Kapitalismus und Opposition: Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen. Paris, Vincennes 1974
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Über dieses E-Book
Das E-Book Kapitalismus und Opposition wird angeboten von zu Klampen Verlag und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Kapitalismus, Gesellschaft, Neoliberalismus, Politik, Marcuse, Philosophie, Vincennes, Vorlesung
Herbert Marcuse
Herbert Marcuse, geboren 1898 in Berlin, wurde nach dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg für kurze Zeit Mitglied eines Soldatenrates in Berlin. Ab 1919 studierte er Literaturwissenschaft und Philosophie in Freiburg/Breisgau (u.a. bei Husserl und Heidegger). 1932 wurde er Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und emigrierte 1934 nach New York, wo er am Institute of Social Research tätig war und Mitbegründer der Kritischen Theorie der Gesellschaft wurde. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Marcuse für den amerikanischen Geheimdienst, um die Kriegsanstrengungen der Aliierten gegen Nazideutschland zu unterstützen. Nach Ende des Krieges lehrte er an verschiedenen renommierten Universitäten der USA, wo er seine Werke »Triebstruktur und Gesellschaft«, »Vernunft und Revolution«, »Der eindimensionale Mensch« verfasste, die zu den grundlegenden Texten für die Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre wurden. 1979 starb Herbert Marcuse während eines Deutschlandaufenthalts. Bei zu Klampen erschienen seine Werke »Feindanalysen« (1998), »Nachgelassene Schriften. Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie« (1999), »Nachgelassene Schriften. Kunst und Befreiung (2000), »Nachgelassene Schriften. Philosophie und Psychoanalyse« (2002), »Nachgelassene Schriften. Die Studentenbewegung und ihre Folgen« (2004), »Nachgelassene Schriften. Feindanalysen« (1998, 2007), »Nachgelassene Schriften. Ökologie und Gesellschaftskritik« (2009) sowie »Der eindimensionale Mensch« (2014), »Kapitalismus und Opposition« (2017) und diese Schriften als Gesamtausgabe (2004).
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Buchvorschau
Kapitalismus und Opposition - Herbert Marcuse
Herbert Marcuse
Kapitalismus und Opposition
Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen
Paris, Vincennes 1974
Herausgegeben von Lisa Doppler,
Peter-Erwin Jansen und Alexander Neupert-Doppler
Mit einer Einleitung von Roger Behrens
© 2017 zu Klampen Verlag ∙ Röse 21 ∙ 31832 Springe
www.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg, unter Verwendung eines Marcuse-Portraits (© Ulf Andersen)
Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de
Druck: Bookfactory Buchproduktion GmbH · Bad Münder
ISBN 978-3-86674-688-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Zurück nach Paris
Vorwort
Um der Hoffnungslosen willen.
Marcuses kritische Theorie der Praxis
Roger Behrens
Die Pariser Vorträge.
Globaler Kapitalismus und radikale Opposition
1 Monopolkapitalismus und Opposition
2 Die Ideologie der postindustriellen Gesellschaft
3 Integration ins etablierte System
4 Auflösung der Vaterfiguren
5 Neoimperialismus und Klassenkonstitution
6 Konsumkapitalismus
7 Kritisches Bewusstsein und Revolte
Die »entfremdete Arbeit« durch Kreativität ersetzen.
Interview mit Herbert Marcuse,
»Le Monde« 1974
Verschwunden, aber nicht vergessen.
Die Reformuniversität Vincennes
Lukas Wieselberg
»Das Buch wird ein großer Erfolg«
(Leo Löwenthal, 1964).
Peter-Erwin Jansen und Detlev Claussen
im Gespräch zu Der eindimensionale Mensch
Literaturverzeichnis
Autoren und Herausgebende
Herbert Marcuse – Nachgelassene Schriften
Anmerkungen
Zurück nach Paris
¹
Vorwort
Die Anekdote, dass Herbert Marcuse ausgerechnet am 1. Mai 1968 in Paris eintraf und dann von dort am 12. Mai nach Berlin weiterreiste, ist bekannt und wurde immer wieder, vor allem in der bürgerlichen Presse jener Zeit, zu einer Art öffentlichem Geheimnis stilisiert. ² So, als ob die zufällige Anwesenheit des Theoretikers irgendwie die politischen Proteste und Barrikadenkämpfe des sogenannten Pariser Mai ausgelöst hätte, um dann weiterzureisen zu den Revoltierenden nach Berlin oder Berkeley.
