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Psychotraumatologie: Das Lehrbuch
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eBook601 Seiten6 Stunden

Psychotraumatologie: Das Lehrbuch

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Über dieses E-Book

Bei seelischen Krankheiten wird, im klinischen Kontext sowie in der Öffentlichkeit, zunehmend von "Trauma" und "Traumatisierung" gesprochen. Zahlreiche Therapeutinnen und Therapeuten haben sich auf die Behandlung seelisch traumatisierter Menschen spezialisiert, und viele Kliniken haben "Traumastationen" eingerichtet. Zur Therapie psychisch Traumatisierter, deren Erkrankung auf überwältigende Erfahrungen zurückgeht, sind Spezialkenntnisse erforderlich. Dieses praxisorientierte, auf breiter klinischer Erfahrung beruhende Lehrbuch führt wissenschaftlich fundiert umfassend in die Geschichte, Theorie und Behandlungslehre der Psychotraumatologie ein. Es beschreibt alle relevanten Krankheitsbilder, deren Diagnostik und Therapie, und verdeutlicht, wo Weiterentwicklungen zu erwarten sind.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Nov. 2012
ISBN9783170274747
Psychotraumatologie: Das Lehrbuch

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    Buchvorschau

    Psychotraumatologie - Günter H. Seidler

    Vorwort

    Dieses Buch stellt eine theoretisch und empirisch fundierte, praxisorientierte Einführung in die Psychotraumatologie da.

    Die Betonung liegt dabei auf »praxisorientiert«. Wer vorwiegend an aktuellen empirischen Forschungsergebnissen interessiert ist, sei auf Originalarbeiten in Fachzeitschriften oder etwa auf das »Handbuch der Psychotraumatologie« (Seidler et al. 2011) verwiesen. Aus »praktischer« Sicht gilt es auch mitunter, Befunde und Erfahrungen darzustellen, die nicht oder noch nicht mit statistisch-empirischen Methoden untersucht wurden oder mit statistisch-empirischen Befunden kongruent sind, die sich aber in der Praxis bewährt haben.

    Das vorliegende Buch wendet sich an erfahrene wie auch angehende Ärztinnen und Ärzte, Psychologen und Psychologinnen und weitere Zugehörige der psychosozialen bzw. helfenden Berufe, die in ihrem beruflichen Alltag seelisch traumatisierten Patientinnen und Patienten begegnen.

    Gegenüber dem genannten Interessentenkreis verfolgt das Buch vier Ziele:

    Fachlich fundierte Informationen darüber zu vermitteln, um was es sich bei der Psychotraumatologie handelt;

    die Leser und Leserinnen zu befähigen, eine eigene fachlich abgesicherte Einschätzung treffen zu können, ob es sich beim Leiden eines bestimmten Menschen um eine seelische Traumatisierung handelt¹;

    die Leserschaft zudem dazu befähigen, eine kenntnisbasierte Haltung einem traumatisierten Menschen gegenüber einnehmen zu können und

    eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob ein traumatisierter Mensch auf der Grundlage der auch mithilfe dieses Buches erworbenen Handlungskompetenz beraten bzw. behandelt werden kann, oder ob ihm eher Anregungen zu geben sind, an wen oder wohin er oder sie sich wenden könnte.

    Diese Ziele erscheinen auch erreichbar bei Verzicht auf die Darstellung und Diskussion von Themenbereichen der Psychotraumatologie, die sowohl für sich genommen, wie auch für die Psychotraumatologie insgesamt wichtig sind, deren Einbeziehung aber den hier gewählten Rahmen einer Einführung sprengen würde.

    Allerdings war insbesondere die Entscheidung für eine Schwerpunktsetzung auf Störungsbilder statt einer Diskussion von bestimmten Gewaltformen mit ihren Folgen nicht leicht. Die möglichen Krankheitsbilder etwa nach Vergewaltigung, häuslicher Gewalt, Kriegseinsatz, Großschadensereignis, Folter und – bei anderer Dimension und Form der Gewalt keinesfalls folgenlos – Mobbing sind zwar abgehandelt, aber im Wesentlichen eben als Krankheitsbilder, insofern wieder »dissoziiert«, abgespalten vom jeweiligen Gewaltereignis. Nur einige wenige ausgewählte Ereignisse sind mit ihren Folgen dargestellt.

    Sicherlich wird manch ein Leser auch etwas vermissen, das als unverzichtbar betrachtet wird – die Thematik von Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen etwa oder von Älteren, die von Migranten und Behinderten, die von körperlich chronisch Kranken usw. Hier kann nur darauf verwiesen werden, dass dieses Lehrbuch darauf abzielt, eher Grundlagen der Psychotraumatologie und deren zentrale Themen darzustellen als eine Gesamtübersicht zu geben. In keinem noch so umfassendem Lehr- oder Handbuch kann bei dem mittlerweile erreichten Stand der Psychotraumatologie deren gesamte Fülle dargestellt werden.

    Dankbar bin ich vielen Kolleginnen und Kollegen für anregende Gespräche in den letzten Jahren, auch wenn zu einigen kein Kontakt mehr besteht, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Lehr- und Supervisionsveranstaltungen sowie insbesondere den Patientinnen und Patienten, die sich mir anvertrauten.

    Den Leserinnen und Lesern wünsche ich Freude bei der Lektüre und ein zunehmendes Interesse, sich intensiver mit den vielen Aspekten der Psychotraumatologie zu beschäftigen.

    Günter H. Seidler

    1 Wenn in diesem Buch von »traumatisiert« oder »Traumatisierung« die Rede ist, ist immer die »seelische Traumatisierung« gemeint.

    Einleitung: Metareflexion zur Psychotraumatologie

    Die Frage ist immer angebracht: In welchem Kontext stehe ich eigentlich, wenn ich dieses oder jenes tue, denke, betreibe? Es erhöht den Handlungsspielraum und die Freiheitsgrade, mit denen man sich dann hier oder da positioniert, wenn man zumindest etwas reflektiert hat: In welchem historischen Kontext steht die eigene Position, welchen Interessen dient diese möglicherweise, was könnte aus der aktuell vertretenen Position werden? Einer solchen Selbstreflexion dient diese Einleitung.

