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Therapeutische Stimulationsverfahren für psychiatrische Erkrankungen: Ein Praxisbuch
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eBook654 Seiten6 Stunden

Therapeutische Stimulationsverfahren für psychiatrische Erkrankungen: Ein Praxisbuch

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Über dieses E-Book

Für Patienten mit psychischen Erkrankungen bieten hirnelektrische Stimulationsverfahren eine nachweisliche Chance auf Besserung & und dies gerade in Fällen von Therapieresistenz gegenüber konventionellen Therapieverfahren. Der vorliegende Band bietet einen fundierten Überblick über die verfügbaren Hirnstimulationsverfahren: Elektrokonvulsionstherapie (EKT), repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS), transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), Vagusnervstimulation (VNS) und tiefe Hirnstimulation (THS). Schwerpunkte im Aufbau der einzelnen Kapitel sind: historische Entwicklung des jeweiligen Verfahrens, Durchführung, Wirkungsweise und Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen bei verschiedenen psychiatrischen Indikationen. Erörterungen zu ethischen Implikationen runden die einzelnen Kapitel ab. Das Buch richtet sich an in der Psychiatrie und Psychotherapie sowie in klinischen Nachbardisziplinen Tätige und Studierende der Medizin, Psychologie und Neurowissenschaften.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Nov. 2013
ISBN9783170244382
Therapeutische Stimulationsverfahren für psychiatrische Erkrankungen: Ein Praxisbuch

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    Buchvorschau

    Therapeutische Stimulationsverfahren für psychiatrische Erkrankungen - Jens Kuhn

    Teil I:   Elektrokonvulsionstherapie (EKT)

    1          Historische Entwicklung der Elektrokonvulsionstherapie

    Kirsten Brukamp

    1       Einleitung: Historische Entwicklungsabschnitte der Elektrokonvulsionstherapie

    Die Elektrokonvulsionstherapie ist eine bedeutsame Therapieform der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, in deren Entwicklung sich typische Verlaufsmuster medizinischer und wissenschaftlicher Neuerungen identifizieren lassen. In ihrer Geschichte können drei große, teilweise überlappende Abschnitte nach paradigmatischen Kriterien unterschieden werden: In der ersten Phase von Entstehung und Wachstum wurde die Elektrokonvulsionstherapie auf der Grundlage bereits zuvor identifizierbarer historischer Vorläufer erstmals klinisch eingeführt, und die internationale Verbreitung hing vom Engagement einzelner Pioniere und Protagonisten und von der Entwicklung der technischen Ausrüstung ab. In der Phase der Kritik und Konsolidierung wurde die Elektrokonvulsionstherapie zugunsten anderer aufkommender, wie besonders effektiver medikamentöser Therapien vernachlässigt. Gesellschaftlich erlebte sie eine teilweise starke Ablehnung, die im Zusammenhang mit der Antipsychiatrie-Bewegung stand und nicht zuletzt durch Negativdarstellungen in Filmen mitverursacht wurde. Trotzdem kam es zu einem Comeback, das zur derzeitigen wissenschaftlich-gesellschaftlichen Relevanz beitrug. Diese manifestiert sich in einem intensiven Expertendiskurs, der aber auch in der Einsicht mündet, dass die Elektrokonvulsionstherapie eine Koexistenz mit vielen anderen Behandlungsmöglichkeiten führt und ihre Potentiale und Probleme differenziert betrachtet werden müssen.

    2       Entstehung und Wachstum

    2.1     Vorläufer

    Die Elektrokonvulsionstherapie entstand in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage dreier systematischer Entwicklungen in der Psychiatrie: Zunächst einmal ist die beginnende Fokussierung auf die biologische Psychiatrie zu nennen, die auch am Ende des Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen war und die zur Suche nach biologisch fundierten Therapien führte. Des Weiteren bestanden zu diesem Zeitpunkt mehrere Ansätze für sogenannte Krampfoder Schocktherapien, die darauf ausgerichtet waren, psychiatrische Erkrankungen durch die Herstellung extremer Stoffwechselzustände, die ansonsten in der Medizin selbst als pathologisch angesehen werden, zu behandeln. Hierzu sind die Insulintherapie und die Metrazol-Krampftherapie zu zählen. Schließlich bestanden bereits seit längerem Traditionen in der Medizin, Elektrotherapien einzusetzen, die die Wirkung elektrischen Stroms auf Körper- und Nervenzellen nutzten.

    Im Einzelnen lassen sich folgende historisch relevante Aspekte im Hinblick auf die Vorläufertherapien nennen: Scribonius Largus behandelte in der Antike um das Jahr 47 nach Christus chronische Kopfschmerzen durch das Auflegen von Torpedo-Zitterrochen aus dem Tiber (Scribonius Largus circa 47 [1887]). In den 1780er Jahren empfahlen Benjamin Franklin (Philadelphia, Vereinigte Staaten von Amerika) und Jan Ingenhousz (Breda, Niederlande, und London, England) Studien zum Einsatz von Elektrotherapie für die Behandlung der Melancholie, also der Depression, nachdem beide Unfälle mit der Applikation von elektrischem Strom am Gehirn erlitten und dabei die Wirkungen des Gedächtnisverlusts beziehungsweise der euphorischen Hochstimmung erfahren hatten (Finger 2006; Finger und Zaromb 2006; Beaudreau und Finger 2006). Statische Elektrizität wurde medizinisch von Jean-Baptiste Le Roy (Paris, Frankreich) um 1745 und Robert Whytt (London, England) um 1751 eingesetzt (Milner 1999); danach werden die Berichte über den Einsatz und die verschiedensten Indikationen von Elektrotherapien häufiger (siehe zum Beispiel Endler 1988), wobei beispielsweise Elektroschocks am Körper bereits 1769 zu einer bemerkenswerten Symptombesserung bei paranoider Manie führten (Delbourgo 2001).