Marcuse hat freilich die Besetzung der Universität Sorbonne am 3. Mai, die Barrikadenkämpfe am 10. Mai und die wilde Streikbewegung ab dem 14. Mai teilweise als Augenzeuge miterlebt und die weiteren Ereignisse durchaus kritisch zur Kenntnis genommen. Ein Jahr später schreibt er 1969 in seinem Versuch über die Befreiung über die soziale Kraft der Fantasie, wie sie sich in der Wandparole »Die Phantasie an die Macht« an der besetzten Sorbonne ausdrückte: »Die Phantasie solcher Männer und Frauen würde ihre Vernunft bilden und tendiert dazu, den Produktionsprozeß zu einem Schöpfungsprozeß zu machen. Dies ist die utopische Konzeption des Sozialismus. […] Sie war die großartige, reale transzendierende Kraft, die idee neuve bei der ersten machtvollen Rebellion gegen das Ganze der bestehenden Gesellschaft, der Rebellion für die totale Umwertung der Werte, für qualitativ andere Lebensweisen: der Mai-Rebellion in Frankreich.« ³ Die letzten zehn Jahre seines Lebens, bis zu seinem Tod am 29. Juli 1979, wurde dieser Kampf um qualitativ andere Lebensweisen zum bestimmenden Thema seiner Philosophie und Veröffentlichungen. Gespeist von älteren Arbeiten, etwa seiner Studie zu Freud Triebstruktur und Gesellschaft (1955) oder seiner Kritik des Sowjetmarxismus (1958), entstanden die vielgelesenen Schriften über Repressive Toleranz (1970), Konterrevolution und Revolte (1972), Marxismus und Feminismus (1974) und das Scheitern der Neuen Linken? (1975). Das Buch jedoch, das in den sozialen Kämpfen dieser Zeit am stärksten wirkte und rezipiert wurde, war zweifellos Der eindimensionale Mensch von 1964.
Zehn Jahre nach dessen Erscheinen und sechs Jahre nach dem Pariser Mai kehrte Marcuse nach Paris zurück, um zwischen dem 10. April 1974 und dem 10. Mai 1974 insgesamt sieben Vorlesungen am Vincennes-Campus der Universität Sorbonne zu halten. Mitschriften dieser Vorlesungen, die Peter-Erwin Jansen, einer der fünf Direktoren der Internationalen Herbert-Marcuse-Gesellschaft (Sektion Europa), im Marcuse-Archiv entdeckt hat, werden hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht und damit der philosophischen und politischen Diskussion zugänglich gemacht. Jansen und sein amerikanischer Kollege Charles Reitz hatten diese Dokumente 2015 unter dem Titel Paris Lectures in den USA publiziert. Die Übersetzung ins Deutsche, die in diesem Band unter dem Titel Kapitalismus und Opposition – Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen vorliegt, besorgten Lisa Doppler und Alexander Neupert-Doppler. Von Lisa Doppler stammt außerdem die Übersetzung des Interviews aus dem Französischen, das Herbert Marcuse am 10. Mai 1974 der Zeitung »Le Monde« gegeben hat. Roger Behrens, ein ausgewiesener Experte der Kritischen Theorie im Allgemeinen und der Gesellschaftskritik Marcuses im Besonderen, leistet in seinem Beitrag eine erhellende Einordnung der Pariser Vorträge in den Kontext von Marcuses Gesamtwerk. Wir sind ihm dankbar für die Unterstützung des Projekts, über dessen Hintergründe und Bedeutung wir uns im Folgenden äußern. Für das Wissenschaftsmagazin »Science« des Österreichischen Rundfunks recherchierte Lukas Wieselberg die außergewöhnliche Geschichte der Reformuniversität Vincennes. Als Gegenentwurf zur Sorbonne, die schon nach einem Jahr der Pariser Mai-Revolte erneut in ein hochschulpolitisch konservatives Fahrwasser geriet, entstand in einem Wald am Stadtrand von Paris eine chaotisch organisierte, aber intellektuell äußerst bedeutende, alternative und kritische Bildungsinstitution. Wieselberg erklärte sich großzügig bereit, das Manuskript der Sendung für diese Ausgabe zu überarbeiten, wofür wir ihm herzlich danken. Anlass des hier abgedruckten Gesprächs zwischen Detlev Claussen und Peter-Erwin Jansen war das 50. Jahr des Erscheinens der amerikanischen und in diesem Jahr der deutschen Ausgabe von Der eindimensionale Mensch.
