Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen
Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen
Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen
eBook429 Seiten4 Stunden

Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Selbstverletzungen, z. B. Schneiden, Verbrennen oder Kopf-an-die-Wand-Schlagen, stellen eine wichtige Form von Verhaltensauffälligkeiten dar. Solches Verhalten findet sich häufig bei psychischen Erkrankungen, die mit (traumatischem) Stress assoziiert sind, neben der Borderline-Persönlichkeitsstörung z. B. auch bei Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung oder Depression. Das Buch spannt einen Bogen von den neurobiologischen und psychologischen Grundlagen bis zur Behandlung von selbstverletzendem Verhalten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Dez. 2008
ISBN9783170273641
Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen

Mehr von Christian Schmahl lesen

Ähnlich wie Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen

Ähnliche E-Books

Psychologie für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen - Christian Schmahl

    Teil I

    Psychologische und biologische Grundlagen

    1 Phänomenologie und Epidemiologie selbstverletzenden Verhaltens

    Monika Fleischer und Sabine C. Herpertz

    Einleitung

    Menschen, die ihren Körper selbst verletzen bzw. verstümmeln, machen häufig die Erfahrung, dass die Umwelt mit Erschrecken, Abwehr und Unverständnis reagiert. Warum schädigen Menschen ihren bis dahin unversehrten Körper?

    Wenn auch Selbstverletzungen gehäuft bei psychiatrischen Erkrankungen vorkommen, so stellen sie an sich kein pathologisches Phänomen dar, sondern gehören zu den Verhaltensmöglichkeiten des Menschen. Sie finden sich in kulturellen Riten und sind mögliche Praktiken in verschiedensten Religionen. Die Beschäftigung mit vielfältigen Formen der „Automutilation" über verschiedene Kulturen und Subkulturen hinweg, aber auch bei unseren entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren kann helfen, einen Sinn in einem Verhalten zu entdecken, das auf den ersten Blick unverständlich und sinnlos erscheint.

    1 Selbstverletzendes Verhalten im Tierreich

    Im Tierreich treten Selbstverletzungen bzw. Automutilationen im Zusammenhang mit Stressereignissen auf. Ihre Funktion besteht darin, das Erregungsniveau entweder zu steigern oder herabzusetzen. Primaten, die unter isolierten Bedingungen aufgewachsen sind, greifen sich selbst an, indem sie sich z. B. in ihr Bein oder in den Schwanz beißen (Jones 1982). Durch dieses Verhalten gelingt es ihnen, einer erlebten Unteraktivierung (underarousal) entgegenzuwirken. Automutilationen treten bei Tieren auch in Zuständen der Überaktivierung (hyperarousal) auf, wenn sie die Gemeinschaft mit Artgenossen als stressreich und belastend erleben, z. B. weil sie nicht über den notwendigen Verhaltenscodex verfügen. Diese Tiere fügen sich Biss- und Kratzverletzungen zu, um sich selbst zu besänftigen; hier ist häufig im Vorfeld ein hohes Maß an motorischer Unruhe und Gereiztheit zu beobachten, das sich im Anschluss an die Automutilation nachhaltig beruhigt (Herpertz und Sass 1994).

    2 Kulturelle Sanktionierung selbstverletzenden Verhaltens

    In vielen Kulturen begegneten die Menschen der Automutilation über Jahrhunderte hinweg mit Bewunderung und mystischer Verehrung. Stammesangehörige mit einer privilegierten Stellung, wie z. B. Schamanen, nahmen an, Weisheit und wundersame Heilkräfte zu gewinnen, indem sie sich selbst Wunden zufügten. Religiös motivierte Mutilationspraktiken finden sich besonders deutlich bei den Ureinwohnern Nordamerikas, bei Hindus und Christen.