    2.2     Pioniere

    Von den vier in den dreißiger Jahren neu entwickelten Therapien in der Psychiatrie ist die Elektrokonvulsionstherapie als einzige übrig geblieben (Endler 1988), im Unterschied zu den anderen, nämlich Insulintherapie (entwickelt von Manfred Sakel), Metrazol-Krampftherapie (zurückzuführen auf Ladislas Meduna) und Psychochirurgie beziehungsweise Lobotomie (initiiert durch António Egas Moniz, verbunden mit dem Nobelpreis 1949, später fortgeführt durch Walter Freeman und James Winston Watts). Die davor eingesetzten Behandlungen werden teilweise als Folter bezeichnet, da sie bloß aus der symptomorientierten und teilweise brutalen Ruhigstellung der psychisch kranken Patienten bestanden. Retrospektiv wirken auch die anderen erwähnten Therapien unangemessen und kritikwürdig, wobei insbesondere die Geschichte der Psychochirurgie einen außerordentlich negativ bewerteten Verlauf nahm.

    Für die Anfangsphase der Elektrotherapie können sehr deutliche personen- und ortsbezogene Entwicklungsschritte identifiziert werden. Eine direkte inhaltliche und zeitliche Verbindungslinie zur Elektrokonvulsionstherapie geht aus von Ladislas Meduna (1896–1964; Budapest-Lipótmezö, Ungarn), der 1934 Krampfzustände medikamentös induzierte (Endler 1988). Bereits seit den 1870er Jahren war Elektrizität bei Tieren genutzt worden, um Krampfaktivität zu erzeugen (Endler 1988).

    Der Hauptort der Elektrokonvulsionstherapie-Entwicklung lag in Rom in Italien; die Protagonisten waren Ugo Cerletti, Direktor der Neuropsychiatrie, und Lucio Bini, Neuropsychiater. Cerletti lebte von 1877 bis 1963 und absolvierte sein Medizinstudium in Turin und Rom bis 1901. Danach spezialisierte er sich auf Neurologie und Neuropsychiatrie. Nach verschiedenen Arbeits- und Forschungsstationen wurde er 1935 Direktor der Klinik für Neuropsychiatrie in Rom (Mora 1963; Endler 1988). Lucio Bini lebte von 1908 bis 1964 und war Psychiater (Kalinowsky 1965). Er entwickelte im Auftrag von Cerletti die Technik für das erste Elektrokonvulsionstherapie-Gerät (Endler 1988), in Zusammenarbeit mit dem Techniker Arcione (Weiner 1988). Zunächst führte er Tierexperimente zur Optimierung von Dosierungen und Elektrodenpositionierungen durch (Fink 1988). Im April 1938 wurde die Elektrokonvulsionstherapie zum ersten Mal bei einem Menschen eingesetzt. Beteiligt war dabei unter anderem auch der Arzt Ferdinando Accornero, der später einen Augenzeugenbericht verfasste (siehe Accornero 1988). Nach den ersten Erfolgen legte Cerletti eine Aufgabenteilung unter seinen Mitarbeitern fest, um die Patienten klinisch und für Forschungszwecke bestmöglich zu beobachten (Accornero 1988; Endler 1988).

    2.3     Technikentwicklung

    Hinsichtlich der technischen Entwicklung der Geräte für die Elektrokonvulsionstherapie stellten Kenner fest, dass es für mehrere Jahrzehnte erstaunlich wenige Neuerungen gab (Weiner 1988). Bereits in der Anfangsphase existierten Geräte, bei denen Typ, Frequenz, Stärke und Dauer der Impulse eingestellt werden konnten, die für unilaterale und bilaterale Stimulationen geeignet waren und die Selbsttestfunktionen besaßen (Weiner 1988). Nach dem Bau der ersten Prototypen kam es zur Kommerzialisierung mit nach den Entwicklern benannten Geräten und Techniken, wie Bini-Arcione-, Friedman-WilcoxReiter- und Liberson-Offner-Typen (Weiner 1988). Wesentliche Wendepunkte in der Anwendungsgeschichte waren die Standardisierung des Applikationssettings, welche idealerweise Monitoring in speziellen Behandlungsräumen einschloss (vergleiche Folkerts 1997: 140–142), und die Durchführung in Allgemeinanästhesie, die sich erst ab den 1970er Jahren durchsetzte. Durch diese Maßnahmen wurde die medizinische Sicherheit erhöht und das subjektive Erleben der Patienten verbessert.

