Die Seele bei der Arbeit: Von der Entfremdung zur Autonomie
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Über dieses E-Book
Doch wie lassen sich emanzipatorische Theorie und Praxis auf der Höhe der Zeit denken, wenn sich die Voraussetzungen derart verschoben haben? In seiner bahnbrechenden Grundlagenanalyse unserer Gesellschaft kehrt Franco "Bifo" Berardi zu den Klassikern kritischer Theorie zurück und sucht sie nach neuen Interpretationszugängen für die Herrschaft des 21. Jahrhunderts ab. Aus den so gewonnenen Neuansätzen lässt sich ein radikaler Weg aus der Sklaverei der Schulden und der allseitigen, einsamen Konkurrenz beschreiben, der jenseits der rastlosen Selbstverbesserung eine neue Form des Zusammenlebens anvisiert.
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Buchvorschau
Die Seele bei der Arbeit - Franco "Bifo" Berardi
Filmverzeichnis
Einführung
»Also reden, die da sagen, die Seele sei unkörperlich, eitles Zeug. Denn wäre sie das, so wäre sie nicht fähig zu tun und zu leiden. Nun aber zerlegen offensichtlich doch gerade diese beiden Eigenschaften die Seele in ihre wesentlichsten Bestandteile.«¹
Die Seele, von der ich hier sprechen will, hat nicht sehr viel mit dem Geist zu tun. Vielmehr ist sie der lebenswichtige Atem, der biologische Materie in einen lebendigen Körper verwandelt.
Ich will als Materialist von der Seele sprechen. Was der Körper zu tun vermag, das ist seine Seele, wie Spinoza gesagt hat.
Um die Unterwerfungsprozesse zu beschreiben, die mit der Herausbildung der Industriegesellschaften aufkamen, erzählt Michel Foucault die Geschichte der Moderne als Geschichte der Disziplinierung des Körpers und als Geschichte derjenigen Institutionen und Instrumente, die – mittels der Maschinen der gesellschaftlichen Produktion – den Körper unter ihre Kontrolle bringen. Die industrielle Ausbeutung hat es auf den Körper abgesehen, auf Muskeln und auf Arme. Dieser Körper wäre ohne jeden Wert, wäre er nicht lebendig, mobil, intelligent, reaktiv. Die postfordistischen Produktionsformen, die ich im Folgenden als Semiokapitalismus bezeichnen werde, verwenden den Geist, vor allem die Sprache und die Kreativität, als Werkzeuge der Wertproduktion. In der digitalen Produktion wird vor allem der semiotische Strom ausgebeutet, der das Ergebnis der Zeit darstellt, die der Mensch bei der Arbeit verbringt.
In diesem Sinne sprechen wir auch von »immaterieller Produktion«. Sprache und Geld sind alles andere als Metaphern, und dennoch sind sie immateriell. Sie sind nichts und können doch alles: Sie bewegen, verdrängen, vermehren, zerstören. Sie sind die Seele des Semiokapitals.
Wenn wir Michel Foucaults genealogische Arbeit fortsetzen wollen, so müssen wir den Fokus unserer theoretischen Aufmerksamkeit auf die Automatismen der geistigen Reaktivität, Sprache und Imagination verlagern und deshalb auf die neuen Formen der Entäußerung und Prekarität jener geistigen Arbeit, die im Netz geleistet wird.
In diesem Buch werde ich die Sprache des Marxismus, die in den 1960er-Jahren so dominant war, ganz neu untersuchen, um sie auch unter Berücksichtigung der Sprachen des Poststrukturalismus, der Schizoanalyse und Cyberkultur wieder zum Leben zu erwecken.
