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Behandlungsmanual therapieresistente Depression: Pharmakotherapie - somatische Therapieverfahren - Psychotherapie
Behandlungsmanual therapieresistente Depression: Pharmakotherapie - somatische Therapieverfahren - Psychotherapie
Behandlungsmanual therapieresistente Depression: Pharmakotherapie - somatische Therapieverfahren - Psychotherapie
eBook855 Seiten9 Stunden

Behandlungsmanual therapieresistente Depression: Pharmakotherapie - somatische Therapieverfahren - Psychotherapie

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Über dieses E-Book

Ein Drittel der depressiv Erkrankten spricht nicht auf eine adäquate Depressionsbehandlung an, ein weiteres Drittel nur unvollständig. Die Behandlung dieser Patienten ist die eigentliche professionelle Herausforderung.
Dieses Behandlungsmanual vermittelt wissenschaftlich fundierte Konzepte für den klinischen Alltag und gibt Antworten auf die Fragen, wann und wie der Behandlungserfolg überprüft und nach welchen Kriterien die Behandlung verändert werden soll.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Mai 2008
ISBN9783170273429
Behandlungsmanual therapieresistente Depression: Pharmakotherapie - somatische Therapieverfahren - Psychotherapie

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    Buchvorschau

    Behandlungsmanual therapieresistente Depression - Tom Bschor

    Geleitwort

    Die Global Burden of Disease Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sagt voraus, dass bereits im Jahre 2020 die Gruppe der depressiven Erkrankungen die häufigste Krankheitsursache darstellen wird, die besonders bei Frauen und in Entwicklungsländern zu anhaltender Behinderung führt. Depressionen gehören aber nicht nur zu den häufigsten, sondern auch zu den schwersten psychiatrischen Erkrankungen, die mit einer hohen Morbidität und Sterblichkeit einhergehen. Nach neuesten epidemiologischen Untersuchungen muss man davon ausgehen, dass etwa 250.000 Menschen in Deutschland zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt an einer behandlungsbedürftigen depressiven Erkrankung leiden, das entspricht einem Bevölkerungsanteil von etwa 3 %. Etwa 20 % dieser betroffenen Menschen sind auch zwei Jahre nach dem Beginn der Erkrankung trotz Behandlung nicht symptomfrei. Besonders lang andauernde und therapieresistente Verlaufsformen der Erkrankung stellen eine epidemiologisch und sozialökonomisch bedeutsame Erkrankungsgruppe dar. Weitere Probleme liegen im Nicht-Erkennen depressiver Erkrankungen oder in nicht optimal durchgeführten Behandlungen.

    Nicht abklingende und häufig wiederkehrende depressive Erkrankungen verursachen für die Betroffenen und deren Angehörige ein erhebliches Leid, häufig mit Auswirkungen auf die innerfamiliären Beziehungen und die Arbeitsfähigkeit, was in Form von Arbeitsplatzverlust, Langzeitarbeitslosigkeit und vorzeitiger Erwerbs- und Berufsunfähigkeit zum Ausdruck kommt. Die Behandlung von depressiven Erkrankungen hat sich im Laufe der letzten 10 Jahre zwar erheblich verändert und bietet weit mehr Möglichkeiten als früher, dennoch bestehen gerade auch im Bereich der psychopharmakologischen Behandlung selbst erhebliche Optimierungsspielräume. Neben der Entwicklung neuerer Antidepressiva mit pharmakologisch selektiveren Wirk- und günstigeren Verträglichkeitsprofilen, sind vor allem im Bereich der sogenannten störungsspezifischen Psychotherapien für die klinische Praxis nachhaltig Fortschritte erzielt worden.

    Leider ist die Entwicklung neuer Medikamente, die auf gänzlich neuen Wirkprinzipien beruhen, wie die Beeinflussung der depressionsrelevanten Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin, bisher nicht erfolgreich gewesen. Im klinischen Alltag einsetzbare neue Pharmaka sind in den kommenden fünf Jahren in diesem Indikationsspektrum ebenfalls nur in geringer Zahl zu erwarten. Umso mehr muss der Behandler die zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten und -prinzipien optimal nutzen, um gerade bei chronisch und therapieresistenten depressiven Patienten nicht in einen therapeutischen Nihilismus zu verfallen. Aber nicht nur der Arzt, sondern das gesamte Behandlungsteam ist gefordert, einen Gesamtbehandlungsplan zu entwickeln, der diesem schweren Krankheitsbild gerecht wird.

    Die Komplexität chronisch und therapieresistenter Depressionen setzt spezielle Kenntnisse und Erfahrungen voraus, um das breite Spektrum der heute verfügbaren pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten im Gesamtbehandlungsplan einsetzen zu können. Das vorliegende Buch versteht es in hervorragender Weise, die verschiedenen Techniken der modernen Pharmakotherapie detailliert und dennoch praxisnah darzustellen, insbesondere die der Antidepressiva-Hochdosistherapie, Antidepressiva-Kombinationstherapie, Augmentationsstrategien, Genotypisierung und des therapeutischen Drug-Monitoring. Im Einzelfall ist es für den behandelnden Arzt schwer, aus der Vielzahl der medikamentösen Therapiemöglichkeiten das geeignete Verfahren auszuwählen oder aufeinander abzustimmen. Mehrere systematische Behandlungspläne (Algorithmen), die die Vielzahl der Möglichkeiten in einer aufeinander abgestimmten sequenziellen Abfolge sowie exakte Kriterien zur medizinischen Entscheidungsfindung vorgeben, wurden in den vergangenen Jahren entwickelt und auf ihre Wirksamkeit und Effektivität hin mit Erfolg überprüft. Im Kapitel »Systematisierte Therapiealgorithmen« wird auf diese wichtige Thematik ausführlich eingegangen.

    Dieses Buch ist nicht nur hervorragend geeignet für alle Berufsgruppen, die sich professionell um depressiv Erkrankte kümmern, sondern auch für alle Leser zu empfehlen, die persönlichen Umgang mit Menschen haben, die an depressiven Erkrankungen leiden, und sich für aktuelles, praxisorientiertes Wissen hinsichtlich der derzeit verfügbaren Möglichkeiten informieren wollen. Die sorgfältige Bewertung etablierter Therapiemöglichkeiten einerseits, aber auch die Beschreibung hochaktueller Behandlungstechniken und neuester wissenschaftlicher Literatur machen dieses Buch zu einem wertvollen Nachschlagewerk für alle, die sich intensiv mit dem Krankheitsbild der Depression auseinandersetzen.

    Dresden, Herbst 2007

    Prof. Dr. Dr. Michael Bauer

    Vorwort

    Hoffnungslosigkeit ist ein depressives Kardinalsymptom. Auf Ärzte und Psychologen projiziert sich oft die letzte schwache Zuversicht der Patienten. Was aber, wenn auch die Behandler mutlos werden?

    Hierfür gibt es wenig Anlass. Die Behandlung therapieresistent depressiver Patienten erfordert zwar Geduld und Ausdauer, hat aber gute Chancen, zu einer einschneidenden Besserung zu führen. Es gilt, das Ziel der vollständigen Remission nicht aus den Augen zu verlieren. Und angesichts der langen Behandlungsdauer gilt es auch, klare Strategien und Konzepte zugrunde zu legen sowie den Krankheitsverlauf gut zu dokumentieren, um auch längerfristige Veränderungen der Symptomatik wahrzunehmen.

    Klarheit über Ziel und Abfolge der einzelnen Methoden ist das entscheidende Erfolgsrezept bei der Behandlung von Patienten mit therapieresistenten Depressionen. Ein einzelnes Wundermittel jedoch, das alle Depressionen heilt, werden die Leserinnen und Leser in diesem Buch nicht finden. Bei der unvoreingenommenen Betrachtung der neuen spektakulären biologischen Methoden wie der rTMS (Kapitel 4.2), der Vagusnervstimulation (Kapitel 4.5) oder der tiefen Hirnstimulation (Kapitel 4.6) zeigt sich sogar einmal mehr, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Größere Hoffnung kommt aus zwei anderen Richtungen: Zum einen hat die konsequente Entwicklung spezifischer Psychotherapien für therapieresistente und chronifizierte Depressionen (Kapitel 5.1 bis 5.5) in den letzten Jahren eine echte Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten und -aussichten gebracht. Hier setzt das vorliegende Buch bewusst einen Schwerpunkt. Zum anderen sind es überraschenderweise eher die älteren Verfahren wie die EKT (Kapitel 4.1), die irreversiblen MAO-Hemmer (Kapitel 3.1.6), die Lithiumaugmentation (Kapitel 3.2.1) oder die trizyklischen Antidepressiva (Kapitel 3.1, 3.1.2), die – modern, konsequent und kontrolliert angewandt (Kapitel 3.1.1 bis 3.1.5 und 6) – mehr therapeutisches Potenzial bergen, als vielleicht zu vermuten war.