    Überblickt man die Geschichte der Psychotherapie seit der vorletzten Jahrhundertwende – Freud datierte seine »Traumdeutung« vor auf das Jahr 1900 (Freud 1900 a)¹ –, sind im Zeitablauf sich wandelnde »Schwerpunktthemen« zu erkennen, die jeweils für eine gewisse Zeit die Aufmerksamkeit der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Forschung und Praxis auf sich zogen, bis dann das nächste Thema zentral wurde. Diese Themen können auch als »Brillen« bezeichnet werden, durch die auf die Welt der Phänomene geblickt wird, oder als »Filter«, die den Wahrnehmungsbereich strukturieren und organisieren.

    Nur zur Veranschaulichung, nicht als lückenlose historische Nachzeichnung, seien einige dieser »Aufmerksamkeitsorganisatoren«, dieser »Themen« genannt.

    Die ersten Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts standen psychotherapeutisch im Zeichen des Ödipus. Die Qualität der intrapsychischen Niederschläge der triadischen Konfiguration von Mutter, Kind und Vater wurde als konstitutiv für das Gelingen der seelischen Entwicklung eines jeden Menschen betrachtet. In dem Konstrukt von Ödipalität kommt dem Vater für die seelische Strukturbildung große Bedeutung zu. Die insbesondere, aber nicht nur aus der Auseinandersetzung und der Identifizierung mit ihm hervorgehende psychische Struktur des Über-Ich ist, was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, insbesondere ein Schutz vor einer Regression in undifferenzierte Erlebens- und Funktionsweisen.

    Es ist nicht schwer, in diesem Konstrukt die Widerspiegelung eines paternalistischen Familien- und Gesellschaftsmodells zu sehen, in dem Ordnung nur durch männliche Macht vorstellbar und eine Nähe zur Weiblichkeit mit Ängsten vor Entdifferenzierung verbunden ist (Theweleit 1977, 1978) – vor allem bei denen, die die »Deutungsmacht« hatten, also bei den Männern.

    Ruth Brunswick (1940) lenkte dann die Aufmerksamkeit auf die »präödipalen Phasen der Libidoentwicklung« und thematisierte damit – noch immer innerhalb des klassischen Triebmodells – einen Bereich der menschlichen Individualentwicklung, der über mehrere Jahrzehnte im Fokus der Aufmerksamkeit stehen sollte: die Bedeutung der Beziehung eines kleinen Kindes zu seiner Mutter in seinen ersten Lebensmonaten und -jahren. In Verbindung mit den Arbeiten von Melanie Klein (1928, 1995, 1996, 1997, 2000, 2002 a, 2002 b), dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Winnicott (1949 a, b; 1951), Margaret Mahler et al. (1975) und vielen anderen wurde so langsam ein Verständnis von seelischen Entwicklungen möglich, die bei problematischen Mutter-Kind-Beziehungen zu leidvollen Akzentuierungen der Persönlichkeit des späteren Erwachsenen und zu Problemen in seiner Fähigkeit, für beide Teilhaber befriedigende Beziehungen einzugehen, führen können. Die Nennung der Vornamen von Autoren und Autorinnen erfolgt im Übrigen hier und gelegentlich später, um die Aufmerksamkeit auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Autorin/des Autors und dem Inhalt des jeweiligen Ansatzes zu lenken.

    Dieser neue Aufmerksamkeitsfokus war und ist klinisch von nicht zu überschätzender Bedeutung. Gleichwohl reflektiert er auch das Zurücktreten der realen Anwesenheit des Vaters in vielen Kindheiten, die Infragestellung seiner Bedeutung und eine beginnende Relativierung eines paternalistischen Weltverständnisses (Seidler 1994 b). Eine Reihe von Autoren (Riesman 1950; Mitscherlich 1963; Marcuse 1964) hat den Verlust der Bedeutung des Vaters beschrieben. Eine Möglichkeit der Konzeptualisierung des destruktiven Narzissmus baut auf deren Analysen auf (Seidler 1994 a, 1995c, 2000 b, 2009 b).

    Die aktuelle Säuglingsforschung (Dornes 2009; Stern 1986) wie auch die Bindungsforschung (Brisch 2009) sind ohne diese Aufmerksamkeitsverschiebung auf die erste Lebenszeit nicht denkbar.

    Insbesondere diese Hinwendung zu »präödipalen«, lebensgeschichtlich frühen Stufen der menschlichen Individualentwicklung erlaubte es, ein besseres Verständnis für Menschen zu entwickeln, die heute als »persönlichkeitsgestört« bezeichnet werden. Meistens wirken biologische Faktoren mit biografisch-lebensgeschichtlichen zusammen, etwa in dem Sinne, dass biologische Vorgegebenheiten nicht durch günstigere psychosoziale Umgebungsfaktoren kompensiert werden können.

    Von den verschiedenen Strömungen, die ihren Ursprung schon in der Frühzeit der Psychoanalyse haben und Auswirkungen auf die heutige Psychotraumatologie verdient auch die Ich-Psychologie Erwähnung.

    Diese Orientierung ist in sich wieder so differenziert, dass eine Gesamtdarstellung zu weit führte. Im Unterschied zur klassischen Psychoanalyse mit dem klinischen Schwerpunktthema des seelischen Konflikts steht in ihr das Ich (Seidler 2000 a) im Fokus der Aufmerksamkeit, seine Entwicklung und seine Funktionen, und von diesen wieder die der Abwehr.

    Von den der Ich-Psychologie zuzurechnenden Autoren ist Paul Federn (1953) in bestimmter Hinsicht ein Psychoanalytiker, der aktuelle, moderne Theorien vom Subjekt (s. dazu Reckwitz 2006) vorwegnimmt. Sein Denken ist orientiert an »Ich-Zuständen«, wobei dieses Konstrukt eine große Ähnlichkeit aufweist zu heutigen Ansätzen von Polypsychismus und Multiplizität. Die Vorstellung, dass in einer Hauthülle immer dasselbe Wesen beheimatet sei mit immer derselben Struktur und immer derselben von ihm erzählten Biografie, ist rührend schlicht, aber unzutreffend. In ► Kapitel 6.5.7 wird ein aktueller Therapieansatz dargestellt, dessen Hintergrundsannahmen auf Paul Federn zurückgehen.

