Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching
Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching
Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching
eBook805 Seiten9 Stunden

Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Was ist unter narrativer Therapie und weitergehend narrativer Praxis zu verstehen? Welche konzeptionellen und methodischen Weiter- und Neuentwicklungen hat sie in den letzten Jahren erfahren? Wie kann in verschiedensten Kontexten und Settings narrativ gearbeitet werden, welche Impulse für schulenübergreifendes, beraterisches und therapeutisches Tun ergeben sich daraus?
Dieses umfassende Handbuch informiert fundiert und facettenreich über Begrifflichkeiten und theoretische Hintergründe, vor allem aber über die Praxis narrativen Vorgehens in psychosozialen und organisationsbezogenen Arbeitsfeldern. Aus der narrativen Therapie von White und Epston, der Philosophie von Deleuze und Braidotti und aus anderen Quellen gespeist steuern mehr als 45 Autorinnen und Autoren von nationalem und internationalem Rang eine große Bandbreite an neuen kreativen Arbeitsansätzen bei, untermauern narratives Verständnis mit theoretischen Grundlagentexten, präsentieren aktuelle Ergebnisse narrativer Forschung und geben sozialkritischen Perspektiven Raum. Dieses Handbuch eröffnet therapeutisch, beraterisch und wissenschaftlich Tätigen in Zeiten des ständigen gesellschaftspolitischen Wandels eine Vielfalt neuer Denk- und Handlungsmöglichkeiten.

Mit Beiträgen von: Chimamanda Ngozi Adichie, Brigitte Boothe, Maria Borcsa, Britta Boyd, Rudi Dallos, Dan Dulberger, Sol D'Urso, David Epston, Simon Forstmeier, Thomas Friedrich-Hett, Katarzyma Gdowska, Alma R. Galván-Durán, Deliana Garcia, Julia Hille, Peter Jakob, Milena Kansy, Mathias Klasen, Thomas Klatetzki, Heiko Kleve, Tobias Köllner, Tom Levold, Gabriele Lucius-Hoene, Elisabeth Christa Markert, Afiya Mangum Mbilishaka, Jan Müller, Michael Müller, Jan Olthof, Meinolf Peters, Peter Rober, Tom Rüsen, Carl Eduard Scheidt, Thomas Schollas, Jasmina Sermijn, Monica Sesma, Claudia Schiffmann, Heidrun Schulze, Sally St. George, Jürgen Straub, Arist von Schlippe, Sabine Trautmann-Voigt, Arlene Vetere, Gerhard Walter, Kaethe Weingarten, Dietmar J. Wetzel, Jim Wilson, Dan Wulff.

Die Beiträge von David Epston, Jan Olthof und Peter Jakob, Dan Wulff et al., Peter Rober, Jim Wilson (Wie man Bilder für therapeutische Geschichten mit Kindern findet), Rudi Dallos und Arlene Vetere, Kaethe Weingarten et al. sowie Afiya Mangum Mbilishaka wurden von Astrid Hildenbrand aus dem Englischen übersetzt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Apr. 2022
ISBN9783647994215
Narrative Praxis: Ein Handbuch für Beratung, Therapie und Coaching

Mehr von Peter Jakob lesen

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Narrative Praxis

Ähnliche E-Books

Psychologie für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Narrative Praxis

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Narrative Praxis - Peter Jakob

    TEIL 1 Zugänge zu narrativen Landschaften

    Die Bedeutung nomadischer Theorie für die Entwicklung neuer Praxisformen narrativer Therapie – ein Dialog

    JAN OLTHOF und PETER JAKOB

    Anstatt einer Einleitung: Von »unerlaubt« zu legitim – Inspiration zum Andersdenken in nomadischer Philosophie

    Lieber Jan,

    seit Langem begleitet mich ein »Impostor-Syndrom«. Wie ein Schatten verfolgt mich der nagende Zweifel daran, ob mein Denken und meine Praxis »richtige« Psychologie, »richtige« Psychotherapie darstellen. In meinem frühen Berufsleben Anfang der 1980er Jahre vermied ich es, Kolleginnen im Team von allen Aspekten meiner Arbeit zu berichten, obwohl es den Klientinnen oft rasch besser ging. So blieben beispielsweise meine Experimente mit zunächst lösungsorientierter Therapie und später mit Whites und Epstons narrativer Therapie »Geheimsache«. Therapeutische Selbstwirksamkeit war eine private Erfahrung; die Art und Weise, wie ich dazu gekommen bin, eher ein Grund fϋr verschämtes Verschweigen meiner wirklichen Praxis. Später, gerade als lösungsorientiertes Arbeiten salonfähig wurde, aber ich nicht mehr streng lösungsorientiert arbeitete, machte sich die innere Unruhe wieder bemerkbar. Ich spüre sie auch heute noch manchmal; aus irgendeinem Grund gelingt es mir nie, mich nur innerhalb eines geschlossenen Gedankengebäudes zu bewegen. Ich kann kein ausschließlich narrativ oder lösungsorientiert konzeptgebundener Therapeut bleiben; es gibt »da draußen«, außerhalb des geschlossenen Theoriegefüges, zu viele aufregende Ideen, außerhalb des geschlossenen methodischen Systems eines Therapieansatzes zu viele Zugänge, die zur existenziellen Erfahrung meiner Klienten passen, welche meine Möglichkeiten, ihnen in dieser Erfahrung zu begegnen, stärken, als dass ich nur einem Konzept treu bleiben könnte. Es scheinen sich an dieser Stelle Begriffe wie »Eklektizismus« oder »therapeutische Integration« anzubieten, doch die Metaphern, auf denen diese Begriffe beruhen, geben nicht mein Erleben wieder, wenn ich vom Pfad der Ansatztreue abweiche; sie sprechen von etwas Statischem, Reifiziertem, auch willkürlich Zusammengeführtem, in irgendeiner Weise seiner Originalität Beraubtem.

    Du hast ein Bild des nomadisierenden Therapeuten entwickelt und in die narrative Therapie eingeführt (Olthof, 2017), in dem ich mich wiedererkennen kann. Deleuzes (Deleuze u. Guattari, 1987) Metapher des Rhizoms (siehe unten) eröffnet den Blick auf eine Fortentwicklung des Denkens, die keineswegs willkürlich ist, in der sich Präzision, Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Umsichtigkeit finden – und die gleichzeitig den normativen, binären Gegensatz zwischen »richtiger« und »falscher« Theorie, »richtiger« und »falscher« Methodik, »richtigem« und »falschem« Sein und Handeln überwindet. Sie schafft Raum dafür, dass Impulse empfunden werden dürfen und ihren Ausdruck finden können, dass Assoziationen, auch »verrückte« Ideen oder sogar bisher als »unangemessen« oder symptomatisch betrachtete Emotionen, Gedanken und Identitäten zum legitimen Betrachtungsgegenstand für Klienten und Therapeutinnen werden. Braidottis (2011) nomadische Theorie als Philosophie des Werdens fragt schließlich danach, wie Menschen mit ihren verkörperten Subjektivitäten in der Wanderung zwischen Identitäten, in einer Welt sich ständig rasch wandelnder Kontexte, »Empowerment« erlangen. Mit diesen zwei Konzepten – dem rhizomischen und dem nomadischen – erlebe ich befreiend die Legitimierung meines therapeutischen Unordentlichseins und eine erneute Herannahme in die ethische Verantwortung für ein therapeutisches Sein und Handeln, das hierarchische, normativ-einengende Prinzipien infrage stellt und zu überwinden sucht.

    Solche Überlegungen sind unmittelbar praxisrelevant, so z. B. »in der zunehmenden Anerkennung vieler Formen von ›Gender‹, die den traditionellen Gegensatz des heterosexuell männlich/weiblichen überwindet und zur Befreiung von Menschen beiträgt, die sich nicht in traditioneller Geschlechtsidentität repräsentiert fühlen. Die Relevanz […] wird deutlich, wenn man sich die Suizidgefährdung von ›transgender‹ und ›non-binary‹ Jugendlichen vor Augen führt: […] 50,8 % befragter weiblich zu männlich transferierender Jugendlicher sowie 41,8 % der Jugendlichen, dies sich weder völlig männlich noch völlig weiblich identifizierten, [hatten] bereits mindestens einmal Suizid versucht (Toomey et al., 2018). Risikofaktoren waren Ablehnung durch Familienangehörige sowie Mobbing durch Gleichaltrige. Im Zuge neuer gesellschaftlicher Diskurse entfernen sich diese Jugendlichen zunehmend von einer binären Sichtweise, während aber ihr soziales Umfeld diese Denkverschiebung oft noch nicht nachvollzieht« (Jakob, 2021).

