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Traumatischer Stress in der Familie: Systemtherapeutische Lösungswege
Traumatischer Stress in der Familie: Systemtherapeutische Lösungswege
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eBook602 Seiten7 Stunden

Traumatischer Stress in der Familie: Systemtherapeutische Lösungswege

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Über dieses E-Book

In diesem Buch wird die Methodik der systemischen Therapie mit den Grundsätzen moderner Psychotraumatologie und Traumatherapie in Verbindung gebracht. Ziel ist es, traumatisierten Familien Lösungswege zu eröffnen, die ihnen dazu verhelfen können, nach erlittener Traumatisierung ein möglichst symptomfreies Leben zu führen. Neu ist, dass hier praxisorientiert beschrieben wird, wie Eltern und Kinder gemeinsam von Beratung oder Therapie profitieren können. Im ersten Teil werden neben historischen Aspekten der Psychotraumatologie die Ressourcen und Selbsthilfekräfte von Familien erläutert. Anhand von Beispielen wird erörtert, wie Familien und Paare nach einer Traumatisierung von außen (z. B. durch Unglücke, Krieg und Bürgerkrieg, frühkindliche Traumatisierung der Eltern, Tod eines Elternteils, traumatische Erfahrungen bei Pflegekindern) in Beratungsstellen unterstützt werden können. Im zweiten Teil des Buches werden systemtherapeutische Lösungswege im Bezugsrahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Die Konzepte der parentalen Hilflosigkeit und der kotraumatischen Prozesse bilden die Grundlage für detailliert beschriebene systemische Interventionen in der Therapie mit komplex traumatisierten Familien, in denen die vermeintliche Traumabewältigung von Einzelnen zur traumatischen Belastung für andere Familienmitglieder wird. Auch hier werden die theoretischen Vorüberlegungen durch Praxisbeispiele verdeutlicht. Vorworte von Gerald Hüther und Wilhelm Rotthaus leiten den Band ein.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Juni 2016
ISBN9783647996288
Traumatischer Stress in der Familie: Systemtherapeutische Lösungswege

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    Buchvorschau

    Traumatischer Stress in der Familie - Alexander Korittko

    Erster Teil: Traumatischer Stress,

    der von außen auf Familien einwirkt

    Stress als Bestandteil familiärer Entwicklung

    Every picture has its shadows, and it has some source of light.

    Blindness, blindness and sight.

    (Joni Mitchell)

    Wir alle erleben Stress. Stress ist eine natürliche Reaktion auf Herausforderungen, auf Spannung, Druck oder Veränderung, aber auch auf Sorgen, Kummer oder Erschöpfung. Der Begriff geht zurück auf den Mediziner Hans Selye, einem Pionier der Stressforschung in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Er untersuchte die Folgen von punktuellem und chronischem Stress und wies schon nach, dass auf jede Anspannungsphase eine Entspannungsphase folgen muss, damit wir nicht krank werden. Heute weiß man, dass das Maß an Bedrohlichkeit von Stress auch von kognitiven Bewertungsprozessen bestimmt wird. Stress ist also auch eine Interaktion zwischen der individuellen Person und der Umwelt, die durch Einstellung und Erfahrung beeinflussbar ist. Man geht sogar davon aus, dass eine gewisse Dosis an Stress und Spannung notwendig ist, damit das Leben dadurch interessant bleibt, dass wir uns Herausforderungen stellen, die wir meistern. Dieser »gute« Stress wird Eustress genannt. Aber Stress kann auch krank machen, wenn der Körper fast ständig in erhöhter Alarmbereitschaft steht und es nicht ausreichend zu Entspannungsphasen kommt. Dieser »schlechte« Stress heißt Disstress. Eustress sollte zu erfolgreicher Bewältigung führen, Disstress sollten wir vermeiden. Die spezifischen äußeren Reize, die zu Stress führen, sind die so genannten Stressoren. Stressoren können physikalischer Natur sein, wie zum Beispiel Kälte, Hitze, Lärm. Sie können aber auch aus psychischen Belastungen entstehen, wie zum Beispiel Erwartungshaltungen und Befürchtungen. Ein Leben ohne Stress kann nicht gesund sein, zu viel Stress macht krank. Menschen benötigen Spannung und Entspannung als biologisches und psychologisches Grundprinzip.

    Nicht jeder Stress stellt eine traumatische Belastung dar. Belastungen verschiedener Art in Form von Enttäuschungen, Zurückweisungen, Frustrationen, eigenem Versagen usw. sind unvermeidbar und gehören zum Leben eines jeden Menschen. Auch oder gerade weil sie unbequem und anstrengend sind, ermöglichen sie als individuelle oder familiäre lebensgeschichtliche Herausforderung konstruktive Anpassungsprozesse und die Aneignung neuartiger Bewältigungsstrategien. Stress ist also ein natürliches Element von familiärer Entwicklung. Jede Familie wird in ihrer (Über-)Lebensqualität sowohl von Familienmitgliedern als auch von Außenstehenden daran gemessen, wie sie mit dem Stress, der großen und kleinen Veränderungen innewohnt, umgehen kann. Ist er Eustress oder Disstress? Es ist relativ einfach, in einer stressfreien Zeit als Paar oder Familie miteinander auszukommen. Obwohl es beispielsweise auch während eines Urlaubes an der türkischen Ägäis in einer Familie zu stressvollen Situationen kommen kann, wenn entschieden werden muss, ob man den Tag lieber mit einer interessanten Wanderung oder einer Bootsfahrt mit Barbecue verbringt, erleben die meisten von uns doch gerade die Urlaubszeit als erholsam und stressfrei. Im Alltag begegnet uns Stress häufiger und es ist es schwieriger, ihm aus dem Weg zu gehen.

