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Gestalt-Traumatherapie: Vom Überleben zum Leben: Mit traumatisierten Menschen arbeiten
Gestalt-Traumatherapie: Vom Überleben zum Leben: Mit traumatisierten Menschen arbeiten
Gestalt-Traumatherapie: Vom Überleben zum Leben: Mit traumatisierten Menschen arbeiten
eBook388 Seiten4 Stunden

Gestalt-Traumatherapie: Vom Überleben zum Leben: Mit traumatisierten Menschen arbeiten

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Über dieses E-Book

Der Band vermittelt den State of the Art der gestalttherapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen: Grundlagen, Methoden und Praxis der Traumatherapie, u.a. Kriegstraumatisierung, Armut und Trauma, Traumafolgestörungen, Dissoziative Fugue, Traumabehandlung von Kindern und Jugendlichen, Albträume, Genderperspektiven.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Nov. 2008
ISBN9783897975347
Gestalt-Traumatherapie: Vom Überleben zum Leben: Mit traumatisierten Menschen arbeiten

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    Buchvorschau

    Gestalt-Traumatherapie - EHP - Verlag Andreas Kohlhage

    Wolfgang Wirth

    Traumatherapie aus gestalttherapeutischer Perspektive

    »Was die Wunde schlug, wird sie heilen«

    Orakel von Delphi

    In diesem Beitrag wird vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte von Fritz Perls die Entwicklung der Gestalttherapie als traumaorientiertes Verfahren reflektiert. Eine kurze Skizze wichtiger traumadiagnostischer Kategorien und der Neurobiologie traumatischer Prozesse bilden die Grundlage für die Überprüfung gestalttherapeutischer Traumakonzepte. Diese werden aus dem Grundlagenwerk Gestalttherapie herausgearbeitet. Einige Modellskizzen veranschaulichen mein aktuelles und weitgehend gestalttherapeutisches Verständnis traumatischer Prozesse. Die Sichtung eines Großteils der Arbeiten zu verschiedenen gestalttherapeutischen Traumaschwerpunkten bildet neben eigenen Fallvignetten den praxisorientierten Abschluss.

    Geschichte der Traumatherapie und Traumatheorien

    Die Beschäftigung mit den lang anhaltenden und auch seelischen Folgen von Gewalt und Verletzungen lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Den delphischen Orakelspruch für die unheilbare Wunde des durch Achilles Speer verwundeten Telephos interpretierte dieser damit, neun Jahre nach der Verletzung Rost von Achilles Speerspitze abzukratzen und auf die Wunde zu streuen. Erst dadurch wurde sie geheilt. In dieser kurzen Geschichte offenbart sich ein sechsgliedriges Wissen um Heilprozesse:

    1. Sicherheit, der Speer wird nicht mehr gebraucht, (denn sonst würde er nicht rosten),

    2. eine Konfrontation zwischen Täter/Tatwaffe und Opfer findet statt,

    3. die nicht mehr gebrauchte Waffe muss als eine Art Täter/Opfer-Ausgleich dem Opfer zur Verfügung gestellt werden, damit es diesen Rost erhalten kann,

    4. Das ursprünglich Verletzende führt in abgeschwächter, »assimilierbarer« Form zur Heilung,

    5. die verstreichende Zeit wird eingerechnet, die es dauert, bis die Speerklinge rostet und

    6. die Einschätzung der Tat ist durch einen Transformationsprozess verändert. Die Realität dieses Transformationsprozesses wird erlebt und stößt die Heilung an.

    In unserer Kultursphäre und Zeit wurde das Traumathema bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich anhand gerichtsmedizinischer Befunde über massive Kindesmisshandlungen durch Charcot aufgegriffen und von Janet (1889, zit. nach van der Kolk 2000, 223) sehr genau zu den Themenfeldern Dissoziation, Gedächtnisstörung und Organisation der seelischen Prozesse ausgearbeitet (Streeck-Fischer, Sachsse & Özkan 2001, 12). In England wurde die Thematik durch Ängste bei der Einführung der Eisenbahn als railway spin bewusst. Im 1. Weltkrieg wurde das Phänomen der Traumatisierung als »Kriegszittern« beobachtet und in England rasch mit dem Begriff shell shock (Granatenschock) belegt (Radkau 1998, 430). In den Anfängen hatte vor allem das Militär (Butollo 2003, 4) Interesse an der Behandlung und Entschärfung posttraumatischer Ausfälle von Soldaten, im russisch-japanischen Krieg 1904/5 wurden hierfür erstmals Militärpsychiater eingesetzt (Watson 1982, 206f). Durch die Sensibilisierung gegenüber den Symptomen wurden aber auch bei anderen Opfern von schlimmen Ereignissen wie Verkehrsunfällen, Schiffsunglücken oder Naturkatastrophen ähnliche Symptome festgestellt.

