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Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie
Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie
Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie
eBook1.001 Seiten9 Stunden

Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie

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Über dieses E-Book

Der Anteil älterer Patienten in psychotherapeutischen Praxen nimmt zu. Können Sie mit diesen Patienten umgehen?

Eine adäquate Diagnostik und Behandlung ist ohne ein grundlegendes Verständnis für den älteren Menschen nicht möglich. In drei klar strukturierten Teilen bietet dieser Therapieleitfaden

- die Grundlagen der Gerontopsychologie und -psychotherapie,

- Störungen, die im Mittelpunkt des therapeutischen Einzelsettings stehen,

- hochrelevante Problemfelder, in denen Sie als Therapeut über das übliche Therapiesetting hinaus wirksam werden können.

Das ansprechende und übersichtliche Layout, Hervorhebungen von Kernaussagen, zahlreiche Übersichten, Übungsbeispiele und Therapiematerialien machen das Buch zu einem unentbehrlichen Leitfaden für Weiterbildung und Praxis.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum7. Okt. 2014
ISBN9783642547232
Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie

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    Buchvorschau

    Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie - Andreas Maercker

    I

    Grundlagen und Therapiemodelle

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

    Andreas Maercker (Hrsg.)Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie10.1007/978-3-642-54723-2_1

    1. Psychologie des höheren Lebensalters

    Grundlagen der Alterspsychotherapie und klinischen Gerontopsychologie

    A. Maercker¹  

    (1)

    Institut für Psychologie, Universität Zürich, Binzmühlestr. 14 Box 17, CH-8050 Zürich, Schweiz

    A. Maercker

    Email: maercker@psychologie.uzh.ch

    1.1 Einführung und Begriffe

    1.2 Junge Alte und Hochaltrige

    1.2.1 Einteilung in 3. und 4. Lebensalter

    1.2.2 Subjektive Wahrnehmung der Alternsprozesse

    1.2.3 Altern im Kontext der Geschichte

    1.3 Psychologische Besonderheiten des 3. und 4. Lebensalters

    1.3.1 Lebensspannenpsychologie

    1.3.2 Verlustbilanzierung

    1.3.3 Gewinnbilanzierung

    1.4 Psychische Störungen

    1.4.1 Demenzen, Depressionen, Angst- und Schlafstörungen

    1.4.2 Weitere Alterssyndrome

    1.4.3 Multimorbidität und chronische körperliche Erkrankungen

    1.5 Psychologische Therapie im Alter

    1.5.1 Schnittstellen für die Inanspruchnahme von Alterspsychotherapie und klinischer Gerontopsychologie

    1.5.2 Problempräsentation und altersspezifische Therapieziele

    1.5.3 Alters- und störungsspezifisches therapeutisches Rahmenmodell

    1.5.4 Metatheoretische Basis des Rahmenmodells: Die SOK-Theorie

    Literatur

    1.1 Einführung und Begriffe

    Menschheitsgeschichtlich betrachtet, ist das Alter noch jung, biologisch wie kulturell. In früheren Zeiten erreichten aufgrund der Sterblichkeitsraten nur wenige Menschen das höhere Lebensalter. Ältere Menschen stehen bis heute eher am Rande der Humanwissenschaften und der Heilkundedisziplinen. Dennoch haben sich jenseits dieses gesundheitswissenschaftlichen Mainstreams in den letzten Jahrzehnten mehrere Wissenschafts- und Heilkundedisziplinen mit zum Teil erstaunlichen Kenntnisfortschritten etablieren können.

    Bereits um 1900 wurde der Begriff Geriatrie als Heilkundedisziplin für die Pathologie des Alters geprägt. Wenige Jahrzehnte danach wurde der Begriff Gerontologie für die wissenschaftlichen Bemühungen in der Biologie, Psychologie und Soziologie etabliert, die nicht die Pathologie des Alters sondern den Prozess des Alterns selbst in den Mittelpunkt stellten. Die Gerontopsychologie als psychologische Teildisziplin der Gerontologie kann in den letzten Jahrzehnten einen enormen Wissenszuwachs verzeichnen, der u.a. auch an deutschsprachigen Zentren (Berlin, Bonn, Heidelberg) erarbeitet wurde (Lindenberger et al. 2010). Insbesondere haben umfangreiche interdisziplinäre Längsschnittsstudien diesen Wissenszuwachs ermöglicht („BASE: Berlin; „BOLSA: Bonn; „AgeCoDe": Kompetenznetz Degenerative Demenzen).

    Geriatrie, Gerontologie, Gerontopsychologie, Alterspsychotherapie

    Geriatrie

    Geriatrie als Heilkundedisziplin

    Gerontologie

    Gerontologie für den Prozess des Alterns

    Gerontopsychologie

    Gerontopsychologie als psychologische Teildisziplin der Gerontologie

    Alterspsychotherapie

    Alterspsychotherapie mit Individual- oder Gruppenpsychotherapie

    Die Alterspsychotherapie (oder Alternspsychotherapie) ist dagegen eine recht neue Begriffsprägung. Ab 1970 hatte sich zunächst der Begriff der „Interventionsgerontologie" etabliert , der lerntheoretische, sozio- und milieutherapeutische Verfahren des Trainings und der Rehabilitation umfasste. Die Verhaltenstherapie war an diesen Entwicklungen entscheidend beteiligt. Im eigentlichen Bereich der Psychotherapie , der Individual- oder Gruppenpsychotherapie, galt dagegen noch lange das Verdikt, dass sich Psychotherapie für älteren Menschen nicht eigne, weil sie sich nicht lohne (vgl. Radebold 1992). Dem Bemühen von Einzelpersonen und informellen Gruppen innerhalb der verschiedenen Therapieschulen ist es zu verdanken, dass seit den 1990er Jahren von einer Systematisierung der Alterspsychotherapie gesprochen werden kann. Dies umfasst die weitere Etablierung sowie eine bereits zunehmende Differenzierung und einsetzende Subspezialisierung (vgl. Forstmeier u. Maercker 2008; Heuft et al. 2005; Gallagher-Thompson et al. 2008). Heute steht die Alterspsychotherapie für alle Therapieansätze von kranken bzw. gestörten Menschen mit psychologischen Mitteln (▶ Abschn. 1.5).

    Die Systematisierung der Alterspsychotherapie umfasst die bereits zunehmende Differenzierung und einsetzende Subspezialisierung.

    Von den therapeutischen Ansätzen der Alterspsychotherapie ist zweckmäßig ein Bereich zu trennen, in dem es um die Interventionen bei irreversiblen Altersprozessen geht. Für diesen Bereich wurde der Begriff „klinische Gerontopsychologie (engl.: „clinical geropsychology) gewählt. Diese Unterscheidung macht darauf aufmerksam, dass einige wichtige psychische Störungen im Alter (v. a. die Demenzen) bislang als irreversible Prozesse anzusehen sind, die nicht kausal mit psychologischen Mitteln behandelt werden können. Andere irreversible Prozesse des Alterns sind darüber hinaus die Einschränkungen in sensorischen, motorischen sowie sozialen Funktionsbereichen. Hier sind im Sinne der früheren Interventionsgerontologie lerntheoretische und sozialinterventive Rehabilitationskonzepte indiziert. Klinische Gerontopsychologie bezieht sich deshalb z. B. auf die Problemfelder des Übergangs ins Altenheim, der Beratung bei Behinderung sowie der Betreuung von Demenzkranken (Kap. 13).

    1.2 Junge Alte und Hochaltrige

    Hinsichtlich der Unterscheidung von alten Menschen und noch nicht alten Menschen gilt als Grenze zwischen „alt und „noch nicht alt gewöhnlich das 65. Lebensjahr. Diese Altersgrenze wurde in erster Linie aus kulturellen Gründen gesetzt und nicht etwa deshalb, weil das 65. Lebensjahr genau den unliebsamen Punkt markiert, an dem plötzlich und unvermittelt die körperlichen und psychologischen Alterungsprozesse einsetzen. Inzwischen hat sich eine weitere Altersunterscheidung zwischen den „jungen Alten und den „Hochaltrigen oder „alten Alten" etabliert. Für diese Unterscheidung haben sich auch die Begriffe 3. und 4. Lebensalter eingebürgert. Wiederum gibt es zwischen diesen Altersgruppen keine eindeutigen physiologischen oder psychologischen Unterscheidungsmerkmale. Die Angaben zur Altersgrenze zwischen den jungen Alten und den Hochaltrigen variieren deshalb zwischen dem 75. und dem 85. Lebensjahr.

    1.2.1 Einteilung in 3. und 4. Lebensalter

    Ein durch viele Befunde zu illustrierendes Ergebnis der Gerontopsychologie ist, dass sich die potenziell dreißig und mehr Lebensjahren nach dem Erreichen der Altersgrenze durch mannigfaltige Lebenswege und Gesundheitsverläufe kennzeichnen lassen. Der Fortschritt der Medizin hat es ermöglicht, dass in den entwickelten Ländern ein großer Teil der Menschen das 3. Lebensalter ohne nichtkompensierbare gesundheitliche Einschränkungen verbringen kann. Für das 3. Lebensalter wird immer noch ein neuer Begriff gesucht, der die Möglichkeiten dieses Lebensabschnitts charakterisiert. Vorgeschlagen wurden „Freie Jahre, „Silver Ager oder „Generation Gold".