Obwohl die Sprache jener Zeit den Begriff »Seele« zwar nicht verwendet, will ich hier auf ihn zurückgreifen – metaphorisch und sogar ein wenig ironisch –, um eine Reihe von Fragestellungen noch einmal gründlich zu durchdenken, die sich mit dem Problem der Entäußerung auseinandersetzen. Aus hegelianischer Sicht definiert sich dieses Problem über die Beziehung zwischen menschlichem Wesen und menschlichem Handeln, während die materialistische Sichtweise des italienischen Operaismus die Entäußerung als Beziehung zwischen menschlicher Zeit und kapitalistischem Wert definiert, das heißt als Verdinglichung sowohl des Körpers als auch der Seele. In der hegelianisch-marxistischen Tradition des 20. Jahrhunderts bezieht sich der Begriff »Entäußerung« ausdrücklich auf die Beziehung, die zwischen der Körperlichkeit und dem menschlichen Wesen besteht. Für Hegel bezieht sich das Wort »Entäußerung« auf das Selbst, das zu einem Anderen wird, auf die historische und weltliche Trennung des Seins vom Existierenden.
Bei Marx bezeichnet der Begriff »Entäußerung« die Spaltung zwischen Leben und Arbeit, die Spaltung zwischen der physischen Aktivität der Arbeiter und deren Menschlichkeit, ihrem menschlichen Wesen. Der junge Marx, Autor der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844 und späterer Hauptbezugspunkt für die radikale Philosophie der 1960er-Jahre, schreibt dem Konzept der »Entäußerung« eine Schlüsselrolle zu.
Marx zufolge (ähnlich äußerte sich vor ihm aber auch Hegel) sind »Entäußerung« und »Entfremdung« zwei Begriffe, die ein und denselben Vorgang aus zwei verschiedenen Blickwinkeln bezeichnen. Der erste beschreibt das Verlustgefühl, das das Bewusstsein überkommt, wenn es sich vor dem Hintergrund der Kapitalherrschaft einem Objekt gegenübersieht. Der zweite Begriff bezieht sich auf die Konfrontation zwischen dem Bewusstsein und dem Ort der Exteriorität sowie auf die Schöpfung eines autonomen Bewusstseins, das durch die Weigerung entsteht, sich mit seiner Abhängigkeit von der Arbeit abzufinden.
Das Denken des italienischen Operaismus überwand die marxistische Sichtweise, die in jenen Jahren so sehr dominierte: Die Arbeiterklasse wird nun nicht mehr als passives Objekt der Entäußerung verstanden, sondern als das aktive Subjekt einer Verweigerung, das in der Lage ist, eine Gemeinschaft zu formen, die wiederum auf ihrer Entfremdung von den Interessen der kapitalistischen Gesellschaft gründet.
Die Entäußerung gilt also eben nicht als der Verlust menschlicher Authentizität, sondern als die Entfremdung vom kapitalistischen Interesse. In einem Raum, der allen Arbeitsverhältnissen entfremdet und ihnen feindlich gesonnen ist, gilt sie deshalb als notwendige Bedingung für die Entstehung einer jeden endlich wahrhaft menschlichen Beziehung.
Ähnlich deutete sich auch im Kontext des französischen Poststrukturalismus eine Abkehr vom traditionellen Verständnis der klinischen Entäußerung an: Die Schizophrenie – von der Psychiatrie lediglich als Abspaltung und Verlust des Selbstbewusstseins betrachtet – wird von Félix Guattari unter ganz neuen Voraussetzungen gedacht. Die Schizophrenie ist nicht die rein passive Folge einer Bewusstseinsspaltung, sondern eine selbständige Form des Bewusstseins, multipel, wuchernd, nomadisch.
In diesem Buch will ich das begriffliche Gerüst der 1960er, das auf den hegelianischen Begriffen Entäußerung und Totalisierung aufbaut, mit dem begrifflichen Gerüst unserer Gegenwart vergleichen, das auf der Biopolitik und den Psychopathologien des Begehrens ruht.
Im ersten Teil des Buches will ich die Beziehung zwischen der Philosophie der 1960er und den damaligen Theorien der Arbeit darlegen. Im Zuge der Renaissance Hegels und der Entstehung der Kritischen Theorie begann die Industriearbeit unter dem Aspekt der Entäußerung betrachtet zu werden, und die Rebellion der Industriearbeiter gegen ihre Ausbeutung galt als Beginn eines Ent-Entäußerungsprozesses.
