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Praxis der Personzentrierten Psychotherapie
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eBook1.065 Seiten10 Stunden

Praxis der Personzentrierten Psychotherapie

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Über dieses E-Book

Nach einer Einführung in die Grundlagen und das allgemeine Therapiekonzept werden konkrete therapeutische Vorgehensweisen – schulenspezifische wie schulenübergreifende Methoden und Techniken – beschrieben, u.a. die Arbeit mit Emotionen, mit Persönlichkeitsanteilen, dem Felt Sense, Imaginationen und Träumen, bei Motivationsproblemen, aber auch die existenzielle Perspektive, Prä-Therapie, der Einbezug des Körpers, kreativer Medien oder von Aufstellungen. Darüber hinaus wird die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Familien, Paaren und Gruppen vorgestellt, sowie der Umgang mit Personen, die an Krisen, Traumafolgestörungen, Suchtproblemen, Essstörungen, sexuellen Problemen, Depressionen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen leiden. Die zweite Auflage wurde aktualisiert und inhaltlich überarbeitet. Ausgeweitet wurden vor allem die Abschnitte zu den Methoden und Techniken, die Arbeit mit Emotionen sowie das Kapitel über Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.

Das Buch weist eine Fülle von praktischen Beispielen und handlungsorientierten Leitsätzen auf und ist für Praktiker und Personen in Ausbildung geeignet, aber auch für grundsätzlich an der Methodik interessierte Leser.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum22. Dez. 2017
ISBN9783662546703
Praxis der Personzentrierten Psychotherapie

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    Buchvorschau

    Praxis der Personzentrierten Psychotherapie - Gerhard Stumm

    ITheoretischer Teil

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018

    Gerhard Stumm und Wolfgang W. Keil (Hrsg.)Praxis der Personzentrierten Psychotherapiehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-54670-3_1

    1. Theoretische Grundlagen

    Gerhard Stumm¹   und Wolfgang W. Keil²  

    (1)

    Kalvarienberggasse, 1170 Wien, Deutschland

    (2)

    Albertgasse, 1080 Wien, Deutschland

    Gerhard Stumm (Korrespondenzautor)

    Email: gstumm@chello.at

    Wolfgang W. Keil

    Email: wolfgang@keil.or.at

    1.1 Menschenbild und Aktualisierungstendenz

    1.2 Persönlichkeitstheorie

    1.2.1 Organismus und Erleben

    1.2.2 Selbstkonzept

    1.2.3 Fully functioning person

    1.2.4 Bedürfnis nach positiver Beachtung und positiver Selbstbeachtung

    1.3 Entwicklungs- und Störungslehre: Entstehung von Abwehr und Inkongruenz

    1.4 Überblick über Strömungen und Varianten der Personzentrierten Psychotherapie

    Literatur

    Der theoretische Teil dieses Buches ist relativ kurz gehalten, zumal sein Schwerpunkt auf der Praxis liegt. An einer gründlicheren Darlegung der Konzepte Interessierte seien hier auf einschlägige Übersichten verwiesen, in denen die theoretischen Grundlagen ausführlicher behandelt werden (z. B. Rogers 1959/2016; Frenzel et al. 2001; Keil u. Stumm 2002; Stumm et al. 2003; Frohburg 2005; Cooper et al. 2013; Lago u. Charura 2016). Nicht zuletzt wurde das vorliegende Buch in dieser Hinsicht mit der 2. Auflage des Lehrbuchs von Eckert et al. (2012) koordiniert und inhaltlich darauf abgestimmt.

    1.1 Menschenbild und Aktualisierungstendenz

    Das Menschenbild liefert einen wesentlichen Wegweiser für die psychotherapeutische Praxis. Rogers (1957) hat die grundlegende Natur des Menschen dahingehend charakterisiert, dass er diese als fundamental vertrauenswürdig, konstruktiv, sozial und pro-aktiv auffasst. Hier sollte aber nicht übersehen werden, dass Rogers die Kernnatur des Menschen, also seine tiefste Natur meint, nicht aber alle verhaltensmäßigen Manifestationen, die – wie wir oft bestürzt erkennen müssen – unendlich grausam, feindselig, negativ und antisozial sein können. Und wir begegnen derartigen Phänomenen auch bei so manchen unserer Klienten. Doch – und das ist gewissermaßen eine zentrale Leitidee Personzentrierter Psychotherapie – wird darin eher die reaktive Antwort von Klienten auf ihre psychische Not gesehen. In diesem Sinne darf die personzentrierte Philosophie zwar als optimistisch bezeichnet werden, aber nicht als naiv (vgl. Stumm 2012).

    Psychotherapeuten treffen vielfach auf Menschen, die darunter leiden, dass etwas in ihnen verkümmert, verhärtet oder verschüchtert ist. Es ist aber Markenzeichen der personzentrierten Haltung, unter die Oberfläche zu gelangen bzw. hinter die Kulissen zu blicken und dort nach den unentwickelten Potenzialen, nach nicht geborgenen Schätzen und nach Ressourcen zu suchen.

    Aktualisierungstendenz

    Diese umschreibt die jedem Organismus, somit auch dem Menschen, innewohnende Tendenz zur Entwicklung all seiner Möglichkeiten, die der Erhaltung oder Entfaltung des Organismus dienen. Dies umfasst auch die Ausdifferenzierung seiner Fähigkeiten, Erweiterung im Sinne von Wachstum und ein Streben nach Autonomie (vgl. Rogers 1959/2016).

    Die grundlegend optimistische Sicht impliziert zudem, dass Menschen unter günstigen Bedingungen, allen voran Beziehungsbedingungen, dazu tendieren, ihr Entwicklungspotenzial in einer konstruktiven Weise zur Entfaltung zu bringen. Das psychologische Klima, das im Rahmen der Personzentrierten Psychotherapie geschaffen werden soll, zielt letztlich darauf ab, dass sich die Aktualisierungstendenz in ihrem entfaltenden Anteil durchsetzt. Dies stellt für Rogers (1979/1981) die „philosophische Basis des Personzentrierten Ansatzes dar. Für ihn läuft dies hinaus auf „die Rechtfertigung, mich für eine lebensbejahende Seinsweise zu engagieren (ebd., S. 84).

    Kriz (2008) geht demgemäß von zwei Säulen des PZA aus: der Aktualisierungstendenz, die er als Prinzip der Selbstorganisation erachtet, sowie den notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen von Psychotherapie (Kap.​ 2).

    Während Rogers selbst (1959/2016) die Aktualisierungstendenz als fundamentales „Axiom bezeichnet hat, also als eine nicht beweisbare Überzeugung bzw. als einen „Glaubenssatz, gehen andere Autoren wie Kriz (2008) oder Tudor und Worrall (2006) so weit, dass sie darin ein wissenschaftlich belegbares biologisches Konstrukt sehen (für eine vertiefende Abhandlung zur Aktualisierungstendenz: Hutterer 1992; Brodley 1999; Kriz u. Stumm 2003 sowie eine Reihe von Beiträgen im Themenheft der Zeitschrift „Person" im Jahr 2010).

    Wir sehen die Aktualisierungstendenz als ein metapsychologisches Konzept. Wir meinen, dass es als solches nicht direkt und unmittelbar erlebbar ist, dass jedoch aufgrund von eigenen Erfahrungen darauf geschlossen werden kann, dass es dieses Entwicklungsprinzip als Eigenschaft des Organismus, sich selbstorganisiert zu aktualisieren, gibt.