    Reflexionen zum rhizomischen Denken und nomadischen Therapieren

    Lieber Peter,

    das »Syndrom«, das du beschreibst, ist mir sehr wohl vertraut. Als ich in den frühen 1980er Jahren in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, lernte ich Binarität kennen: die richtigen und die falschen Therapien; das Recht, sich zu äußern und die eigene Stimme geltend zu machen – und die Befangenheit, sich zu äußern, die Scheu, die eigene Vorstellungskraft, eigene Körpererfahrungen (Embodiment), Assoziationen und das intuitive Wissen zu nutzen, was als unprofessionell gegolten hätte. Teamsitzungen waren ziemlich belastend. Es gab viel Abwertung, Bemerkungen über die therapeutischen Kompetenzen von Kollegen fielen nicht immer günstig aus. Teammitglieder wurden in die Kategorien der »verrückten Jungen« und der »Erfahrenen« eingeteilt, wobei die Arbeit der Letztgenannten als »wissenschaftlich begründet« angesehen wurde. Ich hatte bereits eine Ausbildung in Erickson’scher Hypnotherapie abgeschlossen und arbeitete mit Sprachbildern und Erzählungen. So konnte ich gut mit »verrückten Patienten« Verbindendes stiften; jene, mit denen man keine »echte« Psychotherapie durchführen konnte, schon gar keine ansatztreue Therapie, die der offiziellen Norm und fachlichen Übereinkunft entsprochen hätte.

    Ich schlug mich voll und ganz auf die Seite der »Opposition« und teilte die Kolleginnen in »gute« und »konservative« Teammitglieder ein. Wir fochten aus idealistischen Vorstellungen heraus viele Kämpfe aus, wussten es besser … Aber das war natürlich nicht der Fall.

    Einmal hatten wir eine heftige Diskussion über das Suizidrisiko eines Patienten. Dieser Patient lief auf der Station in einer sich monoton wiederholenden Weise auf dem Flur hin und her. Ich war darüber so traurig und dachte über diese Absurdität nach: Wir diskutieren über einen Patienten, der hier bei uns ist … in unserer Nähe … Und was tun wir? Weshalb gehen wir nicht auf den Patienten zu und schließen uns ihm auf seiner Wanderung an?

    Ich schrieb ein kurzes Gedicht; natürlich fühlte ich mich nicht imstande, es meinen Kollegen und Kolleginnen zu zeigen:

    Personalversammlung

    über Patienten redend

    wir drehen uns im Kreis

    wirbeln herum

    sind autonom und doch ohne Bremse

    wir alle sind ersetzbar

    und wir geben Rat …

    klug und voller Weisheit

    über die Probleme und wie schwer sie wiegen

    und wie ernst die Probleme sind

    und dass es ein Problem gibt.

    alle legen die Stirn in Falten

    und suchen nach einem anderen Schwergewicht

    als dem Schwergewicht des Problems.

    der Rauch verschleiert

    die wirkliche Wirklichkeit liegt im Nebel;

    und draußen … auf dem nackten Flur

    läuft einsam der Patient.

    die Bedeutung eines Problems

    ist das Problem der Bedeutung

    und wie bedeutungslos,

    wir damit umgehen.

    Später arbeitete ich dann in Deutschland, im Bertha Krankenhaus in Duisburg, und lernte die »prismatische Arbeit« des Psychiaters Alfred Drees kennen. Über diese Arbeit schreibe ich noch an anderer Stelle dieses Buches im Zusammenhang mit den Begriffen »nomadisch« und »nomadisches Team« (siehe Das nomadische Team. Zusammenarbeit in der narrativen Psychotherapie, S. 165).

    Im Rahmen der »prismatischen Arbeit« lernte ich viel darüber, wie man unterschiedliche Wissensarten miteinander verbinden kann, und lernte das »Sowohl-als-auch« kennen, anstatt in binärer Opposition zu denken. Ich lernte, wie in Teamsitzungen mit Assoziationen, Verkörperung, Imagination und Tagträumen gearbeitet wurde. Solche Teamsitzungen wurden zu »Zusammenkünften«.

    Wir entwickelten eine Art und Weise, sich an einem Dialog zu beteiligen, in dem jede Stimme gehört wird, Unterschiede willkommen geheißen werden und unterschiedliche Arten des Wissens wertgeschätzt werden. Irgendwie schämte ich mich dafür, wie wir früher im akademischen Setting des psychiatrischen Krankenhauses gearbeitet hatten.

    Und dann beschäftigte ich mich mit Gilles Deleuze, seiner nomadischen Theorie und seinem Konzept der Rhizomatik als Metapher für ein narratives Selbst. Mithilfe dieses Konzepts verstehen wir das Selbst nicht als ein inhärentes Gegebenes und auch nicht als eine Einheit mit einem stabilen Kern, sondern vielmehr als etwas, das in den und durch die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen und welche relevante Andere über uns erzählen, kontinuierlich (neu) gestaltet wird. Unsere Identität ist nicht festgeschrieben, sondern unterliegt einem stetigen Veränderungsprozess, ist kraft der narrativen Aktivität des Erzählens, des Deutens und des Realisierens von Geschichten immer im Werden (Sermijn u. Loots, 2015). Geschichten sind nicht festgeschrieben, sondern im Fluss, offen für mehr oder weniger subtile Veränderungen, Anpassungen und die Einführung neuer Elemente. Geschichten werden durch das Erzählen und Wiedererzählen gestaltet, umgestaltet und verdichtet. Aufgrund dessen können Therapeuten und Therapeutinnen zu Veränderung beitragen, indem sie festgefahrene, identitätsbestimmende Problemgeschichten in vorteilhaftere Geschichten über das Selbst verwandeln, andere Erzählstränge finden, Wörter und Bedeutungen verändern, Rhythmen und Reime verwandeln. Oftmals achten sie auf das noch nicht Erzählte und schaffen so Gesprächsraum für neue Geschichten. Die alten Erzählungen von und über Patienten und Patientinnen sind allzu problemgesättigte, erstarrte, identitätsbestimmende Geschichten, die nur weiteres Leiden hervorbringen.

    Wir erzählen nicht nur unsere Geschichten, sondern werden in gewisser Weise selbst zu unseren Geschichten. Wir sind unsere Geschichten. Erzählungen sind Texte, und Texte können verändert oder so bewahrt werden, wie sie sind, was von unseren Vorlieben abhängt. Sie können vererbt und als Kulturgut neu erzählt werden.

    Mit der Idee des Nomadischen führt Deleuze eine Möglichkeit des philosophischen Denkens und ein Konzept ein, das den Unterschied wertschätzt, erstarrte Sinngebungen über das Selbstsein verlässt, um Fluchtwege aus einer vorbestimmten Identität zu schaffen (Deleuze u. Guatarri, 1987). Nomadische Weisheit wertschätzt die Gedankenreise durch die Geschichte, an Orte, die von Geschichten besucht werden, durch die Erinnerung an Sprache und Worte. Mit dem Begriff »Reise« meine ich, dass das Denken von Therapeutinnen und Klienten viele unterschiedliche Eindrücke, Ideen oder Inspirationen aufnimmt, die an vielen unterschiedlichen Orten zu finden sind. Nomadische Weisheit begreift, dass Arten des Wissens kontextabhängig, an Orte gebunden und von lokalen Bedingungen beeinflusst sind. Sie spricht von leiblich zum Ausdruck kommendem affektivem und erdverbundenem Wissen. Sie reist durch die Geschichte, durch universale Narrationen und große Erzählungen (Lyotard, 1984).

    Nomadische Weisheit reist durch Mythologie und Kunst, durch Poesie und Literatur, durch Filme und Theaterstücke (Olthof, 2017). Rosi Braidotti, die von Deleuzes Arbeit inspiriert ist, sieht den Nomaden als Alternative zum vernunftgeleiteten Menschen und nomadisches Denken als Alternative zum Logos oder zur reinen Vernunft (Braidotti, 1994; Braidotti, 2011). Nomadisches Denken setzt voraus, dass man sich der Machtstruktur des Geschichtenerzählens bewusst ist: Wer darf erzählen, wer ist ausgeschlossen, was ist vernünftig, was kann erzählt werden, und was muss unerzählt bleiben? Was ist normal und was ist verrückt, und wer kann die Bedeutung von Wörtern, von Verhaltensweisen definieren? Dies entspricht Foucaults Ordnung des Diskurses (Foucault, 1971). Es wird wunderbar veranschaulicht in Lewis Carolls »Alice im Wunderland«, wenn Humpty Dumpty in ziemlich verächtlichem Ton sagt: »›Wenn ich ein Wort gebrauche, […] heißt es genau das, was ich als Bedeutung wähle – nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Die Frage ist‹, sagte Alice, ›ob Sie Wörter so viel anderes bedeuten lassen können.‹ ›Die Frage ist‹, sagte Humpty Dumpty, ›wer der Herr ist – das ist alles‹« (Carroll, 1865/2008). Nomadisches Denken kann uns helfen, aus dem dominanten Diskurs auszubrechen, das Primat der Vernunft hinter uns zu lassen und neue Wege zu beschreiten. Diese Art zu denken beruht auf Unterschied, auf Bescheidenheit und auf dem Bewusstsein, dass es immer auch andere und verschiedenartige Denkarten gibt. Sie eröffnet Räume. Sie betont – als Alternative zu Metanarrativen der Wahrheit – »Mikroerzählungen«: kleine, kontextgebundene Geschichten, die von der Komplexität des Lebens, dem Abwesenden, dem Unsichtbaren, dem Stillen und dem Verborgenen berichten. Nomadisches Denken hinterfragt kritisch die Selbstverständlichkeit von Ideen. Der Begriff des Nomadischen impliziert Bewegung, Werden, das Aufsuchen vieler verschiedener Orte. Ideen sind mobil, unterscheiden sich und sind immer im Fluss. Die nomadische Vorstellung versucht, das Denken aus der Zwangsjacke des Logos zu befreien, um ihm seine Freiheit, Vitalität, Schönheit und Differenziertheit zurückzugeben (Olthof, 2017). Es sammelt wertvolle Ideen aus einem breiten Spektrum an Quellen und hebt Kontext und Intertextualität hervor. Es bevorzugt die Polyphonie und ermöglicht, dass viele Stimmen aus unterschiedlichen Bereichen sprechen, dass diese gehört werden und alternative Weisen des Wissens, Deutens und der Definition von Bedeutung hervorzubringen. Vielfalt wird wertgeschätzt.

