Dem Trauma Widerstand leisten: Neue Autorität als familientherapeutischer und traumapädagogischer Ansatz
Von Peter Jakob, Jim Wilson und Haim Omer
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Über dieses E-Book
Peter Jakob erläutert in diesem integrativen, fundierten Praxisleitfaden erstmals, wie Elterncoaching als traumaorientierte Intervention eingesetzt werden kann – sei es in der Beratungsarbeit, in der Familientherapie oder in der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Zahlreiche methodische Anregungen für den Praxisalltag und illustrierende Fallbeispiele vervollständigen den Band, der bestehende Behandlungskonzepte für traumaerfahrene Menschen erweitert.
Peter Jakob
Dr. Peter Jakob ist Leitender Klinischer Psychologe (Consultant Clinical Psychologist) und Klinischer Direktor des britischen systemischen Instituts "PartnershipProjects UK Ltd", das Therapie, Beratung und Fortbildung mit Schwerpunkt Elterncoaching im gewaltlosen Widerstand/neue Autorität und Trauma betreibt. Er ist staatlich registrierter klinischer Psychologe und Associate Fellow der British Psychological Society. Ursprünglich von der Sozialpädagogik herkommend, ist Dr. Peter Jakob systemischer Familientherapeut und Supervisor für klinische Psychologie und für systemische Psychotherapie. Er hat vor etwa zwanzig Jahren das Elterncoaching mit gewaltlosem Widerstand/neue Autorität in Großbritannien eingeführt, und hat kindfokussierte und traumatherapeutische Weiterentwicklungen dieses Ansatzes hervorgebracht, um den therapeutischen Bedürfnissen von mehrfachbelasteten Familien und von traumatisierten Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Jakob lebt heute in der Nähe von Brighton an der südenglischen Küste.
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Buchvorschau
Dem Trauma Widerstand leisten - Peter Jakob
Teil I
Heilende Systeme
Wie wird die Familie, Pflegefamilie oder pädagogische Einrichtung zum heilenden System?
Wenn es darum geht, uns von schweren emotionalen Verletzungen zu erholen, die uns im zwischenmenschlichen Raum zugefügt worden sind, empfinden wir die Vertrautheit unseres sozialen Umfeldes bzw. weiteren Systems (siehe Abb. 3) als einen wichtigen Resilienzfaktor: Enge Bezugspersonen, die uns vertraut sind, die gewohnte soziale Struktur der Familie oder des Freundeskreises, die Vorhersagbarkeit des Verhaltens der anderen und das Vertrauen in ihre Verlässlichkeit und anteilnehmede Reaktion vermitteln uns ein Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Das vertraute Umfeld hilft uns, unsere Erregung und andere Emotionen zu regulieren; der Glaube der anderen, dass wir uns erholen und unsere Selbstwirksamkeit zurückgewinnen werden, wie auch ihre Geduld und ihr Verständnis, dass der Heilungsprozess noch andauert und wir noch nicht unmittelbar autonom sein können, stimmen uns zuversichtlich.