    Für die Praxis ist die Frage, welche dieser Positionen stichhaltig erscheinen, jedoch von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei der praktischen Durchführung von Psychotherapien in dieser Hinsicht eine operationale Philosophie zum Tragen kommt, d. h. eine Auffassung, die nicht nur gedanklich als Ideal gepriesen wird, sondern fest im Bezugssystem des jeweiligen Psychotherapeuten verankert ist, also auch in Stresssituationen spontan abrufbar. Jeder (angehende) Psychotherapeut kann sich selbst folgenden Fragen stellen:

    Fragen zu Grundsätzen von Psychotherapeuten

    Existiert in mir die Überzeugung, dass ich durch mein psychotherapeutisches Wirken überhaupt Wachstumsprozesse bei meinen Klienten bewirken kann?

    Liegt meinem Wirken die feste Annahme zugrunde, dass ich positive Veränderungen bei Klienten durch ein Beziehungsangebot anregen kann, wie es in der personzentrierten Theorie konzipiert ist?

    Bin ich der Ansicht, dass positive Veränderungen bei Klienten dadurch bedingt sind, dass sich unter diesen Bedingungen in ihnen vorhandene Potenziale nachhaltig entfalten können – nicht aber dadurch, dass ich von mir definierte Ziele für sie verfolge und sie dahingehend beeinflusse?

    Zu betonen ist, dass die Aktualisierungstendenz nicht nur eine entfaltende Tendenz, sondern auch eine erhaltende Funktion einschließt, wie dies in der Definition der Aktualisierungstendenz weiter oben ausgewiesen ist. Krisenzeiten, Notlagen, traumatische Erschütterungen, chronische Mangelbedingungen und psychische Beeinträchtigungen legen nahe, dass Entfaltungsprozesse oftmals eingeschränkt sind. Das heißt aber nicht, dass die Aktualisierungstendenz zum Stillstand gekommen ist. Da diese an die Existenz eines lebendigen Organismus gebunden ist, aktualisieren wir uns nämlich, solange wir leben. Allerdings aktualisieren sich nicht wenige Klienten gewissermaßen in einem (chronischen) Überlebensmodus, in dem wenig Platz für progressive Prozesse ist. Die Leistung des Individuums bestand oder besteht dann darin, sich in einer kreativen Weise verheerenden Bedingungen anzupassen, um diese zu überstehen bzw. damit fertigzuwerden. Dies folgt dem Prinzip, dass sich Menschen bestmöglich aktualisieren (Brodley 1999). So erstaunlich und bewundernswert es ist, welche Widerstandsfähigkeit (Resilienz ) Klienten besitzen, so darf dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele auch einen Preis für ihre Anpassungsfähigkeit bezahlen, indem sie an einmal sinnvollen Bewältigungsformen noch immer festhalten, obwohl diese längst nicht mehr funktional sind. Hier ist an Psychotherapeuten immer wieder die Anforderung gestellt, gerade auch für die auf Erhaltung gerichteten Aktualisierungen von Klienten Respekt und Verständnis aufzubringen, selbst wenn dies von außen betrachtet schwer zu ertragen ist, weil sie vielleicht als Stagnation und als wachstumshemmendes Bewahren anmuten.

    Erhaltung als Aktualisierung

    Herr P. gelangte an einem bestimmten Punkt seiner Psychotherapie zwar zur kognitiven Einsicht, dass sich sein Wunsch, von seinen Eltern verstanden und liebevoll behandelt zu werden, nicht erfüllen werde, es war ihm aber noch über viele Stunden nicht möglich, diesen Wunsch auch wirklich auf einer tiefen organismischen Ebene fallen zu lassen und sich der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit auszusetzen.

    Wie in diesem Beispiel spielt bei vielen Klienten im Umgang mit ihren Problemen die Erhaltung des Selbstkonzepts eine ganz wesentliche Rolle. Es ist eine langwierige, aber lohnenswerte Herausforderung, im Laufe des therapeutischen Prozesses Erfahrungen, die zunächst „nicht in das Konzept passen", das jemand von sich hat, als solche zuzulassen, um sie in das Bild von sich integrieren zu können.

    Letztlich – und das ist für die Praxis von hoher Relevanz – sind manche Klienten in ihren Wachstumsmöglichkeiten derart eingeschränkt, dass bereits ein Erhalten des Status quo als ein Erfolg zu werten ist. Nicht in allen Fällen ist daher therapeutischer Optimismus angebracht.

    Es sei hier abschließend noch eingeräumt, dass sich neben der Annahme einer aktualisierenden Tendenz auch noch andere „Glaubenssätze" als Axiome festmachen lassen, die als personzentrierte Philosophie dem psychotherapeutischen Handeln zugrunde liegen können:

    eine ethische Position, in der die Achtung der Würde und Selbstbestimmung der Klienten primär sind,

    eine experienzielle Philosophie, mit der Betonung der Fähigkeit des menschlichen Organismus zu erleben und das Erlebte explizierend zu symbolisieren – als Maßstab für Sinn- und Bedeutungsgebung sowie für das eigene Handeln –, und schließlich

    der Mensch als wählendes, wertendes Wesen, das sich Stellung nehmend in der Welt bewähren muss (existenzielle Position).

    Die genannten Positionen lassen sich ergänzend oder auch in Konkurrenz zur Aktualisierungstendenz einordnen. Sie zeigen auf, dass die Aktualisierungstendenz nicht für alle Personzentrierten Psychotherapeuten einen unantastbaren, geradezu verklärten Status hat. Vielmehr ist sie für manche, auch klassisch orientierte Kollegen nur ein Mythos und kein Muss im Sinne einer maßgeblichen philosophischen Grundlage (Levitt 2008). Auch hierin wird ein Element antidogmatischer Vielfalt deutlich. Personzentrierte Psychotherapie braucht zwar ein Fundament, auf dem das Selbststeuerungspotenzial von Menschen beruht, aber dieses kann auch durch andere Leitsätze als die Aktualisierungstendenz gewonnen werden.

    1.2 Persönlichkeitstheorie

    1.2.1 Organismus und Erleben

    Der Organismus umfasst die psychische und körperliche Ebene bzw. alle zu seiner Erhaltung und Entfaltung notwendigen Prozesse (vgl. Stumm u. Kriz 2003; Wunderlich 2011). Hierunter fallen auch etliche physiologische oder neuronale Funktionen, die völlig autonom, also fern von jeglichem Bewusstsein ablaufen, wie z. B. die Zellerneuerung, der Blutdruck, hormonelle Prozesse oder die Gehirnströme.

    Organismus

    Der Begriff „Organismus " steht für lebende Wesen. Im Rahmen der personzentrierten Theorie ist der menschliche Organismus die Person in ihrem Kern sowie die biologische Einheit. Eine Eigenschaft desselben ist die Tendenz, seine Potenziale zu aktualisieren.

    In der personzentrierten Theorie wird vor allem die Fähigkeit des Organismus betont, Erfahrungen zu machen und zu verarbeiten, u. a. dahingehend zu bewerten, ob diese für den Organismus förderlich bzw. erhaltend sind. Dies entspricht der organismischen Bewertung.