    Das Interesse von Psychotherapeuten für die Behandlung der Folgen traumatischer Erlebnisse hat in den letzten 25 Jahren in hohem Maße zugenommen, sodass ein regelrechter Boom der Traumaforschung beobachtet werden konnte. Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wurde erst 1980 in das DSM III aufgenommen (van der Kolk et al. 2000, 86).

    Einflussreiche Gründe dafür waren die lang andauernden psychischen Folgen bei Betroffenen. Zu diesen zählten unter anderem die Opfer des Holocausts, Vietnamveteranen sowie sexuell missbrauchte Frauen und Mädchen. Für diese letzte Gruppe schärfte sich das Bewusstsein im Gefolge der Diskussionen der Frauenrechtsbewegung um sexuelle Selbstbestimmung und sexuellen Missbrauch. In Europa wurden die psychischen Folgen der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien von verschiedenen Forschern genauer untersucht (z.B. Butollo, Krüsmann & Hagl 1998, Butollo, Hagl & Krüsmann 2003). Der 11. September 2001 mit der Zerstörung der Zwillingstürme in New York führte auch bei Gestalttherapeuten zu einer Fokussierung auf das Traumathema, was sich in einem Themenheft (2004) der elektronischen Zeitschrift Gestalt! zeigte. Die Diskussion um die Diagnose PTBS ist gegenwärtig weiter im Fluss und wird weitere Differenzierungen erfahren. (Butollo, Hagl, Krüsmann 2003, 189)

    Eigene Traumatisierungen als lebensgeschichtlicher Hintergrund bei Fritz Perls

    Perls charakterisiert seine Kindheit und sein junges Erwachsenenalter selbst als traumatisch. Dabei können mindestens fünf traumatische Einflüsse unterschieden werden.

    1. Gewalt, Ablehnung, heftigste Prügeleien und der Versuch den Willen des Kindes Fritz auszulöschen,

    2. sozialer Ausschluss und Repression an der Schule als Jude,

    3. Kriegstraumatisierungen im 1. Weltkrieg mit Verlust seines besten Freundes, mit möglicher Retraumatisierung durch seine Psychoanalyse bei Harnack

    4. Trauma der erzwungenen Emigration

    5. Ermordung des Großteils seiner gesamten Familie, Verwandtschaft, vieler Freunde, Lehrer und Kollegen.

    1) »Meine Mutter schlug mich mit Teppichklopfern. Sie konnte mich nicht brechen, ich zerbrach die Teppichklopfer.« (Perls 1981, 313). Bocian (2002, 39) vermutet, dass die folgende Passage aus Perls 1981 (290) zumindest mit eigenem Erleben vermischt ist: »Nie vergaß er, dass sein Vater ihn des öfteren »ein Stück Scheiße« nannte. Die Reaktionen der Eltern (…) erlebte er als existentiell vernichtend. »Ich will dich auslöschen, du sollst nicht leben. An deiner Stelle soll ›nichts‹ sein. (…) Wir erziehen dich. Bis du so wirst wie Wir, Wir, Wir, Wir dich haben wollen.« Bocian führt über Perls weiter aus: »Eine traumatische Neurose definiert er an einer Stelle als Verteidigungsstrategie, um sich gegen die »Überfälle der Gesellschaft« (Perls 1979, 49, zit. nach Bocian 2002) zu schützen. »Das zweijährige Kind z.B., das von seinen Eltern in einer dunklen Kammer eingeschlossen wurde, ist fast einer unerträglichen Anspannung unterworfen. Es wird durch ihr Verhalten auf ein Nichts reduziert – ja auf weniger als ein Nichts; es wird zu einem Objekt ihrer Manipulation ohne eigenes Recht und eigene Macht. Es gibt kein ›Ich‹ mehr, es gibt nur ›sie‹ und was ›sie‹ tun können« (ebd.). Bei der Durchsicht der Kurzvariante seiner Autobiographie (Perls 1993) fällt die schwierige Kindheitssituation und die fehlende soziale Unterstützung auf. Das Kind kann nicht verstehen, was geschieht. Verstehbarkeit ist aber nach Antonovsky (1997) eine wichtige Ressource, um ein Ereignis als weniger beschädigend und traumatisierend zu erfahren, ihr Fehlen erhöht die Gefahr traumatischer Verarbeitung.