    Das Christentum, das traditionell sein Denken auf das Jenseits orientiert, versteht den Körper als Gefängnis der Seele. Nach dem alten Testament wurden sich Adam und Eva ihrer Körperlichkeit erst durch den Sündenfall bewusst und empfanden Scham. Für die Mönche des Mittelalters, die sich für sündige Vergehen bestraften, bedeutete die Beschädigung des eigenen Körpers die Öffnung bzw. die symbolträchtige Eröffnung des Körpers für die Seele. Die öffentliche Selbstgeißelung stellte dabei einen Akt der Buße dar, mit dem für die gesamte soziale Gemeinschaft Befreiung von Not und Pest erbeten wurde. Diese Form der Selbstverletzung genoss in der damaligen Zeit hohe soziale Anerkennung, da sich die Mönche damit in die Situation des gekreuzigten Jesus begaben. Er errettete die sündigen Menschen, nachdem er mit einer Dornenkrone auf dem Haupt gekreuzigt wurde. Eine besondere symbolische Kraft wurde dabei dem vergossenen Blut zugesprochen, das in unterschiedlichen Heilungsriten, z. B. bei der Behandlung von Epileptikern, als Medikament Anwendung fand (Favazza 1989a). Das Gemeinsame all dieser religiös motivierten Mutilationspraktiken ist also, trotz des Aspektes der Selbstverletzung, das Motiv der Befreiung und Heilung der Seele.

    Zu den kulturell begründeten mutilativen Praktiken gehören nicht nur solche, die ein Individuum an sich selbst vornimmt, sondern auch solche, bei denen ein Mensch willentlich erlaubt, dass Verletzungen an ihm durchgeführt werden. So besitzen kollektive Selbstverstümmelungen einen hohen kulturellen Status. Ihnen wohnt aus gesellschaftlicher Sicht eine integrative und adaptive Funktion inne, da sie helfen, innere und äußere Gefahren zu bannen, wie sie z. B. durch Disharmonien in sozialen Gemeinschaften durch Kriege, Hunger und Krankheit entstehen können (Favazza 1989a). Als Teil vieler Initiationsriten, wie sie in Form der männlichen Beschneidung oder des studentischen Fechtens, der sogenannten Mensur, noch in der Gegenwart zu finden sind, wird dem jungen Mann durch die körperliche Beschädigung die Demonstration seines Mutes erlaubt. Gleichzeitig wird die mutilative Handlung zu einer Unterwerfungsgeste gegenüber der Erwachsenengruppe und ihren Regeln (Favazza 1989a). Der Initiation und der Symbolisierung von Gruppenzugehörigkeit dienen auch in besonders typischer Weise Skarifizierungs- bzw. Narbentechniken, wie man sie bei verschiedenen afrikanischen Stämmen findet.

    Abb. 1.1: „Afrique Occidentale – Jeunes Feticheuses": zwei Dahomey Stammesfrauen aus Guinea oder Nigeria mit Narbenschmuck an Bauch und Brüsten. Authentische Postkarte, ca. 1900–1930.

    In unserer modernen Gesellschaft mit ihrer Verehrung des gesunden, schönen und makellosen Körpers bedeuten Selbstbeschädigungen in erster Linie eine Tabuverletzung. So wurden sie z. B. in der Aktionskunst der 60er und 70er Jahre mit der Zielsetzung der kämpferischen Abgrenzung gegenüber einer widersprüchlich erlebten gesellschaftlichen Normalität eingesetzt. In den letzten Jahren nun finden Mutilationspraktiken in Jugendgruppen zunehmende Verbreitung. So findet man durch Nase, Wangen und Ohren gesteckte Sicherheitsnadeln bei Punks, das „piercing der sogenannten „modern primitives oder auch den neu aufblühenden Tätowierungskult unter Einbeziehung großer Körperflächen. In verschiedenen Fernseh- und Zeitschriftenmagazinen proklamieren Jugendliche Selbstverstümmelungen als Selbstheilungsversuch. Ihre Selbstbeschädigungen entstammen nicht nur provokativen Abgrenzungswünschen, sondern scheinen auch archaischen Versuchen der Selbstfindung zu entspringen (Herpertz 1995a).

    Wir werden sehen, dass bei psychiatrischen Störungen Selbstverletzungen durchaus auch der Provokation dienen können und eine Signalwirkung auf andere haben, der Funktion der Selbstberuhigung und der (wenn auch inadäquaten) Selbstheilung aber meist die größere Bedeutung zukommt.

