Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Narzissmus: Theorie, Diagnostik, Therapie
Narzissmus: Theorie, Diagnostik, Therapie
Narzissmus: Theorie, Diagnostik, Therapie
eBook375 Seiten3 Stunden

Narzissmus: Theorie, Diagnostik, Therapie

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Mit Beiträgen u.a. von E. Dieckmann, H. Gündel, O. F. Kernberg und M. Walter.

Die narzisstischen Störungen finden in den letzten Jahren wieder vermehrt Beachtung. Narzisstische Phänomene nehmen möglicherweise zu und prägen unsere Gesellschaft. Trotz dieser Relevanz ist der Narzissmus mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen nicht einfach zu verstehen.
Dieses praxisorientierte Buch versammelt Beiträge renommierter Autoren wie bspw. Stephan Doering, Harald Gündel und Otto F. Kernberg zur Diagnostik und Therapie narzisstischer Störungsbilder und bietet fundierte Einsichten in das komplexe klinische Konzept ?Narzissmus?. Dabei wird sowohl auf psychodynamische Verstehenszugänge wie auch auf die Weiterentwicklung der kognitiven Therapie in Form der Schematherapie eingegangen. Beiträge u. a. zum Zusammenhang von Narzissmus und Körper, Narzissmus und Macht, Narzissmus und Adoleszenz als besonders vulnerable Phase sowie Narzissmus und Paarbeziehung runden das Buch ab.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Sept. 2012
ISBN9783170275065
Narzissmus: Theorie, Diagnostik, Therapie

Ähnlich wie Narzissmus

Ähnliche E-Books

Medizin für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Narzissmus

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Narzissmus - Gerhard Dammann

    Die Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«

    Der psychotherapeutische Ansatz gewinnt gegenwärtig in der Psychiatrie, neben dem dominierenden neurobiologischen und psychopharmakologischen Modell (»Biologische Psychiatrie«), wieder zunehmend an Bedeutung. Trotz dieser Renaissance gibt es jedoch noch vergleichsweise wenig aktuelle Literatur, die psychiatrische Störungsbilder unter vorwiegend psychotherapeutischem Fokus beleuchtet.

    Die Bände dieser neuen Reihe dokumentieren aktuelle Entwicklungen in der Psychotherapie und greifen folgende Aspekte auf:

    störungsspezifische Ansätze

    Evidenzbasierung in der Psychotherapie

    integrative Therapieansätze, die Aspekte von kognitiv-behavioralen und psychodynamischen Verfahren umfassen

    die Tendenz, pharmakotherapeutische und psychotherapeutische Strategien weniger getrennt zu sehen

    besondere theoretische Ansätze (etwa die Epigenetik oder die Bindungstheorie), aktuelle Möglichkeiten, mit biologischen Verfahren psychotherapeutische Veränderungen messbar zu machen

    die Entwicklung einer individuelleren, subgruppen- und altersorientierten Perspektive (»personalisierte Psychiatrie«)

    neu entstehende Brücken zwischen den bisher stärker getrennten Fachdisziplinen »Psychiatrie und Psychotherapie«, »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« und »Klinische Psychologie«

    die Wiederentdeckung wichtiger psychoanalytischer Perspektiven (Beziehung, Übertragung, Beachtung der konflikthaften Biografie etc.) auch in anderen Psychotherapie-Schulen

    Die Bände dieser Reihe sind eng verbunden mit einer Tagungsreihe, die wir in Münsterlingen am Bodensee durchführen. Die 1839 gegründete Psychiatrische Klinik Münsterlingen – heute akademisches Lehrkrankenhaus – hat, in der schweizerischen psychiatrischen Tradition stehend, eine starke psychotherapeutische Ausrichtung und in den letzten Jahren auch eine störungsspezifische Akzentuierung erfahren. Hier entwickelte und entdeckte der Psychoanalytiker Hermann Rorschach um 1913 den Formdeuteversuch und der phänomenologische Psychiater Roland Kuhn im Jahr 1956 mit Imipramin das erste Antidepressivum.