    Im 3. Lebensalter lässt sich für die überwältigende Anzahl älterer Menschen feststellen, dass sie über ausreichende Ressourcen verfügen, ihr Leben autonom und zielorientiert zu gestalten, v. a. wenn sie einen Partner oder andere enge Vertraute sowie ausreichende ökonomische und soziale Stützsysteme haben. In dieser Phase sind hedonistische Projekte durchaus verbreitet, wenn die Betreffenden beispielsweise eine intensive Reisetätigkeit unternehmen oder sich in zunehmendem Maße um eine Übersiedlung in „sonnensichere" südeuropäische Regionen bemühen. Vielfach ist dies auch die Lebensphase, in der die aus dem Berufsleben Ausgeschiedenen sich intensiv um die Familienerziehung der Enkel kümmern und damit die Zwischengeneration der eigenen Kinder entlasten. Die mittlerweile für viele Menschen erfahrbare Belle Epoque des 3. Lebensalters setzt sich bekanntermaßen allerdings nicht endlos fort.

    Das 4. Lebensalter ist ein Zeitalter mit „Trauerflor" (Baltes 1997). Es ist durch die zunehmende Verdichtung von biologisch-organischen Risiken gekennzeichnet, die mit zunehmendem Alter über die Hälfte der Hochaltrigen erfasst. Je weiter das Alter fortschreitet, umso schwieriger wird die weitere Gestaltung von positiven Resultaten. Zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des 4. Lebensalters gehören chronische körperliche Erkrankungen, Multimorbidität, Verluste wichtiger Bezugspersonen, sensorische und motorische Einschränkungen, hirnorganische Erkrankungen, Hilfsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit.

    Jedoch können Forschungsergebnisse der großen Längsschnittsstudien belegen, dass die interindividuelle Variabilität auch im hohen Alter, bei den 90- und 100-Jährigen sehr ausgeprägt ist. Die großen interindividuellen Unterschiede scheinen v. a. durch drei Ursachenkomplexe bedingt zu sein.

    Erstens gibt es Unterschiede in den Anlage- und Umweltbedingungen, deren Effekte sich im Lebenslauf kumulieren.

    Zweitens gibt es Individuationseffekte durch die persönliche Lebensgestaltung in Bezug auf körperliche und geistige Fähigkeiten sowie soziale Beziehungen.

    Drittens wird die Variabilität im letzten Lebensabschnitt noch größer bzw. trotz selektiver Sterblichkeit beibehalten, weil der normale Alterungsprozess durch die verschiedensten Erkrankungen in seinem Verlauf verändert wird.

    1.2.2 Subjektive Wahrnehmung der Alternsprozesse

    Das Altern ist nicht nur durch objektive Veränderungen körperlicher, kognitiver und anderer Funktionen gekennzeichnet. Darüber hinaus spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle die gesellschaftlich vermittelten persönlichen Überzeugungen, die intuitiven Erklärungen bzw. subjektiven Theorien des Alterns und die vor diesem Hintergrund aus der Deutung der eigenen Situation abgeleiteten Zukunftserwartungen. Die gesellschaftlich dominierenden Alterserwartungen haben die Funktion von Stereotypen, mit denen sich jeder einzelne umso mehr auseinanderzusetzen hat, je näher er selbst dem hohen Lebensalter kommt. Negative Altersstereotype sind bis heute sehr verbreitet, wenn auch ein leichter Trend zur Revision beobachtbar ist (Rothermund 2009).

    Wichtig für die hier abzuhandelnde Thematik ist jedoch, dass sich die Alterserwartungen von jungen und alten Menschen ebenfalls gravierend unterscheiden. Viele Jüngere vermeiden die Gedanken an das eigene Altwerden, da sie vorrangig negative Veränderungen befürchten. Ältere Menschen wiederum bringen Jüngerer manchmal mit der Äußerung zum Lächeln: „Man ist so alt wie man sich fühlt, und ich fühle mich noch ziemlich jung!". Wie im folgenden ▶ Abschn. 1.2.3 gezeigt werden wird, sind zumindest die Menschen im 3. Lebensalter den jüngeren Erwachsenenaltersgruppen mit hohen Werten der Lebenszufriedenheit und des Wohlbefindens voraus und auch die Mehrzahl der Hochaltrigen steht diesem Trend nicht nach.

    1.2.3 Altern im Kontext der Geschichte

    In jeder Generation ändern sich die Bedingungen des Älterwerdens und Altseins. In diesem Zusammenhang verändern sich individuelle Selbstdefinitionen, Werteeinstellungen bis hin zu Leidenspräsentationen (Verleugnung psychischer Belastung zugunsten multipler körperlicher Beschwerden). Ein quer-längsschnittlicher („cross sequential") Gruppenvergleich untersuchte, ob sich das Ausmaß von Selbstzentriertheit versus Altruismus bei Depressiven zwischen den 1950er und 1990er Jahren änderte und fand bei jeweils über 40-Jährigen einen Anstieg der Selbstzentriertheit und verringerten Altruismus (Mundt et al. 2009). In familiären und sozialen Bezugssystemen ändern sich im Laufe der Jahrzehnte typische Muster wie Kern-, Groß- oder Patchworkfamilie und die Formen des Kontakthaltens zwischen Verwandten und Freunden (z. B. Telefon/Skype, Internet, soziale Netzwerke). Dazu kommen unterschiedliche geschichtliche Erfahrungshintergründe, die Biografien und damit den persönlichen Erlebnis- und Erinnerungshintergrund von Generation zu Generation verschieden gestalten (Tab. 1.1) (Radebold 2012).

    Tab. 1.1

    Schlüsselerfahrungen für Kinder und Jugendliche in Abhängigkeit vom Geburtsjahrgang. (Nach Radebold 2012)

    Die in der Übersicht genannten ausgewählten Schlüsselerfahrungen prägen Biografien. Ihre übersichtsmäßige Kenntnis kann die Kommunikation mit den älteren Jahrgängen erleichtern. Im Rahmen der Biografiearbeit oder des therapeutischen Lebensrückblicks dienen solche Erfahrungen und Erlebnisse als Erinnerungsanker (Maercker u. Forstmeier 2012, s. Kap. 9).

    1.3 Psychologische Besonderheiten des 3. und 4. Lebensalters

    1.3.1 Lebensspannenpsychologie

    Kenntnisse über psychologische Alternsprozesse sind für die Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie wichtige Hilfsmittel für die Ausgestaltung therapeutischer bzw. rehabilitativer Interventionen. Der folgende Abschnitt gibt deshalb einen Überblick über eine Reihe vergleichsweise neuer Ergebnisse der Gerontologie bzw. Gerontopsychologie. Dabei wird ein Vorgehen gewählt, dass sich auf die theoretische Systematisierung der Besonderheiten älterer Menschen stützt (Verluste, Gewinne, Kompensation) und nicht auf eine eher traditionelle Darstellungsweise einzelner Funktionsbereiche (Intelligenz, Kognition, Emotionalität, Persönlichkeit, Sozialverhalten).

    Theoretische Systematisierung der Besonderheiten älterer Menschen und nicht Darstellung einzelner Funktionsbereiche.

    Erste theoretische Systematisierung

    Die Gerontologie unterteilt dabei in

    normales Altern,

    pathologisches Altern und

    optimales (erfolgreiches) Altern (Rowe u. Kahn 1998).

    Normales Altern wird dabei insbesondere durch das demographische Kriterium des Erreichens der durchschnittlichen Lebensspanne definiert. Es wird lediglich durch alternstypische Einbußen auf organisch-somatischen und psychischen Ebenen definiert. Pathologisches Altern wird durch das Auftreten von Krankheiten und erheblichen Funktionseinschränkungen mit Einbuße an Lebensqualität und mit Verkürzung der individuellen Lebensspanne bestimmt. Optimales Altern kennzeichnet den Zielzustand eines Lebens mit weitreichender Autonomie, Lebenszufriedenheit und das Erreichen weiterer individuell gewünschter Lebensziele.

    Zweite theoretische Systematisierung

    Hier erfolgt die Unterscheidung von drei zentralen Regulationszielen des Psychischen über die gesamte Lebensspanne (Baltes u. Carstensen 1996; Staudinger u. Lindenberger 2003):

    1.

    Zuwachs („growth"): Erreichen eines höheren Funktionsniveaus,

    2.

    Aufrechterhaltung („maintenance"): die Vermeidung negativer Einwirkungen,

    3.

    Verlustregulation: betrifft organische Funktionsverluste und soziale Verluste.

    In Abb. 1.1 sind die Entwicklungsverläufe dieser drei Prozesse im höheren Lebensalter schematisch aufgetragen (vgl. Baltes 1997). Während die Zuwachsfunktion im höheren Lebensalter in den Hintergrund tritt, verstärkt sich die Bedeutung von Aufrechterhaltung und Verlustregulation.

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    Abb. 1.1

    Schematische Darstellung von 3 Wirksystemen, die als Rahmenbedingungen die Entwicklung in der Lebensspanne mitbestimmen. (Aus Baltes 1997, S 193; mit freundlicher Genehmigung)

    Anders ausgedrückt besagt dies, dass die Entwicklungsdynamik im Alter durch eine Maximierung von Gewinnen und eine Minimierung von Verlusten gekennzeichnet ist (Baltes 1997). Als Gewinne werden dabei Anpassungs- und Kompensationsleistungen sowie die Ausbildung von neuen Verhaltensmerkmalen gesehen. Der psychologischen Gewinn-Verlust-Konzeption liegt dabei eine altbekannte Perspektive zugrunde, die Einsicht, dass Krisen auch Chancen erzeugen können.

    Mittlerweile wurden in der Gerontologie einige psychologische Konzepte untersucht, die als unmittelbare Gewinne des Alters gesehen werden können: z. B.

    Reife,

    Lebenswissen oder

    Weisheit (Knight u. Laidlaw 2009; Staudinger u. Glück 2011).