    Organismische Erfahrungen

    Bei den Erfahrungen, die der Organismus machen kann, handelt es sich um eine psychologische Kategorie, nämlich um bewusstseinsfähige Phänomene, also solche, die potenziell der Gewahrwerdung zugänglich sind. Dazu zählen die Wahrnehmung und Verarbeitung äußerer Reize (wie Ereignisse in der Umwelt) sowie innere Prozesse (wie Ideen, Phantasien, Gefühle oder Körperempfindungen). Organismisch sind Erfahrungen insofern, als sie vom Organismus als Ganzem gemacht werden. Sie können, aber müssen im Bewusstsein nicht präsent sein, sondern können auch nur unterschwellig oder auch unvollständig oder verzerrt wahrgenommen werden. Doch selbst wenn sie verleugnet werden, kommt ihnen eine – dann eben nur vage – subjektive Bedeutung zu. All diese Prozesse bilden das phänomenale Feld, die höchstpersönliche „Wirklichkeit" einer Person, auf die sie auch verhaltensmäßig reagiert.

    In der personzentrierten Terminologie ist mit „Erfahrungen machen das gegenwärtige, unmittelbare organismische Erleben (im Englischen: „experiencing) gemeint. Daher sind Erfahrung und Erleben im personzentrierten Diskurs Synonyme. In der Vergangenheit gemachte Erfahrungen sind hier insofern eingeschlossen, als sie in Form von Erinnerungen jederzeit auftauchen können. Somit sind sie dann ein Phänomen, das auch mit einem gegenwärtigen Erleben verbunden ist.

    Es sei hier festgehalten, dass Gefühle zwar einen hohen Stellenwert in der praktischen Arbeit haben, aber nur einen Teil des gesamten Erlebens einer Person ausmachen.¹ In diesem Sinne besteht die Aufgabe eines Personzentrierten Psychotherapeuten darin, sich dem für Klienten zugänglichen Erleben zuzuwenden. Das können auch kognitive Prozesse, Imaginationen oder Körpersensationen sein.

    Ob eine organismische Erfahrung zu einer Selbsterfahrung wird, kommt auf die „innere Kommunikation" an, d. h. auf die Übereinstimmung (Kongruenz) der ablaufenden organismischen Prozesse und der Vergegenwärtigung dieser im Bewusstsein (Abschn. 1.2.2). Zu bedenken ist hier, dass in kritischen Fällen Erlebensprozesse, wie z. B. Eindrücke aus der Außenwelt, nur unterschwellig registriert werden, d. h. dem Gewahrsein nicht (voll) zugänglich werden. Das „organismische Erleben" wird dann nicht adäquat, d. h. nicht exakt, nicht in der gebotenen Schärfe und Klarheit bzw. nicht im vollen Umfang verarbeitet – es bleibt unvollständig.

    Gerade in der Psychotherapie geht es im Lichte dieser Ausführungen demnach darum, das Erleben der Klienten als „oberste Autorität" (Rogers 1961/1973) anzuerkennen und dafür zu sorgen, dass diese ihre ureigene Erlebenssphäre als Informationsquelle und als Grundlage für ein „organismisches Werten nutzen können. Dies deckt sich auch mit Gendlins „Experiencing-Theorie (Kap.​ 5), wonach der Umgang mit dem eigenen Erleben der maßgebliche Faktor für Persönlichkeitsveränderung und für eine verlässliche Orientierung in der Welt ist.

    Die aus dem Menschenbild abgeleitete Fähigkeit von Personen zur Selbststeuerung, zu Gewahrsein und Kongruenz sowie ihr Streben nach Autonomie legen also dringend nahe, von diesem Potenzial so weitgehend wie nur möglich Gebrauch zu machen, was sich in der Praxis in der Zentrierung auf die Erlebniswelt der Klienten niederschlägt. Daran wird deutlich, warum die „personzentrierte" Methode ihren Namen verdient.

    1.2.2 Selbstkonzept

    Das Selbst oder Selbstkonzept ist ein Subsystem bzw. eine Funktion des menschlichen Organismus. Es ist Ausdruck des Reflexionsvermögens, sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen.

    Selbstkonzept

    Das Selbst ist eine „organisierte, konsistente begriffliche Gestalt. Sie setzt sich zusammen aus den Wahrnehmungen der Charakteristika des ‚Ichʻ (I) oder ‚Michʻ (me) und den Wahrnehmungen der Beziehungen des ‚Ich’ oder ‚Mich’ zu anderen sowie zu verschiedenen Aspekten des Lebens, zusammen mit den Bewertungen, die mit diesen Wahrnehmungen verbunden sind. Es ist eine Gestalt, die dem Bewusstsein zugänglich, aber nicht immer im Bewusstsein gegenwärtig ist." (Rogers 1959, Übs. v. Höger 2012, S. 58)

    Im Grunde genommen dient das Selbstkonzept dazu, gemachte Erfahrungen zu symbolisieren, d. h. im Bewusstsein abzubilden, und in einen bedeutungsvollen Zusammenhang zu stellen bzw. in eine – auch intersubjektiv vermittelbare – Sprache zu übersetzen (in psychoanalytischer Diktion handelt es sich hier um Mentalisierungsprozesse). In diesem Sinne können aus den oben erwähnten organismischen Erfahrungen Selbsterfahrungen werden.

    Beispiel für organismische Erfahrungen, die zu Selbsterfahrungen werden

    Eine Klientin kommt aufgeregt und angespannt zum Erstgespräch. Die Psychotherapeutin empfängt sie mit einer zugewandten und wohlwollenden Haltung. Wie die Klientin dies erlebt, mag sie in folgenden Worten beschreiben: „Diese Situation ist unbekannt für mich, ich bin aufgeregt, mein Herz klopft, und doch spüre ich, wie ich mich hier willkommen geheißen fühle, das ist irgendwie erleichternd und ich kann wieder durchatmen."

    Die Klientin kann also sowohl die innere Spannung als auch das Wohlwollen der Psychotherapeutin wahrnehmen und dies als Teil ihres Selbsterlebens in etwa so symbolisieren: „Ich bin in dieser Situation jemand, die sich angesichts der Ungewissheit der Situation anspannt, aber dabei doch offen bleibt für die Zuwendung der Therapeutin, was mich entspannt."

    Mit der Bildung eines Selbstkonzepts kommt die Fähigkeit einer Person zu einem Selbsterleben zum Tragen. Wie in dem Kasten „Organismische Erfahrungen, die zu Selbsterfahrungen werden" deutlich wird, kann eine Person oft schon in wenigen Momenten eine Reihe von Selbsterfahrungen machen. Dies ist die Basis für die Strukturierung des Erlebten in Form von Selbstdefinitionen, die sich zu einem Selbstbild mit charakteristischen Eigenschaften zusammenfügen. Darunter befinden sich auch Werthaltungen und Einstellungen, die sich jemand selbst zuschreibt, z. B.:

    „Ich bin eine empathische Psychotherapeutin"

    „Mit überheblichen Klienten tue ich mir schwer"

    „Es scheint mir wichtig, Klienten mein Erleben zugänglich zu machen"

    Je nachhaltiger, überdauernder und relevanter das Selbsterleben ist, umso mehr verdichtet es sich in Summe zu einer charakteristischen Gestalt, das Selbstkonzept. Das Selbsterleben bildet somit das Rohmaterial für dieses, wie im Kasten „Selbsterleben als Rohmaterial des Selbstkonzepts" noch einmal schrittweise verdeutlicht wird.