    Während die Ich-Psychologie vielen Kollegen und Kolleginnen zu kognitiv, zu mechanistisch, zu normativ erschien, ging Anfang der 1970er Jahre ein Ruck durch die psychoanalytischen Ausbildungsinstitute, weltweit und mit wenig Verspätung auch in Deutschland. Es erschienen nämlich die Bücher von Heinz Kohut (1971, 1975). Bei ihm stand nicht das Ich im Mittelpunkt, sondern das erlebensnähere Selbst. In seiner »Selbstpsychologie« gelang es ihm, verschiedene bislang schwer zu verbindende Konstrukte zu verknüpfen, wobei im Mittelpunkt seines Denkens der Narzissmus stand. Die aktuelle intersubjektive Schule der Psychoanalyse (Stolorow 1991; Stolorow und Atwood 1992; Stolorow et al. 1994) fußt auf Kohuts Werk unter Einbeziehung der Erkenntnisse der neueren Säuglings- und Kleinkindforschung. Rückblickend lässt sich heute fragen, ob dem intersubjektiven Ansatz dieselbe Tendenz unterliegt, die später noch deutlicher in der ökologischen Orientierung der Psychotraumatologie in Erscheinung trat, insbesondere auch in deren therapeutischer Haltung dem Patienten gegenüber: Der Mensch wird als Teilhaber von etwas gesehen, das über ihn als Individuum hinausgeht.

    Wenige Jahre nach Kohut erschien Kernberg mit seinen Büchern (1975, 1976, 1980) in der deutschen psychoanalytischen Szene, zeitlich so dicht an denen von Kohut und konzeptuell so konträr, dass die Kohut-Kernberg-Kontroverse die Ausbildung vieler Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten der späten 1970er Jahre begleitete.

    Kernberg knüpft seinerseits an Melanie Klein an und bewegt sich innerhalb eines leicht modifizierten Triebansatzes. Umfassend beschreibt er das Krankheitsbild der »Borderline-Störung«. Das ist aus heutiger Sicht im Wesentlichen, aber nicht nur, das klinische Bild der komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung, das er auf diese Weise weit bekannt machte, aber eben unter anderem Namen und anders definiert. Aufgrund seines eigenen – triebtheoretischen – Verständnisses nämlich wurde dieses schwere Krankheitsbild von ihm ohne Bezugnahme auf eine mögliche Gewaltätiologie konzeptualisiert.

    Parallel zu der Linie von Veränderungen im theoretischen Verständnis von Krankheitsbildern und Psychodynamismen ließe sich eine andere aufzeigen, in der die Veränderungen des therapeutischen Settings beschrieben werden müssten sowie die von Interventionsformen. Dabei ginge es um die Entwicklung von Behandlungsansätzen im Mehr-Personen-Setting – von der Einzel- über die Gruppen- und Familientherapie hin zu Interventionen für ganze Organisationen –, und um Veränderungen von einsichtsfördenden »Deutungen« hin zu interaktionellen, beziehungsorientierten »Antworten« (Hoffmann 1983; Reinelt und Datler 1989; Heigl-Evers und Heigl 1983, 1987; Heigl-Evers und Nitzschke 1991). Diese Linie sei hier nur angedeutet mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit auf die Fokusverschiebung vom Einzelmenschen mit seiner Innerlichkeit zu einer immer mehr Umfeld- und später Umwelt-orientierten Sichtweise zu lenken.

    Vielleicht führte die Beschäftigung mit Problemen des Narzissmus dazu, dass sich zunächst, seit Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts (Lewis 1971) sehr zögerlich, dann mit den 1990er Jahren sehr deutlich, der Schamaffekt in den Mittelpunkt des Interesses der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten schob. Die bis Mitte der 1990er Jahre relevante Literatur ist diskutiert in dem Buch »Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham« (Seidler 1995b). Mit dieser breiten Thematisierung der Scham wird unübersehbar die der seelischen Traumatisierung vorbereitet. Fast möchte man es daran erkennen, dass Helen Block Lewis (1971) als eine der führenden Schamforscherinnen angesehen werden kann, während ihre Tochter Judith Lewis Herman (1992 b) mit dem Buch »Die Narben der Gewalt« eines der wichtigsten Traumabücher vorgelegt hat.

    Der psychotraumatologische Ansatz überwindet Unzulänglichkeiten in der Theoriebildung der klassischen Psychoanalyse. Diese fokussierte auf das Subjekt mit seinen (unbewussten, möglichen, realen) Intentionen, Aktivitäten, Wünschen, Handlungen, und, in diesem Zusammenhang sinnvoll und in sich schlüssig, auf den Schuldaffekt. Die Realität, dass jemand Widerfahrnissen passiv ausgesetzt ist, ohne dass diese eine Entsprechung in der Wunschwelt des Betroffenen haben, kann diese konzeptuell nicht recht fassen. Derartige »Erleidnisse« (Reemtsma 2008, S. 131) ohne einen ihnen entsprechenden Wunsch sind aber charakteristisch sowohl für die Scham als auch die Traumatisierung (s. dazu auch Seidler 2005).

    Unter dieser Perspektive erscheint es durchaus legitim, der herkömmlichen Psychotherapie eine Einseitigkeit zugunsten des handelnden Subjektes, nicht des erleidenden Subjektes zuzuschreiben und zu kritisieren, dass sie sich ohne Reflexion dieses Sachverhalts im gegebenen Rahmen bestehender Subjekt-Objekt-Verhältnisse bewegte. Ungeschminkter und deutlicher sind etwa Pohlen und Bautz-Holzherr (1995, 2001 a, b) mit ihrer Analyse des Machtverhältnisses zwischen Analysand und Analytiker und systemstabilisierenden Funktionen der Psychoanalyse als Therapiemethode.

    Lang ist die Geschichte der Psychotraumatologie, und sie soll hier nicht dargestellt werden (s. etwa: Figley 2006 a, b; Fischer-Homberger 1975; Micale und Lerner 2001; Sachsse et al. 1997; Seidler et al. 2008; Seidler 2009 b sowie ► Kap. 1.1 in diesem Buch). Seit der Aufnahme des PTSD-Konstrukts in das DSM-III (American Psychiatric Association 1980 a) hat sich jedenfalls die Psychotraumatologie weltweit zu einer Disziplin entwickelt, die nicht nur innerhalb der Medizin, Psychologie und Psychotherapie und in anderen Humanwissenschaften, sondern ebenfalls in verschiedenen Kulturwissenschaften das Menschenbild verändert hat. Die Thematisierung der seelischen Folgen von Gewalt ist gesellschaftsfähig geworden, wird zumindest nicht mehr offiziell belächelt. Aber was hat es damit auf sich, dass Ende des vorletzten Jahrhunderts das Konzept der »traumatischen Neurose« (Oppenheim 1889) aufkam? Seelisch traumatisierte Menschen dürfte es immer gegeben haben: Opfer von Kriegen, Überlebende von Folter, von krimineller Gewalt, von Arbeitsunfällen und von Vergewaltigungen.