    2.4     Verbreitung

    Die wissenschaftliche Anerkennung der Elektrokonvulsionstherapie erfolgte in der Anfangsphase durch ihre Vorstellung auf Fachtagungen und später durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften sowie im persönlichen Kontakt durch die Möglichkeit der Hospitation und Observation an Kliniken, die diese Behandlungsmethode bereits einsetzten. Sie verbreitete sich rasch, ihr unkritischer Gebrauch war mit inakzeptablen Nebenwirkungen verbunden, und es ist bemerkenswert, dass einige US-amerikanische Psychiater aus diesen Gründen bereits 1947 einen »Missbrauch« beklagten (Fink 1988).

    Zum Teil sind die Erstdurchführungen in anderen Staaten außerhalb Italiens gut dokumentiert. Die erste Anwendung in den Vereinigten Staaten von Amerika fand 1939 im Institute of Pennsylvania Hospital statt (Pulver 1961). Den fünften Kontinent erreichte die Elektrokonvulsionstherapie 1940 im Glenside Hospital als Parkside Mental Hospital in Südaustralien mit Hilfe einer selbstgebauten Maschine (Goldney und Adams 2009). In Brasilien begann sie 1941 aufgrund des Engagements des Psychiaters Pacheco e Silva (Rosa 2007). Bereits in den 1940er Jahren erschienen in der Zeitschrift »Nervenarzt« mehrere wissenschaftliche Artikel über die Elektrokonvulsionstherapie in Deutschland (Panfilova 2005).

    Für die internationale Verbreitung der Elektrokonvulsionstherapie setzte sich zum Beispiel Lothar Kalinowsky (1899–1992) ein. Er wurde in Deutschland, Italien und England ausgebildet und gehörte zu den Augenzeugen der ersten Elektrokonvulsions-behandlungen in Rom. Er emigrierte 1940 in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er im selben Jahr am New York Psychiatric Institute mit einem dort eigens gebauten Gerät Elektrokonvulsionstherapien durchführte. Auch andere Kliniker waren daran beteiligt, die neue Therapie ab 1939 in die USAzu tragen (Endler 1988).

    3       Kritik und Konsolidierung

    3.1     Vernachlässigung

    Beginnend mit den 1950er Jahren kam es zu einer Vernachlässigung der Elektrokonvulsionstherapie zugunsten der sich ausbreitenden medikamentösen Behandlungsformen. Die neu eingeführten Psychopharmaka, nämlich die klassischen Neuroleptika und trizyklischen Antidepressiva, erwiesen sich als bisher effektivste Form der Behandlung. In der Folge wurden auch zielgerichtetere und wirksamere Psycho- und Verhaltenstherapien sowie sozialpsychiatrische Angebote entwickelt. In den 1990er Jahren traten atypische Neuroleptika, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Serotonin-Norepinephrin-Wiederaufnahmehemmer hinzu, die wiederum für erweiterte therapeutische Auswahloptionen und damit insgesamt für eine Effizienzsteigerung in der Psychiatrie sorgten.

    3.2     Widerstand

    Die Geschichte der Elektrokonvulsionstherapie ist auch eine Geschichte des Widerstands gegen sie, welcher paradigmatisch für die Psychiatriegeschichte allgemein ist. Die Antipsychiatrie-Bewegung stellte in den 1960er und 1970er Jahren die Psychiatrie als Ganzes in Frage und setzte sich gegen Psychiatriemissbrauch, die Diagnose der Schizophrenie sowie Lobotomie und Elekt-rokonvulsionstherapie ein. In der Folge war die gesellschaftliche Akzeptanz der Elekt-rokonvulsionstherapie international kontrovers, so dass sogar von einer »Stigmatisierung« dieser Therapie gesprochen wurde (Shorter 2008).

    Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den polemisch so genannten »Elektroschocks« fand durch populärwissenschaftliche Darstellungen (beispielsweise Breggin 1980) und in Magazinen (Hirshbein und Sarvananda 2008) statt und involvierte auch künstlerische Zugänge in Filmen (Walter 1998; McDonald und Walter 2001) und mit Poesie (Walter et al. 2002). Hier ist zum Beispiel der Film »Einer flog über das Kuckucksnest« von 1975 zu nennen, der ein außerordentlich negatives Bild der Elektrokonvulsionstherapie als Disziplinierungsund Bestrafungsmaßnahme zeichnet.

    Die in der Gesellschaft hervorgerufene Negativkonnotation spiegelt sich im Medizinsystem wider, wie sich an deutlich kritischen Bewertungen gerade zu Beginn des Medizinstudiums auch noch um die Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigt: »It appeared that there were significant negative biases against ECT in a portion of the group. Forty percent of the students who participated felt that psychiatrists often misused ECT, while 31 % actually thought ECT was used to punish violent or uncooperative patients« (Clothier et al. 2001: 99). Aus diesem Grund ist auch innerhalb des Medizinsystems eine konstruktive Auseinandersetzung von Befürwortern und Gegnern vonnöten.

    3.3     Wiederentdeckung

    Seit den 1980er Jahren entwickelte sich in der Medizin wieder vermehrtes Interesse an der Elektrokonvulsionstherapie, das in einem sogenannten leisen Comeback als effektive und akzeptierte Therapie mündete. Dieser historische Abschnitt kann mit einer klinisch-wissenschaftlichen Lehrbuch-Phase assoziiert werden, da die Quantität der bereits vorliegenden Daten und Erfahrungen vermehrt die Zusammenstellung in Kompendien erlaubte (vergleiche zum Beispiel Fink 1979). Richard Abrams (USA), ein Schüler Kalinowskys, verfasste ein vielbeachtetes Lehrbuch (siehe Abrams 1988). Ebenso setzte sich Max Fink (1923–heute, USA) für die Wiederverbreitung der Therapieform ein.