    Dieses Behandlungsmanual folgt trotz der Verschiedenheit seiner 30 Kapitel zwei durchgängigen Prinzipien:

    Schlussfolgerungen und Empfehlungen sind praxisnah und bemühen sich um konkrete, klinisch verwertbare Antworten auf die Fragen wer, wann, wie, wonach entscheiden, wie lange, wie viel/wie hoch.

    Darstellung und Bewertung der Behandlungsmethoden orientieren sich am aktuellen Stand der Wissenschaft. Hierbei wird dem Grundsatz gefolgt, dass Studien ohne Vergleichs- oder Kontrollgruppe in der Depressionsforschung kaum Aussagekraft haben. Aus epidemiologischen Untersuchungen und aus den Placeboarmen der Medikamentenstudien wissen wir, dass Depressionen sich in bedeutsamem Ausmaß spontan bessern können und eine ausgeprägte Placeboresponse aufweisen (Keller et al., Arch Gen Psychiatry 1992; Kirsch und Sapirstein, Prevention & Treatment 1998; Stolk et al., Ann Pharmacother 2003). Anders als z. B. bei den meisten Krebserkrankungen ist eine Symptomreduktion unter einer bestimmten Therapie also keineswegs zwingend ein Beleg für die Wirksamkeit der Behandlung.

    Auch im Namen der Autoren hoffe ich, dass das Buch den Leserinnen und Lesern Hilfe und Orientierung für die klinische Arbeit bietet.

    Mein großer Dank gilt allen Autoren für ihre umfangreiche, engagierte Arbeit und dem Kohlhammer-Verlag, namentlich Frau Alina Piasny und Frau Dagmar Kühnle für die ausgezeichnete Unterstützung. Für unerschöpfliche, selbstlose Ausdauer und akribische Sorgfalt bei der Durchsicht der Manuskripte bin ich Corinna Bschor und Anja Lucht zu großem Dank verpflichtet.

    Berlin, Frühjahr 2008

    Tom Bschor

    1 Definition, klinisches Bild und Epidemiologie therapieresistenter Depressionen

    Tom Bschor

    Synopsis

    Der Begriff »therapieresistente Depression« bezeichnet nicht eine vollkommen unbehandelbare, sondern eine auf Standardtherapieverfahren nicht ansprechende depressive Erkrankung. Eine häufig verwendete Definition besagt, dass von »therapieresistenter Depression« gesprochen werden sollte, wenn zwei in Dauer und Dosierung adäquat durchgeführte Behandlungen mit Antidepressiva aus verschiedenen Wirkstoffklassen erfolglos waren.

    15 bis 30 % aller depressiven Episoden nehmen einen therapieresistenten Verlauf in diesem Sinne.

    Als »chronische Depression« wird jede Depression bezeichnet, die länger als zwei Jahre anhält, unabhängig von eventuellen (erfolglosen) Behandlungsversuchen in diesem Zeitraum. Dies ist bei bis zu einem Viertel aller Depressionen der Fall.

    Therapieresistente Depressionen weisen keine grundsätzlich andere Symptomatik auf als besser behandelbare Depressionsformen. Die zumeist lange Erkrankungsdauer führt aber oft dazu, dass Symptome wie reduzierte affektive Schwingungsfähigkeit, Genussunfähigkeit, sozialer Rückzug und Selbstentwertung in den Vordergrund treten.

    1 Definitionen

    Eine allgemeingültige, allseits akzeptierte Definition des Begriffs »therapieresistente Depression«, beispielsweise in der ICD, gibt es nicht (Souery et al. 2001). Eine vollkommen unbehandelbare Erkrankung ist damit in der Regel aber nicht gemeint.

    Eine häufig verwendete, für den klinischen Alltag praktikable Definition liefern Thase und Rush (1995):

    Eine therapieresistente Depression liegt beim Nichtansprechen auf zwei Behandlungsversuche mit Antidepressiva verschiedener Wirkklassen in jeweils adäquater Dosis und Dauer vor.

    Der häufig synonym verwendete Terminus »therapierefraktäre Depression« sollte vermieden werden, da er nach der Wortbedeutung eine vollständige Unbehandelbarkeit impliziert (Rush 2005).

    Was auf den ersten Blick überzeugend klingt, birgt doch erheblichen Klärungsbedarf: Nach der oben genannten Definition wird die Therapieresistenz also nach dem Erfolg der Pharmakotherapie definiert. Dies sollte, wie auch das vorliegende Buch zu verdeutlichen sucht, nicht zu der irrigen Annahme verleiten, die Pharmakotherapie besitze in der Behandlung therapieresistenter Depressionen einen über die anderen Strategien herausgehobenen Stellenwert. Ferner lässt die Bezeichnung »adäquat« bezogen auf Behandlungsdauer und -dosis Definitionsspielraum offen. Bei weitgehend identischer Wirklatenz aller Antidepressiva wird als adäquate Dauer in der Regel ein Zeitraum von ca. 4–6 Wochen angesehen (Rush 2005). Jedoch ist aus der Behandlung von älteren Patienten oder von Patienten mit chronifiziertem Verlauf bekannt, dass oft ein längerer Zeitraum (bis zu einem Vierteljahr) bis zur Ausbildung der vollen Wirksamkeit benötigt wird (Bschor 2005, Koran et al. 2001). Was als adäquate Tagesdosis verstanden wird, variiert von Substanz zu Substanz. Eine Orientierung gibt Tabelle 1 in Kapitel 3.1.

    Die Festlegung auf genau zwei gescheiterte Behandlungsversuche für die Definition einer therapieresistenten Depression ist weitgehend willkürlich. Je mehr adäquat durchgeführte Therapieversuche wirkungslos waren, desto höher ist der Grad der Therapieresistenz. Thase und Rush (1995 u. 1997) schlagen daher eine Stadieneinteilung vor:

    Stadien der Therapieresistenz bei depressiven Erkrankungen (Thase und Rush 1995, 1997):

    Stadium I

    Non-Response auf mindestens einen adäquaten Behandlungsversuch mit einem Antidepressivum

    Stadium II

    Stadium I und Non-Response auf einen adäquaten Behandlungsversuch mit einem Antidepressivum aus einer anderen Wirkstoffklasse als in Stadium I

    Stadium III

    Stadium II und Non-Response auf einen adäquaten Behandlungsversuch mit einem trizyklischen Antidepressivum

    Stadium IV

    Stadium III und Non-Response auf einen adäquaten Behandlungsversuch mit einem (irreversiblen) MAO-Hemmer

    Stadium V

    Stadium IV und Non-Response auf eine adäquat durchgeführte bilaterale Elektrokonvulsionstherapie (EKT)

    Auch diese Stadieneinteilung orientiert sich ausschließlich an Behandlungen mit EKT und Antidepressiva. Darüber hinaus ergeben sich in der Praxis weitere Probleme bei der Anwendung: Wie sollen z. B. Patienten klassifiziert werden, die nicht auf EKT ansprachen, aber zuvor nicht mit MAO-Hemmern und/oder trizyklischen Antidepressiva behandelt wurden, oder wie lassen sich z. B. Lithiumaugmentations-Non-Responder klassifizieren?

    Seit einigen Jahren wird in den Therapiestudien sinnvollerweise konsequent zwischen Remission und Response unterschieden. Als Remission im Sinne eines so weit gehenden Verschwindens der depressiven Symptomatik, dass nur noch klinisch unbedeutende Restsymptome übrig bleiben, wird zumeist als das Absinken des Depressionswertes in einer etablierten Depressionsschweregrad-Skala, z. B. Hamilton-Depressionsskala (HAM-D, auch Hamilton Rating Scale for Depression; Hamilton 1960) unter einen definierten Schwellenwert (z. B. ≤ 7 Punkte auf der HAM-D) operationalisiert (Hirschfeld et al. 2002, Souery et al. 2001). Dies sollte über einen gewissen – unterschiedlich lang definierten – Zeitraum wiederholt nachweisbar sein, damit nicht eine bloße Tagesschwankung eine Remission vortäuscht. Kritisiert wird, dass auch ein solcher Restpunktewert Ausdruck einer Symptomatik sein kann, die den Patienten subjektiv oder in der Alltagsbewältigung beeinträchtigt, so dass erwogen wird, für die Feststellung einer wirklichen Remission auch Kriterien wie Lebensqualität oder psychosoziales Funktionsniveau mit zu berücksichtigen (Möller 2005).