    Denken wird als etwas Physisches gesehen, das eine verkörpert zum Ausdruck kommende, affektive und erdverbundene Weisheit in sich trägt. Das Denken von Klienten und Therapeutinnen wird darauf gerichtet, Orte im Zwischenraum, im Dazwischenliegenden und in der Gemeinsamkeit der Differenzierung zu finden. Dagegen schließt die Dominanz des Logos andere Arten des Denkens aus, indem der Unterschied auf Gleichheit, auf eine einzige Identität reduziert wird. Braidotti argumentiert in Anlehnung an Deleuze, dass westliches Denken in dualistischer Tradition mit binärer Opposition operiert, wobei »der Andere – andere Menschen oder »der Andere« im Sinne einer Abstraktion – auf eine vom Subjekt abgetrennte Weise kategorisiert werden. Durch den Gedanken- und Kommunikationsprozess binären Unterscheidens entstehen Normen – das, was so richtig ist, und das, was anders ist. Das Andere wird dann zum Minderwertigen.

    Viele Gruppen werden aufgrund dieses dualistischen Denkens ausgeschlossen (Olthof, 2017). Unterschiede werden nicht respektiert, sondern auf ein Standardmaß reduziert und diesem untergeordnet. Eine Form des Denkens wird zum gemeinsamen Nenner, in dem Wahrheit, Ratio, Ordnung und Einheit die Hauptprinzipien darstellen, mit denen das Subjekt in Opposition zum Objekt gebracht und diesem hierarchisch übergeordnet wird; Menschen werden in Opposition zur Natur und Körperlichkeit positioniert und diesen übergeordnet; Männer werden in Opposition zu Frauen verortet und ihnen übergeordnet; Weiß wird in Opposition zu Schwarz geführt und ihm übergeordnet, so wie der Westen in Opposition zum Rest der Welt. Unterschiede müssen getilgt und einer Hierarchie untergeordnet werden, in der das Eine vorherrschend ist. Identität wird durch Einheitlichkeit und Übereinstimmung gestiftet: eine Stimme, eine Identität, ein Zentrum, ein dominanter Denkmodus, der dem Primat der Vernunft unterworfen ist und der aus dem Gesichtspunkt der Machtausübung weite Teile der Bevölkerung und zahlreiche Ideen aus diesem absoluten Einen ausgrenzt. Der Logos hat die Macht, Patientinnen zu diagnostizieren und sie auf eine einzige Geschichte zu reduzieren, die für sie erzählt und definiert wird, die sie etikettiert und auf eine einzige Identität reduziert. Das ist das Kontrollzentrum der Festung, die über ihre Umgebung herrscht.

    Im nomadischen Denken ist das Subjekt dezentral, polymorph und facettenreich. Kohäsion ist das Ergebnis eines Wachstums- und Reifungsprozesses. Deleuze verwendet bei diesem Subjektbegriff die Metapher des Rhizoms (Deleuze u. Guattari, 1998).

    Ein Rhizom ist ein unterirdisches Wurzelsystem wie etwa das der Erdbeerpflanze, der Bambusstaude oder der Ingwerpflanze. Es hat keinen Anfang und kein Ende, kann an jedweder Stelle beginnen und enden. Es hat keinen »Haupteingang«, aber viele Zutrittspunkte. Es kann an jedem Punkt aufgebrochen werden, wächst und erweitert sich aber weiter, wobei es seinen Weg um Hindernisse herum meistert und diese umwindet. Ein Merkmal eines Rhizoms ist auch die Heterogenität und seine Neigung, Verbindungen einzugehen. Verbindungslinien können an jeden Punkt des Rhizoms anknüpfen; einen festen Kern gibt es nicht. Das Zentrum kann willkürlich an jedem beliebigen Punkt lokalisiert werden, indem einfach eine Grenze gezogen wird. So liegt die Betonung nicht auf den einzelnen Elementen, sondern auf den Verbindungslinien zwischen ihnen. Die Linien können jederzeit und an jedem Ort unterbrochen werden, aber die Struktur des Rhizoms setzt seine Entwicklung fort. Diese Struktur kann nicht identifiziert, gebunden oder befestigt werden. Es gibt keine primäre Achse ihres Wachstums.

    Das Konzept der Rhizomatik ist eine schöne Metapher, mit der das Subjekt und dessen Selbst beschrieben werden. Mit seiner Hilfe kann die Therapeutin mit Klienten auf einzigartige Weise in Beziehung treten, indem sie ohne Protokoll und starres Befragen einfach irgendwo beginnt. Therapeut und Klientin können sich im Hier und Jetzt in einem einzigartigen Tanz miteinander verbinden. Dies ist eine echte Begegnung, ein intuitives Moment.

    Therapeutin und Klient arbeiten zusammen, erschaffen ein »nomadisches«, temporäres Gefüge, ein weiteres Konzept von Deleuze. Die Therapeutin sieht die Klientin als Person mit vielen Stimmen, als polyphon, und mit einer facettenreichen Identität. Zusammen können sie versuchen, »Fluchtlinien« aus den problemgesättigten Geschichten der Klientin zu finden. Dies ist eine ehrliche, dialogische Begegnung, die unvorhersagbar, intuitiv ist und sich aus vielen Arten des Wissens speist. Es ist eine Begegnung zwischen zwei oder mehr Fachleuten, unabhängig von Alter, Geschlecht, Ethnie, Überzeugungssystem und Religion. Es besteht eine zeit- und raumübergreifende intertextuelle Verbindung.

    Zahiras Übergang¹: Bewegung in Unsicherheit

    Lieber Jan,

    beim Lesen deiner Reflexionen spüre ich eine mir bekannte Beunruhigung: eine Mischung aus dem Verlust des Sicherheitsgefühls, das mit »Wissen« einhergeht, und gleichzeitig die Befreiung von den normativen Fesseln, die wir im Laufe unserer therapeutischen Sozialisierung internalisieren. Das, was hier auf theoretischer Ebene vor sich geht, scheint sich im therapeutischen Prozess widerzuspiegeln. Ich denke dabei an den Begriff der Liminalität, diesen vom Anthropologen Victor Turner (1998) beschriebenen Übergangszustand, in dem man, wie auf einer Türschwelle verharrend, sich in einem Zwischenraum befindet zwischen der einen Sozialordnung und einer anderen; einem Zwischenraum, der von Ungewissheit, Vielschichtigkeit und Neuorientierung geprägt ist. Oft ist er mit Ritualen verbunden (siehe Kapitel Narrative, köpersprachliche Kommunikation und Embodiment, S. 397).

    Ich gehe mit de Shazer (1984) einher, der den Begriff des Widerstands gegen die Therapie infrage stellt und das therapeutische System als morphogenetisch, also veränderungsorientiert sieht. Und doch kenne ich auch das Verharren der Klientin im Übergang zur Veränderung sowie meine eigene Verunsicherung. Es wurde und wird oft als »Widerstand« erlebt, wenn die Fachkraft glaubt, mehr oder minder zu wissen, wo der Weg langgeht. Gelingt es uns aber, uns auf die Unsicherheit des noch nicht gut Bekannten einzulassen, werden wir zum Wegbegleiter des Klienten im zunächst desorientierenden Terrain. Wir machen beide Entdeckungen, welche die Klientin zu Neuentwürfen ihres Selbstnarrativs ermuntern. Mir fällt die Arbeit mit einer Jugendlichen ein.