    Die Gewinn-Verlust-Perspektive der Lebensspannenpsychologie wurde bereits früher auf den Bereich der Alterspsychotherapie bzw. klinischen Gerontopsychologie angewendet. Bob G. Knight hat in diesem Zusammenhang ein umfassendes Rahmenmodell entwickelt (Knight u. Lee 2008, s. Kap. 3), in dem der Reifebegriff eine zentrale Rolle spielt. Seine kontextuelle Lebensspannentheorie zur adaptierten Psychotherapie benutzt den Begriff der „Reife als zusammenfassenden Begriff für die Gewinne, während die Verluste zusammenfassend als „Herausforderungen bezeichnet werden. Im weiter unten beschriebenen „Alters- und störungsspezifischen therapeutischen Rahmenmodell" (Maercker 2003; ▶ Abschn. 1.5.3) werden die Gewinne als erleichternde und die Verluste als erschwerende Faktoren einbezogen.

    Die folgende Darstellung der für die Psychotherapie relevanten Altersveränderungen wird ebenfalls in Form einer Verlust-Gewinn-Bilanzierung vorgenommen. Dabei werden externale Veränderungskonstellationen (z. B. Partnerverluste, finanzielle Einbußen) und deren intrapsychische Regulation integriert dargestellt.

    1.3.2 Verlustbilanzierung

    Eine Übersicht wichtiger Verluste und deren Regulation bezieht sich auf die Rollenverluste, die Verluste nahestehender Personen, physiologische und kognitive Funktionseinbußen sowie die Kumulationseffekte von Belastungen. Die Darstellung kann wichtige Untersuchungsergebnisse dabei nur auswählen und verkürzt darstellen, sodass für weiterführende Interessen auf die jeweils angegebene Literatur verwiesen wird.

    Pensionierung

    Die Berentung ist die erste Rollenveränderung, die das Erreichen des höheren Lebensalters markiert. Zeitlich vorhergehend ist zwar in der Regel ein Rollenverlust als erziehendes Elternteil im mittleren Erwachsenenalter vorhergegangen, dieser ist aber dem mittleren Erwachsenenalter zuzuordnen („midlife crisis"). Die Pensionierung wird traditionell als Verlustereignis eingestuft oder als sozialer Tod (Guillemard 1973). Inzwischen hat sich allerdings gezeigt, dass die Bewältigung dieses Rollenverlustes in der Mehrzahl gut gelingt und kein längerfristiges Gesundheitsrisiko darstellt.

    Mayring (2000) fasste die Ergebnisse großer Längsschnittsstudien zusammen und zeigte, dass die Pensionierung im Zeitverlauf unterschiedlich verarbeitet wird. Dabei lassen sich mehrere Phasen unterscheiden:

    Die typischerweise im mittleren Lebensalter vorherrschende vage, aber positive Haltung zur Pensionierung verschlechtert sich kurz vor der Pensionierung drastisch.

    Oft kommt es in der ersten Zeit nach der Pensionierung zu einem kurzfristigen Erholungseffekt (Honeymoon-Phase).

    Unter bestimmten Bedingungen (z. B. finanzielle, gesundheitliche Sorgen, ausgeprägte Beziehungsverluste) folgt eine Enttäuschungsphase.

    Daran schließt sich eine Neuorientierungsphase an, die durch das Einstellen auf die neue Realität und neue Engagements gekennzeichnet ist.

    Die Ergebnisse einer umfangreichen Analyse des deutschen Sozio-Ökonomischen Panels mit 1500 Personen, die mehrfach vor und nach ihrer Pensionierung untersucht wurden, ergaben drei typische Verläufe (Pinquart u. Schindler 2007):

    Die 1. Gruppe (76 %) zeigte einen zeitweisen Anstieg der Lebenszufriedenheit direkt nach der Pensionierung, danach wieder eine Lebenszufriedenheit auf dem früheren Niveau;

    Die 2. Gruppe (15 %) zeigte zum Pensionierungszeitpunkt einen kurzfristigen Anstieg, der dann aber von einem längerfristigen Abfall der Lebenszufriedenheit gekennzeichnet war.

    Die 3. Gruppe (9 %) zeigte eine kurzfristige geringe Einbuße der Lebenszufriedenheit mit einem nachfolgenden Wiederanstieg.

    Anstiege und Abfall der Lebenszufriedenheit in den drei Gruppen spielten sich innerhalb eines Jahres ab. Eine frühere Studie legt nahe, dass es sich um Halbjahreszeiträume handelt (Niederfranke 1992). Pinquart u. Schindler (2007) untersuchten auch, welche Faktoren bestimmten, welcher Verlaufsgruppe man angehörte. Die Personen der ersten Gruppe waren statistisch häufiger zusammenlebend (Ehe oder andere Partnerschaftsform), körperlich gesund und lebten finanziell besser gestellt als die beiden anderen Gruppen. Zudem erfolgte die Pensionierung in der ersten Gruppe meist im Norm-Renteneintrittsalter und nicht durch verschiedene Formen der Frühpensionierung. In der zweiten Gruppe waren vergleichsweise häufig Personen vertreten, die vor der Pensionierung arbeitslos waren.

    Welche Bewältigungsformen wenden frisch Pensionierte an , um diesen Lebensübergang zu verarbeiten? In einer Untersuchung der individuellen Sinnfindung, sog. Daseinsthemen (Niederfranke 1992), wurde eineinhalb Jahre nach der Berentung folgendes gefunden: Am häufigsten wurden positive Sinnfindungsthemen berichtet, nur bei einer Minderheit dominierte das Sinnlosigkeitserleben (Tab. 1.2).

    Tab. 1.2

    Erleben der Pensionierung 18 Monate nach Eintritt als Ergebnis einer Clusteranalyse. (Nach Niederfranke 1992, S 201)

    Für die Pensionierung zeigt sich, dass die Berufsrollenaufgabe in der Mehrzahl der Fälle und im Verlauf nicht als subjektiv empfundener Verlust interpretiert werden kann. Die empirischen Daten belegen vielmehr, dass die Mehrzahl der Pensionierten sich mit positiven Einstellungen an diese Lebensveränderung gewöhnt und sie sogar als sinnstiftenden Gewinn erlebt hat. Es gibt allerdings auch eine vergleichsweise kleine Gruppe derjenigen, die den altersgemäßen Berufsausstieg negativ verarbeiten. Bis heute sind allerdings keine Studien durchgeführt worden, die untersuchen, ob in der Gruppe mit negativem Ausgang vorherbestehende psychische Störungen eine Rolle spielen.

    Berufsrollenaufgabe wird in der Mehrzahl der Fälle und im Verlauf nicht als subjektiv empfundener Verlust interpretiert.

    Partnerverlust und Verlust nahestehender Personen

    Im höheren Lebensalter kommt es bekanntlich zunehmend zum Partnerverlust durch den Tod. Beispielsweise sind von allen Personen im Verwitwungsstatus ca. 90 % älter als 60 Jahre (Statistisches Bundesamt 2012). In der Berliner Altersstudie war ca. die Hälfte der über 70-Jährigen verwitwet (Wagner et al. 2010). Unter der Berücksichtigung der Geschlechtsdifferenzen ergab sich, dass ca. zwei Drittel der Männer, jedoch nur 10 % der Frauen in dieser Altersgruppe noch verheiratet sind . Der Verlust von Lebenspartnern ist allerdings nicht die einzige Art von Verlusten nahestehender Personen. Dies kann auch der Tod eigener Kinder, von Verwandten und Freunden sein. Allerdings ist nur das Thema des Partnerverlusts bisher ausreichend empirisch untersucht worden.

    Die Verwitwung bedeutet den Verlust einer häufig langjährigen emotional hoch besetzten Beziehung, gleichgültig, wie befriedigend oder konfliktreich sie verlaufen ist. Dennoch kommen Überblicksbeiträge über den Partnerverlust (z. B. Bonanno et al. 2008) zu dem Schluss, dass das vorherrschende Bild alter verwitweter Menschen, das einseitig die Überforderung, Fehlentwicklung und pathogene Auswirkungen in den Mittelpunkt stellt, aufgrund der Forschungsliteratur nicht länger haltbar ist.

    Ähnlich wie für den Berufsrollenverlust muss man differenzielle und Verlaufsunterschiede berücksichtigen. Bonanno et al. (2008) fassten die Ergebnisse vieler Studien zusammen mit dem Ergebnis, dass nicht generell von einer herabgesetzten Lebenszufriedenheit verwitweter Personen im Vergleich mit Verheirateten gesprochen werden kann. Die große Varianz innerhalb der Gruppe der Verwitweten bezieht sich u.a. auch auf geschlechtsspezifische Differenzen durch größere Schwierigkeiten verwitweter Männer, eine zufriedenstellende Einbindung zu erleben.

    Die Verwitwungs- bzw. Trauerforschung legt nahe, ebenfalls von einem phasenhaften Verlauf auszugehen. Dabei kann man unterscheiden zwischen:

    Möglichkeit der Antizipation des Partnerverlusts durch eine vorausgehende Krankheit,

    der kurzfristigen Reaktionen auf den Tod (Schock der ersten Stunden und Tage),

    der mittelfristigen Verarbeitung (Trauerjahr) und

    langfristigen Folgen (Jahre nach dem Partnerverlust).

    Prototypisch für Verläufe können Ergebnisse aus einer bekannten amerikanischen Trauerstudie gelten (Yale Bereavement Study), in der Verwitwete untersucht wurden, die im Mittelwert 68 Jahre alt waren. Drei Verlaufstypen ergaben sich (Ott et al. 2007):

    1.

    Allgemeine Trauer (49 %): Nach erhöhten Trauer- und Depressionswerten stellte sich nach neun bzw. 18 Monaten die Ausgangsbefindlichkeit wieder her.

    2.

    Resilienter Verlauf (34 %): Über den gesamten Zeitraum zeigten diese Personen niedrige Trauer- und Depressionswerte und eine hohe Lebenszufriedenheit.

    3.

    Chronische Trauer (17 %): Sie zeigten anhaltend hohe Trauer- und Depressionswerte.

