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Sich selbst beheimaten: Grundlagen systemischer Biografiearbeit
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Sich selbst beheimaten: Grundlagen systemischer Biografiearbeit
eBook566 Seiten6 Stunden

Sich selbst beheimaten: Grundlagen systemischer Biografiearbeit

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Über dieses E-Book

Was ist eine Biografie? Kommt uns Menschen eine Biografie zu, indem wir leben, oder ist Biografie etwas, das wir uns erarbeiten? Lassen sich beide Aspekte überhaupt trennen? In welchem Maße ist unsere persönliche Erinnerung familiengeschichtlich und gesellschaftspolitisch geprägt? Wie lässt sich systemische Biografiearbeit gestalten? Wer braucht sie? Wie hilft sie beim Bewältigen des Alltags? Und was verbindet sie mit Zukunftsaspekten? Diesen und weiteren Fragen geht Herta Schindler in diesem grundlegenden Werk nach, das kenntnis- und geschichtenreich Konzepte, Methoden und Praxisfelder der Biografiearbeit vorstellt.
Eine Biografie zu schaffen heißt, sich durch Erzählen Sinn geben. Biografien gibt es also nicht per se, sie werden in einem schöpferischen Prozess konstruiert. Eigenes Erinnern wird zur gemeinsamen Erfahrung, gelebtes Leben erhält dadurch einen Platz im sozialen Gedächtnis und gewinnt an Bedeutung. Ziel der Biografiearbeit ist es, Menschen und ihrer Lebenssprache Raum zu geben, Selbstausdruck zu ermöglichen und Selbstreflexion zu fördern. Dieses Buch vermittelt umfassendes Theorie- und Praxiswissen für eine professionelle Begleitung in verschiedenen psychosozialen Arbeitsfeldern und eröffnet einen schöpferischen Raum für Suchbewegungen bei allen Beteiligten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Juni 2022
ISBN9783647994161
Sich selbst beheimaten: Grundlagen systemischer Biografiearbeit
Autor

Herta Schindler

Herta Schindler, Diplom-Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin und Lehrtherapeutin (SG), Systemische Supervisorin, Systemische Coachin (DGSF), anerkannte Systemaufstellerin (DGfS), Qualifikationen in Poesie- und Bibliotherapie (Fritz Perls Institut) und angewandter Biografiearbeit (Arlesheim/Schweiz), ist Inhaberin des Systemischen Instituts Mitte SYIM in Kassel (www.syim.de) und bietet dort eine einjährige Fortbildung in »Biografiearbeit unter systemischer Perspektive« an.

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    Buchvorschau

    Sich selbst beheimaten - Herta Schindler

    Teil A

    Geschichte(n) als Grundlagen – theoretische Rahmung Systemischer Biografiearbeit

    1Biografiearbeit – die Kunst, über das Leben zu erzählen

    Zu Beginn erfolgt eine Annäherung an Biografiearbeit: Begrifflichkeiten werden eingeführt, Entwicklungsperspektiven aufgezeigt und der systemische Kontext aufgezeigt.

    1.1 Einführung in Begrifflichkeiten oder: Wer hat eigentlich eine Biografie und was geschieht bei Biografiearbeit?

    Unter einer Biografie verstehen wir eine individuelle Erzählung über das gelebte Leben eines konkreten Menschen. Das Individuelle entfaltet sich dabei auf der Grundlage des Allgemeinen. Der universelle Charakter der Biografie zeigt sich in gemeinsamen menschlichen Bedingungen, an denen wir uns in der Gestaltung unseres Lebens »abarbeiten« wie eine Künstler:in an seinem bzw. ihrem Material.

    Allgemeine und individuelle Ebenen in der Biografie

    Grundlegende Entwicklungsbedingungen gehören in alle Lebensverläufe, sie sind somit überindividuell und unumkehrbar:

    •Geburt und Tod als die großen Dimensionswechsel unseres Daseins

    •die Notwendigkeit, die leiblichen Grundbedürfnisse zu befriedigen

    •die Angewiesenheit auf menschliche Bindungen

    •der stetige Entwicklungs- und Alterungsprozess

    •die Zeitgenossen:innenschaft

    Individuelle Fakten des Lebens sind ebenfalls nicht veränderbar: wie Geburtszeit- und -ort, leibliche Herkunft, Geschwisterfolge. Die Bedeutungen, die wir diesen Unausweichlichkeiten geben, sind es allerdings schon. Diese wandeln sich im Lebensprozess. Insofern sind wir in der Biografiearbeit mit einer doppelten Realität, der Gestaltung des Wandelbaren auf der Grundlage des Gegebenen, befasst. Das jeweils Eigenartige tritt aus diesem Gegebenen hervor gleich einem individuellen Daumendruck. Dabei kommt gerade das Selbstverständliche nicht zur Sprache und bildet »das Hintergrundrauschen« der biografischen Erzählung. Es bleibt eine Herausforderung, Konstruiertes vom Faktischen zu differenzieren, wie wir z. B. an der Geschlechterthematik [Sex-/Gender(selbst)zuschreibungen] erkennen, und »dominante Diskurse« sichtbar zu machen, die über gesellschaftspolitische Normen »Unsichtbarkeit« erzeugen.

    Von Gedächtnisspuren zur biografischen Erzählung

    Biografiearbeit fußt auf dem Bedürfnis, sich seiner eigen-art-igen Erfahrungen zu vergewissern, sich darin zu verstehen, Sicherheit, Erleichterung, Orientierung zu entwickeln, indem sie in eine Geschichte überführt werden. »Alle Menschen tragen in ihrer Psyche vielfältige Gedächtnisspuren, doch kontinuierliche Erinnerung gibt es nicht. Das ist einfach auch schon deshalb ausgeschlossen, weil nur einige besondere Spuren im Langzeitgedächtnis gespeichert werden« (Heller, 2020, S. 133) Die Hinwendung zur Biografie, der eigenen oder der eines anderen, beinhaltet die Beschäftigung mit diesen Gedächtnisspuren, um ihnen im Rahmen einer Geschichte Sinn und Bedeutung zu geben. Der Anlass dafür liegt in der Gegenwart, und die Gegenwart ist auch »das Ziel der Geschichte« (S. 133).