Abbildung 3: Verankerung im weiteren System
Voraussetzung dafür, dass unser vertrautes soziales Umfeld auf die beschriebene Weise als heilendes System wirkt, ist jedoch, dass in ihm konstruktiv kommuniziert wird. Einerseits können wir den nötigen Rückhalt in den Familien und Freundschaftskreisen von Menschen, die schwere aversive Erfahrungen gemacht haben, nicht einfach voraussetzen. Es ist eher davon auszugehen, dass er in deren Bezugssystemen selten gegeben ist. Andererseits aber laufen wir mitunter Gefahr, dass unsere Voreingenommenheit, unsere Vorurteile gegenüber sogenannten solchen Familien – vor allem dann, wenn es sich um Menschen aus der sozialen Unterschicht oder um Minderheitsangehörige handelt – uns den Blick auf zwischenmenschliche Ressourcen im unmittelbaren sozialen Umfeld verstellen. Das Fallbeispiel von Julie und Jonas¹³ veranschaulicht, wie die Erinnerung an zwischenmenschliche Verbindungen einerseits zwar zur Belastung werden, aber andererseits ebenso als Ressource wirken kann:
In einer Therapiesitzung mit Julie, einer dreißigjährigen Frau aus einer Familie mit mehrfachen Belastungen, deren Sohn einer Kinderschutzmaßnahme des Jugendamtes unterworfen ist, erfahre ich, dass sie Jahre zuvor bei einem Autounfall verletzt wurde. Julie erzählt mir, dass die – wohlgemeinten – Fragen und Bemerkungen einer Sanitäterin den Schrecken vergrößert hätten, anstatt sie zu beruhigen. Die Sanitäterin habe nach ihren Eltern gefragt, über das bevorstehende Osterfest gesprochen, ihr gesagt, dass sie bald ihre Mutter sehen würde. Für viele hätten solche Bemerkungen hilfreich sein können – sie lenken die innere Aufmerksamkeit auf die Geborgenheit, die der Mensch als Kind in der Kernfamilie erlebt hat, erinnern an die Vorhersagbarkeit der Familienrituale, mit denen enge Beziehungen bestätigt und erneuert werden (Imber-Black, Roberts u. Whiting, 2015), richten den inneren Blick auf eine Zukunft, in der wieder Normalität vorherrscht. All dies war aber hier nicht der Fall. Der Vater hatte Julie als Kind sexuell missbraucht, und die Mutter glaubte ihr nicht, als sie ihr gegenüber Andeutungen gemacht hatte. Der Vater und auch spätere Lebenspartner hatten die Mutter oft geschlagen; es war zu vielen, enorm beängstigenden Situationen gekommen. In der Familie wurde viel Alkohol getrunken. So ist es nicht verwunderlich, dass die Bemerkungen der Sanitäterin nicht die beabsichtigte Wirkung hatten.
Mutter und Tochter sind einander entfremdet, und Julie, mittlerweile selbst eine Mutter, befürchtet, dass ihr Kind fremduntergebracht werden könnte.
Ich frage, wen die Sanitäterin wohl »in einem Paralleluniversum« ins Bewusstsein von Julie hätte rufen können, um beruhigend auf sie zu wirken. Sofort kommt die Antwort: »Opa«! Sie erinnert sich daran, wie der Großvater, der Landwirt war, sie und ihren Bruder einmal zu sich auf den Bauernhof nahm, als er unangemeldet zu Besuch gekommen war und die Kinder unbeaufsichtigt in der elterlichen Wohnung vorgefunden hatte, während die Eltern im Pub gewesen waren. Sie erzählt vom süßen Milchtee, den der Opa vor dem Zubettgehen machte, vom Gefühl der frischen Bettwäsche, von der Gutenachtgeschichte und davon, wie die Kinder während der Feldarbeit mit auf dem Traktor fuhren. Ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung entspannen sich, drücken ein Gefühl warmer Geborgenheit und Glücklichseins aus.