    Personen mit chronischem Trauerverlauf hatten am häufigsten unerwartete, plötzliche Tode erlebt und zeigten zudem das vergleichsweise geringste Selbstwertgefühl sowie die höchste psychische Abhängigkeit vom Partner. Diejenigen Personen mit resilientem Verlauf wiesen in der untersuchten Gruppe den höchsten Anteil an religiöser Orientierung auf.

    In einer deutschen qualitativen Längsschnittsstudie wurde nach 18 Monaten die subjektive Lebenszufriedenheit seit der Verwitwung erfragt (Niederfranke 1992). Dabei ergaben sich nur bei ca. einem Achtel der Personen negative Werte (Tab. 1.3).

    Tab. 1.3

    Selbsteinschätzungen von Verwitweten 18 Monate nach dem Tod des Partners. (Mod. nach Niederfranke 1992, S 319)

    Wurde nach der persönlichen Sinnfindung gefragt , war der Anteil der negativen Bewertungen mit 30 % höher (s. Tab. 1.4). Dies weist darauf hin, dass die Trauerverarbeitung ein mehrdimensionaler Prozess ist, bei dem die wiederhergestellte eigene Lebenszufriedenheit nicht direkt mit der Bewältigung des Verlustes verbunden sein muss (Kap. 9).

    Tab. 1.4

    Cluster anhand der erfragten Daseinsthemen (nur Frauenstichprobe). (Mod. nach Niederfranke 1992)

    Insgesamt belegen die zitierten Studien, dass im zeitlichen Verlauf nach einem Verlusterlebnis sich die fast bei allen Betroffenen vorhandenen unmittelbaren Reaktionen reduzieren und sich bei einer überwiegenden Mehrzahl eine tragfähige Lebenszufriedenheit wieder einstellt. Wiederum ist nicht klar, ob in der Gruppe derjenigen, die auch langfristig negative Folgen angeben, vorherbestehende oder neue psychische Störungen eine Rolle für diese Verläufe spielen.

    Physiologische und kognitive Funktionseinbußen

    Die geriatrische Forschung hat nachgewiesen, dass Altern auch im Normalfall durch eine Reduktion vieler physiologischen Funktionen gekennzeichnet ist. Diese Funktionseinschränkungen zeigen sich häufig erst unter besonderer Beanspruchung des jeweiligen Organs in Form einer verminderten Funktionsbereitstellung für die Beanspruchung und/oder in einem verlängerten Zeitraum für die Erholungsphase der Organfunktion. Ein medizinisches Beispiel hierfür ist der verstärkte Anstieg des Blutdrucks beim älteren Menschen unter Belastung und die anschließend verlängerte Erholungsphase bis zur Rückkehr des Blutdrucks zur individuellen Norm (Renteln-Kruse 2009). Subjektiv wirkt sich dies z. B. in Problemen beim Treppensteigen aus, das langsamer und mit Pausen vollzogen werden muss und dessen resultierender Erregungs- und Schwächezustand noch für Minuten anhalten kann (Abb. 1.2).

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    Abb. 1.2

    Abnahme verschiedener Organfunktionen und biomedizinischer Parameter in Abhängigkeit vom Lebensalter. (Nach Skinner 1971, aus Gerok u. Brandstätter 1992; mit freundlicher Genehmigung)

    Die aus den physiologischen Funktionseinschränkungen resultierenden Beeinträchtigungen der Alltagskompetenz sind ebenfalls gut untersucht (Steinhagen-Thiessen u. Borchelt 2010). Die alterstypischen Beeinträchtigungen in Alltagskompetenzen werden in der Regel mittels standardisierter Skalen erfasst. Die ADL-Skala (A ctivities-of- D aily- L iving-Skala; Lawton u. Brody 1969) erfasst den Bereich der unmittelbar auszuführenden Tätigkeiten (z. B. Anziehen, Körperpflege) bzw. die Hilfsbedürftigkeit für diese Aktivitäten. Die IADL-Skala (Instrumental Activities of Daily Living; Lawton u. Brody 1969) erfasst die notwendigen Aktivitäten für eine Eigenversorgung (z. B. Einkaufen, Distanzen überwinden) .

    Im Datensatz der interdisziplinären Berliner Altersstudie ergab sich eine Abschätzung der Hilfsbedürftigkeit durch die Untersuchung der ADL und IADL (s. Tab. 1.5). Demnach ist ca. ein Fünftel der älteren Menschen nicht mehr in der Lage, alleine längere Distanzen zurückzulegen, womit u.a. eine vergleichsweise noch etwas höhere Hilfsbedürftigkeit beim Einkaufen verbunden ist. Die eigene Körperpflege kann von ca. jedem Zwölften nicht mehr durch Baden oder Duschen durchgeführt werden, sodass die Betroffenen auch für den Intimbereich auf Hilfspersonen angewiesen sind.

    Tab. 1.5

    Funktionsverluste bei täglichen Aktivitäten, Hilfsmittelgebrauch und sensorische Behinderung in der Altersgruppe 70- bis 84-Jähriger* (Quelle: Steinhagen-Thiessen u. Borchelt 2010)

    a Hilfsbedürftigkeit beinhaltet „Unterstützung erforderlich und „vollständige Abhängigkeit.

    b Größere Distanz im Stadtverkehr zurücklegen (außerhalb der Reichweite zu Fuß).

    c Fern- und/oder Nahvisus unter 0,2.

    d Audiometrie-Hörschwellen > 55 dB (0,25-2 kHz) und/oder > 75 dB (3-8 kHz).

    Sensorische Beeinträchtigung

    Eine weitere wichtige Veränderung im Alter ist die sensorische Beeinträchtigung – insbesondere durch die Seh- und Hörstörungen (s. Tab. 1.5). Ein größerer Prozentsatz älterer Menschen hat eine Einbuße an Sehschärfe und Hörfähigkeit zu verzeichnen . Zur Visusverbesserung sind Brillen und Lupen Möglichkeiten, die eine annähernd gleiche Sehleistung wiederherstellen können. Bei den altersbedingten Hörbehinderungen sind demgegenüber apparative, elektronische Hörhilfen noch nicht so weit verbreitet. Bei einem Teil der älteren Hörbehinderten, deren verminderte Hörfähigkeit nicht kompensiert wurde, traten verstärktes Misstrauen, Fehlinterpretationen ihrer Wahrnehmungen bis hin zu paranoiden Ideen auf.

    Überraschende Ergebnisse der Gerontopsychologie haben gezeigt, dass sensorische Altersdefizite in vergleichsweise hohem Ausmaß mit kognitiven Beeinträchtigungen (Lindenberger u. Baltes 1999) und die sensorischen Funktionen im hohen Lebensalter in Höhe einer multiplen Korrelation von R = 0,69 mit dem allgemeinen Intelligenzniveau verbunden sind . Bis dahin war man davon ausgegangen, dass v. a. der Schnelligkeitsverlust bei kognitiven Operationen die alterstypischen kognitiv-mechanischen Veränderungen (z. B. Merkfähigkeitsprobleme) bedingt. In Altersgruppenquerschnittsstudien wurde eine Reduktion der maximalen kognitiven Leistungsgeschwindigkeit von 100 % bei 20-Jährigen auf nur noch 40 % bei 70-Jährigen berichtet. Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass diese Verlangsamung aufgrund verschiedener kognitiver Kompensationsmöglichkeiten nicht per se als wesentliche Leistungseinschränkung interpretiert werden kann.

    Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Reihe der an sich irreversiblen physiologischen und kognitiven Beeinträchtigungen durch externe Kompensationsmittel (z. B. Medikamente, Seh-, Hörhilfen, höheren Zeitverbrauch) weitgehend ausgeglichen werden können. Die gilt so lange, wie die Betreffenden selbst in der Lage sind, sich zielgerichtet diese Kompensationsmittel zu beschaffen oder ihnen durch Personen ihres sozialen Netzwerkes diese Hilfen besorgt werden.

    Weitere Belastungen und Kumulationseffekte

    Potenzielle Belastungen im Alter sind nicht nur die Rollen- und Partnerverluste, die physiologischen und kognitiven Funktionseinbußen sondern auch eine große Anzahl weiterer Konstellationen. Dazu gehören z. B.:

    körperliche und psychische Erkrankungen: vorherbestehend oder neu auftretend,

    finanzielle Probleme,

    traumatische Erlebnisse, z.T. in früheren Lebensphasen,

    das Bewusstmachen des eigenen nahen Todes.

    Im Folgenden sollen diese genannten Problembereiche kurz erläutert werden. Daran schließt sich eine Darstellung der kumulativen Belastungen an. Weitere Belastungsfaktoren durch psychische und körperliche Erkrankungen werden später im ▶ Abschn. 1.4 behandelt.

    Finanzielle Probleme: Armut im Alter

    Soziologische Untersuchungen verweisen darauf , dass heute immer noch ein Teil der älteren Menschen im deutschsprachigen Raum nur über ein sehr geringes Einkommen verfügt. Es wird geschätzt, dass ungefähr 15 % der älteren Bevölkerung von reiner Einkommensarmut betroffen oder ernsthaft bedroht sind (Kuratorium Deutsche Altershilfe 2009). Dabei sind alte Frauen deutlich schlechter gestellt als Männer derselben Altersgruppe (Wagner et al. 2010). Dieser Effekt beruht hauptsächlich darauf, dass Frauen entweder keine vollständige Erwerbsbiografie haben, geringer bezahlte Berufe ausgeübt haben oder für gleiche Arbeit schlechter bezahlt wurden. Ergebnisse der Berliner Altersstudie weisen darauf hin, dass in Deutschland Altersarmut unabhängig vom erlangten Bildungsabschluss auftreten kann (Wagner et al. 2010), d. h. auch Personen mit höherem Bildungsabschluss haben ein gewisses Armutsrisiko. Das Armutsrisiko ist weiterhin vom Familienstand abhängig: Geschiedene weisen die höchste Armutsquote auf (21 %).