    Die Ereignisse selbst sind keine Erfindung jener Zeit. Wir können wohl nur die Überlegung anstellen, dass sich entweder dann etwas als individuelle Krankheit herausbildet oder aber als individuelles Leid krankheitswertig wird, wenn die Erleidnisfolge nicht mehr sozial integriert ist, also quasi »gruppendyston« geworden ist. Wenn jemand ein bestimmtes Widerfahrnis überstanden hat und es sozial akzeptiert ist, dass auch so jemand »immer dazugehört«, fallen er oder sie nicht aus dem sozialen Kontext heraus, und vielleicht entwickelt die Person nicht einmal als Individuum Symptome. Möglicherweise bekommt sie eine bestimmte soziale Funktion zugewiesen, gilt als »erfahren« oder als etwas Besonderes. Hat er, hat sie Symptome, gibt es vielleicht, im Rahmen kollektiver Vorstellungen von Leid, Unglück und Leidfolge, kollektive Handlungen zur Heilung, seien es Geißelungen im Mittelalter, Wallfahrten oder Gottesdienste. Möglicherweise wird jemand erst dann »auffällig« – interessant, diese heutige medizinische Bezeichnung für »krank«! –, wenn eine Gemeinschaft jemanden mit bestimmten Merkmalen nicht mehr als Teil ihrer selbst begreift, diese Merkmale also »gruppendyston« geworden sind, und der Betroffene keine Nische mehr findet, in der er oder sie überleben kann, und sei es als Dorfnarr oder Dorfdepp – auch der gehörte einst dazu.

    Bei aller Blüte, die die Psychotraumatologie gegenwärtig auszeichnet, wird diese auch kritisch gesehen. Das ist nicht verwunderlich: Bei der Allgegenwart von Gewalt und der Zerbrechlichkeit der Menschen ist die zentrale Aussage der Disziplin, die seelische Gewaltfolgen thematisiert, beängstigend, behauptet sie doch nicht mehr und nicht weniger als dass im Extrem ein einziges Gewaltwiderfahrnis einen Menschen seelisch zerstören könne. Schaut man sich den Diskursverlauf an, fällt auf, dass das jeweils vergangene Thema fast immer ausschließlich zugunsten des folgenden verlassen wurde. Wer fragte und fragt etwa bei Menschen mit einer »frühen Störung« (Hoffmann 1986) nach deren Lösung ihrer ödipalen Konflikte, die diese natürlich auch haben? Und nicht nur ödipale Konflikte werden kaum noch thematisiert. Die aktuelle Rede vom Trauma scheint die von Sexualität und Leidenschaft ersetzt zu haben. Auch Triebkonflikte scheinen verschwunden. Weil Traumatisierte nichts davon haben? Was hinsichtlich Lust und Freude vorübergehend im Übrigen meist wirklich der Fall ist. Oder weil die diagnostizierenden Therapeutinnen und Therapeuten eine Brille benutzen, die außer Traumadynamik, im schlimmsten Falle außer PTSD nichts anderes mehr durchlässt? Traumatisierte sind nicht qua Trauma nur gute Menschen, ebenso wenig wie Täter nur böse Menschen sind. Wäre Letzteres der Fall, gäbe es wohl kaum Traumatisierungen in Beziehungen. Und natürlich haben psychisch traumatisierte Menschen auch ein Leben und damit auch Konflikte außerhalb ihrer seelischen Verwundung und durch diese hindurch, einschließlich der Möglichkeit zu sexuellen Wünschen. Therapeutinnen und Therapeuten sollten sehr darauf achten, nicht die Selbstdefinition der Traumatisierten mitzumachen oder gar anzubieten, die diese meist von sich haben: »Mein Leben ist Trauma, mehr gibt es nicht und mehr gab es nicht!«

    Trotzdem ergibt es einen Sinn, auf die Traumatisierung zu zentrieren. Insbesondere bei akut Traumatisierten ist es sogar sinnfrei, im vielleicht gewohnten Sinne die Diagnostik im Rahmen der Erhebung einer biografischen Anamnese durchzuführen. Da hat jemand bei einem Autounfall seine Kinder verloren, und die Therapeutin interessiert sich für die lebensgeschichtliche Entwicklung der überlebenden Mutter! Diese wird sich wohl nicht recht verstanden fühlen, wenn sie denn überhaupt zuhören kann. Sinnvoll wäre es, sich ein Bild von ihrer aktuellen Lebenssituation zu machen, von ihren Ressourcen und von weiteren gegenwärtigen und früheren extremen Belastungen. Reddemann und Sachsse (1999) haben diese Priorität des Traumas in Diagnostik und Therapie auf die Formel »Trauma first!« gebracht. Vergleichbar ist diese Orientierung mit der eines Chirurgen, in dessen Klinik ein schwer verletzter Patient eingeliefert wird. Im Hinblick auf eine anstehende Operation werden zusätzlich zum Lokalbefund die Kreislaufparameter eingeschätzt, die weitere Diagnostik anderer Funktionsbereiche wird jedoch auf später verschoben. Für die psychotraumatologische Praxis heißt das: Ein umfassender Gesamtbehandlungsplan, etwa unter Einbeziehung von Behandlungserfordernissen im Bereich einer fraglichen Persönlichkeitsstörung, sollte erst nach Behandlung des »Lokal-Befunds«, etwa einer PTSD, erstellt werden. Eine Verwundung wirkt hier wie ein Eiterherd oder eine Raumforderung und verschiebt die gesamte Statik und Dynamik des bisherigen seelischen Gleichgewichts der betroffenen Person. Erst einige Zeit nach Abschluss der Traumabehandlung ist einschätzbar, was es dann noch an Behandlungsbedarf gibt.