    Das Anfangsinteresse bleibt somit leitend für den biografischen Erkundungsweg. Es übernimmt die Funktion des Ariadnefadens aus der griechischen Mythologie, in der Theseus den Minotaurus in dessen Labyrinth aufsuchen und töten will: Ariadne, die Tochter des Königs Minos, übergibt ihm den legendär gewordenen Faden, dessen Anfang am Ausgang des Labyrinths Theseus auf seinem Weg sichert. Nun kann er sich in das Labyrinth vorwagen, ohne sich darin zu verirren und zugrunde zu gehen.

    In dem ungeordneten »Wildwuchs« der Gedächtnisspuren übernimmt der Ausgangsaspekt diese Aufgabe: den Bezug zur Gegenwart zu halten, sich nicht im Labyrinth seinen Erinnerungen zu verlieren. Im biografischen Arbeiten werden die sporadischen Erinnerungsspuren »in einer Erinnerungskette verbunden, in einer Geschichte, die einer sich selbst oder anderen über seine Vergangenheit erzählt. So entsteht die autobiografische Erinnerung, die John Locke ›Identität‹ nannte« (S. 133). In der biografischen Erzählung wird somit eine Gestalt des eigenen Lebens im Wandel der Zeit umrissen. Indem sich Erinnerungsspuren dabei beweglich aufeinander beziehen lassen, wird die biografische Arbeit »zu einem Selbstbildungsprozess, in dem Identität sich flexibel ›clustert‹ und sich entlang von Diskontinuitäten und Brüchen prozesshaft immer neu ausrichte[n lässt]« (Jansen, 2011, S. 20).

    Dies kann als selbstorganisierender Prozess verstanden werden. Dabei schränken strukturelle Muster die Möglichkeiten, Erlebtes wahrzunehmen und zu erzählen, ein. Zugleich werden diese Muster erkennbar und wandeln sich stetig durch veränderte Erzählperspektiven. Systemisch ausgerichtete Biografiearbeit unterstützt die Arbeit an diesem Erzählrahmen, indem sie die breite Möglichkeit von Erinnerungskonstruktionen unterstützt bzw. schwankenden biografischen Boden durch Erkundungsprozesse stabilisieren hilft.

    Biografische Recherche

    Brüche und Nichtwissen machen Recherche nötig, um zu einer kohärenten Erzählung zu kommen. Recherche findet sowohl im familiären Rahmen durch Nachfragen, Gespräche, Sichten von Dokumenten etc. statt als auch durch Erkundungen historischer Bedingungen in Bibliotheken, Archiven und durch das Aufsuchen von bedeutsamen Orten. Teil der Biografiearbeit können deshalb Reisen, Bibliotheks- und Archivbesuche sowie Interviews sein. In die Biografie fließen sowohl die Ergebnisse der Recherche ein als auch die Erfahrung und emotionale Wirkung, die dieser Prozess auslöst. Die Markierung der Grenzen des Wissens und Erinnerns sind ebenfalls Teil der Auswertung von Rechercheprozessen.

    Wer oder was hat eigentlich (k)eine Biografie?

    Biografiearbeit nimmt neben den Lebensgeschichten von Personen zahlreiche weitere »Identitätsprozesse« in den Blick: Geschichten von Orten und Gebäuden, von Firmen und Institutionen, von sozialen Gruppen. Was als von Menschen gestaltet wahrgenommen werden kann, kann biografisch beschrieben werden. In der Umkehrung bedeutet das: Was biografisch beschrieben wird, wird als vom Menschen geprägtes »Subjekt mit Geschichte« gekennzeichnet.

    Bei jeder Person und in jeder Gesellschaft gibt es nicht in Erzählungen überführte Aspekte und Artefakte, die sich der Erzählfähigkeit entziehen oder bei denen sich die Erzählfähigkeit erst bildet. Es handelt sich dann um im gegenwärtigen familiären oder gesellschaftspolitischen Bezugssystem nicht »biografiewürdige« Personen und Gruppen, Orte und Erfahrungsebenen. Biografisierende bewegen sich entlang dieser inneren und äußeren Erzählgrenzen und suchen tastend einen Sprachraum für bisher Ungestaltetes. Dies ist zu unterscheiden von dem, was mit dem Begriff »Narration« umrissen ist.

    Narrativ

    Der seit ca. 1990 verwendete Begriff bezieht sich auf sinnstiftende Erzählungen über Gruppen und Gemeinschaften. Narrationen dienen als gesellschaftspolitisches Medium, um im weitesten Sinne »Sinn« zu verankern, also auf Deutungen Einfluss zu nehmen. Im Narrativ werden Werte und Interessen mit Emotionen verknüpft, es wird ein vorteilhafter Bedeutungszusammenhang konstruiert, der eine bestimmte Sichtweise erklärt und rechtfertigt, stabilisiert oder erneuert. Narrative werden gebraucht und weiterentwickelt, um Gruppen und Institutionen zu konturieren, z. B. Nationen, die EU, politische Systeme, aber auch Berufsgruppen, Altersgruppen, Geschlechtszugehörigkeiten. Sie werden eingesetzt für die Bedeutungsmarkierung von Markenartikeln, Konsumbedürfnissen, aber auch für die Präsenzfeststellung von Werten und Verhaltensweisen.