    Familien scheinen am besten zum Wachstum aller Familienmitglieder beizutragen, wenn sie auf Veränderungen flexibel reagieren können. Solche Veränderungen können ganz plötzlich und unerwartet erforderlich sein. Wenn zum Beispiel eine Aufgabenteilung zwischen dem Vater und der Mutter verabredet war, die im Falle einer Krankheit oder durch den Tod eines Elternteils nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, kann die Familie dann besser überleben, wenn der andere Erwachsene diese Aufgabe übernehmen kann oder wenn in der erweiterten Familie andere Menschen zur Verfügung stehen, die hilfreich zur Seite stehen.

    Es gibt aber auch Veränderungen, die jede Familie betreffen. Die Entwicklung einer Familie und ihrer einzelnen Familienmitglieder verläuft natürlicherweise in ihrem jeweiligen sozialen, ethnischen und religiösen Kontext – sie unterliegen auch den jeweils gültigen kulturellen Normen. Sie findet in Entwicklungsstadien mit unterschiedlichen Lebensphasen statt (familiärer Lebenszyklus). Übergangsstadien von einer Lebensphase in eine andere können dann am besten bewältigt werden, wenn alle Familienmitglieder sich von alten Verhaltensmustern lösen und mit neuen Mustern experimentieren, bis sie eine Form gefunden haben, die der neuen Lebensphase entspricht. Solche Veränderungen sind zwar vorhersehbar, lösen aber oft trotzdem Stress aus. Familien, die rigide an den Mustern der vorherigen Lebensphase hängen bleiben, bewältigen die Übergänge ebenso wenig wie Familien, die neue Muster vorschnell installieren wollen.

    Eine Familie, die sich mit jugendlichen Kindern noch ebenso verhält, als seien die Kinder im Grundschulalter, sich also nicht den entwicklungsbedingten Veränderung anpasst, den Kindern keine neuen Freiräume gewährt und sie nicht mit gleichaltrigen Jugendlichen Zeit ohne Erwachsene verbringen lässt, wird als dysfunktional eingeschätzt. Die Jugendlichen reagieren auf solche Regeln typischerweise mit »Wir sind doch keine Babys mehr«. Wenn Eltern beispielsweise ihren jugendlichen Kindern untersagen, sich ohne ihre Begleitung von der familiären Wohnung zu entfernen, wird diese Familienregel in unserem Kulturkreis zu massiven Auseinandersetzungen führen, innerhalb der Familie und zwischen den Eltern und Freunden oder Verwandten.

    Sind die Kinder tatsächlich im Vorschulalter und die familiären Regeln scheinen eher zu einer Familie mit Jugendlichen zu passen, werden die Eltern ebenso mit großer Wahrscheinlichkeit nach innen und nach außen mit Stress zu rechnen haben. Wenn sich zum Beispiel Fünfjährige tagsüber ohne Aufsicht durch Erwachsene in der Wohnung oder auf der Straße aufhalten oder permanent entscheiden sollen, wann sie schlafen gehen, wann sie etwas essen und wann sie fernsehen, werden sie vielleicht durch Symptome auf einen Mangel an Struktur gebenden Regeln aufmerksam machen.

    Damit Familien überleben können, müssen sie eine Reihe von Stressoren meistern, die ihre innere Dynamik in ein momentanes Ungleichgewicht bringen. In der Familienforschung werden zwei unterschiedliche Gruppen von Herausforderungen genannt: vertikale Stressoren und horizontale Stressoren (Carter u. McGoldrick, 1988, siehe Abb. 1).

    Abb. 1: Stressoren im familiären Lebenszyklus (nach Carter u. McGoldrick, 1988)

    Vertikale Stressoren wirken fortwährend auf die Familie ein, gleichgültig in welcher Entwicklungsphase sie sich befindet. Es sind die familiären Regeln, Verhaltensmuster, Mythen und Geheimnisse, die permanent dazu führen können, in der betreffenden Familie Stress auszulösen. Regeln können offen oder verdeckt die Interaktion der Familienmitglieder untereinander, also deren Verhaltensmuster, beeinflussen. Die Regel »Mutter muss geschont werden« kann zum Beispiel in einer Familie mit einer psychosomatisch erkrankten Mutter zu erheblichem Stress führen und die gemeinsame Entwicklung über einen langen Zeitraum erheblich einschränken. In anderen Familien könnte die Regel »Mutter muss gefordert werden« allerdings einen ähnlichen Effekt haben. Jede über lange Zeit einzuhaltende starre Regel führt zu Stress.

    Mythen bezeichnen unumstößliche Aussagen über die Familie, die offen ausgesprochen werden, es bleibt jedoch im Dunkeln, wie diese Mythen entstanden sind. Jeder Mythos, wie beispielsweise »Wir haben immer Pech«, stellt in jeder neuen Entwicklungsphase eine besondere Herausforderung dar, wie im Übrigen auch der Mythos »Wir haben immer Glück«. Ähnlich verhält es sich mit Geheimnissen, deren Inhalt zwar nahezu jedes Familienmitglied kennt, der aber nicht offen ausgesprochen wird. Ein Beispiel für ein familiäres Geheimnis wäre eine kriminelle Karriere, ein Suizid oder ein andere »Verfehlung« eines Familienmitgliedes, wie beispielsweise eine außereheliche Beziehung. Mythen zu bewahren und Geheimnisse verdeckt zu halten, kostet viel Kraft und löst in schwierigen Situationen enormen Stress aus.

    Auf ihrer Reise auf der Zeitachse hat jede Familie zusätzlich horizontale Stressoren zu meistern. Hierbei handelt es sich um Stressoren, die zwar vorübergehen, aber zu einschneidenden Zeitpunkten Herausforderungen an die Anpassungsbereitschaft aller Familienmitglieder darstellen.