    Response, im Sinne von »Ansprechen« hingegen bezeichnet lediglich einen relevanten Rückgang der depressiven Symptomatik innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes, ohne dass hiermit aber ausgesagt wird, welche Schwere das zu diesem Zeitpunkt erreichte depressive Syndrom noch hat. Operationalisiert wird Response zumeist als ein mindestens erreichter prozentualer Rückgang des Depressionswertes auf einer Depressionsskala (z. B. mindestens 50 %-ige Reduktion des HAM-D-Wertes unter einer vierwöchigen Behandlung). Partialresponse ist dann eine geringgradigere, aber noch nachweisbare Symptomreduktion (z. B. 25–49 %-ige Reduktion des HAM-D-Wertes). Eine noch geringere Abnahme (oder sogar Zunahme) der Depressionsschwere wird als Non-Response bezeichnet (Hirschfeld et al. 2002).

    »Therapieresistente Depression« ist nicht identisch mit »chronischer Depression«. Als »chronisch« wird eine Depression bezeichnet, die länger als zwei Jahre anhält, unabhängig von in dieser Zeit eventuell erfolgten Behandlungsversuchen (American Psychiatric Association 1994). Nur wenn in diesem Zeitraum durchgehend ein depressives Syndrom vom Schweregrad einer majoren Depression nach ICD-10 oder DSM IV vorliegt, spricht man von chronischer majorer Depression. Ist über den genannten Zweijahreszeitraum nur eine leichtergradige depressive Symptomatik vorhanden, entspricht dies der Definition einer Dysthymie. Häufig ist die Kombination, Doppeldepression oder double depression genannt (Keller u. Shapiro 1982), d. h. das vorübergehende Auftreten eines major depressiven Syndroms bei zugrundeliegender Dysthymie.

    Den Schwerpunkt dieses Buches bilden die therapieresistenten Depressionen. Für verschiedene Fragestellungen liegen jedoch keine Untersuchungen vor, die speziell therapieresistente Depressionen fokussieren, sodass in diesen Fällen oft nur Ergebnisse zu chronischen Depressionen dargestellt werden können.

    2 Klinisches Bild

    Therapieresistente Depressionen unterscheiden sich in ihrer Symptomatik nicht grundsätzlich von Depressionen, die besser auf die Behandlung ansprechen. Aufgrund der Therapierefraktärität haben diese Depressionsformen jedoch in der Regel eine besonders lange Dauer.

    Bei chronischen Depressionen treten insbesondere folgende depressive Symptome in den Vordergrund (Klein u. Santiago 2003):

    reduzierte affektive Schwingungsfähigkeit

    Genussunfähigkeit

    Antriebsmangel

    sozialer Rückzug

    Selbstentwertung, Hoffnungslosigkeit

    Libidoverlust

    Schlafstörungen

    kognitive Einbußen

    chronische Suizidalität

    Für die Akzentuierung der Symptomatik in der geschilderten Weise werden insbesondere die Veränderungen der Lebensumstände der Patienten im Verlauf der lang anhaltenden Erkrankung verantwortlich gemacht. Das Leben von chronisch depressiven Menschen ist in der Regel durch soziale Isolation, einen Mangel an Aktivitäten und positiven Ereignissen und eine Fixierung auf die Krankenrolle (z. B. durch Arztbesuche als wesentliche Tagesinhalte) gekennzeichnet (Wolfersdorf et al. 2005).

    3 Epidemiologie

    Nur bei einem kleineren Teil der depressiven Patienten liegt Therapieresistenz vor. Sie stellt dennoch ein relevantes klinisches Problem dar, da depressive Erkrankungen ausgesprochen häufige Erkrankungen sind: Mit einer globalen Punktprävalenz von 1–8 %, und einer Lebenszeitprävalenz von 10–20 % (für schwere depressive Erkrankungen von ca. 5–10 %) (Angst 1995, Bauer et al. 2002, Bschor und Bauer 2004, Kessler et al. 1994, Statistisches Bundesamt 1998) gehören sie zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt. Die individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen sind erheblich. Die Suizidmortalität depressiv erkrankter Menschen liegt – je nach Erhebungsmethodik – zwischen 2,2 und 15 % (Bostwick u. Pankratz 2000). Im stationären Behandlungsbereich ist Therapieresistenz einer der häufigsten Einweisungsgründe bei depressiven Patienten.

    In den großen Zulassungs- und Wirksamkeitsstudien zu den verschiedensten Antidepressiva findet sich recht konstant ein Anteil von ca. einem Drittel der Patienten, der keine Response auf die medikamentöse Therapie zeigt (Souery et al. 2001). Bei bis zu einem weiteren Drittel der Behandelten findet sich nur eine Partialresponse (Rush 2005, Nierenberg u. Amsterdam 1990). Auch die verschiedenen neu entwickelten Antidepressiva erbringen diesbezüglich keine Verbesserung. Von diesen ein bis zwei Dritteln spricht nur noch ca. die Hälfte auf einen nächsten Behandlungsversuch mit einem Antidepressivum aus einer anderen Wircklasse an. Hieraus folgt, dass also für ca. 15–30 % aller depressiven Patienten das Therapieresistenzkriterium nach der eingangs genannten Definition erfüllt ist (Bschor und Bauer 2004, Rush 2005).

    Bei bis zu einem Viertel der depressiven Erkrankungen kommt es zu einer Chronifizierung: 15–25 % der depressiven Episoden dauern länger als 2 Jahre, 10–15 % sogar länger als 5 Jahre (Statistisches Bundesamt 1998). Keller und Mitarbeiter haben diese Zahlen in einer Langzeitbeobachtung von ursprünglich 431 depressiv Erkrankten eindrucksvoll untermauert: Nach sechs Monaten waren 50 % der Patienten gesundet, nach zwei Jahren befanden sich noch 21 % der Erkrankten in der depressiven Episode (Keller et al. 1984), nach fünf Jahren waren es 12 % (Keller et al. 1992) und nach 10 Jahren waren es immer noch 7 % (Mueller et al. 1996). Genau wie bei akuten depressiven Verläufen, sind Frauen auch von chronischer Depression doppelt so häufig betroffen wie Männer (Klein u. Santiago 2003). Diese Zahlen sind jedoch nicht ausschließlich auf Therapieresistenz, sondern zu einem erheblichen Teil auch auf unzureichende Behandlungen zurückzuführen (s. Kap. 2, Pseudotherapieresistenz).

    Wiederholt und sehr eindrucksvoll konnte gezeigt werden, dass Patienten, die am Ende einer depressiven Indexepisode noch eine subsyndromale depressive Restsymptomatik aufweisen, ein deutlich höheres Risiko haben, rasch erneut eine voll ausgeprägte depressive Episode oder einen chronifizierten Verlauf zu entwickeln (Judd et al. 2000, Paykel et al. 1995, Koran et al. 2001). Hieraus wird zumeist die naheliegende Forderung abgeleitet, dass eine depressive Episode bis zur vollständigen Remission aller Symptome auszubehandeln sei (Rush 2005). Da die gefundene Korrelation nicht zwingend Kausalität bedeutet, ist diese Schlussfolgerung letztlich nicht zwingend. Theoretisch denkbar wäre auch, dass beide Aspekte, Restsymptomatik und rasche Rezidivneigung, Ausdruck eines ungünstigeren Verlaufstyps sind, der sich auch dadurch nicht verändern lässt, dass die Restsymptomatikz. B. durch eine besonders aggressive Therapiestrategie vollständig zum Verschwinden gezwungen wird.

    Literatur

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    2 Diagnostik, Differenzialdiagnostik, Ausschluss von Pseudotherapieresistenz

    Tom Bschor

    Synopsis

    Bevor eine therapieresistente Depression diagnostiziert wird, muss sichergestellt sein, dass die Erkrankung nicht aufgrund anderer, unerkannter Gründe auf die Behandlung nicht anspricht. Ist dies der Fall, spricht man von »Pseudotherapieresistenz«.