    Die Bände der Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« sollen jedoch mehr als reine Tagungsbände sein. Es werden aktuelle Felder aus dem Gebiet der gesamten Psychiatrie und Psychosomatik praxisnah dargestellt. Eine theoretische Vollständigkeit wie bei Lehrbüchern wird nicht angestrebt. Der Schwerpunkt liegt weniger auf der Ätiologie oder Diagnostik als auf den psychotherapeutischen Zugängen in schulenübergreifender und störungsspezifischer Sicht.

    Gerhard Dammann, Bernhard Grimmer und Isa Sammet

    Vorwort

    Seit einigen Jahren wächst das Interesse an der Behandlung der narzisstischen Störungen wieder, nachdem es bereits in den 1970er Jahren eine intensivere Auseinandersetzung um das Konzept des Narzissmus gegeben hatte. In den Jahren 1977 bis 1979 gab es die innerhalb der Psychoanalyse geführte Theoriedebatte zwischen Kernberg und Kohut. Es wurde ganz allgemein, in Anlehnung an das berühmte Buch von Christopher Lasch, vom »Zeitalter des Narzissmus« gesprochen.

    Später wurde es dann wieder ruhiger um den Narzissmus: Andere Störungsbilder wie die Posttraumatische Belastungsstörung, die dissoziativen Störungen oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung rückten in den Vordergrund des Interesses.

    Möglicherweise haben die metatheoretischen Schwierigkeiten des Begriffs Narzissmus, der vom normalen, notwendigen Narzissmus bis hin zum pathologischen Narzissmus reicht, aber auch der inflationäre Gebrauch des Begriffs dazu beigetragen, dass sich eine gewisse Skepsis breitmachte.

    Seit einigen Jahren ist nun ein Wiedererwachen des Interesses an den narzisstischen Störungen zu verzeichnen. Die Gründe dafür könnten einerseits in den besonderen behandlungstechnischen Schwierigkeiten dieser Patientengruppe liegen, die nicht selten eine Therapie zwar dringend benötigt, gleichzeitig aber durch die Behandlungsnotwendigkeit so gekränkt ist, dass sie dagegen ankämpft.

    Hinzu kommt das gewachsene soziokulturelle Interesse an Erscheinungsformen in unserer Gesellschaft, die auch mit Narzissmus in Verbindung gebracht werden: Körper-, Jugend- und Schönheitskult, medialer Voyeurismus, zunehmende Manipulationen am eigenen Körper, wie ästhetische Operationen oder Piercings. Dazu beitragen dürfte auch der Verlust von Solidarität und die Zunahme von Vereinzelung in der Gegenwart sowie die ökonomische Entwicklung bis hin zur Bankenkrise der letzten zwei Jahre, die auch mit Egoismus und Gier in Verbindung gebracht werden. Eine neuere Publikation (Twenge und Campbell 2010) trägt deshalb den Titel »The Narcissism Epidemic: Living in the Age of Entitlement« (Die narzisstische Epidemie: Leben im Zeitalter der Ansprüchlichkeit).

    In den letzten Jahren wurden spezifische diagnostische Instrumente entwickelt und (wenn auch noch wenige) empirische Studien zu dieser Störungsgruppe durchgeführt. Innerhalb der verbreiteten kognitiven Verhaltenstherapie kam es zu einer Weiterentwicklung: der Schematherapie. Diese gewichtet psychodynamische Aspekte (Beziehungsgestaltung, Lebensgeschichte etc.) stärker, unter anderem auch, um der Behandlung der narzisstischen Störungen aus kognitiv-behavioraler Perspektive besser entsprechen zu können.

    Umso mehr erstaunt es, dass in der DSM-5 Arbeitsgruppe zu Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung vorübergehend diskutiert wurde, ausgerechnet die wichtige narzisstische Persönlichkeitsstörung zukünftig aus dem Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) zu streichen.

    Die Ursachen dieser Debatte lagen unter anderem in der geringen Validität und Reliabilität der Diagnose (nach DSM-IV), wo z. B. eher sensitivere und auf Zurückweisung stark reagierende Formen narzisstischer Störungen nicht gut diagnostiziert werden können.

    Es ist nicht möglich, hier alle Themen, um den Narzissmus auch nur annährend erschöpfend aufzugreifen. Es sollen daher einige aktuelle Brennpunkte der Narzissmus-Diskussion wissenschaftlich und klinisch näher beleuchtet werden: der Körper, die Adoleszenz, die Möglichkeiten der stationären Behandlung, die Schematherapie, die Evidenzbasierung in diesem Bereich und die Beziehung zur Macht.

