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Der weiße Song
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eBook316 Seiten4 Stunden

Der weiße Song

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Über dieses E-Book

Auf einer Musikkassette aus den 1980ern entdeckt Andreas einen mitreißenden Song einer verschollenen Rockband. Zu seiner Verblüffung findet sich im weltweiten Netz keine einzige Spur, und selbst die größten Musikfreaks müssen ungläubig kapitulieren. Die Jagd nach den Urhebern des „Weißen Songs“ zieht enorme Kreise. Und dann ist da noch eine verschüttete Erinnerung, die ans Licht drängt

Mark Daniel verhandelt mit seinem Roman die Suche nach einem mysteriösem Stück Musik und nach Orientierung von Ü-Fünfzigern in einer Zeit, in der sich Kommunikation, Geschlechterverständnis und Werte ändern.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Apr. 2021
ISBN9783960148166
Der weiße Song

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    Buchvorschau

    Der weiße Song - Mark Daniel

    cover_front.jpg

    Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

    Impressum 

    Mark Daniel»Der weiße Song« 

    1. Auflage 

    www.edition-winterwork  

    © 2021 edition-winterwork  

    Alle Rechte vorbehalten 

    Satz und Layout: edition winterwork 

    Umschlag: sk 

    Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf 

    ISBN Print 978-3-96014-806-7 

    ISBN E-BOOK 978-3-96014-824-1

    Der weiße Song 

    Mark Daniel 

    edition winterwork

    Auf einem Mixtape aus den 1980ern entdeckt Andreas einen vergessenen Rocksong wieder. Seltsamerweise können weder Apps noch Suchmaschinen das Stück identifizieren. Bald verlagert sich die Fahndung in die sozialen Medien, doch auch die größten Musikfreaks und -Communities kommen dem Rätsel nicht auf die Spur. Die Jagd nach Hintergründen zum „Weißen Song" zieht immer weitere Kreise, und manche Mitsuchende bringen Andreas auf unterschiedlichste Art in Bedrängnis: ein YouTuber zum Beispiel, der den Ruhm als Entdecker für sich beansprucht. Außerdem eine Reporterin, die das Kuriosum journalistisch ausschlachten will und ihn auch sonst ziemlich nervös macht. Und dann ist da noch eine tief verschüttete Erinnerung, die ans Licht drängt… 

    Mark Daniel, der den Song tatsächlich auf einem seiner Mixtapes entdeckte, verhandelt in seinem Roman nicht nur das Mysterium um ein Lied. Es geht um die Suche nach Orientierung eines Ü-Fünfzigers in einer Welt, in der sich Kommunikation, Medien, Geschlechterverständnis und Werte ändern.  

    Mark Daniel, Jahrgang 1967, wuchs im westfälischen Witten auf und studierte in Bochum Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitet er bei der Leipziger Volkszeitung, ist Autor von Kabarett- und Theater-Texten, Hörspielen und Büchern. 2015 erschien die Satire „Schnauze Ossi (mit Jürgen Kleindienst, Gütersloher Verlag), 2018 die Reportagen-Sammlung „Rock'n'Roll 4evermore (Eulenspiegel Verlag). Mehr Informationen stehen auf www.markdaniel.de.

    I tried once

    Gott ist tot. Die Eilmeldung seiner News-App pushte sich auf sein Handy. Nun gut, sie war abzusehen gewesen. Schon seit Tagen, so verbreiteten die Nachrichten, war es ihm schlecht gegangen. Jetzt also die Erlösung, und die Jüngerinnen und Jünger waren untröstlich. Karel Gott war gestorben. Zu etwa 95 Prozent ließ Mütze das kalt. Er gehörte nicht zu denen, die alle Remixes von „Biene Maja auf Platte und CD im Schrank hatten. Die fünf Prozent Bestürzung speisten sich lediglich aus dem Gedanken: „Wieder eines weniger von den Gesichtern, die das Kindsein bestimmt haben. Nun konnte Gott da oben bei Dieter Thomas Heck auftreten.  