    Bei den auszuschließenden Ursachen für schlechte Behandelbarkeit ist insbesondere zu denken an:

    diagnostische Irrtümer (Fehldiagnose einer anderen psychiatrischen Erkrankung als Depression oder Fehldiagnose einer somatischen Erkrankung als Depression),

    unerkannte Komorbidität (unerkannte psychiatrische oder somatische Komorbidität, die die Depression aufrechterhält),

    pharmakogene Verursachung der Depression,

    nicht adäquat durchgeführte antidepressive Behandlung (z. B. zu kurz, ungeeignete Dosis, ungeeignetes Therapieverfahren),

    Non-Compliance des Patienten,

    psychosoziale Faktoren, die die Depression verursachen oder aufrechterhalten,

    einen zu hohen sekundären Krankheitsgewinn des Patienten.

    Ein systematisches Vorgehen in der Diagnostik bietet die größte Sicherheit, Pseudotherapieresistenz zu erkennen. Hierzu ist es sinnvoll, den diagnostischen Prozess in zwei Stufen durchzuführen:

    Basisdiagnostik vor Beginn der ersten Behandlung,

    erweiterte Diagnostik nach dem Feststellen von Therapieresistenz, d. h. nach zwei erfolglosen Behandlungsversuchen.

    Psychiatrische Differenzialdiagnosen, die als Depression verkannt werden können, sind insbesondere Suchterkrankungen, (beginnende) Demenzen, posttraumatische Belastungsstörung, Schizophrenie (insbesondere schleichende Verläufe und schizophrene Residualzustände) sowie schizoaffektive Erkrankungen und Somatisierungsstörung.

    Die häufigsten komorbiden psychiatrischen Erkrankungen sind Angst-, Abhängigkeits- und somatoforme Erkrankungen sowie Persönlichkeits- und Essstörungen. Sie führen in der Regel zu einer Verschlechterung von Prognose und Behandelbarkeit.

    Einleitung

    Spricht eine Depression auf eine Behandlung nicht an, so ist »Therapieresistenz« im Sinne der Definition in Kapitel 1 nicht die einzige mögliche Erklärung dafür. Abzugrenzen ist hier die sogenannte Pseudotherapieresistenz. Die Ursachen von Pseudotherapieresistenz zu erkennen, ist von großer Relevanz, weil sich hieraus alternative Therapiekonzepte ableiten. Hierbei ist insbesondere an die im Folgenden aufgeführten möglichen Ursachen von Pseudotherapieresistenz zu denken.

    Mögliche Ursachen von Pseudotherapieresistenz:

    Diagnostische Probleme

    1.1 Fehldiagnose einer anderen psychiatrischen Erkrankung als Depression

    1.2 Unerkannte psychiatrische Komorbidität, die die Depression aufrechterhält

    1.3 Fehldiagnose einer somatischen Erkrankung als Depression

    1.4 Unerkannte somatische Komorbidität, die die Depression aufrechterhält

    1.5 Pharmakogen verursachte Depression

    Inadäquat durchgeführte antidepressive Behandlung (z. B. zu kurz, ungeeignete Dosis, ungeeignetes Therapieverfahren)

    Non-Compliance des Patienten

    (Unerkannte) psychosoziale Faktoren, die die Depression verursachen oder aufrechterhalten

    Hoher sekundärer Krankheitsgewinn des Patienten

    Nur ein sorgfältiges, nach sinnvollen Kriterien durchgeführtes diagnostisches Vorgehen kann den Anteil von Pseudotherapieresistenzen an den behandlungsresistenten Verläufen reduzieren. Hierbei ist es im klinischen Alltag im Sinne eines rationalen und rationellen Vorgehens sinnvoll, die Diagnostik in zwei Stufen durchzuführen (s. Abb. 2.1):

    Basisdiagnostik im Rahmen der Diagnosestellung »Depression«, d. h. vor Beginn einer antidepressiven Therapie,

    erweiterte Diagnostik, wenn sich der Behandlungsverlauf als therapieresistent erweist. Der geeignete Zeitpunkt dafür ist z. B. nach zwei erfolglosen, aber adäquat durchgeführten Behandlungsversuchen.

    Abb. 2.1: Diagnostikstufen im Rahmen eines gestuften Behandlungsvorgehens

    1 Diagnosestellung

    Ein depressives Syndrom kann nach sorgfältiger psychopathologischer Befunderhebung diagnostiziert werden. Erst die differenzierte Verlaufserhebung im Rahmen der Eigen- und Fremdanamnese gestattet eine erste Einschätzung, ob das depressive Syndrom im Rahmen einer eigenständigen affektiven Erkrankung zu verstehen ist. Bevor die Diagnose einer solchen Erkrankung gestellt werden kann, muss durch geeignete Diagnostik ausgeschlossen sein, dass das depressive Syndrom im Rahmen einer anderen psychiatrischen oder somatischen Erkrankung auftritt. Ist dies ausreichend gesichert, gestattet die Anamnese die Differenzialdiagnose zwischen den verschiedenen affektiven Erkrankungen, insbesondere:

    (major) depressive Einzelepisode

    (unipolar) rezidivierende Depression

    Depression im Rahmen einer bipolar affektiven Erkrankung (bipolare Depression)

    Dysthymie

    depressive Anpassungsstörung

    1.1 Psychiatrische Differenzialdiagnosen

    Folgende psychiatrische Erkrankungen gehen häufig mit einem depressiven Syndrom oder zumindest mit depressiven Symptomen einher. In der psychiatrischen Untersuchung und Anamneseerhebung sollte ihnen daher besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden:

    Suchterkrankungen

    hirnorganische Erkrankungen, z. B. (beginnende) Demenzen

    posttraumatische Belastungsstörung

    Schizophrenie, insbesondere schleichende Verläufe wie bei der Schizophrenia simplex und schizophrene Residualzustände sowie schizoaffektive Erkrankungen

    Somatisierungsstörung

    Neben der systematischen Exploration können Blut-, Atem- und Urinanalysen auf Alkohol, Medikamente mit Abhängigkeitspotenzial und Drogen sowie typische Laborveränderungen Hinweise auf eine Abhängigkeitserkrankung liefern.

    Die gezielte Untersuchung kognitiver Funktionen, z. B. Alt- und Neugedächtnis, Merkfähigkeit, Orientierung, Konzentration und Abstraktionsvermögen, liefert im Rahmen der psychopathologischen Befunderhebung Anhaltspunkte für eine mögliche hirnorganische Erkrankung, denen dann durch gezielte testpsychologische und apparative Diagnostik weiter nachzugehen ist. Eher für eine depressive Pseudodemenz als für eine beginnende Demenz sprechen u. a.:

    eine Aggravierungsneigung und Selbstvorstellung des Patienten bezüglich der kognitiven Defizite (Demenz: Dissimulation und Vorstellung durch die Angehörigen),

    gleichermaßen beklagte Defizite in Kurz- und Langzeitgedächtnis (beginnende Demenz: überwiegend Kurzzeitgedächtnisstörungen),

    plötzlicher Beginn der kognitiven Defizite (Demenz: schleichend) und

    eine eher unmotiviert oder wenig kooperativ erscheinende Auskunftsverweigerung (»Ich weiß nicht«; Demenz: Versuch, die vorhandenen Defizite wortreich zu überspielen).

    Die posttraumatische Belastungsstörung grenzt sich von depressiven Erkrankungen zum einen durch den Beginn nach einem traumatischen Ereignis mit schwerer außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophenartigem Ausmaß und zum anderen durch spezifische Symptome wie Nachhallerinnerungen, Vermeiden aller an die auslösende Situation erinnernder Stimuli, allgemein erhöhter Schreckhaftigkeit, Albträume und das anhaltende Gefühl emotionaler Abgestumpftheit ab.

    Diese differenzialdiagnostische Klärung muss bereits im Rahmen der Basisdiagnostik erfolgen. Da die diagnostische Einschätzung auch bei gründlicher Untersuchung schwierig sein kann und damit teilweise vorläufig bleiben muss, sollte im Rahmen eines systematisierten Vorgehens die Differenzialdiagnostik im Rahmen der erweiterten Diagnostik nach therapieresistentem Verlauf wiederholt werden. Sinnvoll ist dies insbesondere bei progredienten Erkrankungen wie den Demenzen, deren Diagnose mit Fortschreiten der Erkrankung einfacher wird, oder bei Krankheiten, deren Symptome von vielen Patienten erst nach der Entwicklung eines gefestigten Vertrauensverhältnisses zum Behandler berichtet werden (z. B. Abhängigkeitserkrankungen oder posttraumatische Belastungsstörungen).