    Allerdings sollte mit den Kritikern der Elektrokonvulsionstherapie angemerkt werden, dass sich eine deutliche Diskrepanz hinsichtlich ihres Einsatzes im Vergleich von verschiedenen Typen psychiatrischer Krankenhäuser, zum Beispiel zwischen Universitätskliniken und privaten Häusern, herausbildete (Dörner 1980: 5). Dieses kann einerseits mit den unterschiedlichen Forschungs- und Kompetenzprofilen der Kliniken erklärt werden; andererseits kann es für die Argumentation herangezogen werden, dass, weil einige Kliniken ohne Elektrokonvulsionstherapie in ihrem Behandlungsspektrum auskommen, diese insgesamt zu häufig eingesetzt wird.

    4       Wissenschaftlich-gesellschaftliche Relevanz

    4.1     Expertendiskurs

    Nach den ersten Stadien der Entwicklung neuer medizinischer Therapien mit Labor-und Tierexperimenten, klinischen Studien, zunehmender Verbreitung und Sammlung klinischer Erfahrung folgt üblicherweise die Phase der langfristigen wissenschaftlichen Begleitung und Bewertung. Diese manifestierte sich im Fall der Elektrokonvulsionstherapie relativ früh durch das Erscheinen von Fach- und Übersichtsartikeln bereits in den 1940er Jahren. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich jedoch andere wesentliche Komponenten der wissenschaftlichen Strukturbildung und Qualitätsverbesserung feststellen:

    Hierzu gehörten Empfehlungen durch Experten hinsichtlich Technik und Dokumentation (siehe beispielsweise Weiner et al. 1988), Gründung von spezialisierten Fachgesellschaften (»Association for Convulsive Therapy«, »International Society for ECT and Neurostimulation [ISEN]« ab 1976), Gründung von Fachzeitschriften (»Convulsive Therapy« 1985–1997, »The Journal of ECT« ab 1998) und Empfehlungen und Stellungnahmen durch allgemeine Fachgesellschaften (American Psychiatric Association 2001, nach der ersten Fassung von 1990 und dem Task Force Report 14 von 1978; Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 2003; National Institute for Clinical Excellence 2003; DGPPN et al. 2009). In einem weiteren Schritt der wissenschaftlichen Beschäftigung kam es dann zu einer Auseinandersetzung mit der Historie, wie sich unter anderem am Interesse an Augenzeugenberichten der noch lebenden Pioniere (vergleiche Accornero 1988; Übersetzung der handschriftlichen Aufzeichnungen in Bini 1995) zeigt, und zur Lehr- und Lernforschung, um die Vermittlung an Medizinstudierende zu fördern (Clothier et al. 2001; Shah und Averill 2009).

    4.2     Koexistenz

    Heute gilt die Elektrokonvulsionstherapie als eine Therapieoption unter vielen möglichen. Sie ist bei lebensbedrohlichen Zuständen wie der Katatonie und infolge von Depressionen indiziert; oft wird sie als Methode der zweiten Wahl für bestimmte Indikationen wie pharmakoresistente unipolare Depressionen und therapierefraktäre Schizophrenien und Manien angesehen (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 2003). Kontrovers sind die wissenschaftlichen Meinungen hinsichtlich der Frage, ob es sich bei den neuen Therapieformen der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) und der transkraniellen Gleichstromstimulation (englisch: transcranial Direct Current Stimulation, tDCS) um legitime Weiterentwicklungen handelt oder ob diese aufgrund von unterschiedlichen Stimulationsmechanismen und Indikationen in eine andere Kategorie eingeordnet werden müssen. Obwohl manche traditionelle Protagonisten die Vergleiche ablehnen und die höhere Effektivität von Elektrokonvulsionstherapie gegenüber TMS bei Depressionen betonen (siehe Fink 2011), wird die Elektrokonvulsionstherapie heute oft zusammen mit TMS, tDCS und anderen Stimulationsverfahren wissenschaftlich besprochen (vergleiche Marcolin und Padberg 2007), und es ist zu bedenken, dass die anderen Therapien aufgrund der relativ kurzen Entwicklungszeit hinsichtlich der Techniken und Indikationen noch nicht optimiert erscheinen.

    4.3     Medizinethik

    Die Elektrokonvulsionstherapie wirft heutzutage vor allem medizinethische Probleme in den Kontexten von informierter Zustimmung und Nichtschaden (siehe Beauchamp und Childress 2009) auf:

    Patienten müssen in der Regel ihre informierte Zustimmung zu Behandlungsmaßnahmen geben, da ihren Ärzten sonst Körperverletzung vorgeworfen werden kann. Nichtsdestotrotz existiert in manchen Staaten noch die Möglichkeit, die Elektrokonvulsionstherapie als Zwangsmaßnahme ohne die Einwilligung der Patienten durchzuführen. Einerseits kann die Effektivität dieser Therapie bei einigen Patienten als Rechtfertigung hierfür herangezogen werden, zumal Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie mit der fehlenden Krankheitseinsicht der Patienten begründet werden; andererseits stellt sich die Frage nach den genauen Indikationen, die den Zwangseinsatz plausibilisieren sollen. Aufgrund wirksamer alternativer Akuttherapieformen lässt sich die Elektrokonvulsionstherapie heutzutage sicherlich kaum noch als Zwangsmaßnahme legitimieren.