    Ein ungehaltenes Räuspern schreckte ihn auf.  

    „Herr Bachenbreder?" 

    Mütze blickte ertappt lächelnd von der Nachricht wieder ins Gesicht der Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs aus einfallslosem Büroweiß.  

    „Geben Sie mir mal Fahrzeugschein und Führerschein, bitte?", schnarrte die städtische Angestellte. 

    Er fummelte die geforderte von seinen gefühlt 85 Plastikkarten aus dem Portemonnaie und schob sie rüber zu der selbst für Rathaus-Zugehörige bemerkenswert schlecht gelaunten Endfünfzigerin in blasslila Rüschenbluse mit Nana-Mouskouri-Brille. Lebte die Mouskouri eigentlich noch?, fragte er sich. 

    Ihr miesepetriges Double tippte auf der Tastatur herum. Mütze las das Muster der billigen, weißen Strukturputz-Tapete hinter ihr. Sah aus wie eine riesige Fläche ausgetrockneter Rinnsale und kleiner, rissiger Inseln auf weitem, völlig verdörrten Boden. 

    „Fürs Parken sind Sie hier falsch", schrapnellte die Frau. 

    „Äh, wie bitte?" 

    „Die Adressänderung auf dem Personalausweis ist kein Problem, aber die Parkbescheinigung gibt‘s nicht im Bürgeramt, sondern im Technischen Rathaus." 

    Hörte er da eine leichte Häme heraus? 

    „Wieso das denn, es geht doch ums Anwohnerparken?", fragte Mütze. 

    „Richtig, sagt die Mouskouri für Arme, „aber das wird in Ihrer Straße neu eingerichtet und heißt in diesem Fall Bewohnerparken. Dafür müssen Sie ins Technische Rathaus. 

    „Sie wollen mich doch.... Er riss sich zusammen. „Sie machen Witze, oder? 

    „Sehe ich so aus?" Plakativ arktische Gesichtszüge. 

    „Wollen Sie mir sagen, ich hab mir hier also ne halbe Stunde lang umsonst den Hintern plattgesessen?" 

    „So würde ich das nicht formulieren. Für Sie gilt jedenfalls Bewohnerparken. Dafür müssen Sie ins Technische Rathaus." 

    Wahrscheinlich hatte sie diese roboterhafte Belehrung schon Hunderte Male abgelassen. Konnte aber doch nur eine ganz miese Verarsche sein. Mütze guckte sich um. Wo war die versteckte Kamera?  

    „Okay, fantastisch, grummelte er. „Welche Öffnungszeiten hat das Technische Rathaus denn heute? 

    Seufzend und mit ostentativem Widerwillen blätterte die Gute ihre Behördenbroschüre auf und blickte mit einer Andeutung von Lächeln an. 

    „Heute ist geschlossen." Ihre linke Augenbraue zuckte wie zur Betonung. 

    Mütze rollte mit den Pupillen. „Nee! Das stimmt nicht wirklich?!" 

    „Heute ist Mittwoch, und da ist geschlossen. Im Technischen Rathaus." 

    „Ich fass es nicht! Ich hab heute extra frei genommen!" 

    Das stimmte zwar nicht wirklich, aber ein bisschen Drama und ein schlechtes Gefühl hatte sich die Amtsziege verdient.  

    „Das tut mir leid, kam es so herzzerreißend einfühlsam zurück wie das „Fahr‘n Se mal rechts ran! bei Fahrzeugkontrollen.  

    Mütze stand auf. „Na, immerhin habe ich Ihre zauberhafte Bekanntschaft gemacht, zischelte er, „haben Sie nach Feierabend schon was vor? 

    Die Olle verengte die Augen. „Ja, das hab ich

    irgendwas ohne unverschämte Kunden wie Sie." 