    Selbsterleben als Rohmaterial des Selbstkonzepts

    Wenn z. B. eine Klientin ihrer Psychotherapeutin bei der Begrüßung die Hand schüttelt, so werden, wie schon erwähnt, die damit verbundenen Sinneseindrücke und die in ihr ablaufenden Erlebensprozesse zu Selbsterfahrungen, wenn sie die Erfahrungen symbolisiert: „Ich erlebe, dass ich meiner Therapeutin die Hand entgegenstrecke und dass ich ihre Hand schüttle. In diesem Zusammenhang wird die Klientin zur Urheberin dieses Akts der Gewahrwerdung. Durch das bewusste Anerkennen der Vielzahl von Erfahrungen, die selbst bei einer solch relativ simplen Begebenheit eine Bedeutung für die Klientin haben, eignet sie sich diese gewissermaßen an. Daran werden sich in aller Regel weitere Selbsterfahrungen knüpfen, wie z. B.: „Ich erlebe, dass ich ihre Hand etwas weniger fest drücke als sie meine, „Ich vermute, dass das etwas mehr über mich aussagen könnte. Wiederholen sich bestimmte Selbsterfahrungen, dann trägt dies zu verdichtenden Beschreibungen bei, die Teil eines verallgemeinerten Selbstbilds werden können: „Ich bin eine Person, die beim Händeschütteln nicht fest zudrückt oder, noch übergreifender: „Ich bin oft unentschlossen". Hier wird deutlich, wie die Selbsterfahrungen als Rohmaterial das Selbstkonzept einer Person formen.

    Das Selbstkonzept enthält aber nicht nur das Bild, das jemand von sich hat, sondern auch das Bild davon, wie jemand sein möchte: das Selbstideal . Dieses umfasst die Merkmale, die eine Person am liebsten besitzen würde, z. B.: „Ich würde mir wünschen, dass ich auf Kritik von Klienten an mir gelassener reagieren könnte oder „Seit Jahren arbeite ich daran, möglichst genau auch darauf zu achten, was Klienten mit ihrer Körpersprache kommunizieren.

    Das Selbst ist ein Konstrukt, das sich – speziell von außen betrachtet – auch als Struktur begreifen lässt. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass es sich um eine fließende, sich wandelnde Gestalt, um eine prozessuale Einheit handelt, die bei aller Kontinuität oder auch Strukturgebundenheit ständigen Schwankungen aufgrund von neuen Erfahrungen unterworfen ist.

    Wie bei der organismischen Erfahrung ist auch beim Selbstkonzept die bewusstseinsfähige Ebene angesprochen: Es muss nicht jederzeit bewusst sein, aber es kann grundsätzlich ein Bewusstsein darüber hergestellt werden.

    Die Aktualisierung eines Selbst ist letztlich eine dem Menschen vorbehaltene Möglichkeit, die als Vorzug, aber auch als anstrengende Aufgabe aufgefasst werden kann. In Bezug auf das Selbst, als Subsystem des Organismus, macht sich die Aktualisierungstendenz auf psychischer und sozialer Ebene bemerkbar. Als solches kommt dem Selbst die aktualisierende Funktion zu, das Selbst(wert-)erleben einer Person zu bewahren und zu fördern. Im günstigen Fall werden die Erfahrungen in ihrer Gesamtheit im Selbstkonzept vergegenwärtigt. Dann ist die Person diesbezüglich kongruent. Da das Selbst einen relativ eigenständigen Spielraum gegenüber der Erhaltung und Entfaltung des Organismus in all seinen anderen Aspekten hat, kann es hier aber auch zu Diskrepanzen kommen, die in der personzentrierten Sprache als Inkongruenz bezeichnet werden und eine ganz wesentliche Rolle bei der Entstehung von psychischen Problemen einnehmen (Abschn. 1.3).

    Eine Ausdifferenzierung des Konzepts des Selbst hat Mearns mit den „Konfigurationen des Selbst" vorgestellt (vgl. Mearns u. Thorne 2000). Wir kommen in Kap.​ 7, in dem es um die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen geht, darauf zurück.

    1.2.3 Fully functioning person

    Dieses hypothetische Konzept skizziert die Fiktion von einer Person, die allen Erfahrungen, auch erschütternden Ereignissen, gegenüber aufgeschlossen ist. Diese Person würde auszeichnen, dass sie ihre Entscheidungen unter Bedachtnahme auf die Informationsfülle treffen kann, die sich aus ihrer Erfahrungsoffenheit ergibt, was wiederum ihrer Handlungsfähigkeit zugutekäme. Zugleich würde sie sich in einem lebenslangen Werdensprozess befinden, der von unablässiger Entfaltung gekennzeichnet wäre. Ihre Selbstaktualisierung bestünde nichtsdestoweniger in einem mühsamen Ringen, und sie müsste sich trotz oder gerade aufgrund der hohen Freiheitsgrade immer wieder aufs Neue dem „guten Leben" stellen.

    In der Realität ist solch eine Person nicht anzutreffen. Das Konstrukt einer sich voll entfaltenden Person hat aber insofern einen praktischen Wert, als es die anzustrebende Entwicklungsrichtung angibt, die auch für psychotherapeutische Prozesse gilt.

    1.2.4 Bedürfnis nach positiver Beachtung und positiver Selbstbeachtung

    Als übergeordnetes verhaltensbestimmendes Grundprinzip wird im Personzentrierten Ansatz das (angeborene) Bedürfnis nach positiver Beachtung durch wichtige andere angenommen. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses ist Bedingung für wesentliche Entwicklungsschritte, die Frustration dieses Bedürfnisses ist für die Stagnation in der persönlichen Entwicklung verantwortlich. Wir sind, wie Rogers es formuliert hat, „unheilbar sozial. Wir streben danach, dass unser Bedürfnis nach sozialer Anerkennung gestillt wird. Daher sind wir bereit, Bedingungen zu erfüllen, die unseren organismischen Bedürfnissen zuwiderlaufen, damit wir zumindest bedingte positive Beachtung erleben können, wenn es an unbedingter positiver Beachtung fehlt. Unsere soziale Angewiesenheit erweist sich hier geradezu als „Fluch.

    Als Konsequenz der menschlichen Fähigkeit zur Selbstreflexivität erweitert sich das Bedürfnis nach positiver Beachtung durch andere um das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung, das als ebenso grundlegend erachtet wird: Fehlende positive Beachtung durch andere bedingt auf Dauer einen Mangel an positiver Selbstbeachtung. Bedingte positive Beachtung durch andere führt zu internalisierten Bewertungsbedingungen, die auch als Bedingung für die positive Selbstbeachtung wirken. Letztlich führt dies dazu, dass organismische Bedürfnisse übergangen werden, um das Bedürfnis nach positiver Selbstbeachtung zu erfüllen, wobei dann die Paradoxie darin besteht, dass eine Person mit einem negativen oder rigiden Selbstbild sich im Sinne der von anderen übernommenen Werte positiv selbstbeachtet. So kann es vorkommen, dass eine Person, die etwas in kompetenter Weise schafft, dies ihrem Selbstbild entsprechend nicht positiv bei sich selbst beachten kann, sondern als belanglos abtut, weil sie sich doch als wertlos sieht.