    Entsprechend dem Prinzip der Non-Malefizienz, des Nichtschadens, in der Medizinethik (siehe Beauchamp und Childress 2009) soll Patienten durch die ärztliche Behandlung kein Schaden zugefügt werden, der den Nutzen für sie praktisch zunichte macht. Ob dieses für die Elektrokonvulsionstherapie zutrifft, ist zwischen Unterstützern und Gegnern umstritten. Da sie meistens als nachrangige Methode nach erfolgloser medikamentöser Therapie gilt, ist der Nutzen für die Fälle, wo sie wirkt, dann als relativ hoch anzusehen. Das Mortalitätsrisiko aufgrund von kardiovaskulären Komplikationen unter Narkose wird von Befürwortern als geringer eingeschätzt als bei einer hochdosierten antidepressiven Pharmakotherapie (Folkerts 1997: 92). Als Nebenwirkungen werden oft kognitive Störungen mit häufiger retrograden als anterograden Amnesien, prolongierte Krampfanfälle, Kopfschmerzen sowie Verletzungen in der Mundhöhle beschrieben (Folkerts 1997: 92–101), wobei letztere ärztlich behandelt beziehungsweise durch Präventivmaßnahmen zumeist verhindert werden können.

    Die kognitiven Störungen sind bisher nicht medizinisch kontrollierbar. Gegner der Elektrokonvulsionstherapie betonen gerade diese und sprechen von der »Hypothese der hirnschädigenden« beziehungsweise »persönlichkeitsschädigenden Wirkungen« (Breggin 1980: 168) aufgrund von pathologischen Hirnveränderungen und subjektiv belastenden Gedächtnisverlusten. Befürworter argumentieren dagegen, dass letztere in Anbetracht der bereits bestehenden krankheitsbedingten kognitiven Einschränkungen akzeptabel sind (Folkerts 1997: 93). Aufgrund der kontroversen Auseinandersetzungen ist zu hoffen, dass sowohl neue Tier- und Humandaten die Sicherheit der Elektrokonvulsionstherapie schlüssig belegen beziehungsweise klar widerlegen (vergleiche U.S. Food and Drug Administration 2011) als auch spezifischere und nebenwirkungsärmere Therapien entwickelt werden, um auf der Grundlage dieses Fortschritts die Indikationen für die Elektrokonvulsionstherapie neu zu überdenken.

    5       Schluss: Abhängigkeit therapeutischer Verfahren vom historischen Kontext

    Einsatz und Akzeptanz verliefen bei der Elektrokonvulsionstherapie als einer Behandlungsmethode der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts in Zyklen. Insofern kann sie als ein Beispiel für eine »history of therapeutic fashions in psychiatry« (Tourney 1967: 92) betrachtet werden. Obwohl der Begriff der »therapeutischen Moden« im Bereich der Psychiatrie irritierend oder sogar zynisch klingt, lässt sich nicht verleugnen, dass Therapieoptionen sich historisch entwickeln und mit der Zeit verändern. Manchmal führt das Aufkommen neuer und spezifischerer Möglichkeiten dann auch dazu, dass einige Behandlungsmethoden seltener erforderlich werden.

    Schon die ehemaligen Pioniere und Protagonisten der Elektrokonvulsionstherapie entwickelten die Hoffnung, dass sie eines Tages durch eine verbesserte Behandlungsmethode abgelöst werden würde. Diese Hoffnung zeigte sich bei Cerletti bereits als Reaktion auf den allerersten Einsatz beim Menschen: »[Cerletti] remarked« ›When I saw the patient’s reaction‹ I thought to myself: »This ought to be abolished!« Ever since I have looked forward to the time when another treatment would replace electroshock.« (Ayd 1963: A7). Als Augenzeuge der ersten Behandlung stellte Accornero fest: »We are ready to abandon the past, when the future shows some promise. […] Perhaps there will be a day in which our present technology will be regarded as inadequate or childish; perhaps posterity will consider electroshock a product of an obscure science. I would be happy to see that day because it would mean that something better has been discovered« (Accornero 1988: 49).

    Literatur

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    2          Ethische Aspekte im Zusammenhang mit Elektrokonvulsionstherapie

    Tillmann Ruland, Swantje Notzon und Peter Zwanzger

    1       Einleitung

    Wenngleich ethische Überlegungen im gesamten Bereich der Medizin eine wichtige Rolle spielen, gerät insbesondere die EKT als vermeintlich risikobehaftetes, gar verzichtbares und hinsichtlich des therapeutischen Nutzens fragwürdiges Therapieverfahren immer wieder in den Fokus der Diskussion. Gerade in den Medien wird die Durchführung der EKT häufig als Akt brutaler Gewalt dargestellt, so zum Beispiel in dem Film »Einer flog über das Kuckucksnest« aus dem Jahr 1975, aber auch in »Requiem for a Dream« aus dem Jahr 2000. Dort werden Patienten festgehalten, gegen ihren Willen fixiert, Strom wird ohne Narkose »durch den Kopf gejagt«. Die Darstellungen bewegen sich dabei in den allermeisten Fällen fernab der Realität. Die Tatsache, dass die Entscheidung für diese Form der antidepressiven Therapie von den allermeisten Patienten freiwillig getroffen wird und grundsätzlich unter Narkose erfolgt, bleibt dabei völlig unberücksichtigt. Schwere Nebenwirkungen sind vergleichsweise selten, der therapeutische Nutzen für die Patienten in der Regel erheblich.