    Bei narrativen Erzählungen stellt sich die »biografische« Frage: Wer spricht? Und: Wer spricht mit welchem Interesse? In der Biografiearbeit taucht Narration auf im Zusammenhang mit der Frage, wie Aspekte einer Person oder Herkunft in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchen.

    Der Begriff »Narrativ« hat, ähnlich wie »Diskurs« oder »Trauma«, starke Verbreitung gefunden. Der Ansatz im Bereich »Storytelling« bezieht sich auf die Veränderung von Narrativen.

    Für wen eignet sich Biografiearbeit?

    Das Fragen nach der eigenen Biografie entsteht in Zeiten von Lebensübergängen und Lebenskrisen, bei drängenden Lebens- und Familienthemen und in Alterungsphasen, in denen eine Lebensernte vollzogen werden will. Biografiearbeit ist nicht altersabhängig. Bei Kindern und Jugendlichen unterstützt sie die Identitätsentwicklung, wenn sie gravierende Abbrüche und Verluste erlitten haben, die nicht eingeordnet werden können. Biografiearbeit dient dann als Möglichkeit, ein Bewusstsein von Kontinuität für das eigene Leben zu entwickeln und dem Verlorenen einen symbolischen Platz zu geben. Ähnliches gilt für alle Gruppen, die Selbstvergewisserung durch Suche nach der Herkunft oder Vergangenheit erfahren können.

    Biografische Begleitungsarbeit

    Das Land der eigenen Erfahrung mit seinen Grenzen zu erkunden und dadurch zu verändern, ist ein freiwilliger Akt, der Einwilligung braucht – und oftmals auch Ermutigung. Die biografische Begleitungsarbeit setzt »fachliche Professionalität voraus, die dazu in der Lage ist, ein spezifisches Setting der Biografiearbeit zielorientiert und Adressatinnen spezifisch zu entwickeln und zu gestalten« (Jansen, 2011, S. 26). Dazu gehören Methodenkompetenz, Fähigkeit in der Prozessbegleitung und Kontextwissen bezüglich der Interessent:innengruppe. »Biografien sind subjektive und bedeutungsstrukturierte Konstruktionen des individuellen Lebens, wie sie sich in der kognitiven, emotionalen und körperlichen Auseinandersetzung zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen herausbilden. […] In der Biografiearbeit geht es deshalb nie um die Rekonstruktion von Fakten […], vielmehr um das Verstehen des ›Eigen-Sinns‹ biografischer Äußerungen« (Miethe, 2011/2014, S. 21). Systemische Begleitungsarbeit unterstützt diese Erkundungswege:

    •durch Kenntnisse über komplexe Systemdynamiken, diese beziehen sich

    –auf individuelle Entwicklungsprozesse im Lebensverlauf

    –auf familiäre Mehrgenerationendynamik

    –auf gesellschaftspolitische Macht- und Ohnmachtserfahrungen

    •durch Ressourcenorientierung und Wertschätzung im Umgang

    –mit Menschen

    –ihren Erinnerungen

    –ihren Ausdrucksweisen

    1.2 Eine mögliche Entwicklung der Biografiearbeit oder: »Mit meiner Stimme sprechen, mehr, andres hab’ ich nicht gewollt« (Christa Wolf)

    Will man die Entwicklung der Biografiearbeit erkunden, lautet die zentrale Frage: Wessen Stimme ist es, die wir jeweils hören? Eine Frage, die uns auf eine weite, gedankliche Reise führt.

    Biografiearbeit als Sujet ist nicht eindeutig definiert. Ingrid Miethe setzt sich mit dieser Thematik auseinander und kommt zu folgender Feststellung: »Was genau unter Biografiearbeit zu verstehen ist, was noch dazu zählt und was nicht, ist begrifflich gar nicht so einfach einzugrenzen. Ist es nur Biografiearbeit, wenn wir ein Seminar zum Thema ›Biografiearbeit‹ ausschreiben, zu dem sich Teilnehmer anmelden? Oder ist es auch Biografiearbeit, wenn wir in der stationären Jugendhilfe ein Kind ins Bett bringen und mit diesem über seine Eltern sprechen? Ist es Biografiearbeit, wenn wir in einem Seminar z. B. Zugang zu dem zu behandelnden Stoff zu bekommen und somit das Interesse an der Veranstaltung zu steigern? Oder ist es auch Biografiearbeit, wenn wir uns im Kreis von Freundinnen die Geschichte unserer ersten Liebe erzählen? Um es kurz zu machen: In der Literatur gibt es keinerlei einheitlichen Gebrauch für die Verwendung des Terminus ›Biografiearbeit‹« (Miethe, 2011/2014, S. 21 f.). Die Ambivalenz und Vagheit des Begriffs der Biografiearbeit werden durch Miethes Worte deutlich; es zeigt sich, dass biografische Themen in unterschiedlichen Kontexten mit jeweils spezifischen Schwerpunkten zur Sprache kommen, ohne dass deren Konturen klar umrissen sind. In welchem Umfeld welche Person etwas äußert, um sich selbst und ihrem Erleben Ausdruck zu verleihen, bietet einen ersten Rahmen für eine zu schaffende Ordnungsstruktur im Bereich der Biografiearbeit (siehe auch Unterkapitel 2.1, S. 51).

    Was heißt: »Mit meiner Stimme sprechen«?

    Mit meiner Stimme sprechen! – Wer spricht da? Im Roman der Schriftstellerin Christa Wolf ist es Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Königin Hekabe, die dies begehrt. Denn sie ist mehr als die Tochter des Königs, sie ist Seherin und als solche mit eigenen Sichtweisen verbunden. Denen will sie Gehör verschaffen. Und unterliegt doch dem Fluch, dass keiner ihr zuhört, mehr noch, dass man ihre Einblicke für gefährlich hält. Sie zahlt denn auch für das Erheben ihrer Stimme mit dem Verlust ihrer Freiheit und ihres Lebens. Christa Wolf lässt sie im gleichnamigen Buch am Tag ihrer Hinrichtung über ihr Schicksal berichten.