    1.2 Psychiatrische Komorbidität

    Psychiatrische Komorbidität mit depressiven Erkrankungen kommt häufig vor (Kessler et al. 1996). In der Regel führt sie zu einer schlechteren Prognose und Behandelbarkeit und erhöht somit das Risiko eines therapieresistenten Verlaufs (Enns et al. 2001). Umso wichtiger ist es, weitere psychiatrische Diagnosen zu erkennen und eine spezifische Therapieindikation abzuklären. Am häufigsten sind komorbide Angst-, Abhängigkeits- und somatoforme Erkrankungen sowie Persönlichkeits- und Essstörungen (Enns et al. 2001). Im Rahmen der erweiterten Diagnostik bei therapieresistentem Verlauf sollte erneut das eventuelle Vorliegen weiterer psychiatrischer Erkrankungen untersucht werden. Wenn die depressive Symptomatik das klinische Bild beherrscht, besteht die Gefahr, dass weitere psychiatrische Erkrankungen übersehen werden. Davor schützt am ehesten ein streng systematisches Vorgehen. Hilfreich, aber nicht Voraussetzung, sind diagnostische Checklisten, z. B. Internationale Diagnose-Checklisten für ICD-10 (IDCL; Hiller et al. 1995), oder (aufwändig) strukturierte Interviews, z. B. strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV Achse I (SKID-I; Wittchen et al. 1997).

    1.3 Somatische Differenzialdiagnosen

    Zahlreiche körperliche Erkrankungen können zu einem eigenständigen depressiven Syndrom führen (Souery et al. 2001, Parikh et al. 2001). In diesen Fällen ist weder eine primäre affektive Erkrankung zu diagnostizieren noch originär nach Therapiealgorithmen für primäre affektive Erkrankungen zu behandeln. Vielmehr muss vorrangig die somatische Krankheit behandelt werden, wenngleich eine begleitende symptomatische antidepressive Therapie indiziert sein kann.

    Grundlage für das Erkennen einer möglichen organischen Ursache des depressiven Syndroms ist eine differenzierte Anamnese, die gezielt nach somatischen Symptomen fragt, und die gründliche Erhebung eines körperlichen Befundes einschließlich neurologischen Status. Dies muss bereits im Rahmen der Basisdiagnostik erfolgen. Eine zentrale Aufgabe ist es, körperliche Symptome, die Bestandteil jeder schweren Depression sind (Bschor 2002), von Symptomen einer somatischen Grunderkrankung zu differenzieren.

    Vielfältige somatische Erkrankungen können Ursache eines depressiven Syndroms sein. Besonders häufig sind endokrinologische Ursachen, insbesondere die Hypothyreose (Bauer u. Whybrow 2002).

    Somatische Erkrankungen, die Ursache eines depressiven Syndroms sein können (oder Verlauf und Behandelbarkeit negativ beeinflussen):

    Infektionserkrankungen, z. B. infektiöse Mononukleose, Cytomegalievirus-Infektion, Influenza, Tuberkulose

    maligne Erkrankungen, z. B. Bronchial- oder Pankreaskarzinom

    endokrinologische Erkrankungen, insbesondere

    Hypo-, seltener Hyperthyreosen

    Cushing- und Addison-Syndrom

    Hyperparathyreoidismus, Hyperaldosteronismus

    ZNS-Erkrankungen, insbesondere:

    degenerative, z. B. M. Parkinson, Chorea Huntington, progressive supranukleäre Paralyse, Demenz

    entzündliche, z. B. HIV, Neurosyphilis, Borreliose, andere (Meningo-)Enzephalitiden, Multiple Sklerose

    traumatische

    tumoröse

    zerebrovaskuläre, z. B. Mikro- oder Makroangiopathie, Hirninsulte

    epileptische

    Kollagenosen und Autoimmunerkrankungen, z. B. Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis, Arteriitis temporalis, Sjögren-Syndrom

    Anämie

    1.4 Somatische Komorbidität

    Neben somatischen Differenzialdiagnosen ist die somatische Komorbidität zu beachten. Zahlreiche körperliche Erkrankungen können mit depressiver Symptomatik einhergehen und Verlauf und Behandelbarkeit einer Depression negativ beeinflussen. Eine Hypothyreose kann kausal für die Depression sein, kommt aber häufig auch lediglich begleitend vor (Bauer u. Whybrow 2002). Wichtig ist hierbei, nicht nur die klinisch manifesten Hypothyreosen mit erniedrigtem Serum-T3 und -T4 (Grad-I-Hypothyreose), sondern auch subklinische Hypothyreosen mit erhöhtem TSH aber noch normalem Serum-T3 und -T4 (Grad-II-Hypothyreose) und sogenannte Grad-III-Hypothyreosen (normwertiges TSH, T3 und T4, aber überschießender TSH-Anstieg im TRH-Stimulationstest) zu erkennen, da alle Formen der Hypothyreose, wenn nicht diagnostiziert und behandelt, die depressive Symptomatik aufrechterhalten und zu einem therapieresistenten Verlauf beitragen können (Bschor 2003).

    Neben den bereits im vorhergehenden Abschnitt genannten körperlichen Erkrankungen, die ursächlich für eine Depression sein können und bei komorbidem Auftreten die Behandelbarkeit im Sinne eines therapieresistenten Verlaufs erschweren können, verschlechtern auch die folgenden, häufig auftretenden somatischen Erkrankungen die Prognose und Behandelbarkeit:

    koronare Herzkrankheit und Myokardinfarkt

    Myokardinsuffizienz

    Diabetes mellitus

    chronisch obstruktive Lungenerkrankung

    Leberinsuffizienz

    Niereninsuffizienz

    alle malignen Erkrankungen

    Porphyrie

    alle mit chronischen Schmerzen einhergehenden Erkrankungen

    Zum Ausschluss relevanter somatischer Ursachen oder komorbider Erkrankungen im Rahmen einer depressiven Ersterkrankung werden folgende Untersuchungen bei der Basisdiagnostik als Mindeststandard empfohlen (DGPPN 2000):

    spezifische Anamnese bezüglich somatischer Symptome

    körperliche Untersuchung einschließlich neurologischem Status

    Labor: Blutbild, Elektrolyte, Transaminasen, Kreatinin, BSG, TSH

    Nimmt die Depression einen therapieresistenten Verlauf, sollten folgende Zusatzuntersuchungen im Rahmen der erweiterten Diagnostik durchgeführt werden:

    EKG

    Röntgenaufnahme des Thorax, evtl. auch Echokardiografie und 24-Stunden-EKG

    CT oder MRT des Gehirns

    Dopplersonografie der hirnversorgenden Blutgefäße

    neuropsychologische Testung

    TPHA (Lues-Serologie)

    Vitamin B12 und Folsäure im Serum

    Urinstatus

    HIV-Antikörper-Test

    Liquoruntersuchung

    EEG

    Auf einzelne Untersuchungen kann verzichtet werden, wenn spezifische Argumente beim individuellen Patienten pathologische Befunde in dem zu untersuchenden Bereich nicht erwarten lassen.

    1.5 Pharmakogen verursachte Depression

    Zahlreiche psychiatrische und internistische Medikamente können eine depressive Symptomatik hervorrufen oder verstärken. Der zeitliche Zusammenhang der depressiven Symptome mit dem Beginn (oder dem Aufdosieren) eines Pharmakons ist der wichtigste Anhaltspunkt für einen möglichen kausalen Zusammenhang. Bei einem derartigen Verdacht sollte, wenn irgend möglich, ein Absetz- oder Umsetzversuch unternommen werden. Als beweisend für eine pharmakogen verursachte Depression gilt, wenn das depressive Syndrom nach Absetzen der Medikation sistiert und nach Wiederansetzen erneut auftritt. Kann eine Medikation nicht beendet werden, ist eine antidepressive Behandlung in der Regel indiziert und wirksam (z. B. bei interferon-induzierter Depression).