    Traumatische Erlebnisse

    Traumatische Ereignisse, definiert als Erlebnisse eines Geschehens von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß (z. B. Kriege, Katastrophen, individuelle Gewalterfahrungen), werden von einem Teil der Betroffenen ohne psychische Langzeitwirkungen bewältigt (Maercker 2013; vgl. Kap. 9). Ein nicht zu vernachlässigender Teil traumatisierter Menschen bildet allerdings Langzeitwirkungen aus, insbesondere in Form der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).

    PTBS kann in direktem zeitlichen Zusammenhang mit einem traumatischen Erlebnis auftreten und möglicherweise über Jahrzehnte bis ins höhere Alter bestehen bleiben. Darüber hinaus kann PTBS auch nach Jahren eines subsyndromalen Verlaufs zu einem Vollbild exazerbieren, wobei der Eintritt in das Rentenalter und der Verlust weiterer sozialer Rollen potenzielle Anlässe dieser Exazerbation sind, sodass posttraumatische Belastungsstörungen im höheren Lebensalter keine Seltenheit sind. Zudem kann es bei älteren Menschen zu neu erlebten traumatischen Ereignissen wie Überfällen, Verkehrsunfällen oder anderen Bedrohungserlebnissen kommen.

    Über den gesamten Lebenslauf betrachtet, sind traumatische Erlebnisse keine Seltenheit. In einer großen epidemiologischen Studie in Deutschland wurde gezeigt, dass ca. 24 % aller Personen in ihrem Leben ein oder mehrere Traumata erlebt hatten (Maercker et al. 2008). Bei den über 60-Jährigen aus ganz Deutschland waren die häufigsten Traumata das direkte Erleben von Kriegshandlungen (24 %), Erlebnisse während der Heimatvertreibung (18 %), die Zeugenschaft eines nichtkriegsbezogenen Traumas (16 %), erlebte körperliche Gewalt (8,5 %) bis hin zu Kindesmissbrauch sowie Vergewaltigung in jeweils 1 % der Bevölkerung. Diagnostiziert man eine PTBS nach den enggefassten Kriterien des amerikanischen DSM-Systems, so haben 3,5 % aller Älteren eine aktuelle PTBS-Diagnose. Nach den weiter gefassten Kriterien des ICD-10 haben sogar 7,2 % der Älteren eine jetzige PTBS-Diagnose, was für eine weite Verbreitung dieser psychischen Störung im Alter spricht.

    Insgesamt sind Traumata und daraus resultierende Erkrankungen (insbesondere PTBS) eine im gerontologischen Kontext bisher weitgehend übersehene Belastungskategorie.

    Bewusstwerden des Todes

    Die hier zuletzt aufgeführte Kategorie von Belastungen, die Aktualisierung der eigenen Sterblichkeit, ist zwar ein in der Psychologie mehrfach untersuchtes allerdings in der Lebenswelt der älteren Menschen ein eher seltenes Phänomen. Freund (2000) fand anhand von Erfassungen von spontanen Selbstdefinitionen, dass das Nachdenken über Tod und Sterben nur bei 3 % der 70- bis 84-Jährigenangegeben wurde und bei 9 % der 85- bis 103-Jährigen. Es war damit die seltenste Kategorie zentraler Aspekte der Lebenswelt gegenüber 19 anderen Kategorien (z. B. eigene Interessen, Alltagsablauf, Gesundheit, Lebensrückblick). Staudinger et al. (2010) fanden in ihrer schon erwähnten Untersuchung mit 10 vorgegebenen Fragekategorien der gedanklichen Beschäftigung, dass das Thema „Tod und Sterben das drittseltenste war (vor „Beruflicher oder vergleichbarer Tätigkeit und „Sexualität"; vgl. Tab. 1.8). Diese Untersuchungen relativieren den von Außensteheden häufig angenommenen hohen Stellenwert des Bewusstwerdens des Todes bei Älteren zumindest in Bezug auf den zeitlichen Aspekt: An den Tod denken Ältere eher selten. Die Befunde sagen natürlich noch nichts darüber aus, ob dieses seltene Sich-Beschäftigen nicht andererseits als ganz besonders emotional wichtig empfunden wird und der emotionale Stellenwert den anderer Themen übersteigt.

    Kumulationseffekte von Belastungen im Lebenslauf

    In vielen Studien werden mit ganz verschiedenen Methoden die Auswirkungen verschiedener Belastungen untersucht. Der folgende Abschnitt kann nur einen exemplarischen Ansatz dazu referieren, der wiederum aus der interdisziplinären Berliner Altersstudie stammt. Es wurde untersucht, in welchem Ausmaß Depressionen mit Verlusten und Belastungen in einem breiten Bereich psychologischer, medizinischer und soziologischer Variablen zusammenhängen (Borchelt et al. 2010). Die Tab. 1.6zeigt, durch welche Problemfaktoren sich die Depressionen vorhersagen ließen .

    Tab. 1.6

    Problemfaktoren verschiedener Bereiche für Depressivität im höheren Lebensalter (relative Risiken, nach Borchelt et al. 2010)

    Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die signifikanten Prädiktoren verschiedene Facetten der Aufrechterhaltung der Autonomie betreffen, während die nichtsignifikanten Problemfaktoren sich in der Regel durch geeignete Mittel kompensieren lassen.

    Eine zweite Auswertungsstrategie der Berliner Altersstudie benutzte das subjektive Wohlbefinden als Zielvariable (Smith et al. 2010). Anhand multipler Regressionsanalysen ergab sich folgendes Bild:

    Hörbehinderung: kein Einfluss,

    Sehbehinderung: kein direkter Einfluss; indirekt moderiert über das subjektive Sehvermögen,

    Multimorbidität: kein direkter Einfluss, indirekt moderiert über subjektive Gesundheitseinschätzung und subjektive Einschätzung der sozialen Partizipation,

    Immobilität: kein direkter Einfluss; indirekt moderiert über die subjektive Gesundheitseinschätzung und die subjektive Sehvermögenseinschätzung,

    Partnerverlust: kein direkter Einfluss; indirekt moderiert über die verbleibende Verwandtenanzahl und Multimorbidität einschließlich deren weiterführende Moderatorvariablen,

    finanzielle Situation: kein direkter Einfluss, indirekt moderiert über Zufriedenheitseinschätzung der finanziellen Situation,

    soziale Partizipation: kein direkter Einfluss; indirekt moderiert über die Zufriedenheitseinschätzung der finanziellen Situation.

    Aus der Tab. 1.6 und der hier vorangehenden Liste, die leider nur einen Ausschnitt der relevanten Variablen umfassen, ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:

    1.

    Nicht alle Verlust- und Belastungsfaktoren erweisen sich im Zusammenspiel (Kumulation) als beeinträchtigende Größen. Insbesondere sind die sensorischen Funktionseinschränkungen eher von geringem Einfluss.

    2.

    Die Verlust- und Belastungsfaktoren wirken alle nicht direkt auf das subjektive Wohlbefinden, sondern werden durch psychologische Variablen (insbesondere subjektive Bewertungen) moderiert, d. h., die objektiven Verlustbilanzen werden weitgehend durch psychische Kompensationsmöglichkeiten ausgeglichen, die im Folgenden als Gewinne des Alterns bilanziert werden sollen .

    1.3.3 Gewinnbilanzierung

    Auf der Gewinnseite hat das höhere Lebensalter aus psychologischer Sicht u.a. die folgenden Veränderungen aufzuweisen: kumulierte Bewältigungs- und Lebenserfahrungen, motivationale und emotionale Veränderungen (Reife) sowie eine angepasste Wohlbefindensregulation. Diese werden nachfolgend dargestellt.

    Kumulierte Bewältigungs- und Lebenserfahrungen: Reife

    Die Bewältigungs- oder Coping-Forschung steht trotz der vergleichsweise vielen Jahre ihres Bestehens immer noch vor grundsätzlichen konzeptuellen Problemen , z. B.

    der Abgrenzung des Bewältigungskonzepts von anderen Konzepten (z. B. Verhaltenskontrolle, Abwehrmechanismen, Vermeidungsverhalten),

    den Einteilungsarten der Bewältigungsformen (dichotom oder multipel),

    den Benennungen aus verschiedenen theoretischen Perspektiven (u.a. „regressiv, „akkommodativ).

    Aus diesen konzeptuellen und definitorischen Gründen ist es schwer, einen Überblick über altersbezogene Veränderungen der Bewältigung zu geben (Aldwin 2011).

    Bewältigung

    Bewältigung kann zunächst einmal definiert werden als der Versuch, objektive Ereignisse, die „schlechte Nachrichten" beinhalten, wie Verluste, Bedrohungen oder Traumata, in eine subjektive Realität umzuformen, in der die Betroffenen in relativem Wohlbefinden leben können (Filipp u. Aymanns 2010).

    Diese Definition sieht Bewältigung als Form der Anpassungsleistung bzw. der Diskrepanzreduktion zwischen der Feststellung wie es ist und den Erwartungen wie es sein könnte.

    Die Hauptrichtung der älteren Literatur zum Thema Bewältigung lief auf die Einteilung in zwei Oberkategorien hinaus:

    das problemlöseorientierte Bewältigen und

    das emotionszentrierte Bewältigen.

    Diese beiden Bewältigungsformen wurden üblicherweise mit der „Ways-of-Coping-Liste" untersucht (Folkman u. Lazarus 1980). Zum problemlöseorientierten Bewältigen gehören die bewusste Planung konstruktiver Handlungen, die Suche sozialer Unterstützung oder die kämpferische Konfrontation mit der Situation. Zum emotionszentrierten Bewältigen gehören u.a. die Ablenkung, Selbstberuhigung oder Distanzierung in Konfliktsituationen.