    Bedürfnis nach positiver Beachtung und Selbstbeachtung

    Die spontane Vitalität und selbstbehauptende Experimentierfreude eines Kindes wird sich umso mehr aktualisieren können, je mehr es darin von seinen Eltern, Erziehern oder Lehrern unbedingt positiv beachtet wird. Ein Wohlwollen von anderen, das auch bei Grenzziehungen beibehalten wird, wird den Selbstwert einer Person fördern. Wird das Kind aber als „schlimm, „frech, „ungezogen, „vorlaut oder „ungehörig" qualifiziert und negativ sanktioniert, dann erlebt es eine Ablehnung, die sich nicht nur auf sein Verhalten, sondern auf sich als ganze Person bezieht, dann wird dies sein Selbstwertgefühl untergraben. Es wird sich dieser Bewertung nicht entziehen können und die Wertungen der anderen verinnerlichen. Dies wird tendenziell dazu führen, dass es in seiner Wildheit, Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit beeinträchtigt ist und/oder diese mit Schuldgefühlen verbunden sind. Es ist oft ein Thema von Klienten, wieder Zugang zu diesen Qualitäten zu erlangen, um ihr diesbezügliches Potenzial ungehemmt ausleben zu können.

    Das fundamentale Streben nach liebevoller Zuwendung und Anerkennung durch andere kann sogar so weit gehen, dass negative Beachtung (wie z. B. Verachtung oder physische Gewalt) der Nicht-Beachtung vorgezogen wird. So können wir in der psychotherapeutischen Praxis immer wieder beobachten, dass Klientinnen sich nicht von Partnern trennen können, die sie schlagen oder grausam behandeln.

    1.3 Entwicklungs- und Störungslehre: Entstehung von Abwehr und Inkongruenz

    Unsere Selbstentwicklung ist vor allem in jungen Jahren von der positiven Beachtung und dem empathischen Verstandenwerden durch andere abhängig. Wegen der Wichtigkeit der positiven Beachtung durch andere kann es dazu kommen, dass die eigene organismische Bewertung übergangen wird, weil das Kind sich intuitiv nach „Bewertungsbedingungen" richtet, die den Reaktionen seiner wichtigen Bezugspersonen entsprechen.

    Das Kind kann sich seiner selbst nur dann (und nur in der Färbung) bewusst werden, wenn (und wie) es von seinen Bezugspersonen empathisch verstanden und bedingungslos wertgeschätzt wird (Biermann-Ratjen 2012). In den Bereichen und in dem Maß, in denen das Kind nicht verstanden und wertgeschätzt wurde, kann es auch sich selbst nicht verstehen und wertschätzen – es richtet sich vielmehr nach den von außen kommenden Bewertungsbedingungen. Damit ist aufgrund der Abwehr von Erfahrungen eine Diskrepanz, d. h. eine Inkongruenz zwischen organismischem Erleben und bewusstem Selbsterleben, eingetreten.

    In der experienziellen Theorie wird dabei weniger von Inkongruenz gesprochen, sondern von strukturgebundenem Erleben. Gemeint ist damit, dass wichtige Experiencing-Prozesse nicht zu Ende geführt werden konnten, sondern gestoppt, übersprungen oder auf andere Weise gestört wurden. Es handelt sich dann nicht mehr um implizit reiches, frisches Erleben, sondern um rigid verformtes, unlebendig gewordenes Erleben.

    Diskrepanz von organismischer Erfahrung und Selbstkonzept: Inkongruenz

    Die organismische Erfahrung von Frau P. in einer Reihe von Therapiesequenzen lautete in etwa so: „Ich bin so traurig wie ein Kind, das nicht mehr aufhören kann zu weinen. Dieser stand aber eine Bewertung entgegen, die sich aus dem Selbstkonzept der Klientin ergab: „Ich bin aber schon 40 Jahre alt und kein kleines Kind mehr, derartige Zustände sind mehr als unangemessen.

    Behalten dem Selbstkonzept zugehörige Bewertungen wie „Eine 40-Jährige weint nicht hemmungslos wie ein Kind" die Oberhand, so kann die organismische Erfahrung nicht zur Gänze gemacht werden. Der tiefe Schmerz der Klientin, die sich als Kind chronisch emotional verlassen gefühlt hatte – ein Erleben, das zutiefst in ihr verankert ist –, würde dann nicht in seiner kongruenten Bedeutung Anerkennung finden. In diesem Fall stünden weiterhin Bewertungsbedingungen einer Integration dieser Erfahrung im Wege. Die Person befindet sich im Zustand der Inkongruenz.

    Als Folge von Abwehrprozessen tritt also Inkongruenz ein.² Als Folge davon, dass Erfahrungen vor dem Bewusstsein verleugnet bzw. in verzerrter Weise verarbeitet werden, wird die exakte Symbolisierung von organismischem Erleben verhindert oder erschwert. Inkongruenz zieht weitere Abwehrprozesse nach sich, und es kommt zu einem Kreislauf von inkongruenter Bewertung, iner Verfestigung der Abwehr von Erfahrungen, einer Zunahme von Selbstentfremdung und Inkongruenz sowie einer Verstärkung der Symptomatik, da sich die Gefühle von Bedrohung angesichts einer immer größeren Diskrepanz von organismischem Erleben und Symbolisierung desselben zuspitzen. Es ist Aufgabe einer Personzentrierten Psychotherapie, diesen Kreislauf zu unterbrechen, indem die entstandene Verschlossenheit gegenüber relevanten Erfahrungen vermindert wird.

    Eine problematische Selbstentwicklung lässt sich demgemäß so begreifen: Je früher und je durchgängiger der Mangel an Verstanden- und Wertgeschätztwerden bei den zu verarbeitenden Erfahrungen ist, desto verunsicherter und verletzlicher wird eine Person sein, zumal sie sich dann ja auch selbst nicht verstehen und positiv beachten kann. Dies muss nicht als solches in Erscheinung treten, sondern kann sich in kompensierter Form z. B. in narzisstischer Überhöhung, kontrollierter Selbstbeherrschung oder kontraphobischem Übermut äußern. Die personzentrierte Störungslehre geht aber bei allen psychosozial bedingten Störungsbildern von einer mehr oder weniger massiven bzw. chronischen Inkongruenz aus. Ungeachtet spezifischer Störungsbilder – wie z. B. Angststörungen, depressives Leiden oder Persönlichkeitsstörungen – haben Personen mit psychischen Störungen gemeinsam, dass sie defensiv organisiert sind, gilt es doch, Erfahrungen, die mit ihrem bestehenden Selbstkonzept nicht übereinstimmen, abzuwehren, sei es durch Verzerrung oder Verleugnung der jeweils bedrohlichen Erfahrung.

    Über Bewertungsbedingungen bzw. mangelnde wertschätzende und empathische Begleitung bei der Erlebnisverarbeitung hinaus können auch traumatische Erfahrungen und prekäre Lebensbedingungen bei an und für sich gesunden Personen Inkongruenz bewirken, und zwar dadurch, dass sie aufgrund von Massivität und Heftigkeit psychische Erschütterungen auslösen, die nicht verarbeitet, d. h. nicht in das Bild von sich selbst integriert werden können. Erfahrungen z. B. von Flucht aus der Heimat, von kollektiver Unterdrückung oder von (politischer) Ohnmacht sind allemal dazu angetan, das eigene Selbstkonzept zu schwächen, d. h. ein Erleben von beschämender Unzulänglichkeit und unerträglicher, weil fehlender Selbstwirksamkeit hervorzurufen.