    3 Definition „selbstverletzendes Verhalten"

    Es existieren eine Reihe unterschiedlicher Begriffe, wie parasuizidales Verhalten, selbstmutilatives Verhalten oder selbstschädigendes Verhalten, die synonym für selbstverletzendes Verhalten (SVV) genutzt werden. Im englischsprachigen Raum wird SVV auch durch Begriffe wie self-mutilation, self-injurious behavior, delicate self cutting, delicate self harm syndrome oder syndrome of the wrist cutter bezeichnet (Sachsse 2002). Favazza (1989b) definierte dieses Verhalten als eine bewusste Zerstörung des Körpers ohne suizidale Absicht. Die Schwierigkeit dieser Begriffsdefinition besteht jedoch darin, dass sie meist von Selbstberichten Betroffener abgeleitet wurde. Diesen subjektiven Berichten mangelt es an der nötigen Objektivität, denn dem Betroffenen ist es bei solchen Angaben möglich, bspw. Suizidabsichten zu negieren, auch wenn diese zum Zeitpunkt der Selbstverletzung bestanden haben sollten. Außerdem handelt es sich meist um retrospektive Erhebungen, welche durch Wahrnehmungsverzerrungen beeinflusst sein können. Somit lässt sich insbesondere das Konstrukt der fehlenden suizidalen Absicht nur schwer operationalisieren, da es intrapsychisch stattfindet und kaum beobachtbar ist (Herpertz 1995b).

    Aufgrund dieser Probleme wurde folgende Alternativdefinition vorgeschlagen:

    SVV wird umschrieben als eine wiederholte selbstzugefügte, direkte, körperliche Verletzung, die nicht gezielt lebensbedrohlich ist. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form von selbstschädigendem Verhalten und unterscheidet sich grundsätzlich von Suizidversuchen. (Herpertz 1995b)

    Es existiert einerseits die Form des offenen und andererseits des verdeckten SVV. Der folgende Kasten zeigt die offenen Selbstverletzungen, die die äußere Zerstörung des Körpers betreffen.

    Offene Selbstschädigungen nach Parks und Feldmann (2006)

    Hautabschürfungen

    Beißen

    Knochenbrüche

    Verbrennungen

    Prellungen/Quetschungen

    Schnittwunden

    Ritzen

    Schlagen

    Öffnung von Wunden

    Herausreißen der Haare

    Aufkratzen der Haut

    Die Formen und die Schwere können variieren, obgleich am häufigsten das Schneiden (meist mit Rasierklingen, Glasscherben oder Messern), das Schlagen von Kopf, seltener Extremitäten, das Brennen (Zigaretten oder Flamme eines Feuerzeuges) oder die Manipulation an Wunden bzw. großflächige Kratzwunden auftreten (Sachsse 2002). In einem konsekutiv aufgenommenen psychiatrischen Klientel mit offenem SVV von insgesamt 79 Patienten (87 % Frauen, 13 % Männer) fanden sich in 81 % Schnittverletzungen, in 37 % Prellungen, in 25 % Verbrennungen, in 24 % Kratzverletzungen und in 16 % die Manipulation von Wunden und Narben (Herpertz, unveröffentlichte Daten). Selbstverletzungen werden am häufigsten an den Unterarmen durchgeführt, aber auch die Beine, der Rumpf oder der Kopf können betroffen sein. Briere und Gil (1998) untersuchten eine Stichprobe von 93 Probanden mit SVV (96 % Frauen, 4 % Männer) hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens bestimmter Formen von SVV. Dabei berichteten 71 % von Schnittverletzungen an Armen und Beinen, 60 % von Bisswunden innerhalb des Mundes, 59 % von Kratzverletzungen und 44 % von Prellungen.