    In einem querschnittlichen Vergleich verschiedener Altersgruppen zeigten sich folgende Ergebnisse (Folkman et al. 1987): Die über 65-Jährigen benutzen mehr emotionszentriertes Coping in Form von Distanzierung, d. h. die Älteren zeigten eine Tendenz, in Konfliktsituationen so zu tun, als wäre nichts passiert. Zusätzlich attributierten sie belastende Ereignisse der Umwelt entweder auf internale Ursachen oder nahmen eine positive Uminterpretation der Situation vor („Ist doch gar nicht so schlimm").

    In der weiteren Forschung hat sich allerdings gezeigt, dass Unterschiede im Bewältigungsverhalten eher etwas mit der Situations- und Kontextabhängigkeit eventuell altersabhängiger Unterschiedlichkeit von Situationen zu tun haben als mit chronologischem Alter: Ältere Menschen bewältigen meistens auf die gleiche Weise wie jüngere Menschen und in den Fällen, in denen sie andere Mechanismen anwenden, hat das mit ihrer andersgelagerten Lebenssituationen zu tun (vgl. McCrea 1989).

    Unterschiede im Bewältigungsverhalten sind eher situations- und kontextabhängig.

    Eine psychodynamische Konzeption von Bewältigungsprozessen ging von reifen versus unreifen Abwehrmechanismen aus (Vaillant 1980).

    Abwehrmechanismen

    Reife Abwehrmechanismen

    Unter reifen Abwehrmechanismen werden impulskontrollierte und sublimierende Strategien verstanden.

    Unreife Abwehrmechanismen

    Unreife Abwehrmechanismen sind impulsiv bzw. beinhalten eine Konfliktverleugnung.

    Im Standardmessverfahren, dem „Defense-mechanism"-Inventar (vgl. Cramer 2000) werden zwei reife und zwei unreife psychologische Abwehrmechanismen unterschieden:

    Reife Bewältigung (bzw. Abwehr)

    Ernstnehmen (Prinzipalization): Aus Problemen werden Erfahrungen für später abgeleitet.

    Uminterpretationder Situation (Reversal): Negative Aspekte einer Konstellation werden relativiert und die Situation neutral oder positiv umgedeutet.

    Unreife Bewältigung (bzw. Abwehr)

    Externalisierung („turning against object"): Es resultieren aggressive Impulse (z. B. Beschuldigungen), um mit einem Problem fertig zu werden.

    Projektion: Die Zuschreibung unerwünschter Eigenschaften der eigenen Person zu anderen Personen ohne bestätigende Hinweise darauf.

    In querschnittlichen Altersgruppenvergleichsstudien wurde gezeigt (Diehl et al. 1996), dass die genannten reifen Bewältigungsformen mit dem Alter zunehmen, während die unreifen Formen im höheren Lebensalter nur noch gering ausgeprägt sind (Abb. 1.3).

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    Abb. 1.3

    Altersvergleiche verschiedener Bewältigungsformen. (Nach Diehl et al. 1996; mit freundlicher Genehmigung)

    In der Berliner Altersstudie wurden einige zusätzliche Bewältigungsstile untersucht (Staudinger et al. 2010). Die drei häufigsten und die drei seltensten Bewältigungsstile gibt Tab. 1.7 wieder.

    Tab. 1.7

    Häufigste und seltenste Bewältigungsstile (über mehrere Situationen) bei älteren Menschen (über 70 Jahre). (Nach Staudinger et al. 2010, S 356)

    Staudinger betonte, dass die gefundenen Bewältigungsstile keinesfalls im Sinne eines emotionszentrierten, regressiven Copings zu interpretieren sind. Dafür spricht z. B. die seltene Angabe von Verantwortung abgeben oder Laufen lassen. Der häufigste Bewältigungsstil Vergleich mit früher verweist – ähnlich wie die im Alter häufige Bewältigungsform des Ernstnehmens – auf die enge Verbindung zwischen Bewältigung und kumulierter Lebens- und Lernerfahrung.

    Dem Bezugnehmen auf frühere Erfahrungen und dem Zurückblicken auf das eigene Leben scheint im höheren Lebensalter eine wichtige Rolle zuzukommen. In der Gerontopsychologie wurden Erinnerungs- und Lebensrückblicksprozesse in den letzten Jahren intensiv untersucht (Maercker u. Forstmeier 2013, s. Kap. 10) .

    Es wurden sechs verschiedene Stile des Lebensrückblicks beschrieben (Wong 1995 in Maercker u. Horn 2013), von denen drei eher dysfunktional sind:

    die defensive,

    die zwanghaft-repetitive und

    die narrative Reminiszenz.

    Die drei übrigen stellen jedoch gelungene Strategien dar:

    die integrative Rückschau, die v. a. durch Akzeptanz des eigenen Lebens in seinen positiven wie negativen Aspekten gekennzeichnet ist,

    die instrumentelle Rückschau, die auf der internalen Kontrollattribution der Lebensereignisse fußt sowie

    die generative Rückschau, bei der es um die Weitergabe persönlicher Erfahrungen und kultureller Werte geht.

    Studien zu den Lebensrückblicksstilen deuten an, dass die drei letztgenannten Formen mit höherer Lebenszufriedenheit und subjektivem Wohlbefinden einhergehen (Maercker u. Horn 2013).

    Motivationale und emotionale Veränderungen

    Regulative Prozesse im Alter lassen sich nicht nur unter Bewältigungs- und Erfahrungsaspekten zusammenfassen, sondern auch auf der basaleren Ebene als motivationale und emotionale Prozesse.

    Motivstruktur

    Wie sieht die Motivstruktur älterer Menschen aus, d. h. die Bereitschaft, bestimmte Ziele anzustreben? Traditionelle Konzepte der Motivationsforschung unterscheiden prototypische Motivgruppen, wie

    Leistungsmotiv,

    Beziehungsmotiv und

    Machtmotiv.

    In einer klassisch gewordenen Studie (Veroff et al. 1984) wurden diese Motive im querschnittlichen Altersgruppenvergleich untersucht. Die Leistungsmotiviertheit der Untersuchten nahm in der höheren Altersgruppe generell ab. Bei Frauen scheint diese Abnahme der Leistungsmotivation zum Teil deutlicher auszufallen als bei Männern. Auch die Beziehungsmotivation scheint bei Frauen im Alter in den Hintergrund zu treten. Dagegen verändert sich die Bedeutung der Machtthematik bei Frauen im Alter kaum.

    Für Männer fand sich ein anderes Bild: Das Beziehungsmotiv scheint bei ihnen altersinvariant zu sein – und generell in einem geringeren Ausmaß ausgeprägt als bei Frauen. Während bei ihnen die Machtthematik zwar im mittleren Lebensalter zunimmt, verliert sie im Alter an Bedeutsamkeit.

    Die sozioemotionale Selektivitätstheorie (Carstensen et al. 1999) traf genauere Aussagen über die Motivation für zwischenmenschliche Beziehungen. Postuliert wurde, dass im mittleren Erwachsenenalter das Informationsbedürfnis ein wesentliches Motiv zur sozialen Beziehungsaufnahme darstellt und dies bei älteren Menschen in den Hintergrund tritt. In den Vordergrund rückt vielmehr die emotionale Qualität der sozialen Beziehung. Diese Vorhersagen konnten empirisch belegt werden, ebenso wie sich daraus ergebende Folgen für die Beziehungsaktivitäten. Ältere Menschen weisen im Vergleich zu jüngeren eine an Quantität und Variabilität reduzierte Beziehungsstruktur (Kreis engster Bezugspersonen) auf, innerhalb dieses reduzierten Kreises investieren sie jedoch mehr emotionale Intensität.

    Die Rangreihung von Zielen und die Sinnfindung verändert sich: Ältere Menschen sind dabei häufiger gegenwartsorientiert („Den Tag genießen, so wie er gerade passiert), mehr auf das Erlebnis positiver Emotionen ausgerichtet („Möchte einfach glücklich sein) und auf die Unterstützung Jüngerer („Anderen helfen, ihren Lebenssinn zu finden) als jüngere Menschen, deren Ziele auf die Zukunft und auf die Verbreiterung der Erfahrung („Neue Länder kennenlernen) gerichtet sind (Pennigroth u. Scott 2012).

    In der Berliner Altersstudie wurde von Staudinger et al. (2010) die Motivationsthematik im Rahmen von Lebensinvestments untersucht . Die Probanden sollten zu 10 vorgegebenen Lebensbereichen oder -themen angeben, wie sehr sie an diese denken oder etwas dafür tun. Ein Teil dieser Lebensinvestments war innerhalb der Altersgruppe der 70- bis 100-Jährigen altersinvariant, ein anderer Teil korrelierte mit dem Alter (Tab. 1.8). Die Tabelle zeigt, dass die drei wichtigsten Ziele selbst im Hochbetagtenalter noch gleichermaßen relevant bleiben.

    Tab. 1.8

    Häufigste und seltenste Lebensinvestments bei älteren Menschen (über 70 Jahre). (Nach Staudinger et al. 2010, S 362)

    *** Korrelation ist hoch signifikant (p < 0,001)

    Affektbilanz

    Die psychische Entwicklung oder Reife im Erwachsenenalter ist unter anderem auch im Zusammenhang mit dem Auftreten und der Regulation der verschiedenen Emotionen untersucht worden, wobei hierzu auch Untersuchungen von Affekten (d. h. komplexere Gefühlszustände als die vergleichsweise elementaren Emotionen) gehören.