    Pharmaka mit depressiogenem Potenzial:

    Antihypertensiva, insbesondere

    Reserpin, Hydralazin

    Beta-Blocker wie Propranolol

    ACE-Hemmer wie Enalapril

    Ca++-Kanalblocker wie Verapamil

    Clonidin

    Thiazid-Diuretika

    α-Methyldopa

    andere Kardiaka

    Digitalispräparate

    Lidocain

    Salbutamol

    Corticosteroide

    Anabolika

    Baclofen

    Bromocriptin und Levodopa

    hoch potente konventionelle Neuroleptika wie Haloperidol, auch Metoclopramid

    Antibiotika, Virustatika und Antimykotika, z. B.

    Gyrasehemmer

    Isoniazid

    Aciclovir, Amantadin, Zidovudin

    Amphotericin B

    Immunsuppressiva wie Azathioprin

    Zytostatika

    Interferon

    Analgetika und Antiphlogistika wie Indometacin, Ibuprofen, Opiate

    orale Kontrazeptiva

    Antihistaminika wie Cimetidin

    Antiepileptika wie Carbamazepin, Barbiturate, Phenytoin, Vigabatrin

    Disulfiram

    Isotretinoin (Vitamin-A-Derivat)

    2 Inadäquate Behandlung

    Eine in Indikation, Dauer oder Durchführung/Dosis ungeeignete Therapie sollte bei unzureichender Wirksamkeit natürlich nicht zur Diagnose »therapieresistente Depression« führen (Keller et al. 1982, Bridges 1983). Die nachfolgenden Kapitel sind der Frage nach adäquater Indikation und Durchführung der verschiedenen antidepressiven Therapien gewidmet. Im Rahmen der erweiterten Diagnostik sollte eine systematische Re-Evaluierung der bisher erfolglosen Behandlungsversuche auf ihre Adäquatheit vorgenommen werden. Eine zunehmende Bedeutung in der Behandlung therapieresistenter Depressionen hat die Serumspiegelbestimmung der Antidepressiva erlangt (s. Kap. 3.1.3). Da, wie in den Kapiteln 3.1.3 und 3.1.4 dargelegt, erhebliche interindividuelle Unterschiede im Pharmakometabolismus bestehen, kann eine Pseudotherapieresistenz auch bei unzureichenden Serumspiegeln aufgrund von Metabolisierungsbesonderheiten vorliegen. Um dies auszuschließen, ist die Serumspiegelbestimmung im Rahmen der erweiterten Diagnostik bei Therapieresistenz eine ausgesprochen sinnvolle und wissenschaftlich fundierte Vorgehensweise. Voraussetzung ist, dass der Patient ein Antidepressivum erhält, für das auf guter Evidenzlage ein therapeutischer Spiegelbereich etabliert ist (s. Kap. 3.1.3).

    3 Compliance, Non-Compliance

    Compliance in einem umfassenderen Sinn bezeichnet die Übereinstimmung der tatsächlichen Therapie mit dem als optimal betrachteten Standard (Linden 1981). Diese kann nicht nur durch Patienten-, sondern auch durch Arzt- und Umgebungsfaktoren beeinträchtigt sein. Eine häufig anzutreffende Mischung mehrerer Faktoren ist, dass der Patient beim Arzt Abweichungen vom Behandlungsstandard erzwingt. Bei Patienten-Noncompliance ist insbesondere an eine Nichteinnahme oder Dosisreduktion des Arzneimittels, aber auch an die unabgesprochene Weitereinnahme eines Medikaments oder die nicht mitgeteilte Einnahme weiterer Substanzen zu denken. Diese Aspekte müssen im ärztlichen Gespräch gezielt angesprochen und im Rahmen der erweiterten Diagnostik bei Therapieresistenz erneut aufgegriffen und vertieft werden. Generell gilt, dass die Patienten-Compliance steigt, je umfangreicher die Patienten aufgeklärt sind, je mehr sie die Möglichkeit erhalten, Fragen und Bedenken zu äußern und je mehr sie als gleichberechtigte Partner bei der Diagnose- und Therapiefindung akzeptiert werden (Linden u. Kiermeir 2004). Da, wie auch das vorliegende Buch zu verdeutlichen versucht, in der Regel mehrere Therapieoptionen zur Verfügung stehen, ist es zumeist möglich, den Patienten an der Therapieentscheidung zu beteiligen, ohne damit eine wissenschaftliche Basis der Behandlung zu verlassen.

    In der ambulanten Pharmakotherapie ist es sehr ratsam, den bei complianter Einnahme entstehenden Verbrauch gegen die verordnete Medikamentenmenge aufzurechnen. Die konkrete Besprechung der Einnahmesituation kann die Schwierigkeiten einer regelmäßigen Medikation aufzeigen und Lösungsmöglichkeiten ergeben. So kann z. B. soziale Stigmatisierung, auch in der eigenen Familie, ein Hinderungsgrund für die regelmäßige Einnahme sein. Mittagsdosen sind hier oft besonders problematisch. Für Patienten die leicht den Überblick über die Einnahme verlieren, sind Dosierboxen, die die Medikation der ganzen Woche enthalten, ebenso hilfreich wie die gedankliche Koppelung der Medikamenteneinnahme an eine regelmäßige tägliche Verrichtung, wie z. B. Zähneputzen. Generell steigt die Einnahmetreue mit einem möglichst einfachen Dosisregime von möglichst nur einer Einnahme pro Tag. Pharmaka mit besonders langer Halbwertzeit wie Fluoxetin oder Thyroxin haben bei Patienten Vorteile, die häufiger einzelne Einnahmen auslassen.

    Mit einer Antidepressiva-Serumspiegelbestimmung zum Zwecke der Compliancekontrolle kann zumindest eine Nichteinnahme der Medikation entdeckt werden. Aufgrund der bereits angesprochenen erheblichen interindividuellen Unterschiede im Pharmakometabolismus (s. Kap. 3.1.3 und 3.1.4) ist ein trotz adäquater Standarddosierung gefundener subtherapeutischer Serumspiegel nicht gleichbedeutend mit unzuverlässiger Einnahme.

    4 Psychosoziale Faktoren

    Psychosoziale Belastungsfaktoren werden häufig vom Patienten nicht als solche erkannt oder sie werden, weil mit Scham oder Selbstvorwürfen besetzt, nicht spontan berichtet. Sie sind aber bei einem erheblichen Teil der Depressionen ursächliche oder wichtige, die Depression unterhaltende Faktoren. Häufig ist es möglich, diese Einflüsse gezielt psycho- oder soziotherapeutisch anzugehen. Die Einbeziehung von Angehörigen oder anderen nahen Bezugspersonen ist hierbei eine wichtige Maßnahme.

    Im Rahmen der erweiterten Diagnostik lohnt es sich, die folgenden Bereiche gemeinsam mit dem Patienten erneut systematisch auf mögliche Belastungsfaktoren zu durchleuchten:

    Partnerschaft

    Sexualität

    Kinder, Kinderwunsch

    Eltern und Altfamilie

    Freunde, Einsamkeit

    Beruf, Arbeitsplatz, Schule, Ausbildung

    finanzielle Situation, Schulden

    Wohnsituation

    Verlusterlebnisse in der jüngeren Vergangenheit, einschließlich

    Trennung/Tod von nahestehenden Personen

    Tod von Haustieren

    Verlust des Arbeitsplatzes

    Verlust gesundheitlicher Funktionen oder Fähigkeiten

    andere Kränkungserlebnisse in der jüngeren Vergangenheit

    (Fehlen von) Freizeitaktivitäten

    5 Sekundärer Krankheitsgewinn

    Hartnäckiges, therapieresistentes Verharren in der Depression kann durch zu große Vorteile, die der Patient aus der Erkrankung zieht, begünstigt sein. Es ist wichtig, sich als Therapeut zu vergegenwärtigen, dass der Patienten keine bewusste Abwägung für oder gegen eine Gesundung vornimmt, sondern in seiner aktuellen inneren und äußeren Situation außer Stande ist, die depressive Symptomatik aufzugeben.