    Ich (Peter Jakob) arbeitete mit der 15-jährigen Zahira und ihrer Erzieherin Jenny. Zahira ist südasiatischer Herkunft, aber in Großbritannien mit ihren Eltern und drei jüngeren Geschwistern aufgewachsen. Nachdem sie einer Lehrerin gesagt hatte, sie sei vom Vater und in seinem Auftrag auch von anderen Männern sexuell missbraucht worden, und später der Sozialarbeiterin des Jugendamtes auch von der häuslichen Gewalt des Vaters berichtete, kam sie in die stationäre Einrichtung. Niemand in ihrer neuen Umgebung war der gleichen Herkunft wie Zahira, und Familienkontakte waren nur selten möglich. Mein Auftrag war, Zahira bei der Bewältigung ihrer Traumasymptome zu unterstützen, darunter Schlafstörungen, mit Schweißausbruch und Herzrasen verbundene Angstzustände, dissoziative Episoden und Flashbacks.

    Zahira wünschte keine Verbesserung ihres Zustandes: Sie empfand diese Symptome als gerechte Strafe dafür, dass sie die Familie verraten habe. Sie erklärte mir, dass in ihrer südasiatischen Kultur der Verrat der Familie ein viel schlimmeres Vergehen darstelle als das, was der Vater ihr angetan habe. Sie habe sich mit ihrer Offenbarung auf eine Weise versündigt, die nicht mehr gutzumachen sei, und sei daher unwürdig, die Traumasymptome ihre gerechte, lebenslange Strafe. Sie empfand die Möglichkeit, diese Symptome zu überwinden, als beunruhigend, kam aber dennoch regelmäßig in die Therapie, weil die Erzieherin dies von ihr erwartete.

    Meinem Denken stellte sich eine Reihe von Unterscheidungen in den Weg: Die westliche Kultur sei eine andere, und schließlich war sie ja hier aufgewachsen … Müsste ich ihr nicht dabei zur Seite stehen, sich von solchen patriarchalischen Vorstellungen zu befreien? Zunehmend wurde mir bewusst, dass Zahiras Vorstellung des Göttlichen meinen und Jennys Einfluss auf ihr Selbstnarrativ nicht zuließ und dass wir mit dem Versuch, ihre Geschichte infrage zu stellen, uns hierarchisch über sie positionieren, ein größeres Machtgefälle konstruieren und damit ihren sogenannten »Widerstand« hervorrufen würden. Ich musste die eigene Voreingenommenheit erkennen und infrage stellen. Selbst als Einwandererkind aufgewachsen war es mir jedoch bewusst, dass »Kultur« weder statisch festgeschrieben noch homogen ist, sich unterschiedlich verortet, sich ständig in Bewegung befindet. Ich machte es mir zur Aufgabe, Zahiras Wegbegleiter auf einer Reise durch eine Kultur

    zu werden, von der ich nur sehr wenig verstand und die sich zudem unterwegs verändern würde. Sie war damit einverstanden.

    Wir stellten viele leere Stühle zu einem Gesprächskreis auf. Nach und nach bevölkerte Zahira die Stühle mit einer Vielzahl von Zeuginnen ihrer Lebensgeschichte aus der südasiatischen Kultur: Verwandte, Freundinnen, Tanten, Bollywoodschauspielerinnen, Filmcharaktere, Popsängerinnen, Gottheiten. Diese Zeugen wurden dadurch lebendig, dass Zahira sie im Rollenspiel darstellte. Sie sprachen miteinander, mit ihr, bezogen auch mich als Fremden manchmal mit ins Gespräch ein, wenn ich höflich Verständnisfragen stellte, und brachten auf diese Weise viele verschiedene Perspektiven in den Gesprächsraum.

    Zahira war erstaunt über die unterschiedlichen Vorstellungen zur eigenen Person, die sie in der Verkörperung dieser Personen hervorbrachte. Ihr Selbstbild begann sich zu verändern, und schließlich war sie einverstanden, sich auf traumalösende Verfahren wie EMDR² einzulassen.

    Kommentar zur therapeutischen Arbeit mit Zahira

    Lieber Peter,

    das ist ein ästhetisches Beispiel nomadischer Theorie, nomadischen Denkens und Navigierens in der Komplexität. Du hinterfragst dein eigenes Denken und traust dich, die Festung westlichen Wissens und Denkens zu verlassen. Du akzeptierst respektvoll ihre Werte und ihre kulturell geprägte Art der Problemdefinition.

    Aus meiner Sicht führst du das Prinzip ein, Hierarchie zu respektieren – nicht die mit Machtansprüchen assoziierte Hierarchie, sondern eine Hierarchie kultureller Werte und Bedeutungen. Natürlich leidet Zahira unter einer Machtstruktur, unter Gewalt und Diskriminierung, unter Männern, die sie missbrauchen. Und ihr Leiden appelliert an uns: Wir wollen ihr helfen und sie befreien, aber dabei könnten wir ihr Leiden erhöhen, sie in einen Loyalitätskonflikt zwischen Kulturen und Überzeugungssystemen bringen, zwischen den Menschen in ihrer eigenen Familie und ihren Bezugspersonen, ihrem Herkunftsland und England. Verzweifelt nach Hilfe suchend muss sie die Kultur des Jugendhilfesystems akzeptieren, das sie braucht, aber dadurch steigern sich ihre Scham- und Schuldgefühle und die Überzeugung, dass sie andere Menschen verraten habe.

    Das westliche Denken »weiß es besser« und stellt sich über die Überzeugungen und Wertvorstellungen ihrer Familie. Doch was ist zu tun, wenn das Leiden unmittelbar vor uns ins Gesicht dieser jungen Frau gezeichnet ist, die gerade mal 15 Jahre alt ist und keine Macht hat, an ihrer Situation etwas zu ändern, außer dass sie ihre Familie und Herkunft verrät? Genau aus diesem Grund kann Zahira die »Medizin« des EMDR-Verfahrens noch nicht annehmen. Am Anfang der Begegnung ist noch kein »therapeutischer Kontext« (Olthof, 2017) entstanden. Ich definiere einen Kontext erst dann als therapeutisch, wenn ihn alle Teilnehmenden annehmen und der Kooperation innerlich zustimmen können, wenn sie sich gehört fühlen und mit ihrer eigenen Stimme und in ihrer »Mutter-Sprache« sprechen können.

    Wir gehen oft unhinterfragt davon aus, dass ein therapeutischer Kontext gegeben ist, wenn eine Klientin um Hilfe bittet. Doch das Feld unterschiedlicher Kräfte, die auf die Person einwirken, ist um ein Vielfaches größer, hat viele Stimmen und umfasst weitaus mehr Perspektiven.

    Du hast eine horizontale Beziehungsstruktur geschaffen und dich selbst außerhalb dieses Kraftfeldes gestellt; dies ist die einzige Möglichkeit, Zahira zu helfen, außer in der Ausnahmesituation, in der sie physischen Schutz sucht, doch selbst dann spielt diese Bewegung aus dem Kraftfeld heraus eine Rolle. Du hast ihr geholfen, ihre eigene Landkarte der vielen Stimmen in ihrer inneren und äußeren Welt zu erstellen, hast für die verschiedenen Perspektiven innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Kultur Raum geschaffen; auch für die Stimmen der Menschen, die ihr wichtig sind, mit denen sie sich identifizieren kann und will, von denen sie reale oder ideelle Hilfe bekommen möchte. Sie kann über die unterschiedlichen Kräfte in dem Feld, in dem sie lebt, nachdenken. Du verbindest dich mit dem Leiden und hilfst ihr, sich zu befreien. Du bist auf ihrer Seite, in ihrer Nähe und schließt dich vorsichtig ihrem Rhythmus an.

    Samantha: Gott, Gehorsam und Befreiung

    Deine Einführung in den Fall Zahira bringt mich (Jan Olthof) zum Fall von Samantha, der Mutter von drei Kindern im Alter von sieben, vier und zwei Jahren.

    Samantha litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), seit sie im Alter zwischen sieben und zwölf von ihrem Vater missbraucht worden war. Sie war Mitglied einer sehr streng orthodoxen protestantischen Kirchengemeinde.

    Ihr Hausarzt hatte sie in die Klinik für Familienpsychiatrie überwiesen, in der wir stationäre Behandlung und Familientherapie anbieten. Sie konnte erst stationär aufgenommen werden, als sie wusste, dass ihre Kinder gut versorgt waren. Sie hatte Angst, ihre Kinder zu Hause bei ihrem Mann zu lassen, weil sie sich immer noch vor ihrem Vater fürchtete und besorgt war, dass er heimlich zu ihr nach Hause kommen würde.

    Außerhalb der Kirche Hilfe zu suchen war aus Sicht der Gemeinde an sich schon ein Verrat, und Samantha fürchtete die Missbilligung durch den Pfarrer und die Kirchenältesten. Sie hatte Angst, aus der Gemeinde ausgeschlossen zu werden, brauchte aber Hilfe; sie litt unter äußerst schweren Symptomen. Samantha konnte ihre Kinder nicht mehr versorgen. Dieser Kontext war alles andere als therapeutisch. Sie lediglich stationär einzuweisen und mit der Behandlung zu beginnen, würde ihre Angst, ihr Gefühl, die Kirchengemeinde zu verraten, einfach nur steigern. Nach kirchlichen Wertvorstellungen war der Glaube an Gott vorgeschrieben: Gott wird helfen, falls aber Gott nicht hilft, dann wird er (natürlich: ER) seine guten Gründe dafür haben. Samantha musste sich Gott anvertrauen. Sich in Therapie zu begeben würde beweisen, dass sie keine gute Christin sei und ihr das Vertrauen in IHN fehle. Sie wurde schon dadurch zur Abtrünnigen, dass sie wegen etwas anderem als körperlicher Beschwerden zum Arzt gegangen war. Eine Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus zu akzeptieren wäre eine Sünde.