    Mütze holte Luft und dann zum vernichtenden Schlag aus. „Blasen Sie alles ab, denn ich hab eine brandneue, erschütternde Nachricht für Sie: Karel Gott ist tot!" 

    Wütend stapfte er davon, schaute sich aber noch einmal um. Mouskouri für Arme sah ihm starr und mit geweiteten Augen hinterher. Beim Aufreißen der Ausgangstür meinte er, ein kurzes Schluchzen zu hören. 

    Aus den modrigen Katakomben der Erinnerung zwängte sich eine Stimme hinauf. „It‘s a night of horrors, krächzte der Sänger. „Where the demons get out. Eine Gitarre raspelte dazu. Da kündete einer das pure Grauen an, Verderben, die Hölle, das Ende! „Close the door and be quiet. Cause they‘re crying for blood. Kam noch verdammt gut. Und das, obwohl die Aufnahme leierte wie Sau. Die Folge eines Bandsalats, den die Musikkassette nur mit vielen Blessuren überlebt hatte. Mütze zog das vergilbte Einlegeblatt heraus, das jahrzehntelang in der zerkratzten, ehemals durchsichtigen Hülle gewohnt hatte, und schmunzelte. „Cutty Sark: Die Tonight war nur noch blass zu lesen, in der Klaue eines Schülers, der für seine Handschrift stets eine Vier im Zeugnis stehen hatte. 

    Das Mixtape aus Radiomitschnitten war über 35 Jahre alt. Älter als der Mauerfall, älter als die erste Love Parade und älter als der Skandal im Sperrbezirk. Andreas Bachenbreder, genannt Mütze, hatte das Ding mit einer Faszination in der Hand gehalten wie Ägyptologe Howard Carter die Maske Tut-ench-amuns. Hatte sich nach dem Misserfolgserlebnis im Bürgeramt hinter seiner Barrikade aus Umzugskartons verschanzt und ans Ausräumen gemacht. Inzwischen war es früher Abend, doch seit zwei Stunden schon hatte Mütze außer Weiteratmen jede Tätigkeit eingestellt. Seit der Inhalt der staubigen Pappkiste aufgetaucht war. Vier Umzüge hatte sie überlebt, ohne jemals bei einem einzigen ausgepackt worden zu sein. 

    „Was jahrelang ungeöffnet im Keller stand, gehört in den Müll! hatte seine Mutter immer behauptet. Zumindest in diesem Fall lag sie falsch, denn Mütze hatte einen vergessenen Schatz gehoben: seine Kassettensammlung. Und wenn auch der CD-Player den Geist aufgegeben hatte, das Fach für die Tapes funktionierte noch. Cutty Sark. Das war für viele eine Whiskey-Sorte, deutlich weniger wussten um die gleichnamige Band, um das deutsche Metal-Flaggschiff der frühen 80er aus Bonn. Kannte irgendjemand auf diesem verdammten Planeten noch Cutty Sark? Oder die Rockröhre Lee Aaron? Ihr „Deceiver wütete als nächstes Stück. Auch nicht übel. „A very sexy lady indeed", lechzte der Sprecher des britischen Radiosenders BFBS zu den letzten Riffs. Würde er das heute rausplautzen, hätte er eine Klage wegen Sexismus am Hals.  

    Davon abgesehen nervte der Typ damals schon wegen seines Reingelabers zum Song-Ende. Ob er zur Heavy Metal Show oder zur Monday Rock Show gehörte, daran konnte sich Mütze nicht erinnern. Jedenfalls hatten diese gottverdammten Moderatoren schon immer ihren Kommentar oder die Chartplatzierung beim Ausblenden dazu gegeben, und Generationen von Mitschneidenden hätten sie dafür gern aufs Rad geflochten, bis sie sich drehten wie eine LP! 