    Neben diesen offensichtlichen, der Umwelt mehr oder weniger bereitwillig gezeigten Praktiken von SVV existieren Formen verdeckten Selbstverletzungsverhaltens. Sie werden gegenüber der Umwelt verheimlicht oder auch geleugnet und berühren den Bereich der artifiziellen Störungen. Unter den verdeckten Formen findet sich das Einbringen von Fremdkörpern unter die Haut und die Manipulation von Wunden und Operationsnarben. Schließlich fällt SVV unter den Oberbegriff selbstschädigenden Verhaltens, wozu neben selbstverletzenden Symptomen Substanzmissbrauch, Essstörungen (besonders Bulimia nervosa und Binge eating), gefährdende sexuelle Praktiken, erhöhte Geldausgaben und rücksichtsloses Autofahren zählen. Individuen mit SVV zeigen gehäuft multiple Formen selbstschädigenden Verhaltens und auch eine höhere Bereitschaft zu impulsiv-fremdaggressivem Verhalten.

    4 Klinische Einteilung offener Selbstschädigungen

    Im klinischen Alltag wird beobachtet, dass offenes selbstschädigendes Verhalten in unterschiedlichem Ausmaß stattfinden kann. Dieses Verhalten tritt sporadisch, wiederholt oder regelmäßig (habituell) auf und variiert im Grad der Schädigung des Körpers. In Tabelle 1.1 wird das offene SVV in moderate, stereotype und majore Selbstschädigungen unterteilt (Favazza 1998). Bei stressassozierten Störungen, wie Posttraumatischer Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Dissoziativen Störungen, tritt ausschließlich die moderate Form des SVV auf.

    5 Epidemiologie

    SVV ist meist Symptom einer vorliegenden psychiatrischen Erkrankung. Allerdings bestätigen mehrere Studien, dass das SVV auch bei Personen, die noch nicht psychiatrisch auffällig geworden sind, beobachtet werden kann.

    Am häufigsten ist das SVV in der Allgemeinbevölkerung im angloamerikanischen Raum untersucht worden. Es existieren amerikanische Studien mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15–49 Jahren. Die Schätzung der Prävalenz von SVV variiert zwischen 4 % und 38 % (Gratz et al. 2002, Klonsky et al. 2003, Muehlenkamp und Gutierrez 2004, Whitlock et al. 2006).

    Tab. 1.1: Klinische Einteilung offener Selbstschädigung nach Favazza (1998)

    In einer Untersuchung von Rekruten (62 % männliche Probanden) der Air Force fanden Klonsky et al. (2003) eine Lebenszeitprävalenz von ca. 4 % für SVV. Dieses Verhalten wurde mit Hilfe von zwei Items aus einem Persönlichkeitsfragebogen erfasst. Probanden, die sich selbst verletzten, zeigten eher Symptome der Borderline-, Schizotypischen, Abhängigen und Vermeidenden Persönlichkeitsstörung sowie häufiger ängstliche und depressive Symptome. Gratz et al. (2002) untersuchten amerikanische Collegestudenten im Alter von 18 bis 49 Jahren, wobei SVV mit Hilfe des Deliberate Self-Harm Inventory (DSHI) erhoben wurde. Dabei handelt es sich um einen detaillierten, auch diskrete Selbstverletzungsphänomene umfassenden Selbstbeschreibungsfragebogen, der bewusste, direkte Körperschädigungen ohne suizidale Absicht erhebt. In dieser recht kleinen Stichprobe (n = 133) gab ein sehr hoher Anteil von 38 % der Probanden an, sich in der Vergangenheit wenigstens einmal selbst verletzt zu haben, 18 % verletzten sich mehr als zehnmal selbst und 10 % verletzten sich mehr als 100 Mal selbst.

    In Großbritannien und Australien wurden mehrere Untersuchungen zur Prävalenz an Schülern durchgeführt (Tab. 1.2). Die Prävalenzraten für SVV in diesen Kohorten bewegten sich zwischen 5 % und 13 % (De Leo und Heller 2004, Hawton et al. 2002). An der Untersuchung von Hawton et al. nahmen 5801 englische Schüler zwischen 15 und 16 Jahren teil. Es zeigte sich eine Lebenszeitprävalenz von 13,2 % sowie eine Rate von 6,9 % im Jahr vor der Untersuchung. Das SVV wurde mit einem eigens dafür entworfenen Fragebogen erhoben, der körperliche Schädigungen wie Schnittwunden sowie verdecktes SVV (wie Drogenmissbrauch, Substanzmissbrauch und Einführen von nicht für den Verzehr bestimmten Substanzen oder Gegenständen) erhob.