    2) »Diese Schule war ein Albtraum für mich« (Perls 1981, 193). »Selten haben so wenige Lehrer so viele Schüler gequält. Das Grundprinzip war Disziplin und Antisemitismus« (ebd., 280).

    3) Perls berichtet über Erlebnisse aus dem 1. Weltkrieg im Jahr 1916: Perls hat eine Grippe mit hohem Fieber entwickelt, wird in einem Feldlazarett untergebracht. Er träumt: »meine Familie, im Vordergrund Grete, die Schwester, die ich liebe, steht um mein Grab herum und bittet mich ins Leben zurückzukehren. Ich bemühe mich, strenge mich an, biete alle meine Kräfte auf und schaffe es. Langsam, ganz langsam kehre ich zurück ins Leben, bereit, wenn auch nicht allzu bereit den Tod loszulassen, den Tod, der so viel erträglicher war als die Schrecken des Krieges.« Perls verbrachte neun Monate in den Schützengräben des Stellungskrieges in Flandern, wo der Gaskrieg erstmals erprobt und auf das heftigste geführt wurde. »Ich hatte bereits einen gewissen Grad an Härte und Gefühllosigkeit erreicht, aber es gab zwei Formen des Todes, die ich kaum ertragen konnte. Das eine waren die Kommandos nach den Angriffen. Nachdem die Gas-Wolke über die feindlichen Linien gezogen war, kletterten sie aus ihren Gräben. Sie waren mit einem langen biegsamen Hammer ausgerüstet, mit dem sie jeden der noch ein Lebenszeichen von sich gab, erschlugen. (…) Das andere passierte nur einmal. (…) In dieser Nacht machten wir einen weiteren Gas-Angriff. Öffnet die Ventile. Die gelbe Wolke kriecht in Richtung auf die (feindlichen) Gräben. Dann ein plötzlicher Wirbel. Der Wind ändert seine Richtung. Die Gräben verlaufen in Zick-Zack-Linien. Das Gas kann in unsere eigenen Gräben ziehen… und bei vielen funktionieren die Gasmasken nicht. Und viele, viele erleiden leichte und schwere Vergiftungen und ich bin der einzige Arzt und habe nur vier kleine Sauerstoff-Flaschen und jeder verlangt verzweifelt nach etwas Sauerstoff, klammert sich an mich und ich muss ihm die Flasche entreißen, um einem anderen Soldaten etwas Linderung zu verschaffen. Mehr als einmal war ich versucht, die Gasmaske von meinem schweißgebadeten Gesicht zu reißen.« (Perls 1981, 164f) Nachdem er diese Kriegsberichte aufgeschrieben hat, beschreibt sich Perls am nächsten Tag wieder so: »Heute morgen fühlte ich mich dem Wahnsinn nahe. Worte krochen wie Termiten über meinen ganzen Körper.« (ebd., 169)

    Bocian (2002, 88f) geht mit Faiss (zit. in Bocian 2002) von einem starken Kriegstrauma bei Perls aus, das ihn für den Rest seines Lebens verbitterte (Zeff, zit. nach Bocian 2002) und zum Zyniker werden ließ (Perls 2003, 49f).