    Mütze erinnerte sich an vor Jahrzehnten entsorgte Mixtapes, deren Trackliste er noch immer und für immer gespeichert hatte, samt Zwischenmoderationen. Auf einem raste Freddie Mercury mit seinen Queen zu „Don‘t Stop Me Now über die Energie-Autobahn, dann schnurrte Mal Sondock ein am Ende abgeschnittenes „Da geht die Post ab, das waren --- hinein, bevor der Sänger von Faithful Breath „A Million Hearts den Hörer beschwor, gefälligst zu warten, denn noch war er derjenige, der die von allen begehrte Lady an der Angel hatte. Faithful Breath, damals neben Franz K. die einzige Band aus seiner Heimatstadt Witten, die es zu Ruhm über die Komposthaufen der Ruhrgebiets-Schrebergärten hinaus gebracht hatte. Nach „A Million Hearts piekste übrigens umgehend das Synthie-Intro von Visage ins Ohr

    „Fade To Grey". Nun ja, war halt ein Mixtape. 

    An diese Kassette hier konnte sich Mütze allerdings nicht erinnern. Deswegen zwang ihm der nächste Titel ein Schmunzeln ab. Ziemlich krude Mischung, die er damals auf die zweimal 30 Minuten gebannt hatte. Hazell Deans „Searching bahnte sich seinen Weg. Zuckerwattenpop der simpelsten Sorte. Peinlicher waren nur die Pappköppe von Modern Talking. Der Einzug des Lipgloss ins Popgeschäft, optisch wie musikalisch. Und dieses eunuchenhafte „Cheri Cheri Lady klebte für Mütze bis in alle Ewigkeit an der unglaublichen Brünetten, mit der er in der Schul-Disco getanzt und sich schlagartig in sie verschossen hatte. Nach allen Regeln seiner begrenzten Kunst hatte er gebalzt wie ein Auerhahn. Eine Woche später hatte sie ihn mit dem Arsch nicht mehr angeguckt. Halb so schlimm, in dieser Zeit entliebte er sich schneller als Lucky Luke schießen konnte. Auf einer Freitagabend-Party konnte er einem Mädchen begegnen, für das er durch Hölle, Fegefeuer und jede Mathestunde gehen würde. Kein anderes weibliches Wesen würde ihn jemals wieder auch nur ansatzweise so entflammen können wie dieses. Diese Erkenntnis hatte eine Halbwertzeit bis zum nächsten Samstag, an dem ein Typ aus der Jahrgangsstufe seine Cousine aus Dingenskirchen mit auf die nächste Fete nahm. Die Ewigkeit konnte ein erstaunlich frühes Verfallsdatum haben, wenn Geilheit mit Liebe verwechselt wurde. War halt so zwischen 15 und 18. Auch bei Mütze, der jedoch damals kein Abschlepptyp war, sondern eher der Gefühlige, der Irritierbare, der noch nicht so richtig wusste, wohin ihn seine emotional-hormonellen Achterbahnfahrten führten. 

    Als nächstes pumpte „Happy Children" von P. Lion die Synthies durch den Lautsprecher, im Finale zerlabert von WDR-Discjockey Mal Sondock, amerikanischer DJ-Held von damals. Die 80er Jahre – ein ungemein prägendes Jahrzehnt besonders für alle, deren Hauptbeschäftigung in dem Zeitraum die Bekämpfung von Akne und Eltern-Dominanz war. Grauenvolle Mode, Knight Rider und Diese Drombuschs, Tschernobyl, Pet Shop Boys, ein Schauspieler als US-Präsident und kein einziges Deo, das den eigenen Iltis-Geruch komplett überdeckte. Die 80er

    die Zeit, in der Fußballprofis noch deutlich älter waren als er. Überhaupt schien ihm die Liga als der deutlichste Indikator dafür, wie schnell sich die jeweilige Gegenwart erledigte: Als er das Alter der meisten Spieler erreichte, entschädigte ihn, dass die Trainer noch massig viele Jahre vor ihm lagen. In der nächsten Stufe sorgte Manni Burgsmüller für Trost, weil er noch mit 40 für Geld vor das Leder trat. Undsoweiter, Inzwischen waren Mützes Jahrgänge Sportdirektoren oder Vereinspräsidenten. 