    Auf einer Metaebene kann die klientenzentrierte Ätiologiekonzeption auch so verstanden werden, dass die Selbstaktualisierung mit ihrer relativen Autonomie im Gefüge des Gesamtorganismus dissoziiert von dessen entfaltender Tendenz sein kann. Die Selbstaktualisierung gerät dann vorrangig zu einer Erhaltung des Selbst, d. h. zu einem Bewahren, Beharren und Verteidigen starrer Konzepte, zu Ungunsten einer vollständigen, fließenden Erfahrung (Rogers 1959/2016).

    1.4 Überblick über Strömungen und Varianten der Personzentrierten Psychotherapie

    Wie schon im Vorwort deutlich gemacht, gründet das vorliegende Buch auf einem pluralistischen Verständnis von Personzentrierter Psychotherapie. Es schließt eine Reihe von Weiterentwicklungen des klassischen Ansatzes nach Carl Rogers und Suborientierungen ein. Diese sollen im Folgenden kurz umrissen werden. Der interessierte Leser sei auf ausführlichere Beiträge dazu verwiesen (wie z. B. Sanders 2012 und Stumm 2013) oder auch auf die einleitenden Erläuterungen in den jeweiligen Kapiteln, in denen die Charakteristika der Abwandlungen, Diversifikationen und Weiterentwicklungen skizziert werden.

    Wir beschränken uns hier auf jene theoretischen Aspekte, wie sie in der von uns thematisierten spezifischen Praxis aufgegriffen werden. In diesem Sinne stellt der nachfolgende Überblick einen Wegweiser für die im Buch integrierten Praxisperspektiven dar.

    Angemerkt sei vorweg noch, dass die Debatte, ob alle von uns hier einbezogenen Strömungen genuin personzentriert sind, innerhalb der personzentrierten Gemeinschaft kontrovers verläuft. Aus einer Reihe von Gründen präferieren wir mit Warner (2000) die Diversität einer personzentrierten „Nation mit verschiedenen „Stämmen, deren Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen (Tab. 1.1). Gerade diese Vielfalt bereichert unseres Erachtens die personzentrierte Identität und schützt sie vor fundamentalistischer Verengung.

    Tab. 1.1

    Überblick über personzentrierte und experienzielle Therapieansätze

    Die klassische Position

    Diese stützt sich auf die vom späten Rogers (1980/1991) vertretene therapeutische Ausrichtung, in der die klientenzentrierten Therapiebedingungen (Kap.​ 2) als hinreichend und das Prinzip der „Nicht-Direktivität " als oberstes Primat erachtet werden. Damit verbunden ist ein tiefer Respekt vor der Selbstbestimmungskapazität von Klienten, im Gefolge davon – auch aufgrund einer Sensibilität gegenüber Machtaspekten – eine Vorsicht gegenüber einer allzu betonten Selbsteinbringung vonseiten der Psychotherapeuten und die Ablehnung von prozess-direktiven Interventionen (z. B. Brodley 2011). Dies geht einher mit der Überzeugung, dass die im Therapiemodell formulierten notwendigen Bedingungen für einen erfolgversprechenden therapeutischen Prozess hinreichend sind (Kap.​ 2). Hinzu kommt, dass Kategorisierungen im Sinne einer Statusdiagnostik als entbehrlich und das Therapiemodell für alle Störungsbilder als gleichgültig erachtet werden. Diese Positionen werden zwar bei weitem nicht von allen personzentrierten Strömungen geteilt, doch bildet die darin vertretene Konzeption der Therapiebedingungen, auch wenn sie nicht als hinreichend eingestuft werden, gleichsam das Fundament jedweder personzentrierter Praxis und fließt dementsprechend in alle Praxiskapitel des Buchs ein.

    Dialogische Akzentuierung

    In dieser Orientierung wird die transparente Präsenz, also das reale Zugegensein des Psychotherapeuten, der mit dem Klienten in eine unmittelbare, existenzielle Begegnung eintritt, als ein Konzept angesehen, das höchsten therapeutischen Wert hat. Sowohl im Entwurf der „personalen Begegnung" (Schmid 2002) als auch im Konzept von „Relational depth (Mearns u. Cooper 2005) wird der Psychotherapeut als „Gegenüber gesehen, das Klienten in einer höchstpersönlichen, spontanen Art und Weise anregen soll, sich auf die angebotene intensive Beziehung einzulassen. Dadurch werde dem fundamentalen Bedürfnis nach solchen Beziehungserfahrungen entsprochen, und es können signifikante Schritte in der persönlichen Entwicklung der Klienten ermöglicht werden (Kap.​ 2).

    Interaktionelle/Interpersonelle Akzentuierung

    Hier liegt der Schwerpunkt auf dem interaktionellen Verhalten von Klienten. Die therapeutische Beziehung wird zur Bühne des Beziehungsstils, der diesem Verhalten zugrunde liegt. Die „Arbeit mit der Beziehung" steht im Mittelpunkt der therapeutischen Aktivität – mit dem Ziel, über die Aktualisierung in der Therapiesituation Beziehungsmuster von Klienten zu erkennen, in ihrer Gewordenheit und ihrer Funktion zu verstehen und sie vorteilhaft zu verändern. Diese Orientierung wird in ihrem Praxisgehalt noch näher in Kap.​ 4 untersucht und auch im Beitrag über Gruppenpsychotherapie (Kap.​ 16) verdeutlicht.

    Existenzielle Orientierung

    Dieser von existenzphilosophischen Überlegungen inspirierten Strömung ist ein eigener Beitrag gewidmet, in dem die praktischen Implikationen an einigen Beispielen veranschaulicht werden (Kap.​ 14).

    Prä-Therapie

    Hierbei handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Personzentrierten Ansatzes, die ihr Begründer Garry Prouty theoretisch fundiert und für die Praxis mit Personen, die Probleme mit dem psychologischen Kontakt haben, aufbereitet hat. Im Beitrag von Dion Van Werde werden sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die praktische Durchführung der Methode vorgestellt (Kap.​ 9).

    Störungsspezifische Ausrichtung

    Darin wird die Notwendigkeit betont, ein auf die verschiedenen Störungsformen zugeschnittenes Interventionsrepertoire zur Verfügung zu haben. In den theoretischen Begründungen einzelner Kapitel von Sektion IV wird die Argumentationslinie im Detail dargelegt.

    Motivierende Gesprächsführung („Motivational Interviewing")

    Diese aus personzentrierter Sicht eher randständige Variante hat vor allem die „Arbeit an der Motivation zur Veränderung" zum Inhalt, wie sie bei vielen Klienten und vor allem bei einigen Klientengruppen von besonderer Bedeutung ist. Der praktische Nutzen und die hierfür konzipierten bzw. eingesetzten methodischen Schritte werden in Kap.​ 8 illustriert.

    Experienzielle Perspektive

    Ausgehend von Gendlins experienzieller Theorie, wird die Erlebensdimension als zentral angesehen und in der praktischen Arbeit durch die Methode des Focusing explizit gefördert (Kap.​ 5). In dieser Tradition steht auch die „Arbeit mit Emotionen", wie sie in der von Greenberg entwickelten Emotion Focused Therapy (EFT) im Vordergrund steht (Kap.​ 6).