    Perls (1993) selbst spricht von desensitization, einer Desensibilisierung, was in der Traumaliteratur als Abstumpfung oder numbing bezeichnet wird. Diese innere Panzerung aufzulösen und die Lebendigkeit und Lebensfreude wiederzugewinnen ist ein vermutlich daraus erwachsenes dringendes Anliegen. Bocian (2002, 90) sieht diese biographisch bestimmten Themen als zentral für die Entwicklung der Gestalttherapie. Bocian (2002, 112) nennt die in dieser Zeit und der nachfolgenden Weimarer Republik erfahrene »tief greifende Erfahrung der Verunsicherung, ja Dissoziation des Ich« (Vietta, zit. nach Bocian 2002) den Gegenpol zur Sehnsucht nach einer persönlich erlebten guten Gestalt von Perls. Die als Heilungshoffnung aufgesuchte zweite Lehranalyse bei dem extrem abstinenten Analytiker Harnak empfand er als Qual (Bocian 2002, 178). Der Analytiker Venzlaff (2001, 148) schreibt über die Abstinenzhaltung des Analytikers gegenüber Traumatisierten, besonders bei KZ-Überlebenden: »Die von der Psychoanalyse vorgeschriebene Abstinenzhaltung des Analytikers ließ den Patienten diesen in der Übertragungssituation als neuerlichen Aggressor erleben, wirkte oft in hohem Maße angstauslösend und somit antitherapeutisch.«

    4) In seinem Interview mit Jim Simkin 1966 schildert Fritz Perls (1992, 23): »In Deutschland, nun dort haben wir einigermaßen komfortabel gelebt. Ich hatte mein Einkommen und Lore bekam etwas Geld von zu Hause. Dann gingen wir nach Holland, wo wir dann in größter Armut lebten. Als ich nach Holland floh, hatte ich eine Summe von umgerechnet 25 Dollar in meinem Feuerzeug versteckt. Und nun durften wir überhaupt kein Geld verdienen. Wir lebten von der Wohlfahrt, im tiefsten Winter auf einem Dachboden. Und Lore musste putzen gehen, das hatte sie vorher noch nie gemacht, und kalt war es, wir froren uns halb tot.«

    Lore berichtet, dass sie sehr gefährdet waren »als Mitglieder der antifaschistischen Liga. Sie kamen immer nachts zwischen zwei und vier. Die letzten Nächte schliefen wir jede Nacht woanders.« (DVG-Film 2005)

    5) Beim Schreiben seiner Autobiographie und beim Nachdenken darüber, ob er eine jüdische Identität habe, und wie diese sei, berichtet Perls Folgendes: »Ich erwache heute morgen benommen und schwer. Saß auf meinem Bett, dumpf und in einer Trance wie ich sie bei Insassen von psychiatrischen Kliniken gesehen habe, die sich in ihre Grübeleien zurückgezogen hatten. Geister, die Opfer Hitlers, meist Verwandte von mir und Lore besuchen mich, zeigen mit dem Finger auf mich: »Du hättest mich retten können«. Sie wollen, dass ich mich schuldig und für sie verantwortlich fühle.« (Perls 1981, 135f)

    Perls kann daher als kindheitstraumatisiert sowie als kriegstraumatisiert angesehen werden. Auf seine Traumatisierung deutet auch seine doch erst sehr späte »Heilung« durch Ida Rolf hin, da aus der Therapie von Traumapatienten inzwischen bekannt ist, dass vor allem der Einbezug und die Fokussierung auf körperlich-emotionales Erleben eine Traumaauflösung möglich macht. Perls schreibt dazu: »… ich hatte Kontakt zu einer Schicht von zersplitterten und zerstreuten Bruchstücken von winzigen Introjektionen und fremdem Material. Viele bestanden aus körperlichen Empfindungen und Bildern jedoch ohne Zusammenhang. (…) Ich habe nicht die geringste Ahnung wie, aber offensichtlich bewirkte dieser Kontakt eine Veränderung. Meine zwanghafte Lüsternheit ließ wirklich nach. (…) Vor etwa drei Monaten gab ich mein zwanghaftes Masturbieren auf und es ist praktisch nichts mehr davon da. (…) ich weiß, dass eines Tages etwas ähnliches mit meinem Rauchen passieren wird« (Perls 1981, 267). Seine Sex- und Nikotinsucht können als weitere traumainduzierte Spannungszustände angesehen werden. Levine schreibt: »Zwanghaftes, perverses, promiskuitives und gehemmtes Verhalten in der Sexualität sind oft Anzeichen für das Bestehen eines Traumas und müssen nicht unbedingt durch sexuellen Missbrauch hervorgerufen worden sein (Levine 1998, 41).