    Das Wissen um die ubiquitäre Gefährdung eines jeden Menschen mit der bei jedem gegebenen Möglichkeit, seelische Wunden davonzutragen, verändert das Verhältnis von Therapeut und Patient. Hier sitzen sich nicht mehr zwei Menschen gegenüber, von denen der eine meint, seine seelischen Konflikte zu kennen und ihnen nicht mehr ausgeliefert zu sein, und der andere meint oder wird veranlasst zu meinen, diesbezüglich unterlegen zu sein. In der psychotraumatologischen Therapie geht es stattdessen um gemeinsam geteilte existenzielle Grundthemen, etwa um Endlichkeit, um das Erleben von Ausgeschlossensein und Entfremdung, was jeden treffen kann, um Bedrohung durch Vernichtung und Tod. Das Lutherische »Tua res agitur!« bekommt hier einen neuen Inhalt und eine akute Schärfe; einer von beiden ist wirklich mit seiner Auslöschung in Berührung gekommen, sein Leben und seine Zukunft stehen auf dem Spiel. Auch wenn die Therapeutin oder der Therapeut über die Kenntnis von »Techniken« zur Behandlung bestimmter Traumasymptome verfügen: Er oder sie können sich in Kürze genötigt sehen, für sich selbst Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Das verschiebt die therapeutische Haltung in Richtung einer Einstellung zum Patienten »auf Augenhöhe«. Die Thematisierung solcher existenzieller Grundthemen und der Bezug auf sie ist ein »roter Faden«, der sich durch das ganze Buch zieht.

    Die Berücksichtigung existenzieller Themen verweist auf das Menschenbild der Psychotraumatologie. Die Vorstellung von der Einheitlichkeit des Subjekts, das durch überdauernde, quasi unzerbrechliche Merkmale gekennzeichnet sei, ist angesichts der fortwährend deutlich werdenden Fragilität von Menschen nicht aufrechtzuerhalten. Ein solches »Unsterblichkeitsmenschenbild« stand im Übrigen schon in der Romantik fundamental infrage und fand etwa in ihrer Doppelgängerthematisierung seinen Ausdruck (Böschenstein 1987). Menschen scheinen stattdessen »multiplex« zu sein, sich in Abhängigkeit von aktueller Situation und sowohl erlittener wie auch selbst gestalteter Vergangenheit in »Ich-Zuständen« zu befinden, in »states«, wobei ein »Trauma-state« einer von vielen möglichen ist. Damit ist auch die Frage berührt, wie die Beziehungen solcher Vielzahl von states in einem Menschen zu der in anderen Menschen konzeptualisiert werden können. Vieles ist hier noch auszuarbeiten und auf den Begriff zu bringen. Aber schon jetzt ist erkennbar: Der Psychotraumatologie unterliegt ein ökologischer Ansatz, der den Menschen als aktiven wie auch passiven Teilhaber eines gefährdeten und gefährlichen Umfelds und einer ebensolchen Umwelt versteht. Zu dieser gehören, dialektisch verschränkt, weiterhin seine Innenwelten, denn auch zu ihnen kann er sich verhalten.

    Insbesondere diese ökologische Orientierung könnte und sollte ein Antidot gegen eine Selbstüberschätzung der Psychotraumatologie, vor allem ihrer therapeutischen Möglichkeiten, sein. Dass sich die Welt beherrschen ließe, war lange eine nicht hinterfragte Überzeugung. Diese entpuppt sich zunehmend als Illusion, und von wenig fällt die Trennung schwerer als von Illusionen. Es wird immer deutlicher, dass Menschen auch »Gegenstand« sind, Teil von etwas, und dass sie vieles nicht im Griff haben und haben können. Das gilt auch für die Möglichkeit zu heilen, gesund zu »machen«. Gewalt zerstört wirklich, und nicht alle Wunden heilen. Das ist kein Plädoyer für Resignation, aber für Demut. Das aktuelle Zurücktreten der Akzeptanz der Psychoanalyse hängt sicher auch mit einer Enttäuschung an einem nicht eingehaltenen, weil nicht einzuhaltendem Heilsversprechen zusammen, das mit ihr verbunden wurde. Psychotraumatologen und Psychotraumatologinnen sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie nicht Vertreter einer Heilslehre sind!

    Jede Schule, jede Orientierung versteht sich (meist) nicht nur als den Höhe-, sondern auch als den Endpunkt der jeweiligen Geschichte. Diese Sichtweise ist ebenfalls rührend schlicht, aber Ausdruck eines Irrtums; die Geschichte geht weiter. Für welche Sicht der Dinge wird die Psychotraumatologie Vorläuferin gewesen sein?

    Wie die Diskursgeschichte der Psychotherapie wirklich weitergehen wird ist nicht abzusehen, und zu hoffen ist, dass essentials der Psychotraumatologie bei einem Wandel der Orientierung nicht verloren gehen.

    Trotzdem sei eine vorsichtige Prognose gewagt.

    Wenn es stimmt, dass krankheitswertig wird, was im oben diskutierten Sinne »gruppendyston« wird, ließe sich auf die zunehmende Aversion vieler Menschen gegen Macht und Willkür in Alltagswelten von Beruf und Familie aufmerksam machen, aber auch gegenüber denen, die Führungspositionen in Institutionen innehaben. Was hat es damit auf sich, dass Macht-Missbrauch – welcher Form auch immer – durch kirchliche und weltliche »Würden«-Träger gruppendyston wird, nicht mehr hingenommen wird und sozial akzeptiert öffentlich benannt werden darf? Vergewaltigung in der Ehe und Züchtigung von Kindern sind zum Beispiel – zumindest »offiziell« – nicht mehr ganz so akzeptiert wie noch vor Kurzem, auch wenn die wirkliche Dunkelziffer erschreckend hoch ist. Auch Vergewaltigungen durch »mächtige Männer« aus Politik und öffentlichem Leben hat es immer gegeben, scheinen aber immer weniger hingenommen zu werden.

    Gegenwärtig stehen noch die Geschädigten im Fokus der Aufmerksamkeit, und das ist auch gut so. Aber in vielleicht nur kurzer Zeit könnte die Frage aufkommen: Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Die in Macht und mit Willkür leben?