Im zweiten Teil des Buches werde ich die graduelle Vergeistigung der Arbeitsabläufe erklären sowie die daraus resultierende Versklavung der Seele. Die Seele zur Arbeit anzutreiben: Dies ist die neue Form der Entäußerung. Unsere begehrende Energie ist in die Falle des Ich-Unternehmens getappt, unsere libidinösen Investitionen werden nach ökonomischen Gesetzen reguliert, unsere Aufmerksamkeit ist in der Prekarität virtueller Netzwerke gefangen: Jedes einzelne Fragment geistiger Aktivität muss in Kapital verwandelt werden. Ich werde beschreiben, wie das Begehren im Verwertungsprozess gelenkt wird, und ich werde zudem auf die psychopathologischen Implikationen der Unterjochung der Seele durch verschiedenste Arbeitsprozesse zu sprechen kommen.
Im dritten Teil werde ich die Evolution mehrerer radikaler Theorien nachzeichnen, vom idealistischen Begriff der Entäußerung bis hin zum analytischen Begriff der Psychopathologie. Ich werde außerdem die Philosophie des Begehrens (Deleuze und Guattari) mit der Philosophie der Simulation (Baudrillard) vergleichen, um die Unterschiede zwischen beiden, aber auch ihre Komplementarität hervorzuheben.
Im vierten Teil des Buches will ich beschreiben, welche Folgen die Prekarisierung der Arbeit, insbesondere die der kognitiven Arbeit nach sich zieht, und außerdem möchte ich die Folgen der biopolitischen Unterjochung der Sprache und Affektionen darstellen.
In meinem Fazit werde ich mich zu dem bevorstehenden Zusammenbruch des psychomaschinistischen Organismus der Weltwirtschaft äußern. Dieser Zusammenbruch, der auf den jüngsten Niedergang des Finanzwesens folgen wird, könnte der Seele ein ganz neues Zeitalter eröffnen: ein Zeitalter der Autonomie und Emanzipation.
1
Arbeit und Entäußerung in der Philosophie der 1960er-Jahre
Arbeiter und Studenten, vereint im Kampf
In den 1960er-Jahren kreisten die verschiedensten Denkrichtungen rund um den Marxismus, der Strukturalismus beispielsweise, die Phänomenologie sowie der Neohegelianismus – und die große internationale Explosion des Jahres 1968 lässt sich als Endpunkt einer theoretischen Arbeit betrachten, die sich auf vielen verschiedenen begrifflichen Ebenen entfaltet hatte, als Schnittstelle verschiedenster Projekte.
Im Jahr 1968 können wir sehen, wie riesige Menschenmengen – Arbeiter und Studenten – mit einer in der Geschichte bis dahin beispiellosen Synchronizität weltweit gegen den kapitalistischen Moloch und die autoritären Systeme der sozialistischen Welt ankämpften.
So betrachtet, bedeutete die 1968er-Bewegung einen ersten bewussten Ausdruck der Globalisierung. In erster Linie existierte der Internationalismus im Bewusstsein seiner Handelnden. In Berkeley setzte man sich für Vietnam ein, während es in Shanghai Solidaritätsbekundungen mit den Pariser Studenten gab. In Prag kämpften Studenten gegen den sowjetischen Autoritarismus, während in Mailand der kapitalistische Staat der Feind war – doch die positive Bedeutung, die von diesen so verschiedenen Bewegungen ausging, war überall dieselbe.
Die Bedeutung dieser Bewegungen lag in dem Entstehen einer neuen historischen Allianz – einer Allianz zwischen der intellektuellen Massenarbeit und der Arbeitsverweigerung der Industriearbeiter.
Obwohl das Jahr 1968 tief in der Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist, und obwohl es von verschiedenen Denkrichtungen ideologisch zum Leben erweckt wurde, die alle ein fester Teil des 20. Jahrhunderts waren, markiert es den Anfang vom Ende der Industriegesellschaften und den Beginn eines Prozesses, der zur Entkörperlichung des modernen Nationalstaats führte.
Arbeiter und Studenten: Dieses Binom steht für eine ganz neue Zusammensetzung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit und deutet für das 20. Jahrhundert eine ganz neue Form innovativer Potenzialitäten an.