    An der Untersuchung von Patton et al. (1997) nahmen australische Schüler teil. Das SVV wurde mit einer modifizierten Version der Beck Suicide Intent Scale (BSIS) erhoben, wobei die Probanden Episoden beschreiben sollten, in denen sie sich selbst verletzten. Anhand dieser Daten wurde das SVV in vier, aus der Literatur extrahierten Kategorien eingestuft. Probanden mit verdecktem SVV und vorangegangenen Suizidversuchen wurden ausgeschlossen. Es berichteten 5,1 % der Probanden, sich in den letzten 12 Monaten selbst verletzt zu haben. Im deutschsprachigen Raum findet sich die Studie von Brunner und Kollegen (2007). Sie untersuchten Schüler, die die 9. Klasse in einem Zeitraum zwischen 2004 und 2005 besuchten. Das SVV wurde anhand eines Fragebogens in seiner Häufigkeit erfasst. Sie fanden für wiederholtes SVV eine Jahresprävalenz von 4 % und für gelegentliches SVV von 10,9 %. Die Ergebnisse dieser Forschergruppe liegen im unteren Bereich der Prävalenzen, die sich im angloamerikanischen Raum abbilden.

    Für die Untersuchung von Young et al. (2006) wurden Personen mit einem durchschnittlichen Alter von 19 Jahren rekrutiert, die der „Gothic-Szene" angehörten und somit zu einer Subkultur, die von der Gesellschaft bezüglich ihrer Ideale, Vorstellungen, Kleidung und Auftreten abweichen. Das SVV wurde nach den Methoden der Selbstschädigung (z. B. Schnittverletzungen, Brandverletzungen usw.) unterteilt. Es konnte eine Lebenszeitprävalenz von 53 % in dieser Subgruppe extrahiert werden. Insbesondere in dieser Untersuchung zeigt sich, wie stark sich die Auswahl der Stichprobe auf die Höhe der Lebenszeitprävalenz von SVV auswirkt.

    Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Angaben zur Lebenszeitprävalenz in der Allgemeinpopulation stark variieren, nämlich zwischen 4 % und 38 %, die Mehrzahl der Studien jedoch Prävalenzen zwischen 10 und 20 % berichten. Ursachen für diese breite Streuung könnten sein: unterschiedliche Definitionen von SVV, Unterschiede in den Erhebungsmethoden (offene vs. geschlossene Antwortformate), keine für die Allgemeinbevölkerung repräsentativen Stichproben, Unterschiede in den untersuchten Altersbereichen und häufig fehlende Kontrolle von psychiatrischen Auffälligkeiten.

    Nur einzelne Studien haben SVV in allgemein-psychiatrischen Populationen über alle Altersgruppen hinweg untersucht. Herpertz und Kollegen (1997) berichteten über eine Häufigkeit von 2,5 % in einer unausgelesenen psychiatrischen Kohorte, welche

    Tab. 1.2: Studien zur Prävalenz von SVV an nicht-klinischen Gruppen

    über einen Zeitraum von zwei Jahren beobachtet worden war; Langbehn und Pfohl (1993) über einen Anteil von 4 %. Prävalenzangaben bei spezifischen psychiatrischen Störungen werden in den zugehörigen Kapiteln berichtet.

    SVV beginnt gewöhnlich im Jugendalter bzw. im frühen Erwachsenenalter (Whitlock et al. 2006). Dies gilt für die Normalpopulation als auch für Populationen psychiatrischer Patienten. In der Studie von Herpertz und Kollegen (1997) an psychiatrischen Patienten trat SVV bei 15 % bereits im Kindesalter vor dem 12. Lebensjahr und bei weiteren knapp 20 % in der Adoleszenz erstmals auf und beginnt nur selten jenseits des 30. oder gar 40. Lebensjahres (siehe Kapitel 9).