Die hier veröffentlichten Reden eignen sich als Einführung in Marcuses Theorie insgesamt und als Ergänzung zu Der eindimensionale Mensch. Es finden sich Argumente aus den 1960er und 1970er Jahren, die auch für die heutigen Diskussionen über Kapitalismus und Opposition Anknüpfungspunkte bieten. Die Titel der einzelnen Vorträge wurden von der Herausgeberin und den Herausgebern gewählt. Damit soll der weite Bogen angedeutet werden, den Marcuse 1974 in Paris gespannt hat. Ausgehend von seinen Beobachtungen zur Gesamtlage des Monopolkapitalismus (1) untersucht Marcuse die mögliche Bildung von kritischem Bewusstsein gegen die Ideologie der postindustriellen Gesellschaft (2) und gibt eine Definition dessen, was er die kapitalistische Integration der Massen nennt (3). Im Hinblick auf eine Revolution des 20. oder 21. Jahrhunderts und das Fehlen von Vaterfiguren in der Politik (4) fragt er nach der Bedeutung des Neoimperialismus (5), und nach den Kräften des Wandels im Konsumkapitalismus (6) der möglichen Opposition. Für seine kritische Haltung spricht, dass er weniger Prognosen zur Überwindung des kapitalistischen Systems abgibt, sondern auf einen für ihn grundlegenden Widerspruch hinweist und danach fragt, wie sich dieser in Bewusstsein und Revolte ausdrücken könnte (7).
»Die erweiterte Akkumulation erfordert Güter und Güterproduktion über die Reproduktion der Arbeitskraft hinaus, über die Lebensnotwendigkeiten hinaus. Das bedeutet Produktion für den Bereich der Freiheit und Vergnügung. Aber die Befriedigung dieser Bedürfnisse innerhalb des kapitalistischen Systems benötigt und bedingt lebenslänglich andauernde Arbeit, bedingt nicht nur die Aufrechterhaltung, sondern die Ausdehnung der Mühen entfremdeter Arbeit auf andere Bevölkerungsschichten, bedingt die Fortsetzung der Vollzeitausbeutung. Dies ist die Ausprägung des Widerspruchs im 20. Jahrhundert. Auf der einen Seite die steigende Produktion von Gütern, die ein Reich der Freiheit, Freude und kreativer Betätigung schaffen könnte. Auf der anderen Seite die Aufrechterhaltung der Mühen und entfremdeter Arbeit, um diese Güter zu erwerben und zu verkaufen und in Freiheit zu genießen.« ⁴
Marcuses »Widerspruch des 20. Jahrhunderts«, die Zunahme des gesamt gesellschaftlichen Reichtums bei gleichzeitiger Vorenthaltung der gesamtgesellschaftlichen Verfügung, ist auch für das 21. Jahrhundert noch aktuell. Wenn die kritischen Analysen stimmen, wonach es sich bei der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 auch um eine Überakkumulationskrise handelt, verweist dies auf die Aktualität seiner Überlegungen. Dem mittlerweile globalisierten Weltkapital fehlen Verwertungsmöglichkeiten, die Weltgesellschaft ist demnach für den Kapitalismus zu reich geworden. Sowohl der Sozialabbau in den reichen Industrieländern als auch die fortwährende Verelendung und Verarmung im sogenannten globalen Süden stehen im Widerspruch zu den heute vorliegenden Möglichkeiten eines guten Lebens für alle. Gleichwohl gehört es zu den besonderen Verdiensten Marcuses, beständig zu betonen, dass nur die praktische Bewusstwerdung oppositioneller Subjekte in der Lage wäre, diesen objektiven Widerspruch zu lösen.