    Anders als die Psychotraumatologie ist eine andere Thematik – die bei der Beantwortung dieser Frage berücksichtigt werden muss – in Deutschland noch nicht in der Öffentlichkeit angekommen: die aktuelle Diskussion des heutigen Psychopathie-Konzepts. Ältere Kollegen und Kolleginnen verbinden damit wahrscheinlich eher ein für verstaubt gehaltenes psychiatrisches Krankheitsbild. Tatsächlich aber ist es so, dass dieses Konstrukt gegenwärtig wieder in die Diskussion kommt, immer am Leben gehalten durch die verschiedenen Ausgaben des Buches von Cleckley (1941). Es geht dabei um ein Verständnis empathiefreier Menschen, die ohne ein Gespür ihrer destruktiven Wirkung ihre Mitmenschen lediglich als Beute betrachten, die es gilt so umfassend wie irgend möglich auszuschlachten und sie gleichzeitig über derartige Absichten zu täuschen, was diesen »Beutegreifern« auch meist perfekt gelingt (Babiak und Hare 2006 b; Dammann 2007; Hare 1993; Stout 2005). Es ist gut vorstellbar, dass diese – in gewisser Weise komplementäre – Thematik der Psychotraumatologie folgen wird und/oder diese ergänzt.

    Auf diesem Hintergrund versucht dieses Lehrbuch der Psychotraumatologie einiges von dem festzuhalten, was gegenwärtig den Stand ihres Wissens und ihrer Kunst darstellt. Es ist die Aufgabe jeder Generation, sich das zu eigen zu machen, weiterzuentwickeln und zur Tradierung auszuwählen, was die Weitergabe lohnt. Das Feuer muss weitergegeben werden, nicht die Asche.

    1 Die Arbeiten von S. Freud werden entsprechend der »Freud Bibliographie mit Werk konkordanz« (Meyer Palmedo und Fichtner 1975) zitiert.

    1 Einführung in Geschichte und zentrale Themen der Psychotraumatologie

    1.1 Die Eisenbahn, der Vietnamkrieg und die Frauenbewegung: Stationen der Entwicklung eines Krankheitsmodells

    Das, was wir heute »Traumafolgestörungen« nennen, dürfte es schon immer gegeben haben. Naturkatastrophen, große Hungersnöte und gewaltige Epidemien, Kriege, das, was wir heute »Arbeitsunfälle« nennen, Macht, die noch unverhüllter als gegenwärtig mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt wurde, und Gewalt gegen Frauen und Kinder dürften allgegenwärtig gewesen sein. Eindrucksvoll ist der Versuch von Shay (1995), das Schicksal amerikanischer Vietnam-Veteranen auf dem Hintergrund des klassischen Stoffs der Ilias zu lesen und umgekehrt die Situation und das Erleben von deren Protagonisten Achill in Konzepten heutiger psychotraumatologischer Krankheitslehre zu beschreiben. Biologische Reaktionen auf Todesangst dürften weitgehend kulturinvariant ablaufen.

    Die Geschichtsschreibung der Psychotraumatologie allerdings reicht nicht viel weiter zurück als bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts (Fischer-Homberger 1975; Micale und Lerner 2001). Die Zeit davor ist medizinhistorisch unter einer Traumaperspektive kaum untersucht. Seidler und Eckart (2005 a) gehen einen anderen Weg in ihrem Versuch, Grundlagen einer historischen Traumaforschung zu legen, indem sie fragen, welche Auswirkungen Gewalterfahrungen auf verschiedene Systeme und Orientierungen in einer Gesellschaft haben. Diese Fragestellung ist aber zu unterscheiden von dem Versuch, die Geschichte einer bestimmten Disziplin – hier: die der Psychotraumatologie – zu schreiben. Die historische Traumaforschung ist vielmehr ein neuer Ansatz innerhalb der Psychotraumatologie, der überpersönliche Auswirkungen von individuellen Gewalterfahrungen vieler Menschen auf kulturelle Phänomene untersucht.

    Die Beschreibung der für die heutige Psychotraumatologie relevanten Krankheitsbilder beginnt im 19. Jahrhundert. Diese Zeit ist durch eine rasante Industrialisierung gekennzeichnet, aber auch durch Urbanisierung mit den Megametropolen London und Paris und durch eine neuartige, scheinbar alles umfassende Nachrichtentechnik (Eckart 1997), die auch Informationen über große Unfälle schnell in alle Welt trägt. Für viele Menschen wurde ein Bruch in einer vormals als intakt wahrgenommenen Welt spürbar. Die Welt war nicht mehr bergend – oder, wohl richtiger, eine entsprechende Illusion ließ sich nicht mehr aufrecht halten, und Menschen waren nicht das, was sie zu sein schienen. Entsprechend ist eines der Hauptthemen dieser Zeit das des Doppelgängers (Böschenstein 1987; Hoffmann 1815/1816; Stevenson 1886 b). Gegen Ende jenes Jahrhunderts entstanden in dem Bereich des Wissens, der heute »psychologische Medizin« heißt, die auch heute noch relevanten großen Krankheitslehren der psychosozialen Medizin. Janet (1889) entwarf seine Dissoziationslehre, Freud (1896c) seine Arbeiten zur Hysterie, Kraepelin (1883) publizierte seinen ersten Entwurf eines Systems zur Klassifizierung seelischer Störungen und Oppenheim (1889) sein Buch »Die traumatischen Neurosen«, wobei er diesen Begriff bereits ein Jahr zuvor eingeführt hatte (Oppenheim 1888).

    Ein Kristallisationspunkt für Ängste vor technischen Neuerungen war die neu aufgekommene Eisenbahn. Wie auch die medizinische Welt auf diese Veränderungen reagierte, beschreibt Schivelbusch (1977). Zur Kennzeichnung der Krankheitssymptomatik von Menschen, die bei einem Eisenbahnunfall zu Schaden gekommen waren, tauchte Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des »railwayspine« auf. Erstmals schriftlich scheint das Wort bei Erichsen (1866) vorzukommen, aber sein Gebrauch dieses Wortes lässt vermuten, dass der Begriff bereits benutzt wurde. Erichsen hält die Erkrankung für den Ausdruck einer chronischen Myelitis (darum »spine«), spricht aber auch – in sehr vorsichtiger Annäherung – der direkten psychischen Einwirkung ihre ursächliche Beteiligung an den körperlichen Symptomen nicht ganz ab. Diese Linie wird besonders sichtbar in seinem zweiten Buch zum Thema (Erichsen 1875), das eine Erweiterung und Überarbeitung des ersten darstellt. Obwohl er auch hier in erster Linie »molecular changes« im Rückenmark als Ursache vermutet und in zweiter Linie Entzündungsvorgänge (S. 15), kann er sich auch eine Situation von »mental or moral unconsciousness« vorstellen, hervorgerufen durch das Entsetzen des Unfalles, die zu einem Zusammenbruch der Kontrollfunktionen des Gehirnes führe (S. 195).