    Ein Song riss ihn aus seinem Gedankenstrom. Beim nächsten Stück preschten ein treibendes Schlagzeug, Keyboards und eine sirrende Gitarre gleichzeitig los, dann lud eine Stimme durch. Die miese, gurgelnde Qualität des Tapes wickelte dem Frontmann zu Beginn ein paar mal ein Handtuch um den Mund, ehe er sich davon befreite. Trotzdem verstand Mütze kaum eine Zeile, bis der Refrain warnte: „Hold on, hold on!" Ganz schwach hob ein Wiedererkennen Mützes Augenbrauen. Ging flott ab, der Song. Coole Melodie und vernünftig Druck auf dem Kessel, wenn auch kein besonders auffälliger Abzweig vom Mainstream der frühen 80er. Trotzdem ein spannendes Wiederhören. Vielleicht ja doch kein so schlechter Tag heute, dachte er.  

    „I tried once, I tried twice, no goodbye, no sacrifice". Das gefiel ihm. Aber war da nicht noch etwas? Irgendwo tief unten in seinem Gedächtniskeller, in der Hirnkammer frühjugendlicher Erinnerungen, regte sich bei diesem Stück etwas. Ein kaum merklicher Schimmer, der mit kurzen, hellen Streifen auf einen Halbschlaf fiel, aber sofort wieder verschwand. Und keine Ahnung, ob die Assoziation mit etwas Unbekanntem eine gute oder eine schlechte war. Er spürte bloß dieses Gefühl, das einem durch den Bauch schießt, wenn man merkt, dass man sich von zu Hause ausgesperrt hat. Seltsam.  

    Sein Blick glitt zum Einleger: „Hold On stand da in jugendlich verblasster Schrift, deren endgültige Kalligraphie sich noch nicht gefunden hatte, und an der für den Interpreten-Namen reservierten Stelle bog sich ein Fragezeichen. Mütze hörte weiter. Der Sänger krächzte irgendwas von „fear und „so clear. Alarmsirene bei der Geschmackspolizei! So etwas Abgenudeltes kannst du heute nicht mehr bringen, dachte Mütze, aber damals war das sicher erst die 30. Band, die diesen Reim gewagt hatte. Nach rund drei Minuten verlor sich die Musik erneut in einem Strudel aus Rauschen. Dann ein kurzes Fiepen – Stille. Fünf Sekunden später meldete sich plötzlich „Burn The Sun von Virgin Steele, dann die Türklingel. Mütze wunderte sich – schon der Paketdienst mit der Stehlampe, die er im Netz bestellt hatte? Seine Knochen schienen auf den Boden getackert. Ächzend hievte er sich aus dem Schneidersitz, überstieg die Kartons in der vollendeten Eleganz eines 95-Jährigen nach Oberschenkelhalsbruch und drückte den Türöffner. 

    Eine Minute darauf stand Jörg vor ihm, in seiner Hand raschelte eine Plastiktüte. 

    „Mööönsch, Mütze!, rief Jörg grinsend, „Schon alles eingeräumt? 

    Mütze knurrte. „Bin so weit, wie man kommen kann, wenn einem der beste Kumpel beim Umzug nicht geholfen hat." 

    „Mönsch, Mütze! Jörg bemühte nochmal seine Standard-Ansprache die an einen Sprung auf der Schallplatte erinnerte, „Du weißt doch: Ich hab Rücken. 

    Mütze winkte ab. „Schon gut. Wir sind halt alle keine 40 mehr." 