    Mit dem ersten Band unserer Münsterlinger Reihe Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik widmen wir uns der Patientengruppe mit narzisstischen Störungen. Renommierte Experten, Forscher und Kliniker stellen praxisorientiert verschiedene klinisch relevante Aspekte der narzisstischen Störungen dar und geben einen Einblick in die psychotherapeutische Behandlung.

    I Theorie und Diagnostik

    1 Narzissmus – Wichtige psychodynamische Konzepte und ihre Auswirkungen auf die klinische Praxis

    Gerhard Dammann

    Einleitung

    Der Mythos des Jünglings »Narkissos« aus der griechischen Mythologie hat dem klinischen Phänomen des Narzissmus’ seinen Namen gegeben (Wieseler 1856; Renger 1999). In diesem Mythos findet sich vieles, was bis heute das Verständnis des Narzissmus prägt. Narziss verliebt sich, dem Mythos nach, in sein eigenes Spiegelbild. Er ist aber auf der Suche nach einem verlorenen Objekt (in einer Version des Mythos eine früh verlorene Zwillingsschwester). Andere, die ihn begehren, wie die Nymphe Echo, weist er zurück. Er ist somit eigentlich auf der Suche nach dem Anderen, fällt aber immer wieder auf sich zurück. Ein anderes Element begleitet den Mythos ebenfalls: Narkissos stirbt an seiner Selbstbezogenheit. (Nach einer Version des Mythos’ wird er zur Strafe von den Göttern in eine Narzisse/Blume verwandelt, in einer anderen Variante, ertrinkt er sogar beim selbstverliebten Betrachten von sich selbst im Wasser.) Der Narzissmus¹ ist also eine Krankheit, die potenziell zum Tode führen kann. Nicht zu retten war auch der mythische Narziss. Während die Götter dem Vatermörder und Blutschänder Ödipus schließlich verziehen, ließen sie im Fall des Narziss keine Gnade walten.

    Andere Mythen der Antike kreisen ebenfalls um narzisstische Phänomene: Etwa Ikaros, der Sohn des Architekten Daidalos, der mit einer Flugmaschine aus Wachs, gegen den Rat des Vaters, immer höher zur Sonne fliegt und tödlich abstürzt. Oder der innerlich zerrissene Halbgott Prometheus, der das Verbot der Götter bricht und den Menschen das Feuer bringt. Auch hier findet sich das Element der Hybris, das heißt, mehr sein zu wollen, als einem zusteht, was Zorn hervorruft. Narkissos (und die ihm verwandten Ikaros und Prometheus) markieren das Thema des Neids, der Arroganz und Objektlosigkeit, wie wir es auch in der christlichen Religion in der Gestalt des gefallenen, aber unversöhnlichen und in sich gefangenen Engels Luzifer finden.

    Die Konfliktdynamik ist, im Unterschied zu den Mythen, die um interpersonelle und insbesondere trianguläre Konflikte kreisen, immer stark solipsistisch geprägt. Beispielsweise wie, an erster Stelle zu nennen, der Mythos von Ödipus, der aus ihm unbewussten Gründen mit seiner Mutter schlafen und seinen Vater töten wird.

    Nach einer intensiven Beschäftigung in den 1970er Jahren mit dem Narzissmus – erwähnt seien nur die berühmte Kohut-Kernberg-Debatte (s. u.) und das damals berühmt gewordene Buch von Christopher Lasch »Das Zeitalter des Narzissmus« (1979) – ist seit einigen Jahren eine Renaissance des Narzissmus-Konzepts zu verzeichnen. In den Jahren dazwischen hatte der Fokus in der Psychotherapie z. B. auf der Borderline-Persönlichkeitsstörung, den posttraumatischen und dissoziativen Störungen gelegen.