    Einige der nachfolgenden Autoren haben dann immer stärker eine direkte Psychogenese der Symptomatik vertreten. Das gilt insbesondere für Page (1883), der als Kritiker der organ-genetisch orientierten Ansichten von Erichsen auftrat. Er betonte die Wirkung von Angst und Schreck und führte in seinem zweiten Buch (1891) den Begriff des »general nervous shock« (S. 62) ein, der als »Schreckneurose« von Kraepelin (1883) weiter tradiert wurde: »The thing essential for suggestion to have any influence is the special psychic state, induced immediately by nervous shock« (S. 69). Allerdings wurde die Position von Page dann vermehrt von den Eisenbahngesellschaften dazu herangezogen, Schadenersatzansprüche Geschädigter abzuwehren mit dem Argument, es lägen keine auf einen bestimmten Unfall zurückzuführenden körperlichen Schädigungen vor – im Übrigen eindeutig gegen seine Intention. Von der Systematik her rückt Page die – heute so genannten – posttraumatischen Störungen in die Nähe dessen, was (sc.: damals) als »Hysterie« bezeichnet wurde, insbesondere wegen des gemeinsamen Merkmals des Kontrollverlusts (Page 1891, S. 52 – 53). Harrington (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Erstbeschreiber der Railway-Krankheiten Chirurgen waren. Auch nennt er Zahlen über die Häufigkeit von Eisenbahnunfällen in der damaligen Zeit. Danach waren es weniger die absoluten Zahlen der Todesfälle als vielmehr das mit ihnen verbundene öffentliche Interesse an der als überwältigend erlebten technischen Neuerung der Eisenbahn, das hier die Fachwelt und die Öffentlichkeit von einem neuen Krankheitsbild sprechen ließ, und zwar auch im Dienste der Warnung vor diesen technischen Neuerungen. Schon hier, in der Zeit der Genese erster Konzepte traumatogener Krankheitsbilder, beginnt die Funktionalisierung psychisch traumatisierter Menschen: Sie wurden offenbar von Anbeginn an ge- bzw. benutzt, um dieses oder jenes im Dienste ganz anderer Interessen zu beweisen oder zu widerlegen. Diese Art von Funktionalisierung dauert bis heute an und beraubt die Betroffenen jeweils erneut ihrer eigenen Subjektivität.

    Ein Grund für die den Eisenbahnunfällen damals zukommende Aufmerksamkeit war offenbar auch darin zu suchen, dass deutlich wurde, dass es lediglich von äußeren Zufälligkeiten abhing, ob jemand verletzt wurde bzw. zu Tode kam oder unversehrt den Ort des Geschehens verließ.

    In Deutschland wurde der Neurologe Hermann Oppenheim (1858 – 1919) für die frühe Psychotraumatologie bedeutsam. Er löst sich aus der einengenden Fokussierung auf Überlebende von Eisenbahnunfällen und bezieht Betroffene von Arbeitsunfällen mit ein – auch auf dem Hintergrund, dass 1884 in Deutschland eine gesetzliche Unfallversicherung wirksam geworden war und Nervenärzte jetzt Unfallfolgen zu begutachten hatten. Im Vorwort zu seinem Buch »Die traumatischen Neurosen« (1889) nennt Oppenheim seine Absicht, »eine zusammenfassende Darstellung jener durch Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen des Nervensystems zu liefern, die nicht durch eine direkte Beschädigung der nervösen Centralorgane oder des peripherischen Nervenapparates, sondern auf dem Wege der Erschütterung im allgemeinsten Sinne des Wortes entstanden sind« (S. V). In seinem Theorieteil heißt es dann: »Die Hauptrolle spielt das psychische: der Schreck, die Gemüthserschütterung« (S. 123, Hervorhebung im Original). »Die im Momente des Unfalls eintretende schreckhafte Aufregung ist meistens so bedeutsam, daß sie eine dauernde psychische Alteration bedingt« (S. 124). Insgesamt führen ihn seine Beobachtungen zu der Auffassung, dass posttraumatische Symptome eine eigene Krankheitskategorie darstellen, für die er die Bezeichnung »traumatische Neurose« vorschlägt.

    Die Reichsversicherungskammer sah auch die traumatischen Neurosen als erstattungspflichtig an (Fischer-Homberger 1987). Eine Leistungspflicht wurde häufig auf der Grundlage des Ansatzes von Oppenheim begründet. Deshalb wurde dieser Autor für diese zahlenmäßig zwar geringen, trotzdem aber von vielen als ungerechtfertigt angesehenen Rentenansprüche verantwortlich gemacht. Wortführer war der Psychiater Hoche (1935) mit dem Argument, die Entschädigungsmöglichkeit habe ein pathologisches Rentenbegehren induziert – auch heute noch taucht es gelegentlich in klinischen Konferenzen und Gutachten auf, sicherlich häufiger als angemessen. Damals wie heute gilt, dass Traumatisierte in der Regel in erster Linie als solche wahrgenommen werden wollen und eher selten an Geld und damit an einer Festlegung auf eine Opferrolle interessiert sind (Maercker und Müller 2004). Es begann eine sehr scharf geführte Diffamierungskampagne gegen Oppenheim (Lerner 1997, 2001). Eine Marginalisierung von Forscherinnen und Forschern sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die sich mit Traumatisierten beschäftigen, durchzieht allerdings die gesamte Geschichte (Herman 1992 b, S. 19).