    Am deutlichsten geschieht dies in jeder neuen familiären Entwicklungsphase. Eine Familie mit Säuglingen beispielsweise benötigt andere Fähigkeiten als eine Familie mit Kindergartenkindern. Besucht das älteste Kind die Grundschule, sind wiederum andere Qualitäten gefordert, als wenn das älteste Kind in die Pubertät kommt. Die entwicklungsbedingten Übergänge können auch an den Lebensphasen der Erwachsenen gemessen werden: junges Erwachsenenalter, Zeit der Ausbildung, frühe Berufstätigkeit, Karriere und entwicklungsbedingte Umbrüche. Übergänge von jeder Phase in die nächste sind am günstigsten durch einen Abschied von Gewohntem und einer Anpassung an neue Bedingungen zu meistern. All diese Abschiede lösen Stress aus und benötigen Zeiten der Umgewöhnung, der Neuorientierung und Stabilisierung.

    Zu den horizontalen Stressoren zählen auch die durch Scheidung bedingten Veränderungen und die durch Trennung und neue Lebenspartnerschaften veränderten familiären Lebenszyklen. Einige Menschen sind dann auf diese Weise zum Beispiel gleichzeitig in der Phase des ersten Verliebtseins und in der Phase der Betreuung von Schulkindern oder Jugendlichen. In einer Zeit, in der in den Großstädten der westlichen Industrienationen jede zweite bis vierte Paarbeziehung durch Trennung und Scheidung beendet wird, gehören die dadurch notwendigen strukturellen Veränderungen sicherlich zu den am häufigsten zu bewältigenden stressvollen Lebensereignissen.

    Eine andere Gruppe von horizontalen Stressoren stellen kritische unvorhersagbare Lebensereignisse wie zum Beispiel plötzliche Arbeitslosigkeit, die Krankheit oder der Tod eines Familiemitgliedes dar. Wie alle bisher genannten horizontalen Stressoren tragen sie die grundsätzliche Möglichkeit einer psychischen Traumatisierung in sich. Ich verwende hier zunächst den Traumabegriff im engeren Sinne: Ein Trauma ist ein Ereignis, das sich durch seine erschreckende Plötzlichkeit, durch die Unmöglichkeit von Flucht oder Gegenwehr und durch eine erhöhte Gefahr von Leib und Leben bei den Betroffenen selbst oder bei Zeugen solcher Situationen von anderen Lebensereignissen erheblich unterscheidet.

    Viele Menschen denken bei dem Begriff Trauma vielleicht zunächst an Gewaltverbrechen, an Naturkatastrophen, lebensbedrohliche Unfälle oder an innerfamiliäre Gewalt. Dies sind Traumata, die von Francine Shapiro »Big-T-Trauma« (Shapiro, 1998) genannt werden. Doch es gibt auch andere Situationen, die ebenso traumatisierend wirken können, die so genannten »Small-T-Trauma«. Die Arbeitslosigkeit eines Familienvaters ist kein Trauma (die ökonomischen, familiären und individuellen Folgen stellen allerdings erhebliche Stressoren dar). Erreicht er jedoch völlig ahnungslos das verschlossene Werkstor, vor dem seine Kollegen wütend diskutieren, und erfährt er auf diese Weise, dass die Firma in Konkurs gegangen ist, durchlebt er traumatische Momente des Schocks. Die subjektiv erlebte Bedrohung der eigenen Integrität und die plötzliche Unausweichlichkeit macht ein stressvolles Erlebnis zum Trauma. So könnte auch die plötzliche Information darüber, dass eine Familie jahrelang im Auftrag des Staates von Menschen ausspioniert worden ist, die sie bis dahin als freundliche Nachbarn erlebt hat, zu einem Trauma werden. Die Familie befindet sich zwar nicht in Lebensgefahr, doch ihr gesamtes subjektives Grundsicherheitsempfinden bricht schlagartig zusammen.

    Von einem in diesem Sinne traumatischen Ereignis – also einer Gefährdung eines Familienmitgliedes oder der gesamten Familie durch einen extremen Stressor von außen – betroffen zu sein, fordert in der Folgezeit eine enorme Flexibilität und eine erhöhte Anpassungsbereitschaft bei allen Familienmitgliedern. Die Genesung von einem Trauma fordert wesentlich intensiver die Selbstheilungskräfte aller heraus als der Umgang mit anderen familiären Stressoren. Die Auswirkungen von nicht verarbeiteten Verlusten, Tragödien und Traumen haben auf aktuelle und intergenerationale Familienprozesse massivere Auswirkungen als alle anderen Veränderungen, die sie erleben (McGoldrick u. Gerson, 1990).

    Wenn nichts mehr ist, wie es war: Trauma und Familie

    Wir denken, dass wir Erfahrungen machen,

    aber die Erfahrungen machen uns.

    (Eugene Ionesco)

    Die Neurobiologie des Traumas

    Traumatische Erlebnisse unterscheiden sich von anderen individuellen und familiären Stressoren dadurch, dass sie in ihrer außergewöhnlichen Bedrohung bei gleichzeitig nicht möglicher Flucht oder Gegenwehr die normalen Stressverarbeitungsmechanismen bei nahezu jedem überfordern.