    Ebenso wichtig ist die Erkenntnis, dass die durch eine depressive Symptomatik zu erlangenden Vorteile nur kurzfristig und durch gravierende Einschränkungen erkauft sind. Krankheit per se ist kein Vorteil und das Unvermögen, bestimmte Krankheitssymptome aufzugeben, hat für sich allein genommen bereits Krankheitswert und ist Ausdruck einer inneren oder äußeren Notlage. Dies gilt es, den Patienten mit sekundärem Krankheitsgewinn auf der Basis einer von Vertrauen und Verständnis getragenen therapeutischen Beziehung zu vermitteln. Nur über den Prozess des Erkennens des durch die Depression bedingten Verzichts (z. B. auf eine aktivere Selbstgestaltung des Lebens) kann eine Therapie- und Veränderungsmotivation erzeugt werden. Für den Therapeuten eines Patienten mit hohem sekundären Krankheitsgewinn ist die Wahrnehmung, Kontrolle und Bearbeitung (z. B. in Supervision) der Gegenübertragung eine besondere Herausforderung.

    Eine Flucht in die Depression ist in der Regel mit Insuffizienzüberzeugungen und einem schwachen Selbstwertgefühl verknüpft, was beides ebenfalls Inhalt der psychotherapeutischen Arbeit sein muss. In einem mitunter langwierigen psychotherapeutischen Prozess müssen neue persönliche Ziele und Identifikationsmöglichkeiten erarbeitet werden. Bezüglich spezifischer psychotherapeutischer Techniken sei auf die Kapitel des Buchabschnitts 5 verwiesen.

    Typische Beispiele für sekundären Krankheitsgewinn sind:

    finanzielle Vorteile (Krankengeld, Frührente u. a.)

    Entpflichtung von beruflichen oder familiären Aufgaben

    Zuwendung durch Familie oder Therapeuten

    Vermeidung von Konflikten, die bei Wiederaufnahme eines aktiven Lebens drohen

    Vermeidung schwieriger Entscheidungen

    Vermeidung juristischer Konsequenzen (z. B. durch Prozess- oder Haftunfähigkeit)

    Literatur

    Bauer M, Whybrow PC (2002) Thyroid Hormone, brain and behavior. In: Pfaff D, Arnold A, Etgen A, Fahrbach S, Rubin R (Hrsg) Hormones, Brain and Behavior. Academic Press, San Diego, S. 239–264

    Bridges PK (1983) »...and a small dose of an antidepressant might help«. Br J Psychiatry 142:626–628

    Bschor T (2002) Larvierte Depression: Aufstieg und Fall einer Diagnose. Psychiatrische Praxis 29:207–210

    Bschor T (2003) Psychische Veränderungen bei subklinischer Hypo- und Hyperthyreose – was müssen wir dazu lernen? In: Schumm-Dräger PM, Palitzsch KD (Hrsg) Referate des 1. Münchner Schilddrüsensymposiums 2003. Merck, Darmstadt, S. 17–24

    DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) (2000) Behandlungsleitlinie affektive Erkrankungen. Steinkopff Verlag, Darmstadt

    Enns MW, Swenson JR, McIntyre RS, Swinson RP, Kennedy SH and the CANMAT Depression WorkGroup (2001) Clinical guidelines for the treatment of depressive disorders. VII. Comorbidity. Can J Psychiatry, 46(suppl 1):77S–90S

    Hiller W, Zaudig M, Mombour W (1995) IDCL – Internationale Diagnosen Checklisten für ICD-10 und DSM-IV (Manual und 32 Checklisten nach ICD-10 als Bestandteil des Gesamtpakets der ICD-10-Checklisten der WHO). Huber, Bern

    Keller MB, Klerman GL, Lavori PW, Fawcett JA, Coryell W, Endicott J (1982) Treatment received by depressed patients. JAMA 248:1848–1855

    Kessler RC, Nelson CB, McGonagale KA, Liu J, Swartz M, Blazer DG (1996) Comorbidity of DSM-III-R major depressive disorder in the general population: results from the US National Comorbidity Survey. Br J Psychiatry, 168(suppl 30):17–30

    Linden M (1981) Definition of compliance. Int J Clin Pharmacol Ther Toxicol 19:86–90

    Linden M, Kiermeir J (2004) Medizinische Diagnostikund Therapie als kooperativer Problemlöseprozess von Arzt und Patient. Psychiatrie 1:42–49

    Parikh SV, Lam RW and the CANMAT Depression Work Group (2001) Clinical guidelines for the treatment of depressive disorders. I. Definitions, prevalence, and health burden. Can J Psychiatry, 46(suppl 1):13S–20S

    Souery D, Lipp O, Massat I, Mendlewicz J (2001) The characterization and definition of treatment-resistant mood disorders. In: Amsterdam JD, Hornig M, Nierenberg AA (Hrsg) Treatment-resistant mood disorders. University Press, Cambridge, S. 3–29

    Wittchen HU, Wunderlich U, Gruschwitz S, Zaudig M (1997) SKID-I. Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV. Achse I: Psychische Störungen. Hogrefe, Göttingen

    3 Pharmakotherapie

    3.1 Behandlung mit Antidepressiva. Pharmakologie, Therapieabschnitte

    Tom Bschor

    Synopsis

    In Deutschland sind über 25 verschiedene Wirkstoffe als Antidepressiva zugelassen. Trotz unterschiedlicher neurochemischer Eigenschaften weisen sie bemerkenswert viele Gemeinsamkeiten auf: eine vergleichbare antidepressive Wirksamkeit, eine Non-Responderquote von ca. einem Drittel, eine etwa gleich lange Wirklatenz, kein Abhängigkeitsrisiko. Die Übereinstimmungen sind u. a. durch den gemeinsamen Effekt einer Erhöhung der Serotonin- und/oder Noradrenalin-Konzentration im synaptischen Spalt im ZNS erklärbar.

    Die größten Unterschiede weisen die verschiedenen Antidepressiva bezüglich ihres Nebenwirkungsprofils auf, das somit bei der initialen Auswahl eines Antidepressivums oft das Entscheidungskriterium ist.

    Die Pharmakotherapie der Depression gliedert sich in die drei Abschnitte Akuttherapie, Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe.

    Ziel der Akuttherapie ist die Remission der depressiven Symptomatik. In der initialen Akuttherapie wird ein Antidepressivum in Monotherapie in Standarddosis eingesetzt (Behandlungsstufe 1). Nach einer ausreichend langen Therapiedauer muss eine Evaluation des Behandlungserfolges zur Entscheidung über Fortführung der Behandlung oder Wechsel der Therapiestrategie erfolgen (Behandlungsstufe 2).

    Die Zeitdauer, nach der die systematische Responseevaluation erfolgen sollte, ist nach wissenschaftlichen Kriterien nur schwer festzulegen, da sowohl Argumente für einen frühen als auch für einen späten Zeitpunkt vorliegen. Unter zusätzlicher Berücksichtigung klinisch-pragmatischer Gesichtspunkte kann das etablierte Vorgehen einer Responseevaluation nach drei bis vier Wochen empfohlen werden.

    Ziel der Erhaltungstherapie ist, das hohe Risiko eines frühen Rezidivs zu verringern. Um dies zu erreichen, wird die zur Remission führende Pharmakotherapie in unveränderter Dosis über sechs bis zwölf Monate fortgeführt. Die rückfallverhütende Wirkung der Antidepressiva in diesem Zeitraum ist wissenschaftlich besonders gut belegt.

    Nur bei einem rezidivierenden Verlauf ergibt sich in Abhängigkeit von der erwarteten Rezidivneigung die Indikation zu einer (zeitlich unbegrenzten) Rezidivprophylaxe.

    1 Indikation

    Über 25 Wirkstoffe, die zur Gruppe der Antidepressiva zählen, sind in Deutschland zugelassen. Sie bilden die Basis der antidepressiven Pharmakotherapie, wobei, wie inzwischen häufig gezeigt werden konnte, ihr Effekt umso stärker ist, je schwerer die Depression ist (Khan et al. 2002, NICE 2004, Paykel et al. 1988, Ottevanger 1991). Daher wird bei einer schweren Depression eine pharmakologische Behandlung als klar indiziert angesehen, während bei einer mittelgradigen Depression eine alleinige psychotherapeutische Behandlung als gleichwertige Alternative betrachtet wird und bei einer leichten Depression der Rat zu einer medikamentösen Behandlung nur beim Vorliegen spezieller Gründe erfolgt (NICE 2004).