    Sein Verhältnis zu seinen Kindern, seine Prügelorgien gegenüber seiner Tochter (»he wanted to beat the hell out of me«: Renate Perls im biographischen Laura-Perls-Film ›Leben an der Grenze‹, 2005) sind weitere Hinweise auf seine traumageprägte Persönlichkeit im Sinne einer Wiederholung als hilfloser Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr.

    PTSD-Diagnostik

    Innerhalb der Gestalttherapie ist die Entwicklung einer theorie- und therapieangemessenen Diagnostik insbesondere während der Anfangsjahre nicht mit großer Entschiedenheit vorangetrieben worden bzw. wurde immer wieder durch das Bestehen auf einer reinen Prozessdiagnostik erschwert. Einen der neueren Ansätze diagnostischen Herangehens legte Dreitzel (2004) mit einer prozessorientierten Gestaltdiagnostik vor. Für Traumabetroffene erscheint vor Therapiebeginn eine Abklärung der Symptome mit Hilfe diagnostischer Manuale bzw. Tests als sinnvoll, da das Übersehen einer traumabedingten Störung und eine unvorsichtige therapeutische Praxis unter Umständen eine Reinszenierung oder Reaktivierung bislang kompensierbarer Erlebnisse nach sich ziehen kann, die zu einer erneuten Verschlechterung der psychischen Situation mit sehr leidvollen Folgen für Betroffene führen kann. Eine sehr gute Übersicht über Traumadiagnostik geben Butollo, Krüsmann & Hagl (1998, 207f). Ein gestalttherapeutischer Diagnostikbogen, der auch für den Traumabereich helfen kann, die zentralen Konfliktfelder genauer einzugrenzen, findet sich bei Hartmann-Kottek (2004, 200). Auch Kepner (1995, 293f) legt ein eigenes zweiteiliges gestalttherapeutisches Testinstrument zur Einschätzung des Trauma- und Verarbeitungsniveaus vor, mit direkten Ableitungen für sein Traumastufenmodell healing tasks.

    Das DSM-IV (1996, 491f) nennt folgende Kriterien für das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS):

    A Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren:

    1. Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhaltet.

    2. Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten äußern.

    B Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:

    1. Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen oder Aspekte des Traumas ausgedrückt werden.

    2. Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten.

    3. Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten). Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische Neuinszenierung auftreten.

    4. Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

    5. Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

    C Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:

    1. Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen.

    2. Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen.

    3. Unfähigkeit einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern.

    4. Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten.

    5. Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von Anderen.

    6. Eingeschränkte Bandbreite des Affektes (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden),

    7. Gefühl eine eingeschränkte Zukunft zu haben (z.B. erwartet nicht Karriere, Ehe, Kinder oder ein normal langes Leben zu haben).

    D Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:

    1. Schwierigkeiten ein- und durchzuschlafen,

    2. Reizbarkeit oder Wutausbrüche

    3. Konzentrationsschwierigkeiten

    4. übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz),

    5. übertriebene Schreckreaktion.

    E Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als einen Monat.

    F Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

    Zeitlich lässt sich die PTSD in drei Typen klassifizieren:

    Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.

    Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern

    Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens sechs Monate nach dem Belastungsfaktor liegt.

    Meichenbaum 1994 (zit. nach Butollo 2003, 9) unterscheidet Trauma vom Typ I und Typ II.

    Typ I : Unerwarteter traumatischer Stressor: Dies ist ein plötzliches, überwältigendes Ereignis von begrenzter Dauer, das sich tief ins Gedächtnis eingräbt, im Detail erinnert wird und zu typischen PTSD-Symptomen wie Intrusionen führt, mit einer wahrscheinlich schnellen Restabilisierung, z.B. Vergewaltigungen, Unfälle, Naturkatastrophen.