    Bezüglich der Geschlechterverteilung von SVV zeigt sich eine heterogene Befundlage. In der Allgemeinbevölkerung finden einige Forschergruppen keine Geschlechtsunterschiede (Gratz et al. 2002, Klonsky et al. 2003, Muehlenkamp und Gutierrez 2004), während andere Arbeitsgruppen zeigen konnten, dass junge Frauen häufiger betroffen sind als junge Männer (De Leo und Heller 2004, Hawton et al. 2002, Whitlock et al. 2006). Bei psychiatrischen Patienten wird ein deutliches Überwiegen des weiblichen Geschlechtes angegeben (Herpertz et al. 1997, Langbehn und Pfohl 1993).

    Bereits in Stichproben aus der Allgemeinbevölkerung wird darauf hingewiesen, dass Probanden, die sich selbst verletzen auch eher zu einer depressiven Symptomatik und Suizidgedanken neigen (Muehlenkamp et al. 2004). In der Studie von Hawton et al. (2002) konnte ein erhöhtes Ausmaß an Drogenkonsum, physischem und sexuellem Missbrauch sowie Verknüpfungen von SVV und Ausprägungen von Depression, Angst, Impulsivität und Selbstwert festgestellt werden.

    6 Selbstverletzendes Verhalten bei spezifischen psychiatrischen Störungen

    Nur bei wenigen psychiatrischen Störungen im DSM-IV und im ICD-10 wird explizit SVV als diagnostisches Kriterium genannt; dazu gehören die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die Artifizielle Störung, der Sadomasochismus und die Trichotillomanie. Darüber hinaus existieren jedoch weitere psychiatrische Störungen, bei denen SVV auftreten kann, aber nicht für die Diagnose der Störung relevant ist. Zu diesen Störungen zählen insbesondere stressassoziierte Störungen, wie die Posttraumatische Belastungsstörung, Dissoziative Störungen und Essstörungen, im Weiteren Entwicklungsstörungen wie Autismus und geistige Behinderung, sowie Depression und schizophrene Psychosen (Favazza 1989b).

    Im folgenden Abschnitt soll auf SVV bei folgenden Störungen eingegangen werden, die in der psychiatrischen Differentialdiagnostik typischerweise zu beachten sind: Borderline-Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie, Depression, Essstörung, Posttraumatische Belastungsstörung und Dissoziative Störungen. Vergleichende Aussagen sind wegen Unterschieden im Schweregrad und im Ausmaß der Symptome innerhalb der Störungsgruppen nur eingeschränkt möglich. Zudem werden häufig keine komorbiden Störungen erhoben, die ihrerseits ebenfalls mit SVV einhergehen können.

    6.1 Selbstverletzendes Verhalten bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung

    Unter psychiatrischen Patienten kommt SVV am häufigsten bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) vor. In der unausgelesenen Stichprobe konsekutiv aufgenommener psychiatrischer Patienten mit SVV (Herpertz 1997b) erfüllten rund 50 % die diagnostischen Kriterien einer BPS.

    Die Rate des bewussten SVV ohne suizidale Absicht ist bei Personen mit BPS außergewöhnlich hoch und variiert zwischen 73 % und 90 % (Chapman et al. 2005, Herpertz 1995a, Zanarini et al. 2008; vgl. Tab. 1.3). Chapman et al. (2005) untersuchten in Kanada weibliche Gefängnisinsassen mit BPS. Das SVV wurde mit Hilfe des Lifetime Parasuicide Count-2 (LPC-2) erfasst. Es handelt sich dabei um ein strukturiertes Interview, das die Häufigkeit von sowohl offenen, direkten Selbstverletzungen als auch Überdosierungen über die Lebenszeit erhebt. Es zeigte sich eine Prävalenz von 73 % für das SVV ohne suizidale Absicht.

    In einer Langzeitstudie, die über einen Zeitraum von zehn Jahren von Zanarini und Kollegen (2008) durchgeführt wurde, wurden Patienten im Alter zwischen 18 und 35 Jahren mit der Diagnose einer BPS untersucht. Neben verschiedenen anderen

    Tab. 1.3: Prävalenzen von SVV bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung

    Konstrukten erhob diese Forschergruppe ebenfalls das SVV. Beim ersten Untersuchungszeitpunkt, der mit einer stationären Aufnahme zusammenfiel, berichteten 90,3 % der Patientinnen, sich selbst zu verletzen. Im weiteren Verlauf (Untersuchungszeitpunkte alle zwei Jahre) zeigte sich eine Reduktion auf 17,7 % nach zehn Jahren, während derer die meisten Patienten in Behandlung waren. Neben einer Spontanremission kann angenommen werden, dass durch die Behandlung neue Verhaltensweisen gelernt und geübt wurden und somit das SVV als Strategie in den Hintergrund treten konnte. Bei der BPS treten neben Selbstverletzungen häufig auch andere selbstschädigende Verhaltensweisen auf. Im Rahmen der bereits beschriebenen Studie von Zanarini et al. (2003) konnte gezeigt werden, dass Menschen mit BPS zu Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit (49 %), Promiskuität (26,9 %) und anderen impulsiven Verhaltensweisen (93,8 %) neigen. In der Studie von Herpertz (1995a) wurden 60 Patienten mit einer BPS untersucht. Neben dem offenen selbstverletzenden Verhalten traten Essstörungen (53 %) und Substanzmissbrauch (25 %) als Formen des selbstschädigenden Verhaltens auf.

    Während der Altersbeginn von SVV bei der BPS dem aus der Allgemeinbevölkerung berichteten ähnlich ist, verletzen sich Frauen mit BPS offensichtlich häufiger als Männer mit dieser Diagnose (Herpertz 1995a). In einer weiteren Untersuchung von Herpertz (unveröffentlichte Daten) mit 79 konsekutiv aufgenommenem psychiatrischen Klientel mit offenem SVV fanden sich in 81 % Schnittverletzungen, in 37 % Prellungen, in 25 % Verbrennungen, in 24 % Kratzverletzungen und in 16 % die Manipulation von Wunden und Narben.

    6.2 Selbstverletzendes Verhalten bei der Schizophrenie

    Schizophrenie ist eine komplexe Erkrankung, die gekennzeichnet ist durch Störungen im Denken, der Wahrnehmung, der Ich-Funktionen, der Affektivität, dem Antrieb und der Psychomotorik. Teilweise können ebenso die Aufmerksamkeit, die Konzentration und das Gedächtnis in unterschiedlichem Ausmaß betroffen sein. SVV tritt bei dieser Patientengruppe in akuten Episoden der Erkrankung im Zusammenhang mit Wahnwahrnehmungen, bizarrem Wahn, akustischen Halluzinationen oder Ich-Störungen auf. Häufig sind die auslösenden Sinnestäuschungen oder Wahnideen von religiösem oder sexuellem Inhalt (siehe Tab. 1.5).

    Bei schizophrenen Patienten mit SVV treten gehäuft depressive Störungen und Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit auf (Haw et al. 2005, Simms et al. 2007). Sie entwickeln häufiger Symptome von Hoffnungslosigkeit und Suizidgedanken im Gegensatz zu Patienten, die kein SVV zeigen (Simms et al. 2007). Bei schizophrenen Störungen stellt SVV einen Risikofaktor für einen späteren Suizid dar (Haw et al. 2005). Dabei kommen sowohl leichte („moderate) als auch schwere („majore) Formen der Selbstverletzung vor.

    Der Fokus aktueller Literatur über autodestruktives Verhalten bei Schizophrenien liegt auf Suizidversuchen und erfolgreich durchgeführten Suiziden. Es existieren jedoch einige wenige Studien, die sich explizit mit SVV ohne Suizidabsicht auseinandergesetzt haben. Für eine Studie von Simms et al. (2007) wurden 33 Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung rekrutiert. 51,5 % der Stichprobe berichteten, sich mindestens einmal in ihrem Leben selbst verletzt zu haben. Weitere Analysen ergaben, dass die mittlere Häufigkeit mit drei Mal angegeben wurde (Range 1–7). 45,5 % der 33 Patienten berichteten von akustischen Halluzina-