    So dramatisch vollzieht sich das Erheben der eigenen Stimme in der Biografiearbeit nicht. Hier geht es, im Umkehrschluss, eher darum, Eigenmächtigkeit und Souveränität der Selbstaussage zu entwickeln. Das Zitat zeigt dennoch, welche inneren Anstrengungen und äußeren Kämpfe nötig sein mögen, um die eigene Stimme (wieder) zu finden.

    Als Voraussetzung dafür klingt im Wolf-Zitat zweierlei an: zum einen der Rückbezug auf sich selbst, also das Bedürfnis und die Bereitschaft zur Selbstreflexion: Meine Stimme, wie klingt die, was will ich mit meiner Stimme über mich und die Welt, in der ich lebe, sagen? Zum anderen schwingt das Finden eines Zugangs zum sozialen Raum mit, in den hinein ich sprechen kann. Und in dem sich ein Gegenüber findet, zu dem ich spreche – Menschen also, die mich hören und hören wollen und die dann auch noch antworten.

    Dass es biografische Selbstreflexions- und Mitteilungsräume gibt, ist an gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, denn »Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung« (Assmann, 2007, S. 48). Die Praxis der Biografiearbeit setzt damit ein im weitesten Sinne geschichtliches Bewusstsein und demokratische Kulturräume voraus. Was liegt also näher, als mit einem kurzen Rückblick in weit zurückliegende Epochen zu beginnen.

    Entstehung der Geschichtlichkeit

    Aus der frühkindlichen Entwicklung kennen wir, alle Menschen, das Leben vor dem Begreifen der Zeit. Vor dem Bewusstsein der unumkehrbaren Abfolge Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft liegt das Erleben rhythmischer Wiederholungen; davon sind die basalsten vermutlich dunkel-hell-dunkel-hell, gesättigt-hungrig-gesättigt, müde-wach, müde-gesättigt und hungrig-müde. Diese ineinandergreifenden, rhythmisch wiederkehrenden und damit kreisförmigen Lebensbewegungen werden im Laufe von Jahren allmählich durch ein Verständnis für das lineare Vergehen der Zeit erweitert.

    Auch menschheitsgeschichtlich wurde diese Entwicklungsabfolge vollzogen. Die wiederholenden Rhythmen differenzierten sich in komplexen Mythen aus, die das unumkehrbare Vergehen der geschichtlichen Zeit noch nicht berücksichtigen. Die Verehrung des ägyptischen Sonnengottes Ra veranschaulicht dies. In der ägyptischen Mythologie ist die Sonne der Gott Ra und der Gott Ra ist die Sonne. Deren unendlicher Auf- und Untergang entspricht dem »Pulsschlag […] des göttlichen und ewigen Kosmos« (Assmann, 2007, S. 183). Dieser Pulsschlag wird in den Vorstellungen des alten Ägypten sowohl bestätigt als auch aufrechterhalten und gefeiert durch den zelebrierten Ritus.

    Die ältesten überlieferten Chroniken, die ägyptischen Königslisten, dienten denn auch diesem Mythos. Sie sind wahrhaftig ein Mammutwerk! Denn obwohl sie »Listen« heißen, sind sie nicht geschrieben. Sie sind in Stein gehauen. In der umfänglichsten der Listen, der des Totentempels von Sethos I., sind sage und schreibe 76 aufeinanderfolgende Pharaonen als Reliefs mit Namenskartuschen den Mauern eingeprägt. Dort lassen sie sich heute noch vorfinden, sodass der steinerne Palast als Gedächtnisträger fungiert. In ihrer Entstehungszeit dienten die Königslisten als Brücke. Mit ihrer Hilfe maßen die Ägypter die Vergangenheit bis in fabelhafte Tiefen hinein aus, um die mythische Urzeit, eine paradiesische »Zeit ohne Ende«, in kultischen Handlungen zu berühren und lebendig zu erhalten und durch Verehrungsrituale symbolisch mit der Gegenwart zu verbinden. Wesentliches Anliegen war, immer wieder bis in die »mythische Urzeit als die im eigentlichen Sinne wirklichkeitsschaffende Geschichte« (S. 185) zurückzukehren.

    Der Blick der alten ägyptischen Kultur unterscheidet sich fundamental von unserer heutigen Sichtweise. Ja, die Perspektive wirkt entgegengesetzt: Die Jahrtausende weit zurückreichende Vergangenheit in Form der Königslisten lag den Ägyptern vor Augen. Demzufolge assoziierten sie die Zukunft, konträr zu unseren Vorstellungen, als im Rücken liegend. Zukunftsweisende Bilder als Imaginationen des Kommenden entstanden somit eher nicht.

    Die ägyptischen Königslisten stellen eine Aufzählung dar. Sie sind noch nicht mit Ereignissen verbunden. Sie sind »kein Dokument der Rechenschaftsablegung, sondern […] ein Kalender« (S. 184). Man könnte also sagen, die Königslisten sind die erste – in Stein gemeißelte – überlieferte und erhaltene Er-Zählung: Sie zählen die Pharaonenherrscher fast chronologisch auf. Interessanterweise fängt ihre Geschichtlichkeit an der Stelle an, an der Lücken in der Er-Zählung auftauchen, da sich daran Fragen entzünden lassen, die ins Erzählen führen: Welche Pharaonen wurden nicht »in Stein gemeißelt«? Was erzählen diese Auslassungen?

    Machen wir einen Sprung in die Gegenwart: Die Chronik als Auflistung zeitlicher Abfolgen finden wir bis heute beispielsweise im tabellarischen Lebenslauf, in Datierungen historischer Ereignisse, in Datierungen von Gesetzesänderungen und Ähnlichem. Als solche spielen sie in der Biografiearbeit eine bedeutsame Rolle. Das, was in einer Chronik auftaucht, gilt oft als Faktum, zählt zu dem, was mit gesicherten Daten umrissen wird.