    Tatsächlich ist die Tendenz zur verzerrten Darstellung am ehesten historisch begründet. So wurde die EKT – wie auch andere Therapieverfahren – in der Vergangenheit unkritisch angewandt, dies nicht selten aus therapeutischer Ratlosigkeit oder in Ermangelung anderer wirksamer Therapieverfahren. Im Gegensatz dazu ist die Weiterentwicklung der EKT als wichtiges Therapieverfahren in der biologischen Psychiatrie selbst medizinischen Fachkreisen in der Regel nicht oder nicht ausreichend bekannt.

    Während die EKT in der Laienpresse immer wieder kontrovers diskutiert wird, gibt es in Hinblick auf ethische Aspekte vergleichsweise wenig Fachliteratur. In den wenigen Publikationen wird vor allem zu den Aspekten Indikation, Einwilligungsfähigkeit und Risiken Stellung genommen.

    2       Ethische Überlegungen zur Indikation

    Der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer bezog 2003 eine eindeutige Position zur EKT als psychiatrischer Behandlungsmaßnahme: »Ein Verzicht auf die EKT würde eine ethisch nicht vertretbare Einschränkung des Rechtes von häufig suizidal gefährdeten, schwerstkranken Patienten auf bestmögliche Behandlung bedeuten, zumal die EKT von den Patienten retrospektiv gut bis sehr gut beurteilt wird« (Hoppe et al. 2003, S. 1).

    Die EKT ist demzufolge Mittel der Wahl bei wahnhafter Depression, depressivem Stupor, schizoaffektiver Psychose mit schwerer depressiver Verstimmung, Depression mit drohendem Suizid oder Nahrungsverweigerung und lebensbedrohlicher (perniziöser) Katatonie (ebd.). Die therapeutische Bedeutung ist hinreichend belegt. Insofern scheinen sich also aus medizinischer Sicht keinerlei Zweifel zu ergeben hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit des Verfahrens.

    Allerdings können je nach regionaler Versorgungssituation entsprechende Fachkunde und Verfügbarkeit des Verfahrens variieren. Aus diesem Grund sollte ein Patient unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten bei entsprechender Indikation über die Möglichkeit einer EKT aufgeklärt werden und bei fehlender Verfügbarkeit oder Fachkunde des Verfahrens an Zentren mit entsprechender Expertise auf dem Gebiet der EKT verwiesen werden. In Deutschland ist die Versorgungslage im Vergleich zu anderen Ländern der Europäischen Union wie z. B. Italien vergleichsweise gut. In Abhängigkeit vom Wohnort variiert die Versorgungslage aber auch in Deutschland, sodass zukünftig die Bemühungen aller an der Gesundheitsversorgung beteiligten Institutionen zur strukturellen Optimierung verstärkt werden sollten, um mittelfristig eine flächendeckende Versorgung zu ermöglichen.

    3       Ethische Überlegungen zur Einwilligungsfähigkeit

    Die Wahrung der Patientenautonomie ist wesentlicher Grundsatz der modernen Medizinethik und neben den Aspekten Schadensvermeidung, Fürsorge und Gerechtigkeit wichtiger Bestandteil eines von Beauchamp und Childress (2008) für die ethische Vertretbarkeit von Therapieentscheidungen vorgeschlagenen Kriterienkatalogs. Patienten sollen daher grundsätzlich in die therapeutischen Überlegungen einbezogen werden und nach umfassender Aufklärung selbständig die Entscheidung für oder gegen ein Therapieverfahren treffen. Die Komplexität des Behandlungsverfahrens EKT, der oft drängende Wunsch der Patienten nach rascher Besserung der klinischen Beschwerden sowie bestehende Ängste vor dem Verfahren erfordern eine besonders behutsame und sorgfältige Gestaltung der Aufklärung. Im Falle nicht vorhandener Einwilligungsfähigkeit bei gleichzeitig bestehender dringender Behandlungsnotwendigkeit muss die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung, ggf. in Form einer Eilbetreuung, erwogen werden. Die Aufklärung zur EKT sollte klar definiert und standardisiert sein. Sie sollte angemessen und dabei individuell verständlich sein. Ein allgemeiner Teil muss über Indikation und Nebenwirkungen Auskunft geben (Reisner 2003, S. 215). Zudem muss auf die Wahl des Therapieverfahrens sowie auf Alternativen und potentielle Risiken eingegangen werden (Bosenquist 2009, S. 384–401). Gerade bei EKT kann eine unzureichende Aufklärung eine kritische oder ablehnende Haltung des Patienten oder dessen Angehörigen begünstigen. Aus diesem Grund sollten mögliche Befürchtungen des Patienten im Aufklärungsgespräch thematisiert werden (Folkerts 2010, S. 95). Zusammengefasst müssen im Rahmen des Entscheidungsprozesses gemeinsam mit dem Patienten alle Argumente für oder gegen EKT abgewogen werden. Entsprechende Fachkenntnisse des behandelnden Arztes sind dabei entscheidend.