    Im Team überlegten wir reiflich, wie sich ein therapeutischer Kontext gestalten ließe. Wir konnten ihr nur dadurch helfen, dass wir die Bedeutungshierarchie in Samanthas Weltverständnis, die mächtigen Kräfte, die auf sie einwirkten, und das Überzeugungssystem, das ihr im Leben die Orientierung gab, respektierten. Das Personal verurteilte dieses orthodoxe religiöse System aufs Schärfste. Das Krankenhaus lag in einem städtischen Umfeld; Samantha lebte in einem kleinen Ort auf dem Land und war von äußeren Einflüssen abgeschnitten. Die Teammitglieder waren begeisterte, von Idealen beflügelte Therapeuten und Therapeutinnen, die versuchten, ihre Klientel zu emanzipieren und zur Selbstbefähigung zu verhelfen: »Wir werden nicht auf den Pfarrer und die Kirchenältesten hören, wir müssen dieser Frau helfen.« Samantha fühlte sich allein schon dafür schuldig, dass sie auch nur an einen Klinikaufenthalt gedacht hatte, fühlte sich als Versagerin, hatte das Gefühl, ihren Glauben und ihre Gemeinde verraten, nicht auf Gott vertraut zu haben. Sie hatte zu viel Angst, um Hilfe annehmen zu können.

    Also beschlossen wir, den Pfarrer einzuladen. Unser Psychiater, dem im religiösen Kontext keine Autorität zustand, der aber an der Spitze unserer Deutungshierarchie im psychiatrischen Gesundheitswesen stand, begegnete dem Pfarrer als Kollegen. Er stellte sich in der Hierarchie sogar eine Stufe tiefer als der Pfarrer und gab dadurch zu verstehen, dass jener über die beste Option zu entscheiden hatte. Er legte ihm aus ärztlicher Sicht einen Bericht über Samanthas Leiden und ihre Symptome vor, sprach aber auch über ihren starken Glauben an Gott, über ihre religiöse Haltung, ihre Werte und über ihr zutiefst empfundenes Anliegen, ein gutes Mitglied der Kirchengemeinde sein zu wollen: »Herr Pfarrer, die Kirchengemeinde ist wichtiger als dieses Krankenhaus. Für Samantha ist es wichtiger, ein Mitglied der Kirche sein zu können, als in diesem Krankenhaus zu bleiben und gesund zu werden. Wir können ihr nur helfen, wenn Sie ihr die Erlaubnis geben, bei uns zu bleiben und unsere Hilfe anzunehmen. Ihre Erlaubnis ist ihr wichtiger als meine Rolle als Arzt. Können wir zusammenarbeiten?«

    Der Pfarrer wird sich bewusst gewesen sein, dass er eine riesige Verantwortung zu tragen gehabt hätte, hätte er die Krankenhauseinweisung verboten. »Können wir mit der Kirchengemeinde kooperieren, mit Ihnen als Pfarrer in Ihrer Beziehung zu Gott?«

    Kurze Zeit später erteilte der Pfarrer direkt und eindeutig Samantha die Erlaubnis zur Klinikbehandlung. Sie seufzte in tiefer Erleichterung. »Wenn wir für Samantha, ihren Mann und ihre Kinder sorgen, können Sie dafür sorgen, dass sie auch weiterhin als gutes Mitglied Ihrer Kirchengemeinde anerkannt bleibt? Können Sie ihren Platz und ihre Position schützen? Können Sie den Kirchenältesten sagen, dass Sie ihr die Erlaubnis gegeben haben, und können Sie die Mitglieder der Kirchengemeinde um deren Hilfe bitten?« Der Pfarrer versprach, dies zu tun.

    In diesem neuen, veränderten Kontext konnte Samantha die Behandlung akzeptieren. Sie fühlte sich von der Kirchengemeinde, dem Pfarrer und dem Krankenhaus behütet. Sie war an einem sicheren Ort und in einem geschützten Raum.

    Als Psychiatrieteam hatten wir begonnen zu glauben, wir wüssten es besser; wir verteufelten zunächst die abweichenden Sichtweisen der religiösen Gemeindemitglieder – aber damit verteufelten wir gleichzeitig die Glaubensvorstellungen unserer Klientin. Schließlich wuchs in uns die Bereitschaft zur Bescheidenheit. Wir waren willens, zu kooperieren und unseren Platz im Kräftefeld zu suchen, das auf Samantha einwirkte. So konnte sie auf einer Weise in der Welt stehen, die es ihr ermöglichte, nach ihren eigenen Wertvorstellungen und Überzeugungen zu leben. Wir dezentrierten uns schließlich, um einen therapeutischen Kontext zu schaffen und eine Position in der Nähe von Samantha zu finden, wie du es in deiner Arbeit mit Zahira gemacht hast.

    Kommentar zur therapeutischen Arbeit mit Samantha

    Lieber Jan,

    als ich die Geschichte um Samanthas Klinikeinweisung gelesen habe, spürte ich Erleichterung, fühlte Zuversicht für sie und ihre Familie, war aber gleichzeitig auch verwirrt und beunruhigt. Die Sache hat viele Fragen aufgeworfen, die für mich unbeantwortet bleiben. Vielleicht ist das die Richtung eines nomadischen Prozesses – eines Prozesses, bei dem wir keine Hierarchie der richtigen und falschen theoretischen Orientierung, richtiger und falscher Wertesysteme und auch keinen etablierten, festgelegten Weg der Hilfeleistung akzeptieren. Im Sinne der rhizomischen Metapher müssen wir einen Weg um Hindernisse herum finden – oder in der Terminologie der narrativen Therapie jene Zwänge umgehen, die der Erholung der Patientin von Trauma im Wege stehen, und dazu beitragen, Wachstum zu ermöglichen. Um in ihrem Fall solche Zwänge besser verstehen zu können, versuchte ich mich in Samantha hineinzuversetzen und stellte mir die männliche Repräsentanz in diesem Kräftefeld vor, das auf sie einwirkte: die traumatische Belastung und die ständige Bedrohung, die aus dem Missbrauch durch ihren Vater resultierte; den Pfarrer der Kirchengemeinde, den Psychiater, Gott (zumindest den männlich patriarchalischen Gott ihrer Kirche) und auch dich und mich – alle von uns männlichen Geschlechts! Diese überwältigende Männlichkeit kann sich wie ein unüberwindliches Hindernis für Bewegung anfühlen. Im Sinne der Traumatheorie würden wir von einer »Fright-Reaktion« sprechen, wenn das Individuum bei einer als existenziell empfundenen Bedrohung weder fliehen noch kämpfen kann und bewegungsunfähig wird, was mit einer hohen simultanen Aktivierung des sympathischen und parasympathischen Nervensystems einhergeht.

    Du beschreibst den ursprünglichen Kontext vor der Klinikeinweisung als einen, dem es an Verständnis mangelte – er wirkt eher wie ein retraumatisierendes soziales Umfeld. Also frage ich mich: Handelt es sich um eine »posttraumatische Belastungsstörung« oder um eine anhaltende traumatische Belastung? Selbstverständlich musste ein Weg aus dieser Paralyse gefunden, Bewegung ermöglicht werden, und das geschah auch, kraft des Umstands, dass das Team darauf verzichtete, seine eigenen Wertvorstellungen durchzusetzen. Möglich wurde die Bewegung durch die Bitte des männlichen Psychiaters an den noch mächtigeren männlichen Akteur in Samanthas sozialem Umfeld, ihr die Klinikeinweisung zu erlauben. Es gehört zu meinen zentralen Werten als Therapeut, darauf hinzuwirken, dass es den Klienten besser geht; das Leben ist kurz und wir haben die Aufgabe, wirksam dazu beizutragen, dass sich das Leiden baldigst verringert. Theoretische Annahmen und Verfahren, die in einem bestimmten, konkreten Fall nicht zu diesem Resultat führen, sind aus meiner Sicht Schaufensterschmuck. Von der Bewegung, die hier ermöglicht wurde, hat nicht nur Samantha enorm profitiert, sondern auch ihre Kinder, ihr Mann und vielleicht auch andere Menschen.