Das Aufkommen der intellektuellen, technologischen und wissenschaftlichen Arbeit war eines der Merkmale des Jahrzehnts. Die politische Macht der 68er-Bewegungen rührte daher, dass die Studenten zu einer Masse wurden. Sie waren Teil der allgemeingesellschaftlichen Arbeitskraft geworden, die global von großer Homogenität geprägt war.
In eben diesen 1960er-Jahren zeigte die Industriearbeiterklasse eine wachsende Entfremdung von der Organisation der Arbeit, bis diese Entfremdung zur offenen Aufsässigkeit und organisierten Revolte wurde.
In einigen Produktionsbereichen, wie zum Beispiel in der Autoproduktion, nahm die Arbeit einen massenhaft entpersonalisierten Charakter an: In diesen Bereichen breitete sich die Arbeitsverweigerung sehr viel rascher und folgenschwerer aus. In mehreren Wellen wurde der europäische Autoproduktionskreislauf gegen Mitte der 1970er-Jahre von Arbeiterkämpfen, Sabotage und Absentismus überschwemmt, bis eine technologische Reorganisation, die auf die Rückeroberung der kapitalistischen Herrschaft abzielte, die Macht der Arbeiter bezwang. Diese technologische Restrukturierung bedeutete, dass die menschliche Arbeitskraft nun durch Maschinen ausgetauscht wurde, sie bedeutete die Automatisierung ganzer Produktionskreisläufe und die Knechtung aller geistigen Aktivität.
»Arbeiter und Studenten, vereint im Kampf« ist vielleicht der bedeutendste Slogan der sogenannten italienischen Biennio rosso, der Zwei Roten Jahre. 1968 und 1969 wurden diese Worte bei Tausenden von Kundgebungen, Versammlungen, Streiks und Demonstrationen gerufen: Sie standen für viel mehr als lediglich für eine politische und ideologische Allianz oder eine nur oberflächliche Form der Solidarität. Sie waren das Zeichen der organischen Integration der Arbeit und des Geistes, sie bedeuteten die bewusste Konstitution des general intellect, den Marx in seinen Grundrissen verhandelt hatte.
Die theoretischen Fragestellungen, die soziologische Imagination und die philosophische Kritik, die in diesen Jahren zur Sprache gebracht wurden, offenbarten sich in den gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Studentenbewegung genauso wie in deren kultureller und produktiver Verschmelzung mit einer Bewegung, die von der Verweigerung der Industriearbeit ausging.
Der italienische Neomarxismus, der oftmals auch als »Operaismus« bezeichnet wird, ist eine Denkrichtung, die sich auf die Beziehung zwischen den Kämpfen der Arbeiterklasse einerseits und den intellektuellen und technologischen Transformationen andererseits konzentriert.
Die modernen Intellektuellen
Das Wort »intellektuell« hat heute einen Großteil der Bedeutung verloren, die es im 20. Jahrhundert noch besaß, als sich rund um diesen Begriff nicht nur Fragen des gesellschaftlichen Wissens scharten, sondern auch solche der Ethik und Politik. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nachdem die intellektuelle Arbeit nach und nach in den Bereich der wirtschaftlichen Produktion aufgegangen war, veränderte sich ihr Wesen von Grund auf. Als es die digitalen Technologien dann ermöglichten, die einzelnen Fragmente der kognitiven Arbeit miteinander zu verknüpfen, verleibte sich der Wertschöpfungskreislauf die parzellierte intellektuelle Arbeit endgültig ein. Die ideologische und politische Gestalt der Linken seitdem, ein Vermächtnis der vorangegangenen Geschichte des 20. Jahrhunderts, wurde unter diesen neuen Bedingungen ineffizient.
Unter den Bedingungen der vergangenen bürgerlichen Gesellschaft, also während der modernen Aufklärung, wurde der oder die Intellektuelle jedoch nicht über seine oder ihre soziale Stellung definiert, sondern galt als repräsentativ für ein System allgemeingültiger Werte. Die Rolle, die die Aufklärung den Intellektuellen zuschrieb, bestand darin, die Achtung der Menschenrechte und der Gleichheit sowie die Allgemeingültigkeit des Rechts zu gewährleisten und durchzusetzen – und zwar mittels der Vernunft.