    Bis heute sind Auslassungen im tabellarischen Lebenslauf bei Bewerbungen oder in Lebensgeschichten ein brisantes Thema: Was schreiben, was sagen über eine Zeit, deren Realität unerwünscht oder gar gefährlich erscheint? Wie mit einer Lücke umgehen, wenn diese entweder als nachteilig oder verdächtig gilt? Wie passe ich meine Erzählung dann den äußeren und inneren Erwartungen an? Diese Fragen sind Teil von Biografien, wenn sich Werte- und Machtverhältnisse mit ihrem Einfluss auf Lebenswege und -entscheidungen gravierend ändern.

    Beispiele:

    Eine alleinerziehende Frau bewirbt sich auf eine höher dotierte Stelle in einer anderen Stadt. Im Bewerbungsgespräch wird sie gefragt, wie sie »das mit ihrer Familie machen wird«. »Meinen Sohn«, sagt sie, »nehme ich mit, mein Mann kommt nach, wenn er eine entsprechende Stelle gefunden hat.« Sie bekommt eine Zusage und kommentiert: »Wenn ich gleich gesagt hätte, dass ich alleinerziehend bin, hätte ich die Stelle vermutlich nicht bekommen. Hinterher hat keiner mehr gefragt, wo mein Mann bleibt. Und das geht die ja auch nichts an.«

    Eine »afghanische Krankenschwester«, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in Deutschland Asyl beantragt hat, putzt in Privathaushalten. Nach Jahren eröffnet sie in den Putzstellen, sie sei Ärztin und spreche fünf Sprachen. »Wer hätte mich denn bei sich putzen lassen, wenn ich das gesagt hätte«, fragt sie. Anlass des »Aufdeckens« ist die Anerkennung ihres ärztlichen Diploms und die damit verbundene Arbeitserlaubnis in Deutschland.

    Mit einigen biografischen Notizen können Sie diesem Themenaspekt bei sich selbst nachspüren:

    Versetzen Sie sich einmal zurück – Lassen Sie sich einen Augenblick Zeit:

    Bei welchen Ihrer Daten und Fakten im Lebenslauf spüren sie Stolz?

    Wie verbindet sich das mit Ihrer individuellen Entwicklung und familiären Herkunft?

    Welche Fakten und Ereignisse in Ihrem Leben lassen Sie in Ihrem Lebenslauf aus?

    Welche Werte schützen Sie mit der Auslassung?

    Welche Machtverhältnisse berücksichtigen Sie dabei?

    Gehen wir noch einmal zurück und schauen auf den Übergang von der mythischen zur geschichtlichen Zeit: Der Übergang von der in die Vergangenheit weisenden Chronologie zum Zweck der Verbindung mit der Urzeit in die Verflechtung von Ereignissen zu einer Geschichte der Verheißung beginnt nach Jan Assmann (2015, S. 293 ff) mit der Erzählung über die israelische Knechtschaft in Ägypten und den »Auszug aus Ägypterland«, der Erzählung des »Exodus« (Bibel, 2. Buch Moses). Diese Ereignisse sind als Fließtext in der jüdischen Thora und im Alten Testament der christlichen Bibel festgeschrieben und nicht mehr, wie die Königsliste, in Stein gehauen.

    Das bedeutet: Hier tauchen sowohl eine Erzählstimme als auch eine soziale Gemeinschaft auf, für die diese bestimmte Geschichte erzählt wird. Diese handelt von Menschen, die sich mit ihrem Erleben auseinandersetzen, diese Auseinandersetzung festhalten, um sie weiterzugeben, und die dadurch zu einer stabilen Identität gelangen. Im Beispiel der Exoduserzählung geschieht dies, während ihr Lebensalltag nach dem Ende der Sklaverei buchstäblich auf Sand gebaut ist: Nach 34 Jahren Knechtschaft haben sie 40 Jahre in der Wüste durchzustehen, so heißt es. Dabei haben sie die Verheißung auf das gelobte Land als Zukunftsvision mehr oder weniger deutlich vor Augen.

    Diesen Prozess der Identitätsentwicklung vollzog diese Gruppe, indem sie sich als Schicksalsgemeinschaft in einer exklusiven Beziehung verstehen lernte, indem sie sich also Bedeutung innerhalb einer folgenreichen Beziehung gab, die sie fortan als Beziehungsgeschichte lebendig hielt. Denn »damit eine Gesellschaft daran interessiert ist, sich Rechenschaft über ihre Vergangenheit abzulegen, muss sie sich die Vergangenheit als ›ihre‹, als Teil ihres Selbstbilds, zurechnen. Sie muss die Vergangenheit, wie Claude Lévi-Strauss schreibt, verinnerlichen, um sie zum Motor für ihre Entwicklung zu machen« (Assmann, 2015, S. 174). Damit ist die Gegenwart in stetiger Wechselwirkung mit Vergangenheit und Zukunft verbunden.

    Von der Er-zählung, der Aufzählung der Pharaonen, ging der Prozess damit zur Geschichte², der Mitteilung bedeutsamer innerer und äußerer Prozesse, über.

    Zusammenfassend lässt sich sagen: »Auf der Ebene allgemeiner […] Orientierung geht es um den Ausstieg aus der mythischen […] hin zu einer geschichtlichen Zeitordnung, der [nun] die Vergangenheit im Rücken liegt und die Zukunft vor Augen steht in Form einer Verheißung […]. Und da dieses Neue in vielfacher Weise die Welt bestimmt, in der wir noch immer leben, ist auch das biblische Buch Exodus als Gründungslegende dieser unserer Welt bis heute lebendig geblieben« (2015, S. 396 f.).