    Und dennoch: Wir sind hier mit großem Leiden konfrontiert, das im Kontext extremer patriarchalischer Sozialstrukturen verursacht worden ist. Wie ist es möglich, dass Entlastung von diesem Leiden, Aussicht auf Linderung der traumatischen Symptome, Samanthas persönliche Entwicklung und Erholung ihrer Familie dadurch erreicht werden, dass eine Operation – die Bitte um Erlaubnis – durchgeführt wird, die den Regeln ebendieses patriarchalischen Systems folgt, in dem ihre Probleme entstanden sind? Jenes patriarchalische System, das tendenziell den Missbrauchstäter schützt, indem es eine »geschlossene Gemeinschaft« bleibt, in der es ein Gebot zur Geheimhaltung gibt? Es ist ein System, das den männlichen Anspruch aufrechterhält zu bestimmen, was mit weiblichen Körpern geschieht; ein System, in dem auch die allerhöchste sinngebende Instanz, nämlich Gott, männlichen Geschlechtes ist. Das professionelle System operiert innerhalb der Regeln ebendieses patriarchalischen religiösen Systems, indem es die Erlaubnis von einem Mann erbittet, als ob es sich um die Erlaubnis des Herren handele. Kann das professionelle System einen Wandel bewirken, solange es die Stasis dieses patriarchalischen Systems akzeptiert? Und ich frage mich, ob das ethisch vertretbar ist?

    Doch wenn ich meiner eigenen zentralen Wertvorstellung als Therapeut folge – wir müssen Verbesserung im Hier und Jetzt ermöglichen –, dann spüre ich große Erleichterung. Etwas beginnt sich zu bewegen. Der Rhizommetapher folgend frage ich mich, in welche Richtungen der Veränderungsprozess bei Samantha und ihrer Familie wohl gehen wird? Wie werden sich die weiblichen Kolleginnen im Psychiatrieteam als Personen positionieren, die zur Sinnstiftung Samanthas beitragen? Werden sie im Behandlungsprozess ihre Stimmen finden? Werden sie ihre Wertvorstellungen – etwa weibliche Befähigung, weibliche Selbstbestimmung – kommunizieren können? Und auf eine Weise, dass Samantha die Freiheit in sich verspürt, ihnen zuzuhören?

    Ich denke über die Kraft der Subversion nach. Wenn Menschen schädliche Machtstrukturen zu zersetzen beginnen, gehen sie oft nicht in direkte Konfrontation. Subversion bietet ein Element der Differenzierung an, dass das Potenzial hat, dominante Diskurse zu beeinflussen. Eine solche Differenzierung kann ein gesamtes soziales System dazu einladen, das eigene Regelwerk zu relativieren. Differenzierung scheint mir in Samanthas Fall in der – neuen – Idee zu liegen, dass niemand Gottes Willen in einem absoluten Sinn kennt; die Beurteilung des Sachverhaltes durch den Pfarrer wird hier zu einer sorgfältig abgewogenen Meinungsangelegenheit anstatt zur Äußerung einer etablierten, unumstößlichen, absoluten Wahrheit. Könnte diese Idee zum Unterschied werden, der einen Unterschied im therapeutischen Prozess von Samantha und ihrer Familie ausmacht? Kann, als sie vom Trauma zu heilen beginnt, diese neue Idee vielleicht Samantha dazu einladen, die Vorstellung männlicher Überlegenheit und die Gewissheit, der männliche Machtanspruch sei gerechtfertigt, zu hinterfragen? Könnte diese Idee sie dazu einladen, den Glaubenssatz zu hinterfragen, dass weiblicher Gehorsam tugendhaft sei? Aber wird es ihr möglich werden, solche implizit aufsteigenden Fragen (dadurch, dass der Pfarrer etwas von seiner Macht als Vertreter absoluter Gewissheit aufgab) auf eine Weise zu betrachten, die sie selbst kontrollieren kann, die sie in ihrem eigenen Zeitrahmen und der ihr eigenen Weise verarbeiten und bewältigen kann?

    Wie könnten diese Fragen selbst Samanthas Kirchengemeinde beeinflussen, indem ihre Mitglieder eine neue Regel – dass stationäre psychiatrische Behandlung durch »Außenstehende« statthaft oder sogar notwendig sein kann, dass Öffnung nach außen unter Umständen richtig ist – reflektieren und integrieren, eine neue Möglichkeit erkennen, die von dem abweicht, was bisher als gottgegeben angesehen worden ist? Wie steht es mit der Möglichkeit, dass Mitglieder dieser bisher in sich geschlossenen ländlichen Gemeinschaft und Mitarbeiter der psychiatrischen Einrichtung lernen, einander bei einem Zusammentreffen im Krankenhaus in ihrer Menschlichkeit zu begegnen? Solche Aussichten würden Hoffnung in mir aufkeimen lassen.

    Anstatt einer Schlussfolgerung

    Wir haben in diesem Beitrag den Versuch unternommen, der Leserin den Einfluss nomadischer Theorie auf unsere therapeutische Ideenbildung und Praxis zu vermitteln. Wir leben in Geschichten, und erstarrte Geschichten lassen Lebensformen erstarren. Bewegungsfähigkeit ist die Quintessenz nomadischer Theorie. In der hier vorgestellten Arbeitsweise speist die Bewegung des Narrativs die Bewegung der Person in neuen sozialen Kontexten; sie kann mitunter auch die Bewegung der sozialen Kontexte selbst ermöglichen.

    Literatur

    Braidotti, R. (1994). Nomadic Subjects. New York: Columbia University Press.

    Braidotti, R. (2011). Nomadic theory. The portable Rosi Braidotti. New York: Columbia University Press.

    Carroll, L. (1865/2008). Alices Abenteuer im Wunderland. Wien: Bookstream Hörbücher.

    de Shazer, S. (1984). The death of resistance. Family Process, 23, 11–17.

    Deleuze, G., Guattari, F. (1987). A thousand plateaus. Minneapolis: University of Minnesota Press.

    Deleuze, G., Guattari, F. (1998). Rizoom, een inleiding. Utrecht.: Uitgeverij Rizoom.

    Foucault, M. (1971). L’ odre du discours. Paris: Gallimard.

    Jakob, P. (2021). Die Neuerzählung des Selbst. Eine Wanderung durch Geschichten sozial engagierter Therapie. Familiendynamik, 46 (1), 6–17.

    Lyotard, J. F. (2019). Das postmoderne Wissen (9. Aufl.). Wien: Passagen Verlag.

    Olthof, J. (2017). Handbook of narrative psychotherapy for children, adults and families. Theory and Practice. London: Karnac.

    Sack, M., Lempa, W., Lamprecht, F. (2001). Metaanalyse der Studien zur EMDR-Behandlung von Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. PPmP: Psychotherapie Psychosomatik·Medizinische Psychologie, 51 (9/10), 350–355.

    Schubbe, O. (Hrsg.) (2016). Traumatherapie mit EMDR: Ein Handbuch für die Ausbildung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    Sermijn, J., Loots, G. (2015). The Cocreation of Crazy Patchworks: Becoming Rhizomatic in Systemic Therapy. Family Process, 54 (3), 533–544.

    Toomey, R. B., Syvertsen, A. K.,Shramko, M. (2018). Transgender adolescent suicide behavior. Pediatrics, 142 (4). DOI: 10.1542/peds.2017-4218

    Turner, V. W. (1998). Liminalität und Communitas. In A. Belliger, D. J. Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch (S. 251–262). Opladen: Westdeutscher Verlag.

    1Zum Schutz der Klientin handelt es sich hier um ein aus mehreren Fällen konstruiertes und zusammengesetztes Fallbeispiel.

    2EMDR (»eye-movement desensitization and re-processing«) ist eine traumafokussierte therapeutische Methode (siehe z. B. Schubbe, 2016; Sack, Lempa u. Lamprecht, 2001).

    Vom Leben erzählen: Warum und wozu diese ganzen Geschichten?

    JÜRGEN STRAUB

    »Irgendetwas ist geschehen am Beginn der Zeiten – irgendeine Geschichte mit Entscheidung, Handlung und Reaktion –, etwas, das dazu führte, dass wir sind, wie wir sind; und wenn wir unsere Art zu sein verstehen wollen, dann müssen wir diese Geschichte erinnern und immer wieder erzählen«

    (Greenblatt, 2018, S. 28).