    Das war noch stark untertrieben für Männer in einem Alter, für die bereits eine Ü-30-Disco einem Kindergeburtstag gleichkam. Jörg und Mütze teilten sich ihren Geburtsjahrgang mit Boris Becker, Kurt Cobain und Jürgen Klopp. Leider auch mit Markus Söder. Kann man sich halt nicht aussuchen. 1967 gewann Eintracht Braunschweig den Fußball-Meistertitel. 1967 verlor Benno Ohnesorg sein Leben. Und Mütze 52 Jahre später die Geduld: „Jetzt steht da nicht rum wie Pik sieben auf Gleis acht und komm endlich rein!", brummte er Jörg an und schob einen Karton beiseite, um die Wohnungstür weiter zu öffnen.  

    Was für ein bekloppter Spruch eigentlich, dachte Mütze, völlig aus der Zeit gefallen. Natürlich war er nicht wirklich sauer auf seinen Kumpel, denn das meiste Zeug hatte das Umzugsunternehmen geschleppt, es war nur um den Kleinscheiß gegangen, den Mütze in fünf Fahrten seines Kombi vorab in die neue Bude gebracht hatte. Immer dann natürlich, wenn Claudia nicht da gewesen war. Er hatte keine demonstrativen Dackelblicke über verschränkten Armen am Türrahmen gewollt, die das Scheitern einer Beziehung mit gespielter Teilnahme kommentierten oder pflichtschuldig fragten „Soll ich nicht doch mit anfassen?". Nein, mit Anfassen war es eh vorbei, seit dieser Kollege von Claudia bei ihr damit angefangen hatte. Genauer gesagt: Seit Mütze davon wusste und damit zehn Jahre Beziehungslaufzeit gekündigt waren wie ein Handyvertrag.  

    „Hab dir aber was Leckeres mitgebracht, onkelte Jörg. Er raschelte zwei Döner aus der Tüte, bog dabei um die Ecke in das noch nicht als solches erkennbare Wohnzimmer und staunte. „Meine Fresse, wie sieht‘s denn hier aus? 

    „Ich wurde aufgehalten beim Auspacken", sagte Mütze lächelnd. 

    „Wie heißt sie?" fragte Jörg. 

    „Wenn ich das wüsste." 

    „Hey, spann mich nicht auf die Folter..." 

    „Ich hab keinen Namen." 

    „Hier aus dem Haus?" 

    „Nee, aus meinem Archiv." 

    Er zog die Kassettenhülle hervor und reichte sie Jörg, während er auf die Rückspultaste des Rekorders drückte. 

    „Alter, sowas hast du noch? Das gehört ins Museum für Frühgeschichte. Ich hab meine Tapes vor 15 Jahren entsorgt." 

    „Titel Nummer sechs, sagte Mütze bloß. „Gefällt mir richtig gut, aber ich hab damals den Namen der Band nicht aufgeschrieben. Jetzt kannst du deine Fachkenntnis als Rock‘n‘Roller beweisen, du Lexikon. 

    Zumindest in Sachen 80er-Rock galt Jörg in der Tat als Experte. Bei jedem der seit ein paar Jahren grassierenden Kneipenquizze war er eine sichere Bank, wenn es um die Dekade der saitenzerrenden Zottelköpfe, der Popper, Synthies und der Punk-Epigonen ging. Tauchte er bei einem Kneipenquiz auf, wusste die Konkurrenz, dass sie für ihn keine war und quasi vor der ersten Runde schon verloren hatte, wenn es um Gitarrensounds ging. 

    Jörg kannte daher auch so gut wie alles, was jemals bei The Monday Rock Show oder der The Heavy Metal Show von BFBS, Wolfgang Neumanns Schlagerrallye (die so hieß, obwohl sie gar keine Schlager spielte) und Mal Sondocks Diskothek auf WDR lief. Ohne Wimpernzucken kramte er aus seinem Speicherplatz die Titel von One-Hit-Wondern hervor, kaum hatte er die ersten Takte gehört. 