Die moderne Figur des Intellektuellen findet ihre philosophische Rechtfertigung in Kants Denken. Hier tritt der Intellektuelle als eine Figur in Erscheinung, die vollkommen unabhängig ist von aller gesellschaftlichen Erfahrung oder zumindest in seinen oder ihren ethischen und kognitiven Entscheidungen nicht gesellschaftlich beeinflusst wird. Als Träger einer allgemeinmenschlichen Rationalität können wir den aufgeklärten Intellektuellen als gesellschaftliche Verkörperung von Kants »Ich denke« bezeichnen. Der Intellektuelle ist Gewährsperson eines Denkens, das von allen Einschränkungen befreit worden ist und eine allgemeinmenschliche Vernunft verkörpert. In diesem Sinne ist er oder sie die Gewährsperson für die Demokratie. Die Demokratie kann nicht etwa einer kulturellen Wurzel oder Zugehörigkeit entwachsen, sondern allein einem grenzenlosen Horizont aus Möglichkeiten und Optionen – besonders aus der sich allen bietenden Möglichkeit, Einlass zu finden und Bürgerrechte zu erhalten, und zwar als semiotisch Handelnde und als Subjekte, die untereinander Zeichen mit anderen austauschen, um Zugang zur allgemeinen Vernunft zu erhalten. In diesem Sinne befindet sich die Figur des Intellektuellen in Opposition zu der romantischen Vorstellung des Volkes, oder vielmehr ist es so, dass sie vor einer solchen Vorstellung flüchtet. Das allgemeine Denken, aus dem das moderne Abenteuer der Demokratie hervorgegangen ist, bedeutet in der Tat eine Flucht von der Historizität und der Territorialität der Kultur. Niemals kann die Demokratie von nur einer Kultur geprägt sein, von nur einem Volk, nur einer Tradition: Sie muss ein völlig unbegründetes Spiel sein, eine Neuerung und Konvention, und nicht lediglich die Behauptung einer Zugehörigkeit.
Sowohl der historische als auch der dialektische Materialismus machen noch eine ganz andere Perspektive geltend: Der Intellektuelle wird zum Vermittler einer ganz bestimmten historischen Botschaft und muss aus der Geschichte des Denkens in die Geschichte der sozialen Klassen herabsteigen. In der elften seiner Thesen über Feuerbach schrieb Marx: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.«²
Marxistische Intellektuelle sehen sich als Instrumente eines geschichtlichen Prozesses, der darauf abzielt, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Das kommunistische Projekt verwandelt die Theorie in eine materielle Kraft und das Wissen in ein Instrument zur Veränderung der Welt. Nur insofern sie am Kampf für die Abschaffung der Klassen und der Lohnarbeit tatsächlich teilnehmen, handeln die Intellektuellen in universaler Mission.
In der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts kommt den Intellektuellen große Bedeutung zu, insbesondere was das revolutionäre Denken des Kommunismus betrifft, das mit Lenin beginnt. In seinem Werk Was tun? schreibt Lenin den Intellektuellen die Verantwortung zu, den historischen Prozess im Interesse der Arbeiterklasse anzuführen. Der Intellektuelle handelt als freier Geist, und zwar nicht im Auftrag existierender gesellschaftlicher Interessen, sondern er dient solchen Anliegen, die erst noch im Entstehen begriffen sind. Er oder sie identifiziert sich mit der Partei, die der höchste kollektive Intellektuelle ist. Für Lenin sind die Intellektuellen keine gesellschaftliche Klasse, sie haben kein spezifisches Interesse daran, jemand Bestimmten zu unterstützen. Sie können zu Handelnden werden und zu Organisatoren eines revolutionären Bewusstseins, das vom philosophischen Denken herrührt. Andererseits können die Arbeiter, obwohl sie im Interesse der Gesellschaft handeln, durch die politische Struktur der Partei, die das philosophische Erbe verkörpert und vermittelt, von einer rein ökonomischen Phase (Hegels Selbstbewusstsein des sozialen Wesens) zur bewussten politischen Phase (Selbstbewusstsein an sich) übergehen.