    Typ II: Anhaltende und wiederholte schwere Stressoren, zuerst wie Typ I, dann wiederholt, das Opfer ist machtlos es zu vermeiden, meist durch Menschen verursacht, mit unvollständigen Erinnerungen, vermehrten Dissoziationen (als Copingmöglichkeit), führt eher zu verändertem Selbstkonzept und Gefühlen der Scham und Wertlosigkeit, sowie lang anhaltenden Persönlichkeitsveränderungen mit emotionalen und sozialen Problemen. Auslösende Situationen sind z.B. physischer und/oder sexueller Missbrauch, Kriegseinsatz, Gefangenschaft, Folter.

    Je nach Art und Kontext der Traumaentstehung können verschiedene Bereiche unterschieden werden, die auch noch weiter unterteilt werden können: Durch Menschen verursachte Traumata (man-made), Naturkatastrophen und Unfälle, Krankheiten. Angesichts der noch nicht abgeschlossenen Diskussion um die Diagnostik traumatischer Störungen werden sich weitere Differenzierungen wahrscheinlich in zukünftigen Diagnosemanualen niederschlagen.

    Dissoziation

    Dissoziation ist die Aufspaltung des Erlebten. Es werden drei Formen unterschieden (nach van der Kolk 2000, 245).

    1. Primäre Dissoziation: Dabei wird das, was erlebt wird, nicht vollständig bewusst, sondern sensorisch oder emotional aufgespalten, ohne Integration in eine persönlich verbale Schilderung.

    2. Sekundäre Dissoziation: Trennung zwischen einem beobachtenden und einem erlebenden Ich. Im Moment des Traumas wird der Körper verlassen und das Ganze von einer entfernteren Position aus betrachtet.

    3. Tertiäre Dissoziation: Deutlich von einander unterscheidbare und z.T. nicht mit einander in Kontakt stehende Ich-Zustände mit jeweils eigenen kognitiven affektiven und Handlungsmustern. Manche dieser Ich-Zustände enthalten die traumatischen Erfahrungen, andere nicht. Dies tritt z.B. bei dissoziativen Identitätsstörungen auf.

    Janet (1889, zit. nach van der Kolk 2000, 321) nannte die Dissoziation das Hauptproblem bei Traumata. Die Erinnerung an das, was geschehen ist, kann nicht in die eigenen Schemata integriert werden. Sie wird von den anderen Erfahrungen abgespalten. »Unfähig, die traumatischen Erinnerungen zu integrieren, haben sie anscheinend auch die Fähigkeit verloren, neue Erfahrungen zu assimilieren. Es ist, (…) als wäre ihre Persönlichkeit endgültig an einem bestimmten Punkt stehen geblieben und könnte sich nicht mehr durch Hinzufügung oder Assimilation neuer Bestandteile erweitern. (Janet 1919, zit nach van der Kolk 2000, 322). Auch van der Kolk et al. (2000, 199) nehmen an, dass Dissoziationen zum Zeitpunkt des Traumageschehens ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung einer PTBS sind.

    Ausagieren (acting out)