    4       Ethische Überlegungen zu potentiellen Risiken

    Wie bei jeder anderen Therapieentscheidung auch muss nach dem Prinzip der Schadensvermeidung im Einzelfall das mit der Behandlung verbundene Nutzen-/Risikoverhältnis geprüft werden. Im Vergleich mit anderen Therapieverfahren ist jedoch das mit der Behandlung verbundene Risiko gering und im Wesentlichen auf das Narkoserisiko beschränkt. Insofern ist zur Risikoabschätzung auch eine Beurteilung des Narkoserisikos durch einen Facharzt für Anästhesiologie einzuholen.

    5       Ausblick

    Während aus klinischer Sicht auf der Basis umfangreicher Erfahrungen argumentiert werden kann, ist hingegen die Frage der genauen Wirkmechanismen der EKT noch weitgehend ungeklärt. Für die Zukunft sollte aus diesem Grund eine Intensivierung der Forschungsbemühungen rund um die neurobiologischen Effekte der EKT und des Ansprechens auf das Verfahren vorangebracht werden, um längerfristig ein besseres Verständnis des Verfahrens und damit eine breitere Akzeptanz zu erzielen.

    Literatur

    Hoppe, J et al. (2003) Stellungnahme zur Elektrokrampftherapie (EKT) als psychiatrische

    Behandlungsmaflnahme, (http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/EKT.pdf Zugriff am 28.11.2012)

    Beauchamp T L, Childress J F (2008) Principles of Biomedical Ethics. 6. Aufl., Oxford University Press

    Folkerts H W (2010) Elektrokrampftherapie. Nervenarzt. Springer Verlag. 82: S. 93–103.

    Rosenquist P B (2009) Informed consent. In: Swartz CM (Hrsg.) Electroconvulsive and Neuromodulation Therapies. 1. Aufl., Cambridge University Press, New York. S. 384–401.

    Reid W H (2009) Professional barriers to providing elctroconvulsive therapy. In: Swartz CM (Hrsg.) Electroconvulsive and Neuromodulation Therapies. 1. Aufl., Cambridge University Press, New York. S. 197–205.

    Reisner A D (2003) The Electroconvulsive Therapy Controvers: Evidence and Ethics. Neuro-psychology Review. Volume 13. No 4. Plenum Publishing Corporation. S. 199–219.

    3          Elektrokonvulsionstherapie: Durchführung, technische Grundlagen und Wirkungsweise

    Michael Grözinger

    1       Einleitung: Spontane epileptische Anfälle und Elektrokonvulsionstherapie

    Ein epileptischer Anfall ist ein angstmachendes, aversives Ereignis und ein stigmatisierendes Symptom von Erkrankungen. Im Rahmen der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) hat er sich dagegen als heilbringend erwiesen. Die EKT stellt eine intelligente Anwendung des epileptischen Anfalls für die Therapie psychischer Erkrankungen dar. Im ersten Schritt dieser Transformation wurde die ursprünglich pharmakologische Auslösung der Anfälle durch die elektrische Stimulation ersetzt, was das Verfahren zuverlässiger steuerbar und sicherer einsetzbar machte. Die darauf folgende Einführung von Succinylcholin minimierte die Verletzungsgefahr als Folge des Anfalls, machte aber zusätzlich eine Kurznarkose notwendig. Durch moderne Stimulationsund Überwachungstechniken, präiktale Hyperoxygenierung, supportive anästhesiologische Maßnahmen und dem Indikationsschwerpunkt affektive Störungen wurde die EKT schrittweise zu dem modernen medizinischen Therapieverfahren, das sie heute ist.

    Trotz dieser Optimierungen der Methode sollte in Erinnerung bleiben, dass im Kern der generalisierte Krampfanfall das therapeutische Agens der EKT darstellt. Bislang ist es nicht gelungen, diesen elementaren Bestandteil des Verfahrens zu modifizieren, ohne therapeutische Wirkung einzubüßen. Zwei Anmerkungen sollen an dieser Stelle helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Zum einen stellt der generalisierte Anfall eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die erwünschte Wirkung dar. Nicht der einzelne Anfall selbst, sondern erst die im Verlauf mehrerer Behandlungen im Gehirn angestoßenen Veränderungen führen zu der eigentlichen Besserung der Symptomatik. Zum anderen soll nicht suggeriert werden, dass Anfälle im Rahmen von EKT in allen physiologischen Aspekten mit spontan auftretenden epileptischen Anfällen übereinstimmen. Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede diesbezüglich existieren, ist bislang wenig untersucht. Um einer unkritischen Gleichsetzung vorzubeugen, wird im Folgenden auf einige Besonderheiten der EKT im Vergleich zu spontanen sekundär generalisierten Anfällen hingewiesen. Anfälle im Rahmen von EKT werden durch äußere, zeitlich eng begrenzte Stimuli während einer Narkoseinduziert. Dabei gibt es keinen epileptisch aktiven Herd, der im Sinne eines Kindling über einen langen Zeitraum auf das Gehirn einwirkt. Außerdem besteht in der Regel keine genetisch bedingte epileptische Vulnerabilität. Diese und andere Faktoren könnten die Physiologie der Anfallsentstehung und -ausbreitung im Vergleich zum spontanen Anfall durchaus verändern.