    Erleidet ein Mensch einen emotionalen Schock oder gerät er in subjektiv erlebbare Lebensgefahr, reagiert er mit archaischen Abwehrmustern, die schneller seine Aktionen und Reaktionen bestimmen, als es ihm bewusst wird. Er denkt nicht mit den langsameren »Landstraßen« der Kortex-Region des Gehirns, sondern ein Teil des limbischen Systems mit seinen »schnellen Datenautobahnen« übernimmt die Führung. Als Erstes wird das so genannte Bindungssystem aktiviert. Wer in Gefahr gerät, sucht andere Menschen. Wer andere in Gefahr sieht, versucht zu helfen. Der Mensch als soziales Wesen wird immer wieder versuchen, von anderen Menschen Hilfe zu bekommen oder anderen zu helfen, je nachdem, wo die Gefahr wahrgenommen wird. Im zweiten Schritt versucht der Körper seine Flucht- und Kampfbereitschaft zu maximieren. Die körpereigenen Hormone Adrenalin und Noradrenalin werden ausgeschüttet und führen mit einem erhöhten Herzschlag zu einer verbesserten Blut- und Sauerstoffzufuhr im gesamten Körper. Die Muskeln werden dadurch zu Höchstleistungen bereit, alle Sinnesorgane sind geschärft: Die Augen sind hellwach, die Ohren nehmen jedes Geräusch wahr, die Nase riecht sehr viel besser als vorher. Kurz: Der gesamte Körper ist extrem in seiner Aufmerksamkeit geschärft und bereit, die Gefahr abzuwehren oder vor ihr zu fliehen. Wir sind in solchen Momenten nicht mehr die kühl nachdenkenden Menschen des 21. Jahrhunderts, sondern es werden die Kräfte in uns wach, die dem Menschen seit Jahrtausenden geholfen haben, angesichts tödlicher Gefahren zu überleben.

    Der Physiker und Neurowissenschaftler Paul MacLean geht davon aus, dass in unserem Gehirn im übertragenen Sinne drei Gehirne miteinander kooperieren müssen: das eines Krokodils, das eines Pferdes und das des Menschen (zit. nach Cozolino, 2008). MacLean nennt das Stammhirn, welches unsere grundsätzlichen Körperfunktionen wie beispielsweise Atmung, Verdauung und Durchblutung reguliert, das Reptiliengehirn, denn mit solch einem Gehirn sind schon die Reptilien ausgestattet. Die nächsthöher entwickelte Gehirnregion, das limbische System, nennt er das frühe Säugetiergehirn. Hier ähneln unsere Hirnstrukturen denen der Säugetiere. Das limbische System, vor allem die Amygdala, hilft uns, mit den grundsätzlichsten Emotionen umzugehen, hauptsächlich mit Angst. Hier werden auch Informationen gespeichert, die Gefahr signalisieren können. Die in der Evolution am spätesten entwickelten Teile des Gehirns, den Neokortex, nennt Mac-Lean das Menschengehirn. Im Neokortex können wir zum Beispiel Informationen aus der Bibliothek unserer Erfahrungen und erfolgreichen Aktionen heraussuchen und planvoll erneut anwenden. Wir können komplexe Kosten-Nutzen-Vergleiche für zukünftige Aktionen anwenden und auf vielfältige Weise neue Erfahrungen als gelerntes neues Wissen abspeichern. Die wohlüberlegten Entscheidungen des Alltags einschließlich der Einschätzung der Folgen unseres Handelns werden im Neokortex, dem kühlen Speicher, getroffen.

    Wenn aber tödliche Gefahr droht, übernimmt das limbische System die Führung. Der »heiße« Speicher der Amygdala bestimmt die Reaktionen, in uns erwacht »Rambo«. Die archaischen Notfallreaktionen von Flucht und Kampf werden aktiviert. Wenn jedoch mitten in der Flucht- oder Kampfreaktion in hundertstel Sekunden klar wird, dass dadurch das Überleben nicht gesichert ist, erstarrt der Mensch. Auch diese Reaktion ist nicht durch den Neokortex gesteuert, sondern entspricht eher der Erstarrung und Unterwerfung des Säugetiers, zum Beispiel einer kleinen Maus, die sich in der Ackerfurche tot stellt, um nicht von dem über ihr kreisenden Bussard gefressen zu werden. Während das so genannte sympathische Nervensystem in der Phase von Kampf und Flucht für eine fast übernatürliche Aktivitätsbereitschaft und Anspannung sorgt, erscheint der Mensch in der Phase der Erstarrung zusätzlich vom Parasympathikus beeinflusst äußerst starr. Es ist, als würde bei einem Auto gleichzeitig Gas gegeben und gebremst. Man kommt nicht vom Fleck. Äußerlich sind im Vergleich zum »Rambo« deutliche Veränderungen wahrzunehmen. Die Haut erscheint blass oder bleich, die Muskeln sind erschlafft, der Herzschlag ist reduziert, die Wahrnehmung nach innen und nach außen ist abgeschaltet. Die Fügung ins Unvermeidliche führt zu einer Form des Abschaltens fast aller Sinneswahrnehmungen und zur Unterwerfung. Dies ist die letzte Notfallreaktion aller Säugetiere und des Menschen. Es ist, als hätte die Evolution uns die letzte Chance der möglichen Rettung vor dem Tode mitgegeben, denn leblos erscheinende Lebewesen werden von vielen Raubtieren nicht mehr angegriffen.

    In der Phase von Kampf und Flucht und in der Phase der Erstarrung funktioniert unser Gedächtnis nicht so wie in üblicher Weise. Das ganz auf das Überleben ausgerichtete Gehirn belastet sich nicht mit unnötigen komplexen Informationen. Man spricht hier von einer peritraumatischen Dissoziation. Der Traumaforscher Bessel van der Kolk (1994, 2000) geht davon aus, dass Sinneserfahrungen in der extremen traumatischen Erregung fragmentiert gespeichert und durch eine fehlende Verknüpfung mit dem Broca-Sprachzentrum vom Zentralen Nervensystem (ZNS) nicht angemessen interpretiert werden können. Man ist »sprachlos vor Schreck«, man ist »in Mark und Bein erschüttert«, man »kann es nicht fassen«, es zieht einem »den Boden unter den Füßen weg«. Die eingeschränkte Informationsverarbeitung der »Notfallschaltung« des ZNS ist zwar in der lebensbedrohlichen Situation äußerst effektiv, da sie die gesamte zur Verfügung stehende Energie des bedrohten Menschen auf die grundsätzlichen Überlebensreaktionen (Selbstbefreiung, Gegenwehr oder Erstarrung) konzentriert. Sie führt jedoch dazu, dass die Sinneseindrücke fragmentiert, dissoziiert und lückenhaft gespeichert werden, über lange Zeit in Verbindung mit somatischen Empfindungen und affektiven Zuständen als Bild, Geruch, Geräusch, Geschmack, Gedanken oder Verhalten präsent bleiben und noch Jahre später gegenüber Erinnerungsreizen (»Trigger«) mit einer solchen Lebhaftigkeit und Bedrohlichkeit wieder so erlebt werden können, als ob die betreffende Person die damalige Erfahrung wieder gänzlich von Neuem durchlebt. Das Trauma ist nicht vergangenheitsfähig (Lamprecht, 2000). Es ist als emotionale und sensorische Erinnerung abgespeichert, aber noch nicht als episodische Erinnerung.