    Ready et al. (2011) verglichen die dominierenden Gefühls- und Affektzustände verschiedener Altersgruppen miteinander. Die Älteren gaben häufiger Achtsamkeit („attentiveness") als die Jüngeren an; bei den weiteren positiven Affekten, Frohsinn und Selbstzufriedenheit, unterschieden sich die Gruppen nicht. Die jüngeren Erwachsenen hatten höhere Werte für Angst, Traurigkeit, Schuldgefühle und Feindseligkeit als die Älteren.

    Untersuchungsserien, die früher querschnittlich und in den letzten Jahren auch längsschnittlich durchgeführt wurden, haben den Gefühlshaushalt im Sinne einer Affektbilanz von positiven und negativen Gefühlen untersucht. Eine methodisch sehr gute Kohortenlängsschnittsuntersuchung (Charles et al. 2001) zeigte, dass

    die Häufigkeit positiver gegenüber negativen Emotionen überwiegt,

    die Häufigkeit positiver Affekte im Laufe des Lebens etwas abnimmt, mit einer geringfügig steileren Kurve ab dem 60. Lebensjahr,

    die Häufigkeit negativer Affekte bis zum 60. Lebensjahr abnimmt und danach eher stabil bleibt (Abb. 1.4).

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    Abb. 1.4

    Ausmaß positiver und negativer Affektivität im Altersvergleich (Nach Charles et al. 2001; mit freundlicher Genehmigung)

    Für die Abnahme der positiven Affektivität im höheren Alter gibt es verschiedene Erklärungshypothesen :

    Nach den Forschungsergebnissen zu negativer und positiver Affektivität gilt es als wahrscheinlich, dass die positive Affektivität eher situational beeinflusst wird (d. h. durch erfreuliche Ereignisse und Reize), hingegen die negative Affektivität primär eine persönliche Disposition widerspiegelt. Das würde bedeuten, dass im Alter weniger positiv zu interpretierende situationale Reize vorliegen (Brennan et al. 2012).

    Ältere Personen zeigen weniger mit hohem Arousal/Erregung verbundene Emotionen (z. B. Freude, Begeisterung), was im Dienste einer übergeordneten Selbstregulation positiver Affektivität („weder himmelhoch jauchzend, noch zu Tode betrübt") stehen könnte (Kessler u. Staudinger 2009).

    Eine überzeugende integrierte Untersuchung zu diesen Hypothesen liegt noch nicht vor.

    Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass z. B. das Stereotyp von vorwiegend missmutig-pessimistisch gestimmten Alten nicht zutreffend ist. Es scheint eher das Produkt typischer Generalisierungsfehler zu sein. Die vorliegenden Befunde sprechen dafür, dass sich die Reichhaltigkeit von Emotionen im Alter nicht einschränkt, sondern eher die Selbstregulation bzw. Kontrolle eigener Emotionen zunimmt.

    Angepasste Wohlbefindensregulation

    Als eine zentrale Zielgröße der psychischen Regulationsprozesse kann – und zwar nicht nur im höheren Lebensalter - das subjektive Wohlbefinden gelten. Subjektives Wohlbefinden umfasst das Empfinden von Glück und eine zufriedene Bewertung des eigenen Lebens.

    Die Wohlbefindensforschung hat gezeigt, dass zwischen eher affektiven und eher kognitiven Komponenten des subjektiven Wohlbefindens zu unterscheiden ist, zwischen dem Gefühl des Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit (Diener et al. 2009). Diese beiden Komponenten bilden allerdings einen gemeinsamen Faktor zweiter Ordnung, was darauf hinweist, dass die affektive und die kognitive Komponente eine gemeinsame Basis haben. Die Untersuchungsergebnisse haben außerdem gezeigt, dass in die Einschätzungen sowohl überdauernde Trait- als auch kontextabhängige State-Aspekte gemeinsam einfließen und dass die intersituative Konsistenz der Wohlbefindenseinschätzung so hoch ist wie die anderer psychologischer Konstrukte (z. B. Selbstwirksamkeit, Kontrollüberzeugung).

    Ältere Menschen geben ein ebenso hohes subjektives Wohlbefinden an wie jüngere Altersgruppen (Diener u. Suh 1998; Smith et al. 2010). Diese Konstanz beherrscht das Bild bis in das 4. Lebensalter, in dem es zu einem vergleichsweise geringfügigen Abwärtstrend kommt. In der Berliner Altersstudie gaben zwei Drittel der befragten Personen des 3. und 4. Lebensalters an, dass sie zufrieden oder sehr zufrieden mit ihrem gegenwärtigen Leben sind (Abb. 1.5).

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    Abb. 1.5

    Altersunterschiede des objektiven Status in 8 Bereichen im Vergleich zum subjektiven Wohlbefinden. (Aus Schmith et al. 2010, S 541; mit freundlicher Genehmigung)

    Aus der Abb. 1.5 geht hervor, dass die Unterschiede in primären Lebensbereichen wie Gesundheit, Wohlstand und Liebe ebenfalls minimal sind, im Gegensatz zu den negativen Unterschieden in anderen Bereichen.

    Die weit in das höhere Lebensalter reichende annähernde Konstanz des subjektiven Wohlbefindens hat die Psychologie zunächst in Erklärungsnot gebracht. Es hätte aufgrund der körperlichen Einschränkungen und sozialen Funktionsverluste sowie der zunehmenden Krankheiten nahe gelegen, eine stärkere Verminderung des Wohlbefindens mit dem Alter anzunehmen. In der Psychologie hat sich zu diesem Sachverhalt der Begriff Wohlbefindensparadox eingebürgert (Staudinger 2000).

    Erklärungsansätze des Wohlbefindensparadox

    Viele der bereits in den vorhergehenden Abschnitten genannten psychologischen Veränderungen und Prozesse können als Erklärungen des Wohlbefindensparadoxes herangezogen werden:

    kumulierte Bewältigungserfahrungen (▶ Abschn. 1.3.3, „Kumulierte Bewältigungs- und Lebenserfahrungen: Reife"),

    Veränderungen der Motivstruktur und des Zielsystems (▶ Abschn. 1.3.3, „Motivstruktur"),)

    Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen (▶ Abschn. 1.3.3, Motivstruktur),

    der hohe Anteil positiver Affektivität (▶ Abschn. 1.3.3, „Affektbilanz").

    Zusätzlich zu diesen schon beschriebenen Prozessen spielen die psychologischen Mechanismen der Diskrepanzreduktion durch Vergleichsprozesse eine Rolle bei der Wohlbefindensregulation.

    Dass Vergleichsprozesse in der Wohlbefindensregulation eine Rolle spielen, wurde nicht nur für ältere sondern für Menschen aller Altersgruppen gezeigt. Eine Matrix von Vergleichsprozessen ermöglicht die Einteilung in soziale (mit anderen Personen) und temporale (mit früheren oder späteren Zeitpunkten) sowie in Aufwärts- (als Motivierung, mehr zu erreichen) und Abwärtsvergleiche (als Trost, dass es schlechter sein könnte). Sowohl soziale als auch temporale Vergleiche können aufwärts- und abwärtsgerichtet sein.

    Untersuchungen von Filipp u. Aymanns (2010) legen nahe, dass im Alter temporale Abwärtsvergleiche besonders wichtig werden. Während es viele Beispiele anderer Personen gibt, denen es vergleichsweise besser geht als einem selbst, ist es immer noch möglich, sich an schlechte Zeiten oder Ereignisse im eigenen Leben zu erinnern, die schlimmer als die Gegenwart waren. Im höheren Alter steht die selektive Erinnerung an überstandene Krisen und gemeisterte frühere Lebenssituationen im Zusammenhang mit höherem Wohlbefinden.

    Für viele Menschen in Deutschland fallen diese schlechten Zeiten in die Phase der zwei Weltkriege und der Nachkriegsjahre. Im Vergleich zu diesen Zeiten hat das Leben im Alter (trotz körperlicher Behinderungen) für die meisten der Betreffenden eine Wendung zum Besseren genommen.

    Stewart et al. (2013) zeigten in einer Längsschnittsstudie mit Älteren, die über ihren Umgang mit aktuellen Problemen befragt wurden, dass soziale Abwärtsvergleiche insbesondere in Situationen mit geringen Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten angewendet wurden. Wenn die Älteren in der Situation ein hohes Kontrollgefühl hatten, dann reichte dieses aus, um ihr hohes Wohlbefinden zu erklären. Insgesamt heißt das für die Wohlbefindensregulation im Zusammenhang mit einem negativ besetzten Lebensereignis: Soziale Abwärtsvergleiche („Es gibt Menschen, denen es schlechter geht als mir") spielen in unbeeinflussbaren Situationen eine funktionale Rolle.

    Grenzen der Wohlbefindensregulation

    Die angepasste Wohlbefindensregulation hat dennoch durchaus ihre Grenzen. Zunächst einmal beschreibt sie ein Regulationsprinzip innerhalb des normalen und des optimalen, nicht aber des pathologischen Alterns. D. h., ein Teil der jeweiligen Population gibt niedrige bzw. negative Wohlbefindenswerte an (Herschbach 2002). Dahinter sind teilweise Personen mit psychischen Störungen zu vermuten, obwohl dies in keiner der genannten Studien untersucht wurde. Darüber zeigen sich unter existenziellen Mangelzuständen z. B. in der Ernährung und der körperlichen Sicherheit niedrigere Wohlbefindenswerte.

    Auch im Verlauf des 4. Lebensalters scheint die Anpassung der Wohlbefindensregulation an ihre Grenzen zu stoßen. Mit Blick auf die Untersuchungsbefunde der Hochaltrigen in der Berliner Altersstudie stellen die Autoren die zu erbringende Anpassungsleistung in Form eines Schwellenmodells dar: Im hohen Lebensalter wird bei ständiger Zunahme der Verluste und ohne die Möglichkeit zu ausreichender Kompensation durch externe Ressourcen der Zusammenbruch der Wohlbefindensregulation immer wahrscheinlicher (Smith et al. 2010).