    Tab. 1.4: Inhalte, die bei schizophrenen Psychosen zu SVV führen (nach Favazza 1989b)

    tionen und 9 Patienten von SVV, das mit den akustischen Halluzinationen in direktem Zusammenhang stand. Von 1968 bis 1981 führten Wilkinson et al. (1984) eine Untersuchung an schizophrenen Patienten durch, die sich selbst verletzten. Sie schlussfolgerten aus ihren Daten, dass das SVV bei diesen Patienten in motivationaler Hinsicht eher als ein möglicher Suizid und nicht als eine Kontrolle der schizophrenen Symptome angenommen werden kann. Außerdem scheint es eine Beziehung zwischen parasuizidalem Verhalten und akustischen Halluzinationen zu geben. Proctor et al. (2004) führten eine Untersuchung an 227 Patienten durch, die an einer psychotischen Erkrankung litten. Darunter fanden sich 19 % Depressionen mit psychotischen Symptomen, 11 % paranoide Schizophrenien, 7 % wahnhafte Störungen und 7,5 % bipolare Erkrankungen. 26 % der 227 Patienten berichteten mindestens eine Episode von selbstschädigendem Verhalten.

    Schizophrene Männer sind signifikant jünger als Frauen (33 vs. 37 Jahre) beim Auftreten von selbstverletzendem Verhalten (Wilkinson und Bacon 1984). Dies steht wahrscheinlich im Zusammenhang damit, dass sich schizophrene Erkrankungen bei Männern durchschnittlich in jüngerem Lebensalter als bei Frauen manifestieren.

    6.3 Selbstverletzendes Verhalten bei der Depression

    Depressionen äußern sich in einem Muster von gedrückter Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, verminderter Aktivität und Antrieb. Es treten neben vitalen Symptomen ein vermindertes Selbstwertgefühl, eine negativ-pessimistische Zukunftsperspektive, Suizidgedanken und Suizidhandlungen auf.

    Die Verbindung von selbstverletzendem Verhalten und depressiven Störungen scheint bisher wenig untersucht worden zu sein, da häufig Suizidgedanken bzw. versuchte oder vollendete Suizide bei dieser Erkrankung im Vordergrund stehen. Eine Untersuchung von Tuisku et al. (2006) wurde in Finnland innerhalb von 2,5 Jahren an 218 Jugendlichen im Alter von 13 bis 19 Jahren mit einer depressiven Störung durchgeführt, die sich in ambulanter Behandlung befanden. Sie untersuchten u. a. das Auftreten von SVV und definierten es als direkte, sozial nicht akzeptierte und wiederholte kleinere bzw. mäßige körperliche Schädigung. 13,3 % der Patienten berichteten, sich ausschließlich selbst zu verletzen, aber keine Suizidgedanken zu haben. Interessanterweise kamen bei diesen Patienten Angstsymptome und Substanzmissbrauch gehäuft komorbid vor (Parker et al. 2005, Tuisku et al. 2006). In der Studie von Parker et al. (2005) wurden drei Stichproben mit depressiven Patienten untersucht, die entweder eine sehr schwere Depression hatten bzw. eine Behandlungsresistenz aufwiesen. Als SVV wurde alles gewertet (z. B. Ritzen der Haut oder Schlagen des Kopfes), was mit äußeren Verletzungen des Körpers im Zusammenhang stand, aber keine Suizidversuche beinhaltete. Über alle drei Stichproben zeigte sich eine Lebenszeitprävalenz zwischen 16,7 % und 23,1 %. In einer Untersuchung von Joyce et al. (2006) zeigte sich eine Lebenszeitprävalenz für SVV ohne Suizidversuche in der Vergangenheit von 10 % bei depressiven Patienten (n = 194).

    Bei depressiven Patienten konnten keine Geschlechtsunterschiede bezüglich der Häufigkeit von SVV gefunden werden (Tuisku et al. 2006). Wohl aber waren betroffene Patienten jünger als der durchschnittliche depressive Patient. So zeigten Tuisku et al. (2006), dass sich Betroffene im Alter von 13–15 Jahren (Frauen: 23,6 %; Männer: 20 %) häufiger selbst verletzten als Betroffene im Alter von 16–19 Jahren (Frauen: 8,9 %; Männer 10 %). Joyce et al. (2006) fanden, dass die Rate von SVV bei jüngeren depressiven Patienten (Alter zwischen 18 und 24 Jahren) höher als bei depressiven Patienten mit einem späten Beginn (25

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1