    Das neu erwachte Interesse am Narzissmus (Ronningstam 1998; Masterson 2004; Kernberg und Hartmann 2006; Wadetzki 2007; Campbell und Miller 2011) hat auch damit zu tun, dass diese Patientengruppe zu der am schwierigsten zu behandelnden in der gesamten Psychiatrie und Psychotherapie bzw. Klinischen Psychologie überhaupt gehört. Hinzu kommt, dass zahlreiche soziale und kulturelle Gegenwartsphänomene (medialer Exhibitionismus, Plagiataffären von Politikern, Bankenkrise und Bereicherung der Reichen; Plündern von Bodenschätzen und Klimakatastrophe bis hin zu Scheidungsraten etc.) mit Narzissmus als quasi neuem Sozialcharakter in Verbindung gebracht werden (»Ichlinge«). Twenge und Campbell (2010) sprechen gar von einer von starken Ansprüchlichkeiten geprägten »narzisstischen Epidemie«.

    Gegenwärtig muss fast gefragt werden, ob das Narzissmus-Konzept übertrieben wurde? Das Konzept wurde einerseits ubiquitär auf alle möglichen Bereiche ausgedehnt, andererseits gab es nur relativ wenige empirische Studien dazu. Innerhalb der Psychoanalyse wurde auch die zunehmende Vertreibung der Triebtheorie (»Ödipus«) durch die Narzissmus-Theorien beklagt (etwa Gast 1992 oder Müller-Pozzi 2007).

    Im Folgenden soll ein einführender Überblick über die narzisstische Persönlichkeitsstörung, als Ausdruck einer den Charakter prägenden narzisstischen Problematik, vermittelt werden. Dabei wird auf die Symptomatik, aber auch auf ätiologische Modellvorstellungen eingegangen. Der Narzissmus wird als Kontinuum konzeptualisiert, besonderes Augenmerk liegt auf dem malignen (destruktiven) Narzissmus, der an der Grenze der Behandelbarkeit liegt. Die wichtigsten Behandlungsschwierigkeiten (wie Suizidalität) werden fallbezogen dargestellt.

    1.1 Phänomenologie und Grundlagen

    Grundsätzlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten oder Modelle, wie Persönlichkeitsstörungen konzeptualisiert werden können, nämlich als:

    kognitive Stile,

    temperamentale und biologische Regulationsformen,

    Ausdruck interaktioneller Störungen,

    ressourcenorientierte bzw. evolutionspsychologisch fundierte Varianten von Persönlichkeit,

    persönlichkeitspsychologische (phänomenologisch-deskriptive) Modelle,

    psychoanalytische Modellvorstellungen.

    Im Folgenden soll primär einem psychodynamischen Modell gefolgt werden.

    1.1.1 Definitionsversuche

    Unter Narzissmus versteht man, nach der klassischen Definition von Moore und Fine (1967, S. 62), eine Konzentration des seelischen Interesses auf das eigene Selbst. Aus dieser Definition wird ersichtlich, dass wir es also mit einem Spektrum zu tun haben, das von normalem, angemessenen Narzissmus bis hin zu schweren narzisstischen Störungen reichen kann. Wenn die narzisstische Problematik überwiegt, z. B. bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, dann dominieren die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst und dem Selbstwert, die Beziehungen zu anderen Menschen und die Interaktionen mit diesen – und es kommt zum Beispiel zu ständigen Vergleichen mit anderen, dem Bedürfnis nach Bestätigung oder Neid. Ohne an dieser Stelle vertieft auf die Ätiologie dieser Störung eingehen zu können, führt vermutlich in besonderem Maße die Erfahrung mangelnder echter und bedingungsloser Wertschätzung in der Kindheit zur Entwicklung dieser Störung. Es kommt so zum charakteristischen Problem von Grandiositätsfantasien (die immer auch Unabhängigkeit von anderen bedeutet) auf der einen und dem Gefühl von Minderwertigkeit auf der anderen Seite. Hinzu kommt die Vorstellung oder Fantasie niemanden zu brauchen, sich »selbst zu genügen«.

    1.1.2 Typische Symptomatologie

    Folgende Symptome und Verhaltensauffälligkeiten sind zwar nicht beweisend, aber recht typisch für narzisstische Pathologien:

    Stärkere Stimmungsschwankungen

    Wutanfälle

    Entwertet andere sehr stark

    Zynismus

    Benützt andere, um eigene Ziele zu erreichen

    Neid oder das Gefühl, beneidet zu werden (Neid ist eng mit Narzissmus gekoppelt: der andere hat etwas, was ich nicht habe – Anerkennung, Geld, Schönheit – was ich so dringend bräuchte; ich kann dies aber nicht anerkennen)

    Rühmt sich ständig seiner Härte

    Lässt andere wenig zu Wort kommen

    Kann im beruflichen Kontext keinen Nachfolger aufbauen

    Suchttendenzen (Alkohol, Arbeit, Spiele, Sexualität etc.)

