Vergangenheit, die nicht vergeht: Gespaltene Gesellschaften und gegensätzliche Narrative
Von Aleida Assmann
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Buchvorschau
Vergangenheit, die nicht vergeht - Aleida Assmann
vorwort
In seinem Buch »The Western Canon« schreibt der amerikanische Literaturkritiker Harold Bloom:
Gedächtnis ist schon immer als Kunst angesehen worden, auch wenn diese Kunst manchmal unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeitet. Der amerikanische Philosoph R. W. Emerson hat zwischen der »Partei der Erinnerung« und der »Partei der Hoffnung« unterschieden, aber das war noch in einem ganz anderen Amerika. Heute ist die Partei der Erinnerung zur Partei der Hoffnung geworden, auch wenn die Hoffnung inzwischen immer geringer geworden ist.¹
Harold Bloom hat diese Worte in einen ganz anderen Kontext hineingeschrieben. Dennoch können sie einen guten Einstieg in das Projekt bieten, das ich im Februar 2023 in der Reihe der Wiener Vorlesungen vorstellen durfte. Bloom hat hier vornehmlich an die Literaturgeschichte gedacht. Für ihn besteht die Gedächtniskunst und -kraft der Literatur vor allem darin, dass sie ihre Leser und Leserinnen über die Jahrhunderte in ihren Bann zu ziehen vermag. In Emersons Unterscheidung geht es offenbar um einen eher konservativen und einen eher progressiven Modus des Denkens. Der Mythos vom »amerikanischen Traum« ist bis heute ein Beispiel für diese Spannung, denn er steht für eine Abkehr von der Vergangenheit, mit der man nichts mehr anfangen kann, und verlagert das Ziel menschlichen Hoffens und Strebens in eine Zukunft, die man sich als eine permanente Verheißung von Glück und Fortschritt ausmalt. Von einer solchen Zeitvorstellung sind wir heute weit entfernt. Deshalb schließen sich heute auch Vergangenheit und Zukunft, so Bloom, nicht mehr so kategorisch aus. Sie greifen ineinander und können sich gegenseitig stützen, um neue Perspektiven zu eröffnen, auch wenn das große Zukunftsversprechen inzwischen erloschen ist.
Mein Thema wird im Folgenden nicht die große Kunst der westlichen Literatur sein, sondern es wird im Gegenteil um Brocken einer traumatischen Geschichte gehen, die hinter uns liegt, aber noch nicht erledigt ist, weil in ihr noch Konflikte und Probleme begraben liegen, die in die Gegenwart weiter hineinwirken und sie immer wieder heimsuchen. Eine Wiederbegegnung mit dieser Vergangenheit und eine neue Besichtigung der Probleme mit einem neuen, anderen Blick, so die These dieses Buches, könnte sich zu einer wichtigen und noch kaum genutzten Ressource entwickeln, weil sie in einer Welt sozialer Spaltung und politischer Polarisierung Perspektiven für eine gemeinsame Zukunft eröffnet.
Ich danke den Organisatoren der Wiener Vorlesungen, dem Bürgermeister Herrn Michael Ludwig, und der Stadträtin für Kultur und Wissenschaft, Frau Veronica Kaup-Hasler, für die Ehre, meine Gedanken zu diesem Thema im Festsaal des Rathauses präsentieren zu dürfen. Ein besonderes Geschenk war das Gespräch, das ich mit der Wissenschaftsjournalistin Birgit Dalheimer im Anschluss führen durfte. Eine Zusammenfassung dieses Gesprächs, das den Horizont der Thesen der Vorlesung in verschiedene Richtungen hinein weiter ausleuchtet, ist im Anhang mit abgedruckt. Bei einigen Antworten habe ich mir die Freiheit genommen, sie zum Teil noch etwas zu