    Integrative Perspektive

    Dieser stehen wir nahe. Allerdings gibt der Begriff „integrativ" leicht zu Missverständnissen Anlass. Wir meinen damit eine reflektierte systematische Integration von theoretischen Konzepten und/oder praktischen Aspekten, die einer personzentrierten Tradition entstammen, also z. B. die Integration von Elementen aus dem Focusing in die personzentrierte Praxis (vgl. Keil 2001). Dies verstehen wir als Integration erster Ordnung. Den Einbezug von Elementen aus anderen Ansätzen, wie z. B. die interpersonelle Tradition nach Yalom in der Leuven-Schule (Lietaer 2008), sehen wir als Integration zweiter Ordnung. Entscheidend dabei ist die Konsistenz dessen, was kombiniert wird: Verträgt es sich miteinander? Es ist oft reizvoll, Anleihen aus anderen Verfahren zu nehmen, und wir stehen dem grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber, doch sollten jeweils die Motive dafür und die Modellverträglichkeit reflektiert werden. Gefragt sind disziplinierte Spontaneität bzw. eine integre Integration!

    Literatur

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    Fußnoten

    1

    In der Emotionsfokussierten Therapie nach Greenberg dagegen wird Emotionen eine primäre Qualität zuerkannt, während Erleben als vage Kategorie angesehen wird, in dem Sinne, dass Emotionen dabei noch nicht expliziert sind.

    2

    Abschn.​ 2.​1.​3, in dem wir den Bezug von Erleben, Selbst und der kommunikativen Ebene anhand der Situation des Psychotherapeuten in Form einer Grafik dargestellt haben.

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018

    Gerhard Stumm und Wolfgang W. Keil (Hrsg.)Praxis der Personzentrierten Psychotherapiehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-54670-3_2

    2. Therapietheorie

    Gerhard Stumm¹   und Wolfgang W. Keil²  

    (1)

    Kalvarienberggasse, 1170 Wien, Deutschland

    (2)

    Albertgasse, 1080 Wien, Deutschland

    Gerhard Stumm (Korrespondenzautor)

    Email: gstumm@chello.at

    Wolfgang W. Keil

    Email: wolfgang@keil.or.at

    2.1 Die Therapiebedingungen

    2.1.1 Psychologischer Kontakt

    2.1.2 Inkongruenz von Klienten

    2.1.3 Die Kernbedingungen: Kongruenz , unbedingte positive Beachtung und einfühlendes Verstehen

    2.1.4 Kommunikation und Wahrnehmung der Kernbedingungen

    2.2 Weiterentwicklungen der personzentrierten Therapietheorie

    2.3 Der Therapieprozess

    2.4 Fazit

    Literatur

    Eine Therapietheorie sollte die theoretische Basis für die therapeutische Praxis liefern. Für die personzentrierte Therapietheorie ist die These von den „sechs notwendigen und hinreichenden Bedingungen" für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie von größter Bedeutung (Rogers 1957/1991a, 1959/1987). Diese besagt vor allem, dass die persönliche Entwicklung des Klienten durch eine entsprechende Qualität der therapeutischen Beziehung nachhaltig gefördert werden kann (vgl. aus praktischer Sicht Tolan 2003; Mearns u. Thorne 2007). Dies schließt mit ein, dass bestehende Inkongruenzen sowie psychosozial bedingte Symptome und Beeinträchtigungen verringert werden.

    Überzeugt von seiner eigenen Erfahrung und bestätigt durch viele Forschungsergebnisse ist Rogers so weit gegangen, die Wirkung der therapeutischen Beziehung in Analogie zu einer chemischen Gleichung zu sehen:

    Wenn eine Substanz, (…) die als Salzsäure bekannt ist (…), mit einer anderen Substanz gemischt wird, die wir (…) als Ätznatron identifiziert haben, werden Salz und Wasser die Produkte dieser Mischung sein. (Rogers 1957/1991a, S. 177)

    Dementsprechend hat Rogers die folgende Gleichung für den therapeutischen Prozess aufgestellt: Je mehr eine therapeutische Beziehung hergestellt werden kann, wie sie nachfolgend dargestellt wird, umso mehr wird sich ein Klient im Laufe des therapeutischen Prozesses in einer konstruktiven Weise verändern (Abschn. 2.3).

    Diese Konzeption fußt auf philosophischen Prämissen wie der Fähigkeit der Klienten zu Selbstbestimmung und Selbstregulation , auf seiner Tendenz, sich unter den jeweils gegebenen Umständen bestmöglich zu aktualisieren, auf einer holistischen Position, wonach die Person als Ganzes, und nicht nur ein vordergründiger Teil von ihr, ins Auge zu fassen ist, sowie auf der phänomenologischen Haltung, die die subjektive Realität des Klienten zur zentralen Bezugsgröße erklärt (Kap.​ 1).

    Eine nicht-direktive Methode?

    Sowohl historisch als auch insbesondere in der orthodoxen Variante ist die Klientenzentrierte Psychotherapie als „nichtdirektiv bezeichnet worden. Dies hat Anlass zu Missverständnissen gegeben. Selbstverständlich nehmen auch Personzentrierte Psychotherapeuten Einfluss auf den Klienten und insofern auf den Therapieverlauf. Was aber weiterhin seine Gültigkeit hat, ist die Betonung einer „nicht-direktiven Haltung . Diese bedeutet, dass der Therapeut in erster Linie als Experte für ein definiertes Beziehungsangebot auftritt, nicht aber die Bearbeitung des Erlebens des Klienten in inhaltlicher Hinsicht steuert. Darüber sind sich alle Strömungen innerhalb der Personzentrierten Psychotherapie weitgehend einig. Dissens besteht in Bezug auf prozesssteuernde Interventionen bzw. die strukturierende Gestaltung des Therapieablaufs. Wohl die Mehrheit der personzentrierten Gemeinde vertritt die Auffassung, dass Vorschläge des Psychotherapeuten ein Teil des therapeutischen Repertoires sind, solange sie dem Klienten nicht aufgedrängt werden.

    Wir sehen eine radikale Nicht-Direktivität , wie sie Grant (1990) mit der „principled non-directiveness beansprucht, kritisch. Vielmehr präferieren wir eine „funktionelle Sicht: Lässt sich der jeweilige Klient von den Reaktionen des Psychotherapeuten „dirigieren oder behandelt er diese vielmehr als Anregung, die er in selbstbestimmter Weise verwirft oder in befruchtender Weise weiter berücksichtigt? Dies mag instrumentell sein, richtet sich aber auf den Klienten als „oberste Instanz aus (vgl. Mearns u. Thorne 2000, 2007).

    2.1 Die Therapiebedingungen

    Wie zuvor erwähnt, stellte Rogers (1957/1991a, 1959/1987, 1980/1991b) die Behauptung auf, dass die nachfolgend genannten Therapiebedingungen notwendig und hinreichend für Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen von Psychotherapie wären:

    1.) Zwei Personen sind miteinander in (psychologischem) Kontakt

    2.) Der Klient befindet sich in einem Zustand von Inkongruenz; er ist verletzbar oder ängstlich

    3.) Der Psychotherapeut ist kongruent (oder integriert) in Hinblick auf die therapeutische Beziehung

    4.) Der Psychotherapeut empfindet unbedingte positive Beachtung dem Klienten gegenüber

    5.) Der Psychotherapeut erlebt ein einfühlendes Verstehen des inneren Bezugsrahmens des Klienten (und bemüht sich, dies dem Klienten zu kommunizieren)

    6.) Der Klient nimmt zumindest in einem minimalen Ausmaß die Bedingungen 4 und 5 wahr (Die Kommunikation des einfühlenden Verstehens und der unbedingten positiven Beachtung des Klienten durch den Psychotherapeuten wird in einem minimalen Ausmaß erreicht) (Rogers 1957 ¹, 1959; Übs. d. A.)