    Kann sich an Erfolgen nicht wirklich freuen

    Person wirkt trotz Erfolg »leer« (oder innerlich tot)

    Kritiker werden als Feinde betrachtet

    Bisexualität (»omnium mulierum virum et omnium virorum mulierem«, wie es in Suetons »Leben der Cäsaren« [ca. 120 n. Chr.; Sueton, 1997] über Julius Caesar heißt)

    Hinweise ergeben sich oft im Vorgespräch:

    Kann jemand bei Problemen differenziert auch eigene Anteile sehen oder nicht?

    Kann jemand Fehler zugeben und sich entschuldigen? (Wiedergutmachungen)

    Weist ein Lebenslauf eine bestimmte Kontinuität auf?

    Übt die Person eine starke Faszination aus?

    Hat die Person langjährige Mitstreiter und Freunde?

    Hat jemand angefangene Projekte, Studiengänge etc. beendet, auch wenn es schwierig oder langweilig wurde?

    Kann jemand auch die Leistungen anderer voll würdigen?

    Wie beziehungsfähig erscheint jemand auch im privaten Bereich?

    Entsteht ein Gespräch oder bleibt es bei einem Monolog?

    1.1.3 Phänomenologische diagnostische Kriterien

    Narzisstische Persönlichkeitsstörungen findet man häufig assoziiert mit anderen Störungsbildern wie Alkoholerkrankung, Drogenabhängigkeit, Depressionen, Spielsucht, Essstörungen oder chronischer Suizidalität.

    Nach dem beschreibenden Klassifikationsmanual psychischer Störungen DSM-IV der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung als 301.81 (ICD-10 F60.8) definiert durch ein tiefgreifendes Muster von Großartigkeit (in der Fantasie oder im Verhalten), einem Bedürfnis nach Bewunderung und einem Mangel an Einfühlungsvermögen. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und zeigt sich in verschiedenen Situationen. Dauerhaft müssen mindestens fünf Merkmale von neun typischen vorhanden sein, zu denen unter anderem zählen:

    das ständige Fantasieren von grenzenlosem Erfolg, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe

    die Ansicht, als Mensch besonders und einzigartig zu sein und deshalb nur von besonderen Menschen (etwa mit höherem Status) verstanden zu werden oder mit solchen verkehren zu wollen

    das ständige Verlangen nach Bewunderung

    das Ausnutzen zwischenmenschlicher Beziehungen, um die eigenen Ziele zu erreichen

    ein Mangel an Einfühlungsvermögen

    arrogantes, überhebliches Verhalten

    Es wurde verschiedentlich massiv Kritik an diesen Kriterien für die narzisstische Persönlichkeitsstörung geübt. Zum einen fehlen bestimmte Kriterien, die nach Westen und Shedler (1999) häufig (von Psychiatern) als typisch für den Narzissmus genannt werden, sich jedoch nicht im DSM finden:

    Stärkere Kontrolle

    Tendenz zu Machtkämpfen

    Kompetitiv gegenüber anderen

    Hinzu kommt zum anderen, dass der im DSM beschriebene Narzissmus, den es zweifelsohne gibt, nur eine ganz bestimmte Gruppe von (eher männlichen) Patienten mit sehr deutlichem und grandiosem Narzissmus abbildet. Subtilere Formen, bei denen eher eine erhöhte Kränkbarkeit oder Empfindlichkeit (vulnerabler Narzissmus) im Vordergrund steht, sind so nicht abbildbar.

    Schließlich sind die Kriterien natürlich eher negativ, sodass sich Patienten bei Fragebögen oder Interviews schwer tun, aus Gründen der sozialen Akzeptanz, solche Merkmale (wie Neid, Arroganz, ständiger Wunsch nach Bewunderung etc.) bei sich anzuerkennen, selbst wenn sie vorhanden sind. Dies führt zu erheblichen Problemen im Bereich der Validität und Reliabilität der Diagnose.