    Damit eine Erfahrung auf allen Ebenen eingeordnet werden kann, benötigt der Neokortex in Kooperation mit dem Hippocampus Informationen in den folgenden Bereichen: biografisches Wissen (es ist mir passiert, es ist Teil meiner Erfahrungen), episodisches Wissen (es hatte einen Anfang, einen Mittelteil, eine Ende), Wissen über eine Raum-Zeit-Orientierung (es ist damals an jenem Ort geschehen), narratives Wissen (es hat Worte, ich kann darüber eine Geschichte erzählen) und semantisches Wissen (ich kann es in seiner Bedeutung für mich einordnen, ich habe daraus gelernt). Traumatische Erfahrungen, die noch nicht integriert sind, also neurobiologisch gesprochen noch nicht im Neokortex verankert sind, sind nicht mit diesen Ebenen des Wissens verbunden. Solche Erfahrungen sind im limbischen System als sinnlos, sprachlos, permanent (überall und jederzeit), fragmentarisch und als »alles oder nichts« (es bestimmt mein Leben bzw. es ist mir nicht passiert) gespeichert und diese unverarbeiteten Informationssplitter können jederzeit dazu führen, das das Gehirn erneut versucht, diese Erfahrung zu verarbeiten. Der Mensch erlebt in einem »Flashback« die Rückkehr in die Vergangenheit.

    Ich verdeutliche dies an einem Beispiel. Nehmen wir an, ich wäre an einem Autounfall beteiligt gewesen, bei dem das Fahrzeug, in dem ich gesessen habe, mit einem anderen Wagen kollidiert ist, der die Farbe Rot hatte. Es mag sein, dass ich noch Jahre später beim Anblick eines roten Autos derselben Marke ein merkwürdiges Zittern entwickele, vielleicht auch zusammen mit einer unerklärbaren Angst. Mein Körper hätte in diesem Fall auf den Anblick dieses Autos als »Trigger« mit der Körperempfindung und dem Gefühl reagiert, die in Verbindung mit dem damaligen Unfall gespeichert waren, lange bevor mein Neokortex jetzt die Parallele (gleiches Auto, parkt) erkannt, analysiert und als ungefährlich identifiziert hätte. Bei den Folgen einer Traumatisierung handelt es sich also um eine Kombination aus Erinnerungen, die im Körper gespeichert sind, und um Phänomene von unangemessener Bewertung, wenn diese Erinnerungen durch Eindrücke von außen, die als Erinnerungsauslöser wirken, wieder lebendig werden. Hier steuert ein Teil unseres Gedächtnisses unabhängig von Sprache und Bewusstsein unsere Handlungen.

    Gerald Hüther et al. (2010) sprechen bei solchen Erinnerungen aus der Furchtstruktur unseres Gehirns von so genannten affektmotorischen Mustern, die nur ganzheitlich abgerufen werden können, weil sie sich ganzheitlich als »Fahrstuhlschacht« auf den drei Ebenen des Gehirns (z. B. erste Gefahren wahrnehmende Gedanken im Neokortex, »Ich bin verloren«, Emotionen im limbischen System, »Todesangst«, und Körperreaktionen im Stammhirn, »Zittern«) eingebrannt haben. Wird der Betroffene auch nur ansatzweise an sein Trauma erinnert, rauscht er ungebremst in diesem neuronal gebahnten »Fahrstuhlschacht« durch die drei Ebenen des Gehirns und erlebt in Bruchteilen von Sekunden die heftigsten körperlichen Reaktionen auf der Ebene des Stammhirns, begleitet von starken emotionalen Reaktionen (limbisches System) und negativen Selbstüberzeugungen (Neokortex) (siehe Abb. 2).

    Abb. 2: Ebenen des Gehirns und Traumaschacht (nach Hüther, mod. Korittko)

    Bessel van der Kolk (2007) nennt die jederzeit wieder auftauchenden Handlungsmuster eingefrorene somatische Zustände, die in der Gesamtheit des Körpers existieren. Er stimmt mit vielen Forschern überein, wenn er annimmt, die traumatischen Erinnerungen blieben in den nonverbalen, nicht bewussten und subkortikalen Regionen des Gehirns stecken, die keine Verbindung zu den verstehenden, denkenden und vernünftigen Teilen des Gehirns haben. Die Behandlung muss daher die Körpererfahrungen und Handlungen integrieren, die feststecken, sodass die Menschen wieder ein Gefühl von Effektivität im Einklang mit ihrem Organismus erleben.

    Traumatisierte erstarren, explodieren oder engagieren sich in irrelevanten Handlungen. Bei einer solchen chronischen Überaktivität der subkortikalen Regionen kann nur eine kortikale Kontrolle diese selbstverstärkenden Kreisläufe unterbrechen. Die nicht sprachlich gespeicherten Eindrücke müssen in einer symbolischen Form (z. B. als Bild, als Metapher, als imaginierter Film) dem Bewusstsein zugänglich gemacht werden. Auf diese Weise kann die heftige Erregung, die in einer direkten Konfrontation entstehen würde, als kontrollierbar erfahren werden, weil der angstinduzierende Kontext fehlt. Der positive Effekt liegt bei einer traumaorientierten Therapie also nicht in einer Konfrontation mit dem Trauma und einer Entladung der unterdrückten Gefühle (Katharsis), sondern in einer korrigierenden emotionalen Erfahrung des eigenen Körpers (Korittko, 2013).