Auf dieser Denkleistung beruht das in den letzten Jahren wieder zunehmende Interesse an Marcuses Theorie. Zum 50. Jubiläum des Eindimensionalen Menschen gab es ungewöhnliche Formen der Erinnerung, zum Beispiel die durch zahlreiche deutschsprachige Städte tourende Bühnenshow Der eindimensionale Mensch wird 50. Nicht nur der Publizist Thomas Ebermann (Jahrgang 1951), sondern auch deutlich jüngere Akteure, wie der Schauspieler Robert Stadlober (Jahrgang 1982) und der Musiker Andreas Spechtl (Jahrgang 1984) traten vor einem durchaus auch jungen Publikum mit Texten und Songs zu Marcuses bekanntestem Werk auf. Sicherlich dürfen wir zudem gespannt sein, was uns 2018, zum 50. Jubiläum der Revolte von und nach 1968, bevorsteht. Einen Marcuse-Kongress im März 2018 in Berlin hat bereits die Gesellschaft für Psychologie unter dem Titel Die Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition (Herbert Marcuse) angekündigt.
Unabhängig von solchen Jubiläen hat Peter-Erwin Jansen in den Jahren zwischen 1998 und 2009 bei zu Klampen insgesamt sechs Bände mit nachgelassenen Schriften herausgegeben. Zeitgenossen, einstige politische Aktivisten oder Experten des Werkes von Herbert Marcuse wie Oskar Negt, Gerhard Schweppenhäuser, Alfred Schmidt, Wolfgang Kraushaar, Detlev Claussen und Iring Fetscher, trugen dazu Einleitungen bei, die beständig um die Frage der Aktualität Marcuses für heute kreisen.
Die letzte populärere Einführung in das Werk Herbert Marcuses dürfte hingegen, abgesehen von Roger Behrens Band Übersetzungen – Studien zu Herbert Marcuse aus dem Jahre 2000, von Hauke Brunkhorst und Gertrud Koch aus dem Jahr 1987 stammen. Nachdem der letzte große akademische Kongress 2003 zur Aktualität der Philosophie Herbert Marcuses anlässlich der Bestattung seiner Asche auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Freien Universität Berlin stattgefunden hat, ⁵ war es in den folgenden Jahren bis 2010 publizistisch eher ruhig um Marcuse. Erst 2014, das Jubiläumsjahr der Erstveröffentlichung von Der eindimensionale Mensch , rückte Marcuse wieder stärker in die Öffentlichkeit. Die drei umfangreichen Analysen von Tim B. Müller, Rafele Laudani und Robert Zwarg eröffneten in den letzten Jahren erneut eine Diskussion einerseits über Marcuses Analyse-Tätigkeit im Office of Strategic Services ⁶ und andererseits über den Einfluss Marcuses auf die Theorieproduktion in der amerikanischen scientific community.
Von der Situation in der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet sich die Rezeption in den USA, wo die Internationale Herbert-Marcuse-Gesellschaft seit 2005 alle zwei Jahre große, internationale Kongresse an renommierten amerikanischen und kanadischen Universitäten durchführt. Gerade die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Latein- und Südamerika weisen in ihren Beiträgen immer wieder auf die anhaltende Relevanz Kritischer Theorie für ihre Analysen des globalen Kapitalismus und dessen Auswirkungen auf die fortschreitenden Probleme in ihren Ländern hin. Das zeigt sich besonders an der regelmäßigen Teilnahme brasilianischer Kolleginnen und Kollegen. Insofern ist es kein Zufall, dass der Anstoß für die Zusammenarbeit an dem hier vorliegenden Projekt von der letzten Marcuse-Tagung an der Universität von Salisbury (Maryland, USA) ausging. Bereits im Vorfeld der US-amerikanischen Publikation der Paris Lectures korrespondierte Jansen mit Ulf Andersen, von dem Fotos der Pariser