    Traumatische Erlebnisse werden häufig wiederholt mit dem impliziten Wunsch, sie nun zu einem guten Abschluss zu bringen. Dabei ist teilweise nur die Handlung der traumatischen Situation durch ihre Wiederholung zugänglich. »Die Wiederholungen sollen dazu dienen eine Gestalt zu schließen« (Perls 1981, 69). Die offen gebliebene Gestalt des traumatischen Erlebnisses führt dabei ähnliche Situationen herbei bzw. greift diese auf, um eine erfolgreiche Lösung zu versuchen. Diese Lösung misslingt in vielen Fällen, da kein Entwicklungsschritt die in der damaligen traumatischen Situation fehlende Sequenz hinzufügen konnte. Durch diese Wiederholungen kann sich die traumatische Verarbeitung des Ereignisses verfestigen, bzw. es kann zu weiteren erneuten Traumatisierungen kommen, den akkumulierten Traumata, die leider häufig zu beobachten sind. Aufgrund der Primärtraumatisierung fehlen zum einen Schutzmechanismen, zum anderen werden Situationen mit viel Aufregung und Wiederholungsmöglichkeiten zur Umkehr, zum Abschluss und zur Heilung dieser Gestalt gesucht. Die Auflösung des Traumas beinhaltet die sinnliche Zugänglichkeit der auslösenden Situation. Durch das bewusste Wiedererleben des Traumas und das damit verbundene innere Zusammenfügen, kann es verwandelt werden, transformiert werden und abgeschlossen werden. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Wieder-Erinnern oder -Erleben einzelner abgespaltener Aspekte. Ein Beispiel für diese Wiederholung ist Perls‹ Erleben der Ablehnung von Freud als Wiederholung der Ablehnung durch seinen Vater und in der Folge als eigene Ablehnung seines Sohnes Steve. Perls hatte das Konzept des oralen Widerstandes ausgearbeitet, um von Freud endlich die ersehnte Anerkennung zu erhalten, und hatte die 4000 km weite Reise aus Südafrika, wo er ein psychoanalytisches Institut aufgebaut hatte, auf sich genommen, um zur Präsentation seiner Hypothesen zu kommen. Perls (1981, 58f) beschreibt dies so: »Ich vereinbarte einen Termin, wurde von einer ältlichen Frau empfangen (ich nehme an, seiner Schwester) und wartete. Dann öffnete sich die Tür etwa einen Meter breit und da war er, vor meinen Augen. Es wirkte seltsam, dass er die Tür nicht verließ, aber damals wusste ich noch nichts von seinen Phobien. »Ich bin aus Südafrika gekommen, um einen Vortrag zu halten und um Sie zu sehen.« »Und wann fahren Sie zurück?« sagte er. Ich erinnere mich nicht an den Rest der (etwa vierminütigen) Unterredung. Ich war schockiert und enttäuscht. Einer seiner Söhne war beauftragt mit mir essen zu gehen. Ich hatte eine schnelle Schockreaktion erwartet, aber ich war lediglich wie betäubt.«

    Komorbidität:

    Die Folgen traumatischer Erlebnisse können eine Vielzahl psychiatrischer Störungsbilder wie Depressionen, Borderlinestörungen, Dissoziative Identitätsstörungen, Phobien, Panikstörungen, generalisierte Angststörungen, oder süchtiges Verhalten in unterschiedlichen Ausprägungen sein (Butollo, Hagl, Krüsmann 2003, 59f; Butollo & Hagl 2003, 13). Auch van der Kolk (2000) zählt als mögliche Folgen traumatischer Belastungen folgende Störungsbilder auf: Borderlinestörungen, Somatisierungsstörungen, Dissoziative Störungen, Selbstverstümmelung, Essstörungen. Für die Behandlung hat es entscheidende Auswirkungen, ob ein bestimmtes Verhalten als erklärbar und aus bestimmten Einwirkungen heraus entstanden gesehen wird oder ob es lediglich als verrückt angesehen wird.

    Protektiv- und Vulnerabilitätsfaktoren

    Aus der Entwicklungsforschung ist bekannt, dass die traumatische Verarbeitung bestimmter Erlebnisse von erlebtem Schutz oder erworbener und erlebter Verletzlichkeit beeinflusst wird. Diese Gegenspieler werden Protektiv- und Vulnerabilitätsfaktoren genannt. Wichtige Protektivfaktoren sind das Bestehen zumindest einer sicheren Bindung zu einem anderen Menschen, feinfühlige Erziehungspersonen, ruhiges Temperament, den vitalen Bedürfnissen entsprechende Lebensbedingungen, soziale Zugewandtheit, Wohlstand, Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, Kreativität, Erfahrungen von Bewältigung schwieriger Ereignisse. Über den Zusammenhang zwischen Bindung und Trauma gibt Maragkos (2003) Aufschluss. Vulnerabilitätsfaktoren sind Geburtskomplikationen, besonders mit kurzfristigem Sauerstoffmangel des Gehirns, schwieriges Temperament, frühe unsichere und unzuverlässige Bindungs- und Beziehungserfahrungen, Armut, fehlendes Verständnis der Welt, Verlust wichtiger Bezugspersonen, Trennung der Eltern, Schulwechsel, Umzug/Migration, Krankheit, Behinderung, Arbeitslosigkeit. Als potenziell gefährdende Einflüsse können alle Formen kritischer Lebensereignisse angesehen werden.