    Die Posttraumatische Belastungsstörung

    Ein psychisches Trauma ist eine Verletzung der Seele. Sie geht aus systemischer Sicht mit einem Zusammenbruch sozialer Unterstützung einher und kann eine Posttraumatische Belastungsstörung zur Folge haben. Leonore Terr unterscheidet zwischen akuten einmaligen Traumata (Typ I) und chronischen mehrfachen Traumata, die über lange Zeit anhalten (Typ II) (Terr, 1995). Bei beiden Typen kann man zusätzlich eine Unterscheidung treffen, ob Traumata durch andere Menschen herbeigeführt worden sind oder nicht. Die Posttraumatische Belastungsstörung stellt nur eine von vielen möglichen Folgen einer Traumatisierung dar.

    Im DSM-5 (»Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders«) der American Psychiatric Association sind für Menschen, die älter als sechs Jahre sind, folgende Diagnosekriterien für eine Posttraumatischen Belastungsstörung aufgeführt: Die Betroffenen waren Tod oder Todesbedrohung, schwerwiegenden Verletzungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt, und zwar

    1. durch direktes Erleben;

    2. durch persönliches Miterleben, wie anderen ein solches Ereignis zustößt;

    3. durch Information, dass ein solches Ereignis einem engen Familienmitglied oder engen Bekannten zugestoßen ist, wobei im Todesfall ein gewaltsames Ereignis oder ein Unfall geschehen ist;

    4. durch extreme Konfrontation mit aversiven Details des traumatischen Ereignisses.

    Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird im DSM-5 gemeinsam mit der Akuten Belastungsstörung, den Anpassungsstörungen und ähnlichen Erkrankungen in einem neuen Kapitel, den so genannten »Trauma and Stressor-Related Disorders«, aufgeführt (APA, 2013).

    Im ICD, der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« der Weltgesundheitsorganisation, wird ein Trauma als ein kurz- oder lang anhaltendes Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß definiert, das bei nahezu jedem eine tief greifende Verzweiflung auslösen würde (WHO, 1991).

    Gottfried Fischer erkennt ein psychisches Trauma als ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer u. Riedesser, 1999, S. 79).

    Für die Therapie der PTBS stellt Guido Flatten im Vorwort zu den 2013 überarbeiteten Leitlinien zur Posttraumatischen Belastungsstörung fest: „Als Standard kann inzwischen auch im internationalen Vergleich die Dreigliederung der Behandlungsplanung in eine Phase der Stabilisierung (Abklärung von Stabilität), der Traumabearbeitung und der psychosozialen Reintegration/Neuorientierung benannt werden" (Flatten et al., 2013, S. VIII). Thomas Ehring erkennt, dass traumafokussierte Verfahren in ihrer Wirksamkeit eine höhere Effektstärke zeigen als nicht traumafokussierte Verfahren (Ehring, 2014).

    In der Klassifikation des DSM und des ICD werden drei Symptomgruppen aufgeführt, die mindesten acht Wochen nach dem auslösenden Ereignis vorhanden sein müssen, damit eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert¹ werden kann:

    1. Ungewünschtes Wiedererleben (Intrusionen):

    a. Alpträume,

    b. lebendige Nachhallerinnerungen (Flashbacks),

    c. Grübeln (oft über die eigene Schuld).

    2. Vermeidungsverhalten (Konstriktionen):

    a. Vermeiden, daran zu denken, daran erinnert zu werden,

    b. Vermeiden von Erinnerungsauslösern,

    c. soziale Isolation,

    d. emotionale Empfindungslosigkeit (»numbing«),

    e. Alkohol- oder Medikamentenabusus.

    3. Erhöhte vegetative Erregbarkeit (Hyperarrousal):

    a. Schlafstörungen,

    b. körperliche Unruhe,

    c. somatische Erkrankungen.

    Bei Kindern zeigt sich Wiedererleben auf der Handlungsebene in wiederholtem Spiel, Alpträume sind noch diffus. Kindertypisches Vermeidungsverhalten kann sich auch in einer Form von Trance zeigen, einem kognitiven Stil des Vergessens. Auch der Dialog mit Phantasiegefährten kann eine Form dissoziativer Symptombildung zum Selbstschutz sein. Die vegetative Übererregbarkeit zeigt sich bei Kindern zusätzlich in Wutausbrüchen, Konzentrationsstörungen, motorischer Hyperaktivität und übertriebenen Schreckreaktionen (siehe auch bei Schepker, 1997).²

    Für die zu erwartende neue Version (ICD-11) schlägt die Arbeitsgruppe um Marylene Cloitre und Andreas Maercker für die Traumafolgestörungen eine Unterteilung in PTBS und Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) vor. Bei der KPTBS kommen zu den Symptomgruppen der PTBS (Wiedererleben, Vermeidung, Übererregung des Körpers) drei zusätzliche Symptomgruppen dazu, die fehlende Affektkontrolle, ein negatives Selbstbild und extreme Probleme in Beziehungen beinhalten (Cloitre, 2014).

    Die Störung ist dann besonders ausgeprägt, wenn das Trauma nicht durch Naturkatastrophen, sondern durch Menschen verursacht wurde und wenn dabei gezielt eine Erniedrigung und Zerstörung des Selbstwertgefühls der Betroffenen angestrebt wurde oder durch die Beseitigung aller kommunikativer Strukturen eine totale Isolation geschaffen wurde. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist umso ausgeprägter, je größer die eigene Gefährdung und Betroffenheit war, je mehr Todesgefahr und Verletzung direkt erlebt wurde, je enger und intimer die Beziehung zum Täter war und je länger das traumatische Geschehen andauerte.