    Jörg erinnerte sich an Namen von Bands, die sogar deren Ex-Mitglieder inzwischen vergessen hatten. Beispielsweise wusste er ganz selbstverständlich nicht nur, wer 1984 mit „It‘s Not What I Mean die eigene Bedeutungslosigkeit weiter zementierte, sondern sogar den Namen des für die Musikgeschichte ebenfalls unerheblichen Albums: „Apocalypse von einer Combo namens Viva. Austauschbarer Mainstream-Rock, dessen Melodien auch Jon Bon Jovi hätten einfallen können. Den Bandnamen Viva zu googeln, war nicht nur wegen des gleichnamigen Musiksenders aussichtsarm. Diese Typen aus Hannover konnte heute einfach keiner mehr kennen. Außer Jörg und Mütze, denn die hatten die damals im Radio gespielten Stücke von Viva auf Kassette verewigt, Jörg schickte ihm vor Jahren die eigens umgewandelten mp3-Dateien. Inklusive Moderationsschnipsel natürlich.  

    „Na, dann lass mal hören", sagte Jörg, rieb sich vorfreudig die Hände und trug den lässigen Killerblick eines Elfmeterschützen, der sich nicht einmal die Ecke aussuchen musste, weil der Torwart eh nicht im Kasten stand. 

    Mütze erwischte beim Rückspulen das Fadeout des Songs zuvor.  

    „Boah, nee, Happy Children", stöhnte Jörg nach nur zweikommanullachtvier Sekunden, bloß um sich warmzumachen für die folgende Aufgabe. 

    Mütze lief rot an. „Das, äh..." 

    „Ach, lass mal, sagte Jörg mit einer wischenden Handbewegung, „ich hab zu Hause sogar DVDs mit allen Teilen von ,Die Dornenvögel‘. Jeder hat seine Leichen im Schrank. 

    „Nicht dein Ernst!" 

    „Mönsch Mütze, na klar, so ernst wie dein ,Happy Children‘! Zu sowas muss man stehen. Es gibt Rocker, die noch Plüschtiere neben dem Kopfkissen haben. Das sind tiefere Abgründe als Sado-Maso-Fantasien. Vergiss nicht, Michael Hutchence hat sich dabei aus Versehen stranguliert." 

    Kurz-Klugschiss beendet – das Stück rumpelte los. Irgendwas mit „last cigarette und „you‘re alone war vom Frontmann nach dem Intro herauszuhören.  

    Jörg packte den Döner aus, schlug die obere Zahnleiste ins Fladenbrot – und verharrte im Biss. „Ah!, rief er nur hervor. Zum Kotzen, dachte Mütze, dieser Mistkerl hatte jetzt schon den Titel parat! Doch Jörg wurde wieder zum Stillleben, machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nee, doch nicht, ich dachte zuerst, es wäre was von Box of Frogs.  

    Nie gehört, dachte Mütze, als er nun ebenfalls das Alupapier vom Döner schälte und der große Unbekannte beim Refrain angekommen war. „I tried once, I tried twice, no goodbye, no sacrifice". Oder so ähnlich. Jörgs Stirn warf Falten, eine nach zwei anderen. 

    „Interessant, murmelte er mit halbvollem Mund, „sagt mir noch nix. Erstaunlich! Klingt gar nicht so übel, Mann! 

    Mütze nickte nur mit Zufriedenheit im Blick, weil Jörg doch tatsächlich passen musste. 

    Zweite Strophe. „Mach mal kurz Stopp!", sagte Jörg plötzlich. 

    Mütze drückte die rote Taste. 

    „Also?" fragte er erwartungsvoll. 

    „Das is‘n Ding! Keinen Schimmer! Ist mir völlig unbekannt." 

    Bei Mütze wurde die Genugtuung ob der Ahnungslosigkeit von Schlaumeier Jörg einen Tick eingetrübt, denn wie sollte er nun an die Lösung kommen?  