    2       Rahmenbedingungen der EKT

    Die geringe Repräsentation der EKT in der Facharztausbildung und die randständige Darstellung in vielen Empfehlungen, Monographien und Richtlinien spiegeln sich bei manchen Zuweisern und sogar bei Anwendern in einem erheblichen Mangel an Kenntnissen und in einer emotionalen Scheu vor dem Verfahren wider. Deshalb wird trotz evidenzbasierter Indikation eine EKT häufig erst in Erwägung gezogen, wenn multiple andere Therapieversuche fehlgeschlagen sind und viel Zeit verstrichen ist (Kellner et al. 2010). Für Patienten ist dies mit erheblichen Nachteilen verbunden, da mit zunehmender Dauer der Erkrankung die Erfolgsaussichten der EKT geringer werden (Kho et al. 2005). Auf der anderen Seite werden Patienten ohne diagnostisch sinnvolle Indikation mit der Begründung zugewiesen, dass medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungen nicht erfolgreich gewesen seien. Im Vorfeld einer EKT sollte deshalb anhand der psychiatrischen Vorgeschichte, des somatischen Zustands und der Vorerkrankungen des Patienten sorgfältig geprüft werden, ob die Therapie indiziert und sicher anwendbar ist.

    Im Hinblick auf eine geplante Behandlung ist es hilfreich, Patienten und Angehörige ergänzend zur routinemäßigen Aufklärung nach ihren Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der EKT zu fragen und diese psychoedukativ aufzugreifen. Dabei zeigt sich regelmäßig, dass Mythen einen realistischen Blick der Betroffenen auf die Behandlung versperren. Beispielsweise wird EKT häufig als antiquierte Methode angesehen, die in Kliniken angewandt wird, die nicht mit moderner Psychopharmakologie vertraut sind. Dies geht mit der Angst einher, durch die Behandlung unnötigem Leiden ausgesetzt zu werden. Darüber hinaus wird die EKT oft als Wunderheilung für ausweglose Fälle, als ultima ratio dargestellt. Patienten assoziieren sie mit Hoffnungslosigkeit und Zwangsbehandlung (Chakrabarti et al. 2010). Solche Fehlattributionen verstärken die depressive Einstellung der Patienten zu sich und ihrer Erkrankung. Eine psychotherapeutische Bearbeitung kann im Rahmen einer EKT-Serie hilfreich sein.

    Tendenziöse wissenschaftliche Untersuchungen stützen und perpetuieren solche Mythen. So wurde in einer Untersuchung die EKT mit mangelnder und falscher Aufklärung von Patienten unter Ausübung von Druck assoziiert (Rose et al. 2005). Berücksichtigt wurde nicht, dass alle medizinischen Interventionen mit hochambivalenten Entscheidungen von Patienten einhergehen, deren Verarbeitung speziellen Gesetzen unterliegt. Ein kontrollierender Vergleich mit somatischen Erkrankungen hätte dies zeigen können, wurde jedoch nicht herangezogen.

    EKT darf nicht isoliert von den übrigen Therapien des Patienten gesehen werden, sondern im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zusammen mit sozialpsychiatrischen, medikamentösen und psychotherapeutischen Maßnahmen. So sollten medikamentöse Therapie und EKT eng aufeinander abgestimmt sein. Psychotherapeutische Gespräche müssen auf vorübergehende kognitive Einschränkungen der Patienten Rücksicht nehmen, gleichzeitig aber auch neue Spielräume nutzen helfen, die sich aus der verbesserten affektiven Schwingungsfähigkeit durch die EKT ergeben. Auch nach einer erfolgreichen EKT-Serie müssen alle therapeutischen Möglichkeiten synergistisch genutzt werden, um Rückfälle zu verhindern.

    3       Klinischer Ablauf der Behandlungsserie

    Als Vorbereitung für eine EKT-Serie wird nach Feststellung der Indikation eine psychiatrische, neurologische und allgemein körperliche Untersuchung durchgeführt, sowie ein Routinelabor, ein EKG und EEG und eine konsiliarische Vorstellung in der Anästhesiologie. Meist erfolgt ergänzend eine Bildgebung des Gehirns, soweit nicht bereits in der Vorgeschichte dokumentiert. Zur Objektivierung des antidepressiven Therapieerfolgs kann vor und nach der EKT-Serie die Hamilton- oder die Montgomery-Asberg-Depressionsskala vergleichend angewandt werden (Hamilton 1960, Montgomery et al. 1979), für mögliche kognitive Nebenwirkungen die Mini-Mental-State-Examination (Folstein et al. 1990). Hinweisen auf Risikofaktoren unter EKT muss im Vorfeld sorgfältig nachgegangen werden, um Komplikationen zu vermeiden. Je nach Anamnese und Befund kann das zusätzlich eine Röntgenaufnahme des Thorax, eine Überprüfung des Zahnstatus, ein internistisches Konsil oder eine andere Maßnahme erfordern. Herzschrittmacher sollten überprüft werden, manchmal wird eine vorübergehende Umstellung des Betriebsmodus empfohlen. Krampfanfälle gehen mit einer starken kurzzeitigen Steigerung des Sympathikotonus einher. Bei einer vorbestehenden Hypertonie sind deshalb eine

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