    Im Rahmen der nächsten Revision des DSM (DSM-5) wird daher gegenwärtig diskutiert, die narzisstische Persönlichkeitsstörung (und einige andere) zu streichen, obschon sie m. E. zu den fundamentalen Typen von Persönlichkeitsstörungen gehört. Diskutiert wird eine Reduktion der Kategorien von zehn auf fünf und ein dimensionaleres Rating der übrig gebliebenen Persönlichkeitsstörungen, die dann – so der Vorschlag – noch wären: antisozial/psychopathisch, vermeidend, Borderline-, zwanghaft und schizotyp. Eliminiert würde somit die paranoide, schizoide, histrionische, narzisstische und dependente Persönlichkeitsstörung.

    Einschränkend wird darauf aufmerksam gemacht, dass nicht bei jedem Vorhandensein von narzisstischen Persönlichkeitszügen von einer »narzisstischen Persönlichkeitsstörung« gesprochen werden sollte. Es sollte generell zumindest eine länger dauernde schwerwiegende Beeinträchtigung durch dieses Muster in zahlreichen Lebensbereichen (Arbeit, Beziehungen etc.) vorliegen, damit von einer »Persönlichkeitsstörung« gesprochen werden kann.

    Hyperaktivität stellt bei diesen Patienten oft einen Versuch dar, Leeregefühle und Depressivität zu maskieren. Die Leere und die Depressivität sind zum Teil mit dem Narzissmus selbst in Verbindung zu bringen. Oft sind die Patienten bis zu ihrem 40. Lebensjahr kaum zu behandeln. Erst zahlreiche andere Probleme (wiederholte Krisen, Trennungen etc.) führen dazu, dass sie zunehmend für eine Behandlung zugänglich werden.

    Eine Reihe diagnostischer Instrumente wurde entwickelt ( Kap. 2), wie etwa das SCID-II-Interview nach DSM-IV (First et al. 1997), das Narzissmus Interview (NPI) von Raskin und Terry (1988) oder das Narzissmus Inventar (NI) von Deneke und Hilgenstock (1989) mit vier Dimensionen (bedrohtes Selbst; idealistisches Selbst, klassisch-narzisstische Selbst, hypochondrisches Selbst).

    Fallbeispiel aus der Wirtschaft

    Der Gründer einer erfolgreichen Software-Firma wurde als außereheliches Kind geboren und mit neun Monaten zu einer Tante gegeben. Sein Stiefvater sagte ihm immer wieder, dass aus ihm nichts werden würde. Während seines Mathematik-Studiums erreichte er stets hervorragende Leistungen und wurde sogar als Student des Jahres ausgezeichnet. Dennoch fiel er – als seine Stiefmutter verstarb – durch sämtliche Abschlussexamina und verließ deshalb die Hochschule ohne Abschluss. Wegen seines aggressiven und charismatischen Führungsstils ranken sich um ihn zahlreiche »Mythen«, die sehr gut sein Bedürfnis zeigen, durch Gesten der Überlegenheit das tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. Das »Motto« seines Unternehmens lautete: »It’s not enough that I succeed, everyone else must fail.«

    1.1.4 Psychodynamische diagnostische Kriterien

    Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung findet sich eine ganze Reihe charakteristischer Affekte:

    Wut

    Scham

    Neid

    Trotziger Stolz

    Rache(fantasien)

    Depressionen

    Leeregefühle

    Verzweiflung

    Diese Affekte haben mit der zentralen inneren Problematik narzisstischer Patienten zu tun. Aus meiner Sicht dominieren drei zentrale Probleme:

    Selbstwert (wobei Selbstwertprobleme in gewisser Weise immer auch Beziehungsprobleme sind)

    Intimität (sowohl enge Beziehungen als auch Trennungen/Getrenntsein werden nicht oder nur schlecht ertragen)

    Mangel und Ödnis (es können sich Problem im Bereich der inneren Fantasie, der Fähigkeit, allein zu sein oder zu spielen finden. Winnicott bringt die Fähigkeiten zum Alleinsein und zum Spielen mit gelungenen frühen Mutter-Kind-Interaktionen in Verbindung)

    1.1.5 Geschlechterbias?

    Es ist zu vermuten, dass aufgrund der gewählten Merkmale für die narzisstische Persönlichkeitsstörung Frauen eher als histrionische bzw. hysterische Persönlichkeitsstörungen klassifiziert werden, Männer eher die Diagnose »Narzisstische Persönlichkeitsstörung« erhalten und seltener die einer histrionischen oder hysterischen Persönlichkeitsstörung.