    Aussagen zur Verlust-Gewinn-Bilanz

    1.

    Ältere Menschen sind nicht per se psychisch belastet und beeinträchtigt: Der Mehrzahl der älteren Menschen – im 3. Lebensalter bzw. in den Bereichen des normalen und des optimalen Alterns – steht eine große Anzahl von Ressourcen zur Verfügung, um mit den auftretenden Einschränkungen und Verlusten fertig zu werden.

    2.

    Das 3. und 4. Lebensalter zeigt psychologische Besonderheiten gegenüber den früheren Lebensphasen, die es rechtfertigen, dass die Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie in ihren Modellen und Behandlungsansätzen im Vergleich zur Therapie von Erwachsenen des mittleren Erwachsenenalters zusätzliche Aspekte berücksichtigt .

    1.4 Psychische Störungen

    1.4.1 Demenzen, Depressionen, Angst- und Schlafstörungen

    Die klinisch bedeutsamsten und häufigsten psychischen Störungen bzw. Störungsgruppen im Alter sind die vier folgenden Störungen. Die Prozentangaben stammen aus der Berliner Altersstudie (Helmchen et al. 2010):

    Demenzen: 17 %

    Depressionen: 9 %

    Angststörungen: 5 %

    Schlafstörungen: 19 %

    Weiter häufig und klinisch bedeutend sind somatoforme Störungen (oder neu: Somatische Symptom-Störungen) (Kap. 10), Substanzmissbrauch und -abhängigkeit (z. B. Alkohol, Medikamente, Kap. 12), der Formenkreis wahnhafter Störungen sowie die Anpassungsstörungen. Im Folgenden sollen diese Störungsgruppen nicht ausführlich dargestellt werden – das geschieht in den nachfolgenden Kapiteln des Buches (Kap. 10, Kap. 12) – sondern ein erster Überblick gegeben werden.

    Die angegebenen Prävalenzen variieren im Vergleich zu anderen Studien durch die jeweils angewandten verschiedenen Erhebungsmethoden, Klassifikationssysteme und Diagnoseformen (Kap. 2). Diese waren zum Teil gravierenden Veränderungen unterworfen, bis sie in den zurzeit aktuellen Versionen des DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) und ICD-10 bzw. ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation vorlagen. Beide Klassifikationssysteme sind im Wesentlichen vergleichbar. Sie enthalten in ihren aktuellen Versionen keine gesonderten Kapitel, in denen psychische Störungen des höheren Lebensalters beschrieben sind. D. h., anders als für den Bereich der psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter gibt es damit keine spezifischen Symptombeschreibungen psychischer Altersstörungen. Die nachfolgende Darstellung bezieht sich in einem ersten Schritt auf diese zurzeit vorliegenden alterungsspezifischen Störungsdefinitionen. In einem zweiten Schritt (▶ Abschn. 1.4.2, „Weitere Alterssyndrome") werden dennoch einige altersspezifische Störungsbilder beschrieben, die nur teilweise im DSM-5 oder ICD-System definiert sind.

    Demenzen

    Die klinisch folgenschwersten psychischen Altersstörungen sind die Demenzen. Im Gegensatz zu den vielen vorliegenden Daten zur Prävalenz der Oberkategorie „Demenz" aus epidemiologischen Studien sind Prävalenzschätzungen der verschiedenen Demenzformen (Verursachungstypen) noch sehr viel ungenauer, da sie sich auf pathologisch-anatomische Untersuchungen stützen müssen. Maurer et al. (1993) fassten die vorliegenden Ergebnisse zu folgenden Schätzwerten zusammen (Abb. 1.6).

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    Abb. 1.6

    Verteilung der Demenzformen/Verursachungstypen. * Bei Morbus Pick, Chorea Huntington, Parkinson-Krankheit, multipler Sklerose, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. (Zusammengestellt aus Brunnström et al. 2009)

    In dieser Statistik werden nicht mehr die sog. Pseudodemenzen aufgeführt, die diagnostisch weiterhin ein Problem sind: Auch auf dem heutigen Stand der Test- und neuropsychologischen Diagnostik gibt es eine kleine Gruppe von Patienten, die eine Demenzdiagnose aufgrund einer ausgeprägten kognitiven Leistungseinschränkung erhält , obwohl bei ihnen keine demenztypischen pathologisch-anatomischen Veränderungen vorliegen. Bei diesen Patienten handelt es sich meist um fehldiagnostizierte depressive Störungsbilder (Hummel et al. 2012).

    Depressionen

    Die depressiven Störungen sind die häufigsten Nicht-Demenz-Erkrankungen des Alters. Bei den Prävalenzangaben für depressive Syndrome spielt die jeweils benutzte Klassifikationsart und –version (z. B. DSM-IV, ICD-10) eine besonders gravierende Rolle, weswegen in der Literatur eine Reihe stark differierender Werte existiert (Kap. 2). Das derzeit gültige DSM-5 definiert die Major Depression" und Dysthymie enger als frühere Klassifikationssysteme (Tab. 1.9).

    Tab. 1.9

    DSM-5 Kriterien für Major Depression und die anhaltende depressive Störung

    In der Berliner Altersstudie (Linden et al. 2010) waren die depressiven Syndrome mit den folgenden Prävalenzen verteilt (Abb. 1.7).

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    Abb. 1.7

    Verteilung der depressiven Störungen in einer Stichprobe 70- bis 105-Jähriger. (Zusammengestellt aus Helmchen et al. 2010)

    Die klinische Praxis zeigt, dass die in Tab. 1.9genannte Störungsdefinition eine größere Anzahl von Patienten mit depressiver Symptomatik nicht erfasst, da sie nur einige aber nicht alle der genannten Symptome zeigen. In der Berliner Altersstudie wurde deshalb nachdrücklich darauf verwiesen, das weitere ca. 18 % der Patienten eine sog. unterschwellige Depression aufwiesen (Helmchen et al. 2010). Rechnet man diese 18 % zu den 9 % der konventionellen depressiven Syndrome, so sind die depressiven Störungen mit 26 % die häufigsten psychischen Altersstörungen insgesamt. Die Nichtberücksichtigung dieser Patienten in den heutigen Klassifikationsverzeichnissen führte u.a. zum Diagnosevorschlag der „Minor Depression (▶ Abschn. 1.4.2, Minor Depression (unterschwellige depressive Störung)".

    Angststörungen

    Die Angststörungen sind die nächstgrößte Störungsgruppe. Studien in verschiedenen Ländern fanden zusammenfassende Einjahresprävalenzen von 10–14 % für die Angststörungen bei über 65-Jährigen (Abb. 1.8).

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    Abb. 1.8

    Relative Häufigkeit der verschiedenen Angststörungen im Alter (Punktprävalenzen). (Zusammengestellt aus Ritchie et al. 2004)

    Der klinische Stellenwert der Angststörungen im Alter wird bisher unterschätzt. Spezifisch adaptierte psychotherapeutische Strategien zeigen ähnlich überzeugende Heilungsraten wie bei der Angstbehandlung jüngerer Altersgruppen (Kap. 7).

    Schlafstörungen

    Schlafstörungen im Alter sind zwar ein sehr häufiges Problem, das allerdings meist nicht klinisch gleichwertig neben den bisher genannten Störungen eingestuft wird, da es als Begleitsymptomatik zugleich mit Angst- und depressiven Störungen auftreten kann. In der DSM-Klassifikation wird unterschieden zwischen

    Insomniestörung (bei Ausschluss der nachfolgend genannten Ursachen),

    Schlafstörungen in Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung,

    Schlafstörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors und

    substanzinduzierten Schlafstörungen.

    Dazu kommt die für das höhere Lebensalter relevante, aber bisher kaum untersuchte Hypersomniestörung (> 9 Std. Schlaf bzw. mehrfache Schlafattacken am Tag).

    Prävalenzangaben zu den Insomnieformen im Alter sind bisher selten. Es ist davon auszugehen, dass zwischen 25 und 35 % der über 65-Jährigen mit ihrem Schlaf unzufrieden sind und dass etwa 20 % der älteren Schlafgestörten an einer primären Insomnie leiden (Roth et al. 2011). Für etwa 80 % sind psychische (z. B. Depressionen) oder medizinische Faktoren (z. B. Hypertonie, Herz-Kreislauf-Krankheit, Diabetes mellitus) allein oder in Kombination verantwortlich. Das Beispiel der Schlafstörungen zeigt, dass die psychischen Störungen/Beeinträchtigungen im Alter in der Regel mit einer hohen Komorbidität einhergehen (Foley et al. 2004).

    1.4.2 Weitere Alterssyndrome

    Sowohl das ICD-Klassifikationssystem als auch das DSM-Diagnosesystem haben sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte einschneidend verändert. Diese Entwicklungen werden immer dann weiter fortgeführt werden, wenn sich aufgrund von Studien genügend empirisch-statistische Evidenz für neue Störungsdefinitionen bzw. neue Einteilungsprinzipien zeigen. Die Darstellung in diesem Buch will auf diesen dynamischen Aspekt der Psychopathologie der Altersstörungen nicht verzichten, d. h. es soll nicht beim Jetztstand der derzeit aktuellen Klassifikationsversionen stehen geblieben werden. Dies wäre hemmend für den Fortschritt dieses Gebietes. Dies ist insbesondere wichtig, weil die Sichtweise auf die meisten psychischen Störungen immer noch auf Studien mit jüngeren Erwachsenen beruht.

    Im Bereich der psychischen Altersstörungen gibt es eine Reihe von recht neuen Diagnoseformulierungen bzw. von Diagnosevorschlägen, die bisher nur als Forschungsdiagnosen in den Anhängen des DSM-5 und des ICD-10 stehen:

    leichte

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