    Die Frage, warum ich diese historischen Themen in ein Kapitel über die Geschichte der Biografiearbeit einbeziehe, führt wieder näher an die Gegenwart: Biografien, wie sie in tradierten Erzählweisen konstruiert werden, gehen auch heute noch auf diese Exodusgeschichte zurück. Deren erzählerischer Aufbau ist in jüdisch-christlich geprägten Kulturen, unabhängig von religiösen Bekenntnissen, tief verwurzelt. Wirkungen reichen bis in die Konstruktionsmuster von Hollywoodfilmen mit dem bekannten Erzählschema: Einführung der Figuren/schwierige Situation/Retterfigur/Rettungsplan/Aufbruch/äußere Hindernisse/innere Zweifel/Durststrecke/Wendepunkt/Happyend/Fortsetzung. Bis heute dienen diese Konstruktionen damit als Hintergrundfolie beim Zusammenfügen der Erinnerungsfragmente zu einer biografischen Erzählung.

    In Settings der Biografiearbeit taucht immer wieder einmal der Satz auf »Über mein Leben gibt es eigentlich nichts zu erzählen«. Gemeint ist dann in der Regel, dass die oben beschriebene Erzählchoreografie nicht bedient werden kann. Die innere Erzählung folgt keinem als bedeutsam angesehenen Erzählmuster.

    Kenntnisse über zugrundeliegende Muster biografischer Erzählungen unterstützen darin, deren Konstruktionen zu erkennen. In der multiethnischen Biografiearbeit ist differenziertes Wissen darüber unerlässlich, werden in unterschiedlichen Kulturen Erzählungen doch auf verschiedene Weise konstruiert.

    So gibt es »kulturelle Unterschiede, was die Erinnerungspraktiken […] angeht. In asiatischen Kulturen beziehen sich Eltern beim Erzählen weitaus mehr auf die soziale Gruppe als auf das Kind. Daher entwickeln Kinder aus asiatischen Kulturräumen weitaus weniger detaillierte Erzählungen einer persönlichen Vergangenheit als Kinder, die in Europa oder Amerika aufgewachsen sind« (Alley, 2019, S. 41). Andererseits muss davon ausgegangen werden, dass »Erzählmuster historisch wandelbare Phänomene sind, die grundsätzlich von kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten abhängen: Sie sind also immer Brüchen und Wandlungen unterworfen« (Saupe u. Wiedemann, 2015, S. 7). In unterschiedlichen Kulturen und in unterschiedlichen Zeiträumen wird zudem Unterschiedliches mit generalisierten Bedeutungen belegt und als Faktum behandelt.

    Damit wird deutlich: Auch das, was im Rahmen der Biografiearbeit als Daten und Fakten benannt wird, ist im weitesten Sinne durch kulturelle Erzählungen tradiert. Dazu zählen die Bedeutung von Geburtsdaten, die Definition von Geschlecht oder der Gebrauch von Familiennamen. So gibt es z. B. in Indonesien keine Familiennamen. Jeder Mensch hat mehrere Namen, von denen keiner erblich ist.

    Nun, nach dem weiten Bogen über die ägyptischen Königslisten, die Gegenwartsbezüge in den Beispielen und möglicherweise auch in Ihren eigenen Erinnerungen sowie der Exoduserzählung samt ihren Bezügen zu modernen Mythen aus Hollywood schauen wir noch einmal auf das Anfangszitat »Mit meiner Stimme sprechen«: Christa Wolfs Kassandra äußert diesen tiefen Wunsch – und bleibt doch in Zweifel verstrickt, ob sie wirklich aussprechen darf und will, was sie, die Seherin, erblickt. Hier ist ein großes Thema der Biografiearbeit angesprochen: Erfahrungen, Gefühle, Einschätzungen durch eine als eigen erlebte Sprache in den eigenen Ausdruck zu bringen und damit zu sich selbst zu kommen, eigentlich zu werden, verbunden mit dem Risiko, durch die Sichtbarwerdung innerlich und äußerlich im doppelten Sinne des Wortes wirklich und angreifbar zu sein. Die Geschichte der Biografiearbeit wäre in diesem Sinne auch eine fort von den großen, offiziellen Erzählungen in Königslisten, Heldenepen und über göttliche Aufträge bedeutsamer Männer³.

    Die Biografiearbeit schaut nun stattdessen hin zu denjenigen Geschichten von Menschen, die in den gesellschaftlichen Narrativen leise oder eher rudimentär zu hören waren oder sind, die ihre Stimme nicht souverän im öffentlichen Raum erheben, aber trotzdem zur Geschichte gehören und Sehnsucht danach haben, ihre Stimme zu erheben.

    Die Stimmen »kleiner Leute«

    Mit einem großen zeitlichen Sprung bleiben wir nun näher an der Gegenwart mit der Frage: Wie entstand der biografische Prozess auch für die sogenannten »kleinen Leute«, für jedermann und hauptsächlich auch jedefrau? Denn Biografiearbeit ist – und nicht zufällig – ein tendenziell von Männern weniger genutzter Raum. Sowohl Mentor:innen als auch Biografisierende sind in ihrer deutlichen Mehrzahl weiblich. Männliche Bezugsgruppen sind seltener, und wenn dann eher im Bereich Ortsgeschichte und Oral History anzutreffen. Biografiearbeit als Raum zur Selbstbefragung und Selbstvergewisserung mit der Möglichkeit, die eigene Stimme »finden« bzw. entwickeln zu wollen, wird vermutlich immer noch eher als Schwäche denn als Möglichkeit erlebt, besteht doch im Bezugsrahmen männlicher Identitätsbilder der Anspruch, per se seine Stimme zu haben und sie zu erheben. Dies korrespondiert damit, dass das demokratische Stimmrecht für (wohlhabende) Männer zuerst eingeführt wurde. Frauen blieben ohne dieses Recht auf »ihre Stimme«. In Deutschland wurde das Stimmrecht für Frauen 1918, in Frankreich 1944, in der Schweiz erst 1971 eingeführt, im Kanton Appenzell per Bundesgesetz sogar erst 1990. Biografiearbeit erfordert, so wird deutlich, auch diese Geschichte mitzuberücksichtigen.