    Erinnerung an elementare Einsichten und eine außergewöhnliche Erzählung

    Was Stephen Greenblatt in seiner »Geschichte von Adam und Eva«, dem angeblich »mächtigsten Mythos der Menschheit«, kundtut, gilt nicht nur für die Gattung und große Gruppen von Menschen, sondern für jedes einzelne Individuum. Zu verstehen, wer wir sind, macht es erforderlich, sich zu erinnern und zu erzählen, wie und wer wir geworden sind, und zu bedenken, wer wir sein möchten und vielleicht einmal sein werden. Woher kommen wir, wo befinden wir uns heute und wohin bewegen wir uns gerade, wohin werden oder wollen wir uns morgen ausrichten? Diese natürlich nicht nur geographisch gemeinten, sondern im seelischen, sozialen, moralischen und politischen Raum angesiedelten Leitfragen sind für die Bildung kollektiver und individueller Selbst- und Weltbeziehungen unerlässlich. Narrative der besagten Art gehören zu den anthropologischen Universalien und Notwendigkeiten – wie sehr sie sich im Einzelnen, in Inhalt und Form, unterscheiden mögen.¹

    Wie sich Menschen verstehen und wie sie ihrer materiellen, sozialen und kulturellen Welt begegnen sowie sich selbst gegenüber verhalten, hängt maßgeblich von den Geschichten ab, die sie erzählen. Die Geschichten, an die wir glauben und an die wir uns halten – weil wir Tatsachen in ihnen erkennen und anerkennen, wichtige Werte, Weisheiten und Tugenden vielleicht, kluge Lehren fürs Leben oder verbindliche Gebote und Verbote –, verleihen dem Dasein Bedeutung. Diesen Aspekt rückt nicht zuletzt die hier besonders interessierende narrative Psychologie ins Zentrum der Aufmerksamkeit (z. B. Boesch, 2021; Brockmeier, 2015; Bruner, 1990, 1998, 2003; Straub, 1998a, 1998b, 2019a, 2019b, 2019c). Erzählungen bestimmen mit, wie Personen zur mannigfaltigen, sich wandelnden Wirklichkeit Stellung nehmen. Sie legen zwar nichts vollkommen fest – ganz im Gegenteil, sind sie doch selbst wandelbar und meistens hochgradig polyvalent, also uneindeutig und damit offen für immer neue Lesarten. Sie sind aber auch nicht willkürlich und beliebig lesbar.

    Der Mensch ist ein Geschichtenerzähler, der auf dem Grund seiner eigenen Erlebnisse sowie auch fremder Erfahrungen und Erwartungen, letztendlich »selbst erdachter« und »beglaubigter« Geschichten lebt, denkt, fühlt, dieses tut und jenes lässt. Es gibt selbstverständlich weitere symbolische Formen, Praktiken und Institutionen, die es uns ermöglichen, aus an sich sinnlosen Ereignissen und Zuständen bedeutungsvolle, Orientierung stiftende Erfahrungen zu machen und sie anderen mitzuteilen. So leben, handeln und kommunizieren wir z. B. auch ikonisch, also in und mit Bildern (Plontke, Przyborski u. Straub, 2021). Das Erzählen und die erzählten Geschichten sind jedoch besonders wichtig für das in symbolisch vermittelten Wirklichkeiten lebende, sich und seine Welt unentwegt auslegende Tier. Geschichten müssen nicht unbedingt sprachlich verfasst sein. Zu beachten gilt es jedoch, dass sprachliche Erzählungen wohl niemals ohne Verluste in ein anderes Medium übertragbar sind, wenngleich z. B. auch Bilder Geschichten erzählen können oder Menschen ihren Tänzen oder sogar der Musik eine narrative Struktur verleihen können. Viele Dinge – Objekte beliebiger Art, geliebte Erinnerungsstücke etwa – sind eigentlich narrative Abbreviaturen: Sie enthalten Geschichten oder verweisen auf sie, erhalten also ihre jeweilige Bedeutung – für bestimmte Menschen – erst dann, wenn diese latenten oder impliziten Erzählungen entfaltet werden. Generell gilt: Der Mensch orientiert und bewegt sich unweigerlich in narrativen Bedeutungsgeweben, in erzählerisch entworfenen und ausgestalteten Zeit-Räumen.

    Das Gesagte trifft auch auf jedes einzelne Individuum zu. Sein praktisches Selbst- und Weltverhältnis sowie sein symbolisches Selbst- und Weltverständnis sind in erheblichem Maße narrativ strukturiert. Sie sind in Genese und Beschaffenheit von der soziokulturellen Praxis des Geschichtenerzählens abhängig. All das ist eine anhaltende Tätigkeit, mit der Individuen beginnen, sobald sie als Kinder Geschichten in ihrer Struktur, Dynamik und vielfältigen Funktion zu verstehen lernen und bald schon selbst nach einer in ihren Grundstrukturen festgelegten, universellen Narrationsgrammatik erzählen können, über die »narrativ kompetente« Sprecher verfügen, ohne sie als Regelsystem explizieren zu können (vgl. Straub, 1998b, 2011, 2020; Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst u. Wolf, 1995). Menschen sind als geschichtliche Lebewesen andauernd in Geschichten verstrickt (Schapp, 1953), und zwar in einem doppelten Sinne: Einerseits sind sie in die Ereignisgeschichten verwickelt, also in all das, was mit oder ohne das eigene Dazutun gerade geschieht, dereinst passiert ist oder bald geschehen wird. Andererseits bewegen sie sich im symbolischen Raum der erzählten Geschichten, die die Subjekte bilden und immer wieder umbilden, weil vergangene Ereignisse stets aufs Neue und immer wieder anders erinnert und ausgelegt werden. Das kann nicht nur, das muss so sein: Jede Vergangenheit ist als narrative Rekonstruktion und symbolische Repräsentation eines ehemaligen Geschehens veränderlich, sie kann tatsächlich »besser« oder »schlechter« werden (Rüsen, 2002). Wir ändern Vergangenheiten im Lichte unserer neuen Erfahrungen und Erwartungen. Wir verstehen, was war, immer wieder anders, in Abhängigkeit von unseren sich wandelnden Gegenwartsdeutungen und den imaginierten, antizipierten künftigen Ereignissen.

    Erzählungen integrieren die zur Sprache sowie zugleich in eine zeitliche Ordnung gebrachten Ereignisse oder Geschehnisse, vergangene, gegenwärtige oder dank unserer Vorstellungskraft vorweggenommene. Autobiographische Narrative und andere Selbstthematisierungen artikulieren und ordnen in einer symbolischen und temporalen Form insbesondere auch subjektive Erlebnisse, die fortan als mitteilbare und teilbare, anerkennungswürdige oder auch kritisch reflektierbare Erfahrungen memoriert und kommuniziert werden.

    »Erlebnisse« können zwar symbolisch oder hermeneutisch vermittelt sein. Sie sind aber gleichwohl leibliche Phänomene, die wirklich und wirksam sind, ohne bereits symbolisch durchformt und sprachlich artikuliert worden zu sein. Sie können unser in bisherigen Erfahrungen verwurzeltes Wissen irritieren. Sie können das, was wir kennen und als mehr oder minder gefestigte Erfahrungs- und Wissensordnung kommunizieren, stören. Erlebnisse können uns überraschen, zum Guten wie zum Schlechten. Solche vergleichsweise unmittelbaren, durch und durch subjektiven – affektiven, emotionalen, leiblichen – Erlebnisse unterscheide ich terminologisch also von »Erfahrungen« (und auch von »Erwartungen«), die stets in irgendeinem Medium ausgedrückt sind, das heißt: bereits eine symbolische Form oder Gestalt angenommen haben (sprachlicher oder bildlicher, diskursiver oder präsentativer Art; vgl. Langer, 1965). Erfahrungen sind in ihren Eigenheiten bereits bestimmt. Während vergangenheits- oder zukunftsbezogene, aktuelle Erlebnisse in ihrem Kern radikal subjektiv sind, sind Erfahrungen intersubjektiv nachvollziehbar, also notwendigerweise soziale Phänomene. Erfahrungen sind mitgeteilte und geteilte Sachverhalte. Erzählungen verwandeln Erlebnisse in Erfahrungen (und Erwartungen), die andere verstehen können sollen. Sie vermitteln zwischen dem Selbst und den anderen. Sie sorgen nicht zuletzt dafür, dass sich Personen, weil und während sie erzählen, selbst verstehen und »bei sich heimisch fühlen«. Das muss nicht immer glücken und gelingt tatsächlich häufig nur unzulänglich. Deswegen ist uns allen das frustrierende Gefühl geläufig, beim besten Willen nicht angemessen ausdrücken zu können, was wir erlebt haben. Es fehlen uns die Worte, die unseren Erlebnissen angemessen wären. Wir fühlen uns unbehaglich, wenn wir Erlebtes nicht in zufriedenstellender Weise als Erfahrung oder Erwartung kommunizieren, mit anderen teilen und bedenken können. Nicht alles lässt sich – gleich gut, deutlich und klar – erzählen. Das Paradebeispiel bilden bekanntlich traumatische Erlebnisse, die häufig durch ihre partielle Unaussprechlichkeit und Unbewusstheit definiert werden. Traumata entziehen sich ihrer (vollständigen) Symbolisierung, egal in welchem Medium. Sie wirken fort, wo die Sprache verstummt und das Reich des Unsagbaren beginnt, ein diffuser seelischer Ort, in dem vage Anzeichen, unverständliche Träume, Flashbacks, fragmentierte und aktionale Erinnerungen vorherrschen (vgl. Straub, 2014, 2015).