    „Einen Augenblick, sagte sein Kumpel kauend, „das ist zwar unsportlich, aber jetzt frag ich das Netz. 

    Mit der noch unfettigen Hand – an der linken floss schon die Kräutersoße in die Mulde zwischen Daumen und Zeigefinger – befummelte er sein Smartphone und rief das installierte Musikerkennungsprogramm auf. „Okay, kannst weitermachen." 

    Die zweite Strophe bewegte sich auf den nächsten Refrain zu, Mütze sah Jörg über die Schulter. Auf dem Display flackerten die Farben wie früher die Lichtorgeln in den Kiefernmöbel-Partykellern von Jörgs Reihenhaus-Eltern. Beim Suchen warf die App wachsende Farbblasen, und endlich, endlich passierte etwas: „Sorry, stand auf dem Display, „den Titel konnten wir leider nicht erkennen. Der Button darunter empfahl: „Erneut versuchen." 

    „Gibt‘s ja wohl nicht, sagte Jörg, „die App erkennt sonst alles. Den Song muss es doch geben! 

    „Ich würde sagen: Ja, den gibt es, bemerkte Mütze süffisant. „Ich hol uns mal zwei Bier. Der Kühlschrank ist nämlich schon angeschlossen. 

    „Mönsch Mütze, sagte Jörg, „hervorragende Idee! 

    Als Mütze ihn nach der Rückkehr zwischen die Kartons fragte, ob er schon gehört hätte, dass Karel Gott tot sei, vergaßen sie die Fahndungsfortsetzung nach einem Song, der weniger Geschichte geschrieben hatte als „Fang das Licht oder „Babicka. Was jetzt nicht unbedingt ein Ritterschlag für die Goldene Stimme aus Prag sein musste. 

    Am Himmel streckten die Wolken ihre fetten, schwarzgrauen Bäuche heraus, so schmutzig, als hätte ein Automechaniker seine öligen Hände damit gewaschen. Der Dezember-Anfang war für neue Klima-Verhältnisse regelrecht kühl ausgefallen und die Erinnerung an das, was man früher Altweibersommer nannte ausradiert. Manchen rutschte der Begriff noch heraus, eigentlich aber hatte er es ins stetig wachsende Verzeichnis der Wörter geschafft, die man zu vermeiden hatte, wollte man keinen Protest bei vor allem jungen Frauen entfachen. Jedenfalls war‘s jetzt nicht mehr so warm wie wochenlang zuvor. 

    Andreas Bachenbreder schloss den Briefkasten auf, an dessen Klappe immer noch das Stück Papier klebte, auf das er seinen Namen gekrakelt und das er mit silbernem Gaffaband befestigt hatte. Selbst ein halbes Jahr nach seinem Einzug in die Kochstraße hatte der Hausverwalter es nicht auf die Reihe bekommen, ein ordentliches Schild unter dem Sichtfenster und an der Klingel anbringen zu lassen. Ihm war es wurscht, so lange die Post ankam. Heute lag ein Umschlag mit Werbung vom Internetanbieter im Blechkasten. Warum der in regelmäßigem Abstand die Anwohner belästigte, obwohl die komplette Südvorstadt ohnehin mangels Konkurrenz Internet und Kabelfernsehen von dem Kommunikationsriesen bezog, war ihm ein Rätsel. Mütze kratzte sich ärgerlich am Kopf, dessen hintere Seite ein kleines, aber schleichend wachsendes Eiland blitzblanker Haut offenbarte, umgeben von einem Wald aus mittellangem, wellig-schwarzgrauen Haar, an dem das Baumsterben in Langzeitstudie zu beobachten war. Für Anfang 50 wirkte er optisch noch relativ frisch, fand er, vielleicht sogar spätjugendlich, höchstens wie Ende 40, zumal er sein Gewicht von 82 Kilo bei 1,83 Meter seit Jahren hielt. Immer wieder passierte es, wenn er die alte Heimat besuchte und

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