    Für lebensgeschichtliches Erzählen ist neben der Mündlichkeit die allmähliche Verbreitung des Romans ab dem 18. Jahrhundert eine wichtige Errungenschaft. Dabei fungiert der Briefroman als Zwischenschritt und Vermittlung zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Mit der Verbreitung von Romanen und der aufgrund von Schulbildung sich erweiternden Möglichkeiten, diese auch zu lesen, entwickeln sich neue Fühl-, Denk- und Erzählkonstruktionen. Das Erleben von Differenz, also das Nichtaufgehen eigener Erfahrungen in gesellschaftlich angebotenen Rollen, nährt Fragen nach der eigenen Lebensführung, der individuellen Biografie.

    Im 18. Jahrhundert beginnt auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit biografischen Fragestellungen. »Neben der Literaturwissenschaft, der Histografie und der Philosophie war auch die Pädagogik an der Begründung der Biografieforschung maßgeblich beteiligt« (Röhrbein, 2019, S. 39).

    Anfang des 20. Jahrhunderts wird, angeregt durch Rudolf Steiner, die anthroposophische Biografiearbeit in Theorie und Praxis begründet. Sie stellt bis heute einen eigenen biografischen Zweig dar. Die Bezugspunkte dieses Ansatzes unterscheiden sich deutlich von anderen Entwicklungsansätzen. Neben lebensgeschichtlichen Themen der Biografie bezieht das anthroposophische Denken vorschwangerschaftliche und nachtodliche Erfahrungen sowie Planetenkonstellationen mit ein. In ihr wird von wiederholten Erdenleben ausgegangen und demzufolge von inneren Aufträgen, mit denen die Seele auf die Welt kommt. Was ein Mensch willentlich oder schicksalhaft erlebt, steht mit diesen inneren Aufträgen in Verbindung. Anthroposophische Biografiearbeit will darin unterstützen, diese zu erkennen, um ein erfülltes Erdenleben zu verwirklichen. Im Sinne des systemischen Verständnisses handelt es sich hier um eine Konstruktion, die von seinen Vertreterinnen und Vertretern nicht als Konstruktion angesehen wird. Dies schließt differenzierte Betrachtungen zum Lebenslauf nicht aus. Anregungen aus der anthroposophischen Biografiearbeit haben auch in anderen Ansätzen Eingang und Verbreitung gefunden, ohne dass die Quellen des Wissens immer bekannt sind und angesprochen werden. Dazu zählen u. a. der Rückgriff auf die 7-Jahresschritte im Lebenslauf (siehe Unterkapitel 3.3, S. 130) und verschiedene, mittlerweile weitverbreitete Tools⁵ (Miethe, 2011/1914, S. 95).

    Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam die Entwicklung der Biografieforschung und -arbeit zum Stillstand. Das Interesse am individuellen Lebenslauf trat hinter nationalen Interessen und Forderungen zurück. Bereits vorhandene Ansätze lagen von da ab brach oder gerieten in Vergessenheit.

    In der Weimarer Republik (1918–1933) erlebte die Biografieforschung einen, wenn auch kurzen, Aufschwung im Bereich Pädagogik und Psychologie (siehe auch Röhrbein, 2019, S. 40).

    Im Faschismus (1933–1945) wurde diesen Forschungszweigen die Grundlage wieder entzogen: Nicht das Augenmerk auf das Leben von Individuen, sondern deren Funktion und Opferbereitschaft für Führer und Nation oder deren Abwertung als »unwertes Leben« wurden propagiert und durchgesetzt. Während des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg gibt es keine Anzeichen, dass Biografiearbeit in Forschung und Praxis eine Rolle spielte (siehe auch S. 45 ff.).

    Bis zu einem Wiederaufleben dieses Forschungsfeldes dauerte es denn auch nach 1945 noch eine geraume Zeit. Weder in den sogenannten Aufbau- und Wirtschaftswunderjahren der BRD noch in den sozialistischen Aufbaujahren der DDR finden sich Anzeichen für ein Wiederaufkeimen der Biografiearbeit. Doch allmählich erforderte die Erfüllung der notwendigsten Grundbedürfnisse für die breite Bevölkerung nicht mehr alle Lebenskräfte. Jahrzehntelange Abwesenheit von Krieg und existenzieller Not wurden somit eine der Voraussetzungen für die wieder in Gang kommende Entwicklung der Biografiearbeit im gesellschaftspolitischen, kulturellen und psychosozialen Kontext.

    Aus diesem geschichtlichen Auf und Ab lässt sich ablesen, dass Biografiearbeit als Arbeit an individuellen Lebensgeschichten mit demokratischen Werten und deren Umsetzung verbunden ist. Das Wiedererstarken der Biografiearbeit korrespondierte demzufolge mit dem allmählichen Aufbrechen des Schweigens über die Verbrechen im Nationalsozialismus und der damit verbundenen Entwicklung von gesellschaftlicher Vielstimmigkeit. Eine wesentliche Rolle für dieses Aufbrechen hatte der Eichmann-Prozess in Jerusalem, der 1961 begann. Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer war der maßgebliche Organisator der nationalsozialistischen Judenvernichtung und als solcher zuständig für die Deportation von über fünf Millionen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen aus ganz Europa in die Vernichtungslager. Er war vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgespürt und in Jerusalem vor Gericht gestellt worden. Im Verlauf dieses Verfahrens gab es sehr viele Zeugenberichte von ehemals KZ-inhaftierten Menschen. Eichmann, der sich unerschütterlich bis zum Ende des Prozesses für »unschuldig und nur einen Befehlsempfänger« hielt, wurde zum Tode verurteilt. In ihrem Buch »Eichmann in Jerusalem« bezeichnete Hannah Arendt (1963) das, was sich als Haltung Eichmanns zeigte, also die Verweigerung jeglicher persönlicher Verantwortung durch den Hinweis auf Befehlsketten, als »Banalität des Bösen«⁶.