Als wir über ihren unmittelbar veränderten Bewusstseinszustand sprechen, überrascht Julie mich mit einem Hinweis auf ihren Namen: Eigentlich heiße sie anders, aber sie nenne sich mittlerweile »Julie« nach »Jules«, dem Namen des Großvaters. So fühle sie sich dem schon lange verstorbenen Opa näher. Die – verinnerlichte – Beziehung zum Großvater wird zum Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit und beeinflusst die ressourcenorientierten Fragen, die ich ihr im Elterncoaching stelle:
»Welche Stärken würde Ihr Opa in Ihnen erkennen, jetzt, wo Sie diese Krise Ihrer eigenen Elternschaft durchleben? Was gefiele ihm daran, wie Sie mit Ihren zwei Kindern umgehen? Was würde er raten, wie Sie Ihre Kinder vor der Gewalt gefährlicher Männer schützen können? Wenn Ihr Opa mit der Sozialarbeiterin vom Jugendamt sprechen könnte, was würde er ihr sagen, das ihn zuversichtlich mache, dass Sie das schaffen werden? Vor welchen Fußfallen würde er Sie warnen? Wer, würde er Ihnen raten, kann Sie besser als Frank (der oft unter Drogeneinfluss stehende Vater von Jonas, dem elfjährigen Sohn) dabei unterstützen, gegen das aggressive Verhalten von Jonas Widerstand zu leisten? Wen sollten Sie nach Ansicht Ihres Opas statt Frank, der entweder den Jungen schlägt oder Ihnen vorwirft, selbst am Verhalten von Jonas schuld zu sein, einbeziehen?«
An dem Beispiel wird zwar auf der einen Seite deutlich, wie wichtig die Kernfamilie für alle Familienangehörigen, Mutter wie Kinder, als Ort der Heilung von traumatischer Verletzung ist. Doch wirft es auf der anderen Seite folgende Fragen auf: Was, wenn die Herkunftsfamilie einer Mutter der Ort schwerster Traumatisierung gewesen ist? Wenn, wie in Julies Beispiel, weiterhin Männer, die zu Gewalt neigen, die Grenzen der Kernfamilie zu verletzen drohen? Wenn der Sohn die von verschiedenen Männern ausgeübte Gewalttätigkeit gegenüber seiner Mutter und Schwester reproduziert und bei der Mutter Assoziationen an frühere Gewalterlebnisse weckt?
Während in ihrer Herkunftsfamilie besonders Männer – zunächst der Vater, später andere Lebenspartner – Julie durch physische Gewalt und sexuellen Missbrauch hochgradig belasteten, fühlte sie sich auch von ihrer Mutter nicht geschützt oder geborgen. Eltern mit einer solchen Vorgeschichte entwickeln mitunter eine Empfänglichkeit hinsichtlich weiterer Gewalt durch Lebenspartner, die sie selbst, aber auch ihre Kinder wiederum schwer belasten können. Zeigen dann die Kinder etwa der Mutter gegenüber aggressives Verhalten, kommt es leicht zur Retraumatisierung der Mutter, der Geschwister und des aggressiv handelnden Kindes selbst.¹⁴
Aufgabe der Elterncoachin ist es, eine derartig retraumatisierte Mutter dabei zu unterstützen, ihre Kernfamilie zu einem emotional sicheren Ort umzugestalten, um die eigene Heilung von Traumabelastung und die ihrer Kinder zu ermöglichen. Im obigen Beispiel half ein Zugang aus der narrativen Therapie, das sogenannte Re-Membering (White, 1997)¹⁵. Hierbei wird die »innere« wie die »äußere Gemeinschaft« um Menschen ergänzt, die sich unterstützend und emotional sicher verhalten haben, um auf diese Weise innere wie auch zwischenmenschliche Ressourcen zu aktualisieren. Es werden positive Erinnerungen an verstorbene Menschen hervorgebracht, und der Klient kann sich vorstellen, wie die verstorbene Person sich heute in kritischen Situationen ihr gegenüber verhalten würde – der Verstorbene wird also imaginativ »wiederbelebt«. Bei noch lebenden Personen, die in der Vergangenheit als hilfreich oder auf sonst eine Weise positiv erlebt wurden, wird eine erneute Beziehungsaufnahme angestrebt. Dies ermöglicht es der Klientin, sich mit lebenden wie verstorbenen Personen, die sich unterstützend verhalten haben, wieder verbunden zu fühlen, um aus dieser Verbundenheit Lösungsansätze für gegenwärtige Herausforderungen zu entwickeln. Voraussetzung dafür, mit Re-Membering arbeiten zu können, ist es, als Fachkraft offen und aufnahmebereit dafür zu sein, dass es im sozialen Nahraum unserer Klienten Ressourcen gibt, von denen wir noch nichts oder nur wenig wissen. Diese Hellhörigkeit wird erst mit einer unvoreingenommenen Haltung des »Nichtwissens«