    Neurobiologische Grundlagen der PTSD

    Traumatische Erfahrungen beeinflussen das Gedächtnis. Dies kann überdeutliches Erinnern oder aber auch das völlige Vergessen bestimmter Ereignisse zur Folge haben. Oft werden vor allem die sensorischen oder emotionalen Anteile der Ereignisse erinnert. Rauch (1996; in: van der Kolk et al. 2000, 215f) zeigte in einer Positronen-Emmissions-Tomographie, dass bei Traumaüberlebenden, die an das Trauma erinnernde Reize dargeboten bekamen, die Gehirnareale, welche für emotionale Zustände und vegetative Erregung zuständig sind, ganz besonders die Amygdala, stärker durchblutet waren. Gleichzeitig sank der Sauerstoffverbrauch im Broca-Areal, wo Worte für innere Zustände erzeugt werden. Dies kann als ein physiologischer Beleg der Sprachlosigkeit traumatischer Erfahrungen gelten. Weitere Untersuchungen zu Somatisierungsstörungen (van der Kolk et al., 181) und Substanzmißbrauch (ebd., 178) zeigten einen engen Zusammenhang zu Traumatisierungen in der Vorgeschichte. Saxe (1994, in: van der Kolk et al. 2000, 180) fand heraus, dass bei Abwesenheit schwerer Traumata in der Vorgeschichte Somatisierungsstörungen nur selten sind. Das deklarative oder explizite Gedächtnis ist für die Speicherung von Tatsachen und Ereignissen die der Betreffende erlebt hat, zuständig. Das prozedurale oder implizite Gedächtnis speichert Fähigkeiten; Gewohnheiten, emotionale Reaktionsweisen, Reflexhandlungen. Die Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Gedächtnisforschung weisen darauf hin, dass bei starken Emotionen und bei traumatischer Stresseinwirkung die Speicherung von Ereignissen und Tatsachen nicht stattfindet und das explizite Gedächtnis gestört wird. Dies erfolgt vermutlich durch eine Schädigung des für das explizite Gedächtnis verantwortlichen Hippokampus. Er wird durch die für ihn toxisch wirkenden Stresshormone geschrumpft und steht nicht mehr ausreichend zur Verfügung. Dadurch wird das Erlebte zersplittert in sensorischen, emotionalen Bruchstücken gespeichert, oder in Handlungserfahrungen, die dann im enacting wieder nachgespielt werden. Die Betroffenen sind also in einen Schrecken ohne Sprache eingeschlossen, der in vollem Ausmaß wiedererlebt wird, zu dem aber kein Kontakt herstellbar ist. Dies hat für das psychotherapeutische Handeln größte Bedeutung, da es hier wichtig ist, einen Verständnisrahmen für das zu finden, was vorgefallen ist. Die Amygdala gilt als Schaltstelle für Gefühle im Gehirn zu anderen Verarbeitungsstrukturen und auch für die Weiterverarbeitung im Neokortex. Van der Kolk et al. (2000, 217) nehmen an, dass die Amygdala sich bei besonders starker Aktivierung durch bestimmte Reize von der subjektiven Wahrnehmung abkoppeln kann und sich daher intensive emotionale Reizung hinderlich auf eine angemessene Verarbeitung der Erfahrungen auswirken kann. Solange sich eine Person durch ihre eigenen Kräfte oder fremde Mächte beschützt und sicher fühlt, wird sie keine seelische Beschädigung erfahren. Sobald allerdings die Ohnmachtserfahrung eintritt, ist eine traumatische Verarbeitung der Ereignisse möglich. Diese besteht unter anderem in einer erhöhten Erregbarkeit und Suche nach möglichen Hinweisreizen für eine Wiederholung des Traumas. Diese vermeintlichen Auslöser werden dann im Zuge einer phobischen Abwehr (Butollo 1999, 96) vermieden. Eine weitere Schwierigkeit für traumatisierte Menschen ist, sich emotional neutralen, aber bedeutsamen Dingen zuzuwenden. McFarlane, Weber & Clark (1993, zit. nach van der Kolk 2000, 203) zeigten, dass es für Traumabetroffene schwerer ist, wesentliche, aber emotional nicht erregende Ereignisse von unwesentlichen, aber emotional erregenden zu unterscheiden, bzw. die unwichtigen Stimuli zu neutralisieren. Die Reaktion auf normale Ereignisse ist für traumatisierte

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