    Der Prozess erregte auch in Deutschland Aufmerksamkeit. Eine heranwachsende Generation, die nicht in Kriegsschuld verstrickt war, sah sich mit drängenden Fragen in Bezug auf das Verhalten der eigenen Eltern und Großeltern konfrontiert: »Was hast du Entsetzliches getan oder geduldet?« »Was banalisierst du?« »Was hast du gewusst? Wie hast du in den Jahren des Faschismus gelebt? Was hast du unterlassen? Welcher Auseinandersetzung mit Schuld und Verbrechen verweigerst du dich?« Diese Fragen forderten: »Ich will deine, wir wollen eure Stimmen hören. Wir wollen wissen!« Und sie forderten heraus und führten zur Abwehr: Antworten wurden weitgehend nicht (zufriedenstellend) gegeben.

    Ende der 1960er Jahren verschafften sich schließlich politisch emanzipatorische Bewegungen auf der Straße Gehör: Die Studentenbewegung ließ das Schweigen der Vorgenerationen und deren geschichtliche (Nicht-)Reflexionen zu den Gräueltaten des Faschismus sowie den aktuellen Gräueltaten im Vietnamkrieg nicht unkommentiert, sondern setzte ihm mit Forderungen und Protestmärschen zu.

    Anhaltendes (inhaltliches) Schweigen als Antwort führte zu gesellschaftspolitischen Analysen über die Macht des Nichtgesagten. In den Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre entstand ein übergeordneter Diskurs über »die Beziehungen zwischen Sprache, gesellschaftlichen Institutionen, Subjektivität und Macht« (Grubner, 2013, S. 10).

    Biografiearbeit entwickelte sich infolgedessen als »Instrument«, um Ausdrucksmöglichkeiten für spezifische, bisher eher nicht akzeptierte und kommunizierte Erlebensweisen zu entwickeln. Damit wurde sie Bestandteil eines gesellschaftspolitischen Entwicklungsraums. Beispiele dafür sind der von Gewerkschaften organisierte »Literaturkreis der Arbeitswelt« (siehe Unterkapitel 2.2, S. 69), die emanzipatorische »Erinnerungsarbeit«, die von Prof. Frigga Haug und ihren Mitarbeiterinnen an der Universität Hamburg konzipiert und gelehrt wurde, sowie der Beginn der zweiten Frauenbewegung in der BRD.

    »Das Private ist politisch!«

    Mit diesem Ruf erhoben Frauen in den 1970er Jahren ihre Stimme: Sie schrien damit ihre bislang auch von den emanzipatorischen Bewegungen bagatellisierten Erfahrungen, ihre erlebten Zumutungen und ihren Mut hinaus in den öffentlichen Raum. Die zweite Frauenbewegung begann.

    Die von Alice Schwarzer in der Zeitschrift »Stern« nach französischem Vorbild organisierte öffentliche Aktion: »Ich habe abgetrieben und fordere das Recht dazu für alle Frauen« trug dazu wesentlich bei. Diese Aktion machte das strafbare, verheimlichte, weiblich-leibliche Erleben des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich: 373 Frauen bekannten sich zu dieser Straftat und forderten das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Mit diesem gemeinsamen biografischen Bekenntnis ist ein neuer gesellschaftlicher Sprachraum aufgemacht worden. Weibliche Sexualität und deren Entrechtung bzw. Selbstermächtigung waren in einen neuen Diskursrahmen gestellt.

    In überaus zahlreichen Frauengruppen, die sich als Selbsterfahrungsgruppen gründeten, nahmen Frauen nun biografische Erfahrungen als gesellschaftlich veränderungswürdige Themen wahr. In der Folge entstand die »Frauenliteratur«: von Frauen geschriebene, später auch in eigenen Verlagen herausgebrachte und aus der Perspektive von Frauen erzählte Romane und Erfahrungsberichte.

    Im Unterschied zur »Literatur der Arbeitswelt« konnte die Frauenliteratur auf keine Organisation wie die Gewerkschaft zurückgreifen. Frauen sahen sich herausgefordert, mit der Hervorbringung der eigenen Stimme/Texte zugleich Strukturen und Systeme des Gehörtwerdens, also der gesellschaftlichen Macht, zu schaffen. Den traditionellen Er-zählungen von Heldenepen wurden damit eine Sie-zählung gegenübergestellt, die nach dem Verbleib der Frauen fragte und Frauengeschichte(n) in die Mitte des Geschehens brachte.

    Ab den 1970er Jahren beginnt Biografiearbeit dann auch in der universitären Forschung wieder eine Rolle zu spielen. Dabei differenzieren sich unterschiedliche Schwerpunkte heraus. »Das allgemeine Interesse an Biografien hat […] in mehreren Sozial- und Humanwissenschaften Fuß gefasst. In der Soziologie (Soziologie des Lebenslaufs, Gründung der Sektion Biografieforschung), der Geschichtswissenschaft (Oral History), der Psychologie (psychologische Biographik), der Literaturwissenschaft und Pädagogik steigt das Interesse für die Auseinandersetzung mit Biografien« (Röhrbein, 2019, S. 41). In den folgenden Jahrzehnten rutscht sie allmählich vom Nischendasein in den Fokus der

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