Mit Gramsci wird das Nachdenken über die Intellektuellen spezifischer und konkreter, trotz der Tatsache, dass auch Gramsci dabei noch an eine Figur denkt, die mit dem humanistischen Intellektuellen verknüpft und die jeder Produktionsdynamik entfremdet ist. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt die Gestalt des Intellektuellen ihr Wesen zu verändern, weil ihre Funktion durch die Technologisierung immer mehr in den Produktionsprozess eingebunden wird.
In Sartres Werk, das von außerordentlicher Bedeutung für das Entstehen der kulturellen Stimmung im Vorfeld des Jahres 1968 ist, knüpft sich die Vorstellung des Intellektuellen noch an die Perspektive des Bewusstseins, und nicht etwa an eine produktive und gesellschaftliche Perspektive:
[D]er Intellektuelle ist jemand, der sich um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen, und der vorgibt, die Gesamtheit der gegebenen Wahrheiten und der sich daraus ableitenden Verhaltensweisen anzufechten im Namen einer globalen Auffassung von Mensch und Gesellschaft […].
[Ich] sage […], daß man Wissenschaftler, die an der Kernspaltung arbeiten, um die Waffen des Atomkriegs zu perfektionieren, nicht als »Intellektuelle« bezeichnen wird: das sind ganz einfach Forscher. Wenn sich aber dieselben Forscher, weil sie über die zerstörerische Macht der Waffen, deren Herstellung sie ermöglichen, entsetzt sind, zusammenschließen und ein Manifest unterzeichnen, um die Öffentlichkeit vor der Anwendung der Atombombe zu warnen, werden sie zu Intellektuellen. Denn 1. überschreiten sie ihre Kompetenzen: eine Bombe herzustellen ist eines, über deren Anwendung zu urteilen etwas anderes; 2. mißbrauchen sie ihren Ruhm oder die ihnen zuerkannte Kompetenz, um die Öffentlichkeit zu manipulieren, und verbergen damit die unüberbrückbare Kluft, die ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse von der politischen Einschätzung trennt, die sie ausgehend von anderen Prinzipien über die von ihnen hergestellten Waffen haben; 3. verurteilen sie in der Tat die Anwendung der Bombe nicht deshalb, weil sie technische Mängel festgestellt hätten, sondern im Namen eines höchst fragwürdigen Wertsystems, dessen höchste Norm das menschliche Leben ist.³
Für Sartre ist ein Intellektueller, wer beschließt, sich für universale Anliegen zu engagieren, ohne jedoch gesellschaftlich für dieses Engagement prädestiniert zu sein. Doch sobald die intellektuelle Arbeit zu einer unmittelbar produktiven Funktion wird, sobald Wissenschaftler zu Arbeitern werden, die der kognitiven Produktionsmaschine zugewiesen sind, und sobald Dichter sich in Arbeiter verwandeln, die von nun an die Werbung, also die imaginative Produktionsmaschine zu verantworten haben – sobald all dies gilt, gibt es keinerlei allgemeine Funktion mehr zu erfüllen. Die intellektuelle Arbeit wird zu einem Teil des autonomen Prozesses des Kapitals.
Im Jahr 1968 deutete sich diese Veränderung in der Fragestellung bereits an, auch wenn sich dieses Wandels nur ein winziger Teil der Bewegung bewusst war.
Der Massenzugang zu Bildung sowie die technologische und wissenschaftliche Veränderung der Produktion haben zu einer neuen Definition der Intellektuellen geführt: Sie sind nun keine Klasse mehr, die von der Produktion unabhängig ist, noch sind sie freie Individuen, denen die Aufgabe einer rein ethischen und freien kognitiven Entscheidungsfindung zukäme. Vielmehr stellen sie ein gesellschaftliches Massensubjekt dar, das kurz davor ist, zu einem wesentlichen Bestandteil des allgemeinen Produktionsprozesses zu werden. Paolo Virno schreibt von der »Massenintellektualität«⁴, um die soziale Subjektivität zu begreifen, die der Vermassung der intellektuellen Kompetenzen in einer entwickelten Industriegesellschaft entspricht. In den 1960er-Jahren war das Aufkommen der Studentenbewegungen ein Zeichen dieses gesellschaftlichen Wandels,