    Erzählungen können ehemalige, gegenwärtige oder erwartete Erlebnisse mehr oder weniger klar zum Ausdruck bringen. Sie können Erfahrungen und Erwartungen lediglich andeuten oder filigran artikulieren (was Schriftstellerinnen meistens besser gelingt als Wissenschaftlern; daher greifen wir gern zur Literatur, sobald wir etwas von uns sowie dem Leben der anderen verstehen wollen). Erzählungen mögen uns langweilen oder faszinieren und mal mehr, mal weniger zu denken geben. Manche von ihnen beschäftigen einzelne Personen oder große Gruppen von Menschen zeitlebens. Einige gelten als Menschheitserzählungen, die eigentlich alle angehen. Kehren wir noch einmal zu Greenblatts Buch über die Geschichte von Adam und Eva zurück, diesem Mythos über die Kindertage einer Gattung, die erst durch bestimmte Ereignisse zu einer über den Globus verstreuten Ansammlung von »Menschen wie wir« geworden ist. Wie der an Geschichten interessierte, sein ganzes Leben lang von ihnen faszinierte und sie erforschende Literatur- und Kulturwissenschaftler metaphorisch sagt, erzählt er in seinem Buch die »Lebensgeschichte« dieser außergewöhnlich wirkmächtigen Erzählung von Adam und Eva. Er lässt dabei so gut wie nichts aus, was mit ihr verbunden ist oder in Verbindung gebracht werden kann:

    »Seitdem sie erzählt wird, in vielen langen Jahrhunderten, lagerte sich ein enormer Apparat an, Hilfsmittel aller Art; Lehrer wiederholten sie ohne Ende; Institutionen belohnten die Gläubigen und straften die Skeptiker; Intellektuelle trieben die Nuancen hervor und lieferten konkurrierende Deutungen, Lösungen für die Rätsel dieser Erzählung; Maler ließen sie lebendig werden. Die Erzählung selbst blieb ziemlich unberührt von diesen vielschichtigen Elaborationen. Oder anders gesagt: so ziemlich alles, was später auf die Erzählung folgte, scheint von ihrer schier unerschöpflichen Energie gezehrt zu haben, so als sei ihr Kern radioaktiv. Adam und Eva sind Sinnbild der sonderbaren, der unerschöpflichen Kraft, die dem innewohnt, was Menschen erzählen« (Greenblatt, 2018, S. 15).

    Und einige von diesen Narrationen – gar nicht so wenige, darunter auch banal erscheinende Alltagserzählungen oder kurze autobiographische, episodische Erzählungen – verraten etwas vom existenziellen Selbst- und Weltverständnis des Menschen und führen uns vor Augen, was es heißt oder zumindest heißen kann, ein Mensch zu sein. Man liest sie – wie etwa die biblische Vertreibung aus dem Paradies – als »Hymnus auf menschliche Selbstverantwortung« oder als »dunkle Fabel menschlicher Verworfenheit, eine Feier des Mutes und Anstiftung zu brachialer Misogynie. Das Spektrum, das sie im Lauf einiger tausend Jahre bei unzähligen Individuen und Gemeinschaften hervorgerufen hat, ist frappierend« (Greenblatt, 2018, S. 16). Mythische Erzählungen sind polyvalent, überdeterminiert und multifunktional. Beinahe alle setzen mannigfache Wirkungen frei und erfüllen vielerlei Funktionen. Allerdings vermögen nur ganz wenige eine derartig überwältigende, geradezu verwirrende Vielzahl an verschiedenen, heterogenen und konfliktträchtigen Auslegungen zu provozieren wie die Geschichte von Adam und Eva, und dies über Jahrtausende hinweg.

    Im angesprochenen Fall sind die entscheidenden Momente im Werdegang der Gattung verbotene Handlungen jener ersten Menschen selbst, die sich bekanntlich verführen ließen, einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu verzehren. Deswegen haben sie, so behauptet der Mythos, ihre Vertreibung aus dem Paradies und damit die ganze Mühsal ihres nunmehr endlich und beschwerlich gewordenen Daseins selbst zu verantworten. Das Bewusstsein des bevorstehenden Todes, die unentwegte, beschwerliche Arbeit, aber auch das sexuelle Begehren kommen mit der ersten Grenzüberschreitung in die schlagartig verwandelte Welt des schon bald aus dem Garten Eden hinausgejagten Menschen. Daraus erwächst eine bleibende Differenz, eine Kluft und Spannung:

    »Der biblischen Erzählung nach muss der Spezies etwas widerfahren sein, kurz nachdem Gott sie geschaffen hat. Die Menschheit hätte nicht unbedingt zu dem werden müssen, was sie heute ist – es hätte alles auch ganz anders kommen können. Das Bild vom Mann und der Frau im vollkommenen Garten Eden lässt eine Spannung erkennen zwischen den Dingen, wie sie sind, und den Dingen, wie sie sein könnten. In diesem Bild wird ein Sehnen danach spürbar, andere zu sein als die, zu denen wir geworden sind« (Greenblatt, 2018, S. 27).

    Es wird in der Erzählung und ihren zahllosen Auslegungen aber auch deutlich, wer wir unter welchen sich wandelnden Umständen geworden sind, weshalb wir Menschen jene verantwortlichen, moralisch fehlbaren und auch in anderen Hinsichten unvollkommenen, unzulänglichen Lebewesen sind, die wir nun einmal sind. Die Notwendigkeit moralischer Orientierungsbildung und Entscheidungsfindung kommt nicht von ungefähr, behauptet der biblische Mythos – und bietet eine narrative Erklärung an, die nicht allein, aber gerade auch die moralische Struktur eines zur Freiheit verdammten Geschöpfes plausibilisieren soll. Die Quelle der Moralität liegt im ersten »Sündenfall« (so sagen es zumindest die christlichen Lesarten). Das müssen wir als Anhänger der modernen Wissenschaften natürlich nicht glauben, jedenfalls nicht genau so, wie es dasteht. Dieser narrativen Erklärung wird man dennoch nicht jede Sinnhaftigkeit und Überzeugungskraft absprechen wollen. Sie macht, unabhängig von ihrem historischen Realitäts- und Wahrheitsgehalt, etwas intelligibel, was ohne sie dunkel und verschlossen bliebe. Sie bietet eine Chance zum verstehenden Erklären der Entstehungsgeschichte und des Werdegangs der Menschheit an, die – und das ist entscheidend, zumal in psychologischer Sicht – viele Identifikations-, Reflexions- und Orientierungsangebote bereithält. Wir entnehmen diesem Narrativ etwas über alle. Seit Adam und Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen und so gegen das strenge, einzige Verbot in einer von Gott geschaffenen Ordnung verstoßen haben, ist das Dasein des ζῷον λόγον ἔχον (»zõon lógon échon«) in eine grundsätzlich moralische Lebensform von freien und verantwortlichen Menschen eingebunden. Ihre körperlichen Bedürfnisse und somatischen Triebe teilen sie weiterhin mit dem Leben vieler Tiere, und auch wegen seiner nun erwachten sinnlichen Begehren, affektbesetzten Wünsche und emotionalen Regungen ist jeder Mensch natürlich mehr und anderes als ein bloßes Animal rationale, ein intelligentes, denkendes Wesen, das zwischen moralischen Alternativen kraft eigener Vernunft und Urteilskraft begründete Wahlen trifft. Im ersten Vergehen liegt der Ursprung einiger wesentlicher, postparadiesischer Eigenschaften der Menschen. Darin gleichen sie sich, bei allen sonstigen Unterschieden. Im Aufbegehren und dem nicht mehr rückgängig zu machenden Verstoß gegen das göttliche Gesetz, der nicht bloß Genuss, sondern vor allem Erkenntnis und, damit verbunden, Macht versprach, verortet der Mythos den Anfang der Menschheitsgeschichte im engeren Sinn. Solange Adam und Eva im Paradies verweilten, gehörten sie eigentlich noch gar nicht zu uns, standen vielleicht den Göttern und Engeln sogar näher als ihren eigenen leiblichen Nachfahren. Sicher ist, so behauptet es jedenfalls die einflussreiche Erzählung: Die beiden Aufbegehrenden brachten die Existenz der Mühseligen und Beladenen und alles, was uns dieses irdische Leben bis heute zumutet und aufbürdet, aber auch gewährt und schenkt an Freuden und Errungenschaften, erst ins Rollen.

    Der alttestamentarische Mythos – von dem es übrigens, wie Greenblatt darlegt, allerlei Varianten und Verwandte in vielen Kulturen der geschichtlichen Welt des Menschen gibt – erzählt nicht nur eine Geschichte, die die Entstehung der in die Struktur der menschlichen Lebensform eingelassenen Moralität (und in gewisser Weise auch der spezifischen Sozialität dieses sprechenden Tiers) narrativ erklären soll, sondern auch weitere wesentliche Eigenarten eines angeblich nach Gottes Ebenbild geschaffenen Geschöpfes intelligibel macht. Eine davon ist von herausragender Bedeutung: Der erste Ungehorsam und Gesetzesbruch pflanzt dem Menschengeschlecht eine bleibende Sehnsucht nach dem Vollkommenen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1