    Traumaerinnerungen sind nicht in das biografische Gedächtnis integriert, sondern führen als Intrusionen ohne Kontrolle durch die höheren kortikalen Strukturen des Gehirns quasi ein »Eigenleben«. Sie sind bruchstückhaft, werden durch ähnliche sensorische Ereignisse ausgelöst und sind nicht in Raum und Zeit verortet. Betroffene erleben sie als gegenwärtiges Geschehen. Traumatisierte schwanken in Wellenbewegungen zwischen ungewünschter Wiedererinnerung und emotionaler wie situativer Vermeidung hin und her. Die Bewältigungsversuche wirken sich dabei problemstabilisierend aus: Gedankenunterdrückung, Vermeidung und übertriebene körperliche Wachsamkeit als Vorsichtsmaßnahme führen zu ausschließlich traumafokussierten kognitiven Prozessen, emotionalen Befindlichkeiten und den daraus resultierenden Verhaltensmustern. Nach Guido Flatten (2003) muss in der Therapie dafür gesorgt werden, dass neben den traumadeterminierten Mustern weitere Körper-Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster (KKEV-Muster) stabilisiert werden, die sich deutlich von den Traumamustern unterscheiden. Das könnte beispielsweise eine Vergegenwärtigung und Verankerung von positiven Lebensereignissen sein oder eine Vergegenwärtigung von unterstützenden sozialen und familiären Beziehungen. Sind ausreichend Ressourcen etabliert, kann unter angstfreien Bedingungen eine Annäherung an die traumatischen Erlebnisse erfolgen. Dabei sollen veränderte emotionale und vegetative Bedingungen ein Umlernen und damit eine Entkoppelung von fixierten KKEV-Mustern ermöglichen. Die bestehenden neuronalen Vernetzungen werden durch neue Erfahrungen und Bewertungen ergänzt und erweitert. Hierbei hat sich die imaginierte (in sensu) Rekonfrontation gegenüber einer realen Konfrontation durchgesetzt, das heißt, man muss nicht unbedingt noch einmal an den Ort des Geschehens zurückkehren. Auch eine Auseinandersetzung mit einem phantasierten »alten Film« und die dabei zu erarbeitende Neubewertung des damaligen Verhaltens können zur Integration eines traumatischen Erlebnisses führen.

    Gelingt eine Integration des Traumas, wie oben beschrieben, nicht, können interne oder externe Stimuli als Triggerreize das Leben lang traumatische Erinnerungen anstoßen, die bezüglich der sensorischen und emotionalen Intensität einem Wiedererleben der ursprünglichen Erfahrung sehr nahe stehen. Die in der traumatischen Situation entstandenen und durch nicht gelungene neuronale Verdauung gefestigten Netzwerke im Gehirn können immer wieder auf Gedankenebene (präfrontaler Kortex), auf Gefühlsebene (limbisches System) oder auf Körperebene (Stammhirn) aktiviert werden. Und jedes Mal werden die damit verbundenen Netzwerke ebenfalls aktiviert. Ein nicht bewältigtes Trauma persistiert so, als wenn es immer wieder passiert.

    Der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin Lutz Ulrich Besser, erfahrener Traumaexperte und Gründer eines bedeutenden Trauma-Weiterbildungsinstituts in Niedersachsen, listet auf, wie der Volksmund die vier Grunderfahrungen eines Traumas benennt:

    –  »Es zieht mir den Boden unter den Füßen weg« bedeutet: Ich brauche Halt in Beziehungen, weil mein eigener Boden so wackelig geworden ist.

    –  »Ich kann es nicht fassen« bedeutet: Es übersteigt meinen bisherigen Erfahrungshorizont. Ich brauche Menschen, die mir bei der Einordnung helfen.

    –  »Es verschlägt mir die Sprache« bedeutet: Mein Gehirn ist sprachlos, ich brauche Hilfe bei der Suche nach Worten, um das Unfassbare zu begreifen und um mich mitzuteilen.

    –  »Es erschüttert mich in Mark und Bein« bedeutet: Mein Körper befindet sich im Ausnahmezustand. Ich brauche Hilfe dabei, mein Nervensystem (Mark) und meinen gesamten Organismus (Bein) wieder in einen funktionalen Zustand zu reorganisieren.

    Generationsübergreifende Perspektiven

    Trauma hat einen infektiösen Charakter, es wirkt wie ein »chronisches Gift« innerhalb von familiären Beziehungen und über Generationen hinweg (Lempa, 2000). Robert Neuburger beschreibt, wie traumatische Erlebnisse von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden und damit auch die mit ihnen verbundenen emotionalen Probleme (Neuburger, 2007). Franz Ruppert (2005) geht davon aus, dass eine schwere traumatische Erfahrung über mehrere Generationen einwirkt, weil die menschliche Psyche ein Mehrgenerationensystem sei. Die in einer Generation erlittene Traumatisierung führt häufig zu Beziehungs- und Bindungsstörungen, die wiederum die Wahrscheinlichkeit von Traumatisierung in der nächsten Generation erhöhen. »Die Traumatisierungen haben sich häufig offenbar schon im Leben der Mutter oder im Leben des Vaters ereignet, die Geheimnisse, die eine Familie bewahrt, das Unrecht, für das die Familie sich schämt, stammen aus der Generation der Eltern oder Großeltern« (Troje, zit. nach Ruppert, 2005, S. 28).