    Hier kann außer Acht bleiben, dass Rogers dabei Psychotherapie allgemein gemeint hat, und nicht nur Klientenzentrierte Psychotherapie. Dieses therapietheoretische Kernstück ist jedenfalls speziell für die Personzentrierte Psychotherapie maßgeblich.

    Auch wollen wir hier die spezifische Bedeutung von „notwendig und „hinreichend nicht im Detail diskutieren (s. dazu Tudor u. Worrall 2006), sondern sind mit Lietaer (2008) der Meinung, dass diese sechs Bedingungen von entscheidender Bedeutung für ein erfolgreiches Wirken im psychotherapeutischen Zusammenhang sind.

    Besonders hervorgehoben sei, dass es sich nicht nur um drei therapeutische Bedingungen (die sogenannten Kernbedingungen) handelt, wie dies oft verkürzt dargestellt wird, sondern um sechs!

    Aus einer interpersonalen Perspektive stellen sich die sechs therapeutischen Bedingungen so dar, wie in Abb. 2.1 dargestellt (vgl. Rogers 1962/1984, 1980/1991b; Tudor 2011, S. 168).

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    Abb. 2.1

    Austauschprozesse in der therapeutischen Beziehung

    Aus Abb. 2.1 wird ersichtlich, dass die sogenannten Kernbedingungen („core-conditions") oder Grundhaltungen (Bedingungen 3–5) in Verbindung mit Bedingung 6 (und selbstverständlich mit Bedingung 1) eine interpersonelle Perspektive bzw. Dynamik beschreiben. Dies definiert Personzentrierte Psychotherapie als dialogisches Geschehen, wie es aus anthropologischer Sicht auch angelegt ist.

    2.1.1 Psychologischer Kontakt

    Der notwendige psychologische Kontakt zwischen Klient und Therapeut wurde von Rogers zunächst (1957/1991a) als erste Bedingung, einschränkend auch als eine Voraussetzung für Psychotherapie, bezeichnet (Rogers 1980/1991b). Er ging dabei von einer Dichotomie aus: Ist ein Kontakt gegeben, so ist Psychotherapie möglich – ist er nicht gegeben, so könne keine Psychotherapie stattfinden.

    Das Konzept hat aber eine Weiterentwicklung erfahren (vgl. auch Wyatt u. Sanders 2002). So hat Prouty (vgl. Prouty et al. 1998) im Rahmen der von ihm entwickelten Prä-Therapie das Verständnis davon weiter elaboriert und mit den sogenannten Kontaktreflexionen auch therapeutische Möglichkeiten entwickelt, falls der psychologische Kontakt nicht oder nur unzureichend möglich ist (Kap.​ 9). Der Therapeut muss gewissermaßen eine „Sprache" finden, die den Klienten erreicht. Prä-Therapie kann daher als wertvoller Anbau im personzentrierten Theoriegebäude betrachtet werden. Sie hat praktische Mittel entwickelt, die dazu beigetragen haben, die bis dahin in solchen Fällen weitgehende methodische Ratlosigkeit im Personzentrierten Ansatz zu überwinden.

    Für die gängige personzentrierte Praxis ist zudem wichtig, dass bei manchen Klienten bzw. in bestimmten Phasen einer Therapie selbstexplorative und kontaktbeeinträchtigte Zustände von Klienten einander in oszillierender Weise ablösen. Dann ist ein Wechsel zwischen empathischem Verstehen als Hauptweg der Therapie und Kontaktreflexionen zweckmäßig, wie dies im Beitrag von Van Werde im vorliegenden Buch eindrucksvoll demonstriert wird (Kap.​ 9).

    Auch andere Autoren sehen Kontakt nicht nur im Sinne eines Alles-oder-Nichts-Prinzips, sondern als eine Qualität, die sich auf einem Kontinuum ansiedeln lässt. So unterscheidet Cameron (2003a, 2003b) grundlegenden, kognitiven, emotionalen und subtilen Kontakt, während Mearns und Cooper (2005) in Bezug auf das Konzept von „Relational depth " von verschiedenen Graden an Beziehungstiefe ausgehen.

    2.1.2 Inkongruenz von Klienten

    Inkongruenz ist eine zentrale, diagnostisch relevante Kategorie in der personzentrierten Störungslehre (Kap.​ 1 und Kap.​ 28) und – um es zu wiederholen – ein psychologisches Konzept, das die Diskrepanz von Erleben einerseits und bewusster Symbolisierung desselben bzw. Integration in das Selbstkonzept andererseits fasst.

    Rogers (1957/1991a) hat in seinem Statement zwei Abstufungen von Inkongruenz differenziert: Im ersten Fall erlebt der Klient die mit der Inkongruenz verbundene Spannung in Form von Angst und Bedrohung (eigentlich des Selbstkonzepts). Er hat eine mehr oder weniger ausgeprägte Erfahrung von seiner inneren Spannung. Im zweiten Fall ist ihm dies aber nicht zugänglich: Die emotionale Ebene der Gespanntheit ist seinem Gewahrsein stärker entzogen, und die Bedrohung äußert sich unterschwelliger. Der Klient ist dadurch aber noch stärker in seinem Selbsterleben bedroht. Er ist verletzlich im Hinblick darauf, dass sich Erfahrungen unkontrolliert Bahn brechen und ihn damit aus einem bereits labilen Gleichgewicht werfen.

    Diese Unterscheidung lässt sich ansatzweise auch in diagnostische Klassifikationen übersetzen: So sind Personen mit Persönlichkeitsstörungen in aller Regel weniger mit ihrem Erleben in Kontakt als solche, die eher auf einem „neurotischen Niveau strukturiert sind. Dies hat Auswirkungen darauf, wie etwaige Leidenszustände einzuordnen sind und beantwortet werden. Tendenziell werden Klienten, die von Rogers als verletzlich eingestuft wurden, weniger selbstreflexiv sein, eher „die Schuld bei anderen suchen und die Gründe für ihre Probleme eher im Außen sehen. Dies hat naturgemäß auch auf die Motivation zur Psychotherapie einen gewichtigen Einfluss. Diese hängt wie der Therapieerfolg insgesamt jedenfalls davon ab, ob bzw. in welchem Maß die Inkongruenz vom jeweiligen Klienten anerkannt werden kann (Kap.​ 28).

    Wenn für den Klienten die eigene Inkongruenz zumindest in Ansätzen spürbar ist, ist die Therapiebedingung 2 im Sinne eines Indikationskriteriums erfüllt und von einer aussichtsreichen Therapieperspektive auszugehen.

    2.1.3 Die Kernbedingungen: Kongruenz , unbedingte positive Beachtung und einfühlendes Verstehen

    Wir erörtern nun die so entscheidenden Kernbedingungen jeweils in ihrer spezifischen Bedeutung. Sie bilden als Therapieprinzipien (Finke 2004) das Fundament für die Behandlungspraxis. Darin werden sie in Form daraus abgeleiteter Techniken und spezieller Methoden handlungsbezogen ausgestaltet (Kap.​ 3).

    Mit den drei Kernbedingungen sind zunächst keine Verhaltensvorschläge verbunden, denn es handelt sich dabei um Einstellungsmerkmale, noch präziser: um Erlebensqualitäