar 1966. Es war ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich milder Spätwintertag. Der Himmel hing in eintönigem Grau wie ein nebelhafter Schleier hoch über dem alten Münchner Waldfriedhof, die restlichen Schneeflecken hatten sich in den lauen, frühlingsnahen Temperaturen der vergangenen Wochen längst aufgelöst. Die große und altehrwürdige Aussegnungshalle war bis auf den letzten Platz mit Trauergästen gefüllt, die von dem Verstorbenen Abschied nehmen wollten: Angehörige, Freunde und Bekannte der weitverzweigten Familie, Geschäftspartner aus dem In- und Ausland, Repräsentanten von Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden, Honoratioren und Behördenvertreter aus den Niederlassungsorten der Firma, der Betriebsrat, die gesamte Belegschaft. Die Arbeiter und Angestellten standen dicht gedrängt vor dem aufgebahrten Sarg und folgten sichtlich bewegt dem Requiem für ihren hochverehrten und beliebten Chef. Die Erschütterung über seinen unerwarteten Tod, aber auch die große Sorge um die Zukunft ihres Unternehmens stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Viele waren schon seit langen Jahren in der Fabrik beschäftigt, die Älteren unter ihnen hatten noch ihren schwierigen und mühevollen Neuanfang in den letzten Kriegsjahren miterlebt. Sie alle hatten bisher stets erkennen lassen, wie sehr sie sich der Firma verbunden fühlten und ihren Chef als einen Menschen schätzten, mit dem man reden konnte, der für sie da war, der sich kümmerte. Ihre Unsicherheit über das, was nun kommen würde, war mit Händen zu greifen.

    Nach der feierlichen Totenmesse geleitete ein langer, schier endlos wirkender Trauerzug die sterblichen Überreste des Fabrikanten Willy Hesselmann von der Aussegnungshalle auf den von Nadelbäumen und kahlen Birken gesäumten Wegen zu seiner letzten Ruhestätte, dem Familiengrab der Salzmanns, das von einem Meer an Kränzen und Blumen umgeben war.

    Als der Verstorbene in zahlreichen Nachrufen mit Worten der Hochachtung und Zuneigung gewürdigt worden war und schließlich der Sarg beigesetzt wurde, der katholische Geistliche seinen Schlusssegen sprach und die Trauernden von dem Toten Abschied nahmen, hatten viele der altgedienten Arbeiter und Angestellten Tränen in den Augen.

    Von der Familie weinte niemand.

    Die Mutter stand mit versteinertem Gesicht vor der Grabstätte und nahm in stummer Regungslosigkeit das Defilee der kondolierenden Trauergäste ab, eine Anteilnahme, die aber nicht wirklich bei ihr anzukommen schien. Nachdem die Tortur der Beileidsbezeugungen ein Ende gefunden hatte, verharrte sie noch eine Weile vor der offenen Gruft mit dem schlichten grauen Granitgrabstein der Familie Salzmann, auf dem auch der Name Renate Hesselmann zu lesen war, wandte sich dann aber rasch ab und blieb ein paar Schritte entfernt von der Begräbnisstätte stehen, ihr Blick abwesend und in sich gekehrt, als würde sie gar nicht wahrnehmen, was um sie herum geschah. Was mochte in diesem Augenblick in ihr vorgehen?

    Als ich am Grab Abschied vom Vater nahm, gingen mir unwillkürlich wieder Bilder unserer fehlgeschlagenen Beziehung durch den Kopf, und ich musste erneut daran denken, wie tief mich seine abfällige Nichtachtung verletzt, wie sehr ich seine Zuwendung, seine Fürsorge, seine Ermutigung ersehnt hatte. Doch ich empfand keinen Schmerz, nur Trauer: Trauer darüber, dass wir beide nie zu einander gefunden hatten, uns nie nahe gekommen waren, und dass daran nun nichts mehr zu ändern war.

    Als die Trauergäste die Grabstätte verließen, trat plötzlich ein hochgewachsener Mann mittleren Alters auf meinen Bruder Herbert und mich zu und sagte:

    »Wir kennen uns bisher noch nicht. Ich bin Harald, euer ältester Bruder.«

    Charlottes Kindheit

    Stettin, Dienstag, 9. Oktober 1906. Es ist elf Uhr nachts. Gustav Bressem erhebt sich zum wiederholten Male aus seinem voluminösen Ohrensessel, wandert ruhelos im Wohnzimmer auf und ab und wirft immer wieder einen Blick auf die barocke Standuhr, einem Erbstück aus dem Nachlass seiner Großeltern. Er ist innerlich angespannt, das Wechselbad der Gefühle zwischen Hoffen und Bangen macht ihn nervös. Er versucht sich zu beruhigen, bemüht sich um Gelassenheit, aber es mag ihm nicht recht gelingen. Als es endlich an der Tür klopft und die Hebamme eintritt, eine freundliche, etwas korpulente Mittfünfzigerin, atmet er tief durch und blickt sie erwartungsvoll, ja ungeduldig an:

    »Und?«

    Sie lächelt, sichtlich erleichtert, als sie ihm gratuliert:

    »Sie haben eine gesunde Tochter, Herr Sekretär, es ist alles gut gegangen, es ist alles in Ordnung. Sie können Ihre Frau und das Kind gleich sehen.«

    Gustav Bressem schweigt. Wie sehr hatte er gehofft, es würde ein Junge werden. Eine Tochter hat er doch schon, die vierjährige Erna. Natürlich liebt er sie, und er kümmert sich ja auch fürsorglich um das Kind. Aber wie alle Väter hatte er sich nun auch einen Sohn gewünscht, einen strammen Stammhalter. Wie stolz wäre er gewesen, wenn es dieses Mal geklappt hätte. Die Enttäuschung steht dem Königlichen Eisenbahnsekretär ins Gesicht geschrieben. (Als meine Mutter später erfuhr, dass sie eigentlich ein Sohn werden sollte, nahm sie es mit Humor: Aus dem erhofften Carl war eben eine Charlotte geworden.)

    Nachdem auch ein weiterer Versuch der Eheleute Gustav und Hedwig Bressem, einen Stammhalter in die Welt zu setzen, nicht wunschgemäß verlaufen war und abermals mit der Geburt einer Tochter, der Annemarie, endete, musste sich der Königliche Eisenbahnsekretär schließlich damit abfinden, ›nur‹ über einen Frauenhaushalt herrschen zu können.

    Karl Gustav Franz Bressem wurde 1871, im Jahr der Gründung des Deutschen Kaiserreiches, als Sohn eines Hauptzollamts-Dieners in Hamburg geboren. Die Vorfahren waren Hugenotten gewesen, französische Protestanten, die wegen ihres Glaubens Ende des 17. Jahrhunderts die vorwiegend katholisch geprägte Heimat verlassen mussten und sich schließlich in der Freien Hansestadt niedergelassen hatten. Wenige Jahre nach der Reichsgründung übersiedelte die Familie Bressem nach Stettin,

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