    Dabei gibt es keine Hinweise darauf, dass strukturell narzisstische Störungen bei Frauen seltener vorkommen. Möglicherweise zeigt sich der Narzissmus jedoch anders. Problematiken, die u. U. mit weiblichem Narzissmus in Verbindung gebracht werden könnten, sind:

    Körperschemastörungen

    Bulimie (weit stärker als Anorexie)

    Verborgene Formen von Narzissmus (»hidden narcissism« oder »closet narcissism«)

    Co-Abhängigkeit bei Partnerinnen von Suchtpatienten

    Battered Women Syndrome (Frauen, die immer wieder in gewalttätige Beziehungen geraten. Dieses Muster kann aber auch mit Masochismus zu tun haben ( Kap. 7)

    Verborgene, »weibliche« Formen von Narzissmus können u. U. sogar in Altruismus »getarnt« erscheinen. Dahinter steckt jedoch ebenfalls eine Größenfantasie, nämlich die »Größte« im Ertragen von Leiden zu sein.

    Interessanterweise zeigt die narzisstische Persönlichkeitsstörung innerhalb der Gruppe der Persönlichkeitsstörungen eine relativ bedeutende genetische Mitbeeinflussung (Livesley et al. 1993) von 64 % bei einer Zwillingsstudie, ohne dass die dafür verantwortlichen Mechanismen genau geklärt wären.

    1.2 Das Narzissmus-Konzept

    Ein Problem bei der Beschäftigung mit der Narzissmus-Theorie ist, dass es keine einheitliche Begriffsdefinition bis heute gibt. Der metapsychologische Stellenwert von dem, was als Narzissmus bezeichnet wird, ist ungeklärt, ja teilweise widersprüchlich. Es findet sich die Begriffsverwendung u. a. für:

    das Spektrum von »Selbstliebe«,

    ein psychosexuelles Entwicklungsstadium mit pathologischen Fixierungen,

    eine libidinöse Besetzung von Ich bzw. Selbst (-Repräsentanzen),

    eine affektive Regulation des Selbstwerts,

    eine triebunabhängige Selbst-Entwicklung.

    Allein bei Freud finden sich 14 verschiedene begriffliche Verwendungen (Altmeyer 2000).

    1.2.1 Primärer Narzissmus und Grunbergers Konzept

    In Freuds Werk finden sich zwei grundlegend unterschiedliche Konzepte: den »primären Narzissmus« (später von Grunberger 1982 wieder aufgegriffen als eine Form »intrauteriner Allmachtszustand«) und den triebabhängigen bzw. besetzungsabhängigen »sekundären Narzissmus«. Der metapsychologische Stellenwert des primären Narzissmus ist umstritten. »Das was wir gemeinhin Narzissmus nennen, ist wohl eines der wichtigsten, aber auch eines der verwirrendsten, dunkelsten und kontroversesten Konzepte der Psychoanalyse« (Müller-Pozzi 2006).

    Béla Grunberger (und mit ihm Chasseguet-Smirgel) geht in seinen Arbeiten – zurückgreifend auf die Arbeiten von Sándor Ferenczi – von folgendem Modell aus: Es besteht beim Menschen eine lebenslange Tendenz zur Wiedergewinnung der primären uterinen Fusion. Narzissmus stellt somit eine eigenständige Dynamik neben der Triebentwicklung dar und wäre demnach eine Art »autonomer Trieb«, der nach Wiederverschmelzung mit dem Primärobjekt trachtet. In gewisser Weise greift er damit das Modell des »primären Narzissmus« auf. Obwohl das Modell einen gewissen »mytho-poetischen« Reiz hat, der in das klinische Verständnis von Patienten einfließen kann, ist es sehr umstritten und wurde weitgehend aufgegeben.

    Geschichte des Konzepts

    Einige Meilensteine zur Geschichte des Konzepts:

    Ellis (1898) rekurriert in einer Fallgeschichte eines exzessiv masturbierenden Mannes auf den Mythos von Narkissos

    Freuds (1905) Fußnote in »Drei Abhandlungen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1