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychoanalyse. Ihr Interesse galt von Anfang an zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen mit ihren Auswirkungen und Konsequenzen, historisch damals sehr bald eingeengt auf deren motivationale, intrapsychische, unbewusste Seite im Individuum, weniger den Auswirkungen und Belastungen durch eine immer technisierter werdende Welt mit ihren Problemen und Unfällen. Im häufig zitierten Text »Zur Ätiologie der Hysterie« stellte Freud (1896c) »... die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich ... ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören« (S. 439, Hervorhebung im Original). Freud zweifelt nicht nur nicht (!) an der Glaubhaftigkeit der Berichte seiner Patientinnen, sondern geht sogar davon aus, dass diese Bedingung der Hysterie viel häufiger erfüllt sei, als es das Vorliegen des Krankheitsbilds vermuten lasse (S. 448). Später nimmt er von dieser Meinung Abstand. In einem Zusatz schreibt er nämlich knapp 30 Jahre später: »All dies ist richtig, aber es ist zu bedenken, daß ich mich damals von der Überschätzung der Realität und der Geringschätzung der Phantasie noch nicht frei gemacht hatte« (1896c, S. 440). Die Diskussion darüber, ob Freud die sog. Verführungshypothese vollständig oder nur teilweise oder aber gar nicht verworfen habe, ist nicht abgeschlossen (Grubrich-Simitis 1998; Israels und Schatzman 1993; Masson 1984; May-Tolzmann 1996). Hilfreicher als derartige Diskussionbeiträge wären Untersuchungen, auf welchem gesellschaftlichen Hintergrund Freud welchen Repressalien wirklich ausgesetzt war, solange er an der traumatischen Genese der Hysterie eindeutig festgehalten hatte, könnte so eine Studie doch zum Verständnis aktueller Verwerfungsimpulse der Psychotraumatologie gegenüber heute beitragen.

    Unklar ist, wer das Wort »Verführungshypothese« zur Bezeichnung für sexuellen Missbrauch eingeführt hat; von Freud stammt es nicht. Natürlich ist damit gemeint, dass das Kind den Erwachsenen verführt.

    Im Ersten Weltkrieg haben nach vorsichtigen Schätzungen (Ruggenberg 2010) allein auf deutscher Seite mindestens 600 000 Soldaten das erlitten, was wir heute als Traumafolgestörung bezeichnen. Umgangssprachlich wurden die Betroffenen im deutschen Sprachraum Kriegszitterer oder Schüttler bezeichnet. Wissenschaftliche Bezeichnungen lauteten auf Kriegsneurose, traumatische Neurose, Zweck- oder Schreckneurose, Shell-Schock oder, im Englischen, als »shell shock«, »war strain«, »gas neurosis«, »buried alive neurosis«, »soldier’s heart«, »war neurasthenia« oder »anxiety neurosis« (Myers 1940; Lerner und Micale 2001, S. 17). Die genannte Zahl umfasst aber nur die, die mit derartigen Diagnosen registriert worden waren, also einen kleinen Bruchteil. Britische Schätzungen besagen, dass 7 – 10 % ihrer Offiziere und 3 – 4 % anderer Ränge von derartigen Störungen betroffen waren. Allerdings war den britischen Armeeärzten im Laufe des Krieges verboten worden, die Diagnose »shell shock« bei Zugehörigen unterer Ränge zu stellen. Ab Juni 1917 durfte die Diagnose überhaupt nicht mehr vergeben werden, an deren Stelle trat die Bemerkung: »NYD(N)«, kurz für »Not Yet Diagnosed (?Nervousness)« (Ruggenberg 2010).

    Die Wirkung von Gewalt auf alle Menschen war also bekannt, und eine »Gewaltfolgenlehre« – die Psychotraumatologie – hätte sich durchaus in jener Zeit etablieren können, wie auch schon 50 Jahre zuvor. Aber die »Erforschung psychischer Traumata« zeigte immer wieder »Phasen der Amnesie«: »Bei der Erforschung psychischer Traumata stieß man wiederholt in Bereiche des Undenkbaren vor und kam zu grundlegenden Glaubensfragen« (Herman 1992 b, S. 17). Auch heute noch gilt: Je entsetzlicher eine Gewalttat, umso stärker die Skepsis gegenüber ihrer Realität. So galt in der Zeit des Ersten Weltkrieges auch die sozialdarwinistische Auffassung, nach der die Starken im Kampfe gefallen seien und nur die – natürlich vorher schon – Schwachen überlebt hätten. Max Nonne (1861 – 1959) schrieb: »Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert, anstatt daß bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorienschein des Heldentodes die an der Volkskraft zehrenden Parasiten verklärt hätte« (Nonne 1922, S. 112).

    Die Wirkung von Gewalt wurde damit einer schon vorher bestehenden Schwäche attribuiert. Bonhoeffer (1868 – 1948) meinte dazu, dass sich »fast ausnahmslos« habe feststellen lassen, dass es sich bei Soldaten mit solchen Erscheinungsbildern »um Individuen handelte, die schon früher konstitutionell psychopathische Erscheinungen dargeboten hatten« (Bonhoeffer 1914, S. 1777). Auch Simulation wurde geltend gemacht und entsprechend waren die Therapiemaßnahmen. Mit elektrischen Stromstößen als Überrumplungsmaßnahme, stundenlangen Anwendungen schmerzhaftester elektrischer Sinusströme – die »Kaufmann-Kur« –, Röntgenbestrahlungen in Dunkelkammern, wochenlangen Isolationsfoltern, der Provokation von Erstickungstodesangst durch Kehlkopfsonden oder -kugeln, herzlos inszenierten Scheinoperationen in Äthernarkose und vielem anderen mehr wurde versucht, der Traumafolgestörungen, die als Ausdruck von Simulation und Willensschwäche angesehen wurden, Herr zu werden. Eine kurze Beschreibung dieser Methoden gibt Eckart (2005), ausführlichere Darstellungen sind bei Riedesser und Verderber (1996) zu finden. Die »Behandlung« sollte entsetzlicher sein als der Fronteinsatz und die Betroffenen sollten deshalb in den Krieg zurückkehren wollen. Kritisch hat sich allerdings der bereits erwähnte Psychiater Nonne (1917) gegen derartige Behandlungsformen ausgesprochen, zugunsten der von ihm propagierten Hypnosebehandlung.

    Insbesondere der amerikanische Psychiater Abram Kardiner (1891 – 1981, Lehranalysand von Freud) stand außerhalb des Mainstreams. Im Jahre 1941 hat er seine Erfahrungen aus den Nachkriegsbehandlungen von Soldaten des Ersten Weltkrieges veröffentlicht, und 1947 ist dasselbe Buch in völliger Überarbeitung, unter Berücksichtigung der Erfahrungen des Ko-Autors Spiegel aus dem Zweiten Weltkrieg erneut erschienen. Das, was dann später als PTSD bezeichnet wurde, nannte Kardiner eine »physioneurosis« (1941, S. 195). 50 Jahre später sollten seine klinischen Einschätzungen durch

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