    Welche Auswirkungen Kriegstraumatisierungen aus dem Zweiten Weltkrieg auf die Familien in Deutschland gehabt haben können, auch wenn nicht darüber gesprochen wird, verdeutlicht Wolfgang Schmidbauer. Er beschreibt familiäre Muster, in denen die traumatisierten Eltern sich Lebensfreude und Zuversicht gegenüber äußerst skeptisch, wenn nicht sogar überkritisch verhalten (»Das dicke Ende kommt noch«) und die an die depressiven Eltern gebundenen Kinder funktionalisiert werden. Ihnen ist der Raum, in dem sie spielen und sich erproben können, versagt. Ihnen ist in einer nach ökonomischer Sicherheit strebenden Elterngeneration unter Mahnungen und ständigen Vorsichtsmaßnahmen die Unbekümmertheit verloren gegangen (Schmidbauer, 2008a). Diese Kinder, die so genannten 68er, seien bestrebt gewesen, sich von der Elterngeneration zu lösen, da sie so gut wie keine Identifizierungsmöglichkeiten bot. Die 68er-Kinder wiederum seien dann verwöhnt, überbehütet und von ihren überambitionierten Eltern zu wenig auf das Leben vorbereitet worden und dadurch zu einer ängstlichen, verunsicherten Generation geworden (Schmidbauer, 2008b). Der Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung, so Schmidbauer, sei die Kriegsgeneration.

    Werner Bohleber führt zusammenfassend fünf Charakteristika an, die eine transgenerative Übermittlung von Trauma, Gewalt, Verlust und Schuld kennzeichnen:

    1. Die Geschichte der Eltern dringt durch eine unbewusste identifikatorische Teilhabe an der vergangenen traumatischen Lebenszeit der Elterngeneration in die Psyche der Kinder ein.

    2. Das Kind identifiziert sich mit den narzisstisch bedürftigen Eltern und die Eltern funktionalisieren das Kind zur Regulierung ihres prekären Gleichgewichts.

    3. Im dynamischen Unbewusstsein des Kindes haben sich die verschwiegenen oder totgesagten Inhalte der Eltern wie ein »Geheimnis« eingenistet, eigene Gefühle und eigenes Verhalten entpuppen sich als entlehnt und gehören eigentlich der Geschichte der Eltern an.

    4. Indem diese Kinder in zwei Welten leben, ist die Vergangenheit mit der Gegenwart vermischt.

    5. Die Autonomieentwicklung des Kindes ist in wichtigen Bereichen seiner Persönlichkeit unterbrochen und gestört (Bohleber 1998, S. 262 f.)

    Astrid von Friesen hat die psychischen Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener untersucht. Sie gelangt zu der Erkenntnis, dass viele Kinder der deutschen Flüchtlinge emotional für das Überleben der Eltern sorgen mussten (Parentifizierung), einen Verlust von Rollenklarheit und stabilen Identitäten kompensiert haben und die Verleugnung von Trauer bei einer generellen Narkotisierung von Gefühlen als familiäres Muster übernommen haben (von Friesen, 2000).

    Anne-Ev Ustorf hat das in der Forschung als »Generationentransfer« bekannte Phänomen, das zunächst bei Kindern von Holocaust-Überlebenden und später bei Kriegskindern beobachtet wurde, näher untersucht. Sie zeigt, dass diese Prägungen nicht unauslöschlich sein müssen. Häufig gelingt es Betroffenen, sich in einem Distanzierungsprozess von der Last der Elterngeneration zu befreien (Ustorf, 2008).

    Es scheint im Gegensatz hierzu, als habe die Last eigener traumatischer Kindheitserfahrungen Einfluss auf das gesamte Leben. Seitdem die Ergebnisse der so genannten ACE-Studie (»Adverse Childhood Experiences Study«) bekannt wurden, ist der Zusammenhang zwischen frühkindlicher Traumatisierung und körperlicher Gesundheit im Erwachsenenalter dokumentiert. Im Rahmen einer groß angelegten Versicherungsstudie hatten Vincent Felitti und sein Team nach belastenden Kindheitserlebnissen vor dem 18. Lebensjahr gefragt und festgestellt, dass Menschen, die in ihrer Kindheit immer wieder innerfamiliärer Gewalt ausgesetzt waren, wiederholt in ihren Versorgungsbedürfnissen massiv vernachlässigt wurden oder häusliche Gewalt beobachten mussten, dauerhaft und vorhersagbar noch im Erwachsenenleben die »Narben« dieser Qualen trugen. In der ACE-Studie konnte nachgewiesen werden, dass sich schädliche Kindheitserfahrungen hochsignifikant nicht nur auf die seelische Gesundheit im Erwachsenenalter auswirken, sondern auch auf die körperliche Gesundheit. Erlebnisse wie frühe Verluste von Bindungspersonen, Suchterkrankungen oder psychiatrische Erkrankungen bei den Eltern, fortlaufende Demütigungen und Entwertungen, körperliche und sexuelle Gewalt sowie chronische Vernachlässigung führen zu einer dauerhaften Schädigung des Immunsystems und zu einem höheren Risiko, an koronarer Herzerkrankung, chronisch beeinträchtigter Lungenfunktion (COPD) oder Diabetes zu leiden oder einen Schlaganfall zu bekommen (Felitti, 2002).

    Auch die Stress modulierenden und Affekt verarbeitenden Systeme des Gehirns zeichnen sich, als Resultat von traumatischen Kindheitserfahrungen, durch eine lebenslange besondere Empfindlichkeit aus – eine hochsensible Wahrnehmung, Bewertung und Bewältigung von Belastungssituationen führt zur Wiederholung von Handlungen, die früher für das Überleben sinnvoll und notwendig waren, die aber im Erwachsenenleben von anderen Menschen als Fehlreaktionen beurteilt werden. Johann Caspar Rüegg fasst zusammen: »Erfahrungen, die misshandelte Kinder machen, ›gehen unter die Haut‹, sie hinterlassen psychobiologische Narben – lebenslang. Diese können sogar im Genom von Gehirnzellen eingebrannt sein, sie verändern bestimmte Gene – epigenetisch« (Rüegg, 2010, S.

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