    Die initiale Pharmakotherapie einer unkomplizierten Depression (Behandlungsstufe 1) ist zunächst recht einfach, insbesondere da mit vielen der moderneren Antidepressiva sehr sichere Medikamente zur Verfügung stehen. Zu beachten ist allerdings, dass eine ausreichende Dosierung gegeben und bis zur Wirkbeurteilung ein ausreichend langer Zeitraum abgewartet wird (s. u.). Jedoch haben alle Antidepressiva eine durchschnittliche Non-Responserate von mindestens einem Drittel (Bschor u. Bauer 2004, Möller 2005, Nierenberg u. Amsterdam 1990, Katona 1995), sodass weitere Therapieschritte (Behandlungsstufen 2, 3 usw.) folgen müssen. Hier beginnt die eigentliche psychiatrische Herausforderung, während die einfache antidepressive Pharmakotherapie, auch aufgrund der Häufigkeit depressiver Erkrankungen, durchaus vom Allgemeinarzt durchgeführt werden sollte.

    2 Gemeinsamkeiten der Antidepressiva

    Nach ihren unterschiedlichen neurochemischen Eigenschaften oder ihrer chemischen Struktur werden die Antidepressiva in verschiedene Gruppen eingeteilt. Eine Übersicht gibt Tabelle 1. Es ist bemerkenswert, dass alle verfügbaren Antidepressiva trotz ihrer pharmakologischen Unterschiede über viele klinische Gemeinsamkeiten verfügen:

    Sie sind mit einer eher niedrigen bis mittleren Effektstärke antidepressiv wirksam, wie doppelblinde, placebokontrollierte Studien für alle Antidepressiva zeigen.

    Sie weisen alle die bereits erwähnte Non-Responderquote in ähnlicher Höhe von ca. einem Drittel der Patienten auf (NICE 2004, Bauer et al. 2002a, AkdÄ 2006).

    Allen Antidepressiva inhärent ist eine annähernd gleich lange Wirklatenz bis zum Eintritt der antidepressiven Wirkung. Es ist jedoch nicht einfach, die richtige Zeitspanne zu benennen, die abgewartet werden muss, bis die Wirksamkeit eines Antidepressivums beurteilt werden kann. In den meisten placebokontrollierten Studien bildet sich nach zwei bis vier Wochen ein signifikanter Unterschied in der Wirksamkeit zwischen den beiden Prüfarmen heraus (Möller 2005). Der Zeitraum, der üblicherweise für eine kontinuierliche Einnahme des Medikaments empfohlen wird, bis zum ersten Mal die Effektivität evaluiert werden kann, liegt bei etwa vier Wochen (Bauer et al. 2002a, AkdÄ 2006). Dieser Zeitangabe stehen jedoch zum einen Befunde entgegen, nach denen der beste Prädiktor für ein Ansprechen auf ein Antidepressivum eine initiale (geringe) Befundverbesserung ist (Nierenberg et al. 1995, 2000), sodass gelegentlich ein Fortführen einer bis dahin vollkommen wirkungslosen Medikation, über z. B. mehr als zehn Tage hinaus, als wenig erfolgversprechend bezeichnet wird. Zum anderen ist bekannt, dass ein sehr viel längerer Zeitraum, von beispielsweise zwei bis drei Monaten, vergehen kann, bis sich der volle Effekt eines Antidepressivums herausgebildet hat (Rush u. Kupfer 2001, Bauer et al. 2002a, Kocsis et al. 2003, Bschor 2005). Dies gilt in verstärktem Maße für ältere Patienten (NICE 2004, Bauer et al. 2002a). Zweifelsohne wird die Chance des Responsierens eines Patienten immer geringer, je länger ein Medikament ohne Wirkung verabreicht wurde. Unter Berücksichtigung aller genannten Argumente scheint die etablierte Empfehlung, ungefähr einen Zeitraum von vier Wochen abzuwarten, um dann eine Entscheidung über die Fortführung der Medikation bei Wirksamkeit oder über einen Wechsel der Behandlungsstrategie bei Unwirksamkeit zu treffen (Bauer et al. 2002a, AkdÄ 2006), sinnvoll und unter klinischen Gesichtspunkten pragmatisch.

    Eine weitere Gemeinsamkeit aller Antidepressiva ist das fehlende Abhängigkeitsrisiko. Die vielen klinischen Gemeinsamkeiten der Antidepressiva werden verständlicher, wenn die zunächst unterschiedlich erscheinenden neurochemischen Effekte genauer betrachtet werden (s. Abb. 1).

    Mit wenigen Einschränkungen zielen alle Antidepressiva letztlich darauf ab, die Serotonin- und/oder Noradrenalin-Konzentration im synaptischen Spalt im ZNS zu erhöhen.

    Abb. 1: Wirkmechanismen von Antidepressiva

    Hiermit wird auch die antidepressive Wirksamkeit in Zusammenhang gebracht (Bschor u. Grüner 2006), wenngleich dieser Zusammenhang nicht letztendlich bewiesen ist und u. a. unverstanden bleibt, warum die klinische Wirkung mit der genannten Verzögerung eintritt, obwohl die Neurotransmittererhöhung im synaptischen Spalt bereits initial nachweisbar ist.

    Lediglich der Weg, auf dem die Medikation zur Erhöhung von Serotonin und/oder Noradrenalin im synaptischen Spalt führt, ist unterschiedlich (s. Abb. 1). Bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI; selective serotonin reuptake inhibitor) steckt der Wirkmechanismus bereits im Namen: Sie hemmen selektiv die Serotonin-Wiederaufnahmepumpe, die nach erfolgter Neurotransmitterausschüttung aus dem präsynaptischen Neuron den Nervenbotenstoff wieder zurückin das präsynaptische Neuron transportiert, damit es nicht zu einer unsinnigen Dauererregung der postsynaptischen Rezeptoren kommt und damit der Neurotransmitter im Sinne eines Recyclings wiederverwendet werden kann.

    Das Prinzip der Wiederaufnahmepumpenhemmung wurde aber nicht erst mit den SSRI eingeführt. Vielmehr sind auch die alten trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva von jeher Hemmer der Wiederaufnahmepumpe, allerdings nicht nur der Serotonin-Wiederaufnahmepumpe, sondern auch der Noradrenalin-Wiederaufnahmepumpe. Zudem sind diese älteren Substanzen nicht selektiv und beeinflussen zahlreiche weitere Neurotransmittersysteme, was überwiegend mit ihren Nebenwirkungen in Zusammenhang gebracht wird. Auch die SNRI Venlafaxin und Duloxetin sowie der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Reboxetin entfalten ihre Wirksamkeit über die Hemmung der Wiederaufnahmepumpe.

    Die Monoaminoxidase-Hemmer (MAO-Hemmer",4>;MAO-Hemmer) verfolgen einen anderen Weg, um die Serotonin- und Noradrenalin-Konzentration im synaptischen Spalt zu erhöhen: Sie hemmen die intrazellulär (präsynaptisch) gelegene Monoaminoxidase, die neben anderen Substanzen auch Serotonin und Noradrenalin abbaut (s. Kap. 3.1.6). Durch die Hemmung steht mehr Neurotransmitter zur Verfügung, der somit auch vermehrt ausgeschüttet werden kann.

    Weitere Substanzen, wie z. B. Mirtazapin oder Mianserin, blockieren den präsynaptisch gelegenen α2-Rezeptor, der bei starker Neurotransmitterausschüttung im Sinne eines negativen Feedbacks die weitere Ausschüttung von Serotonin und Noradrenalin drosselt. Die Hemmung des Rezeptors verhindert diesen Effekt, sodass eine ungedrosselte Ausschüttung anhält.

    Der allen Antidepressiva gemeinsame Effekt einer Serotonin- und/oder Noradrenalin-Konzentrationserhöhung mag die genannten Gemeinsamkeiten in der klinischen Anwendung erklären. Zur klinischen Wirkung führen vermutlich der Serotonin- und Noradrenalinerhöhung nachgeschaltete, adaptative Veränderungen im ZNS, die bisher im Detail noch nicht verstanden sind (Benkert u. Hippius 2003).

    3 Unterschiede zwischen den Antidepressiva

    Erhebliche Unterschiede hingegen weist das Nebenwirkungsprofil der verschiedenen Antidepressiva auf (s. Tab. 1). Beim erstbehandelten Patienten, bei dem keine individuellen Erfahrungen über Response oder Non-Response auf bestimmte Wirkstoffe vorliegen, gibt daher in der Regel das Nebenwirkungs- und Verträglichkeitsprofil den Ausschlag für die Auswahl eines Pharmakons. Folgende Aspekte sind hier häufig von Relevanz:

    Tab. 1: Antidepressiva

    ¹ Hochdosis erfordert engmaschigere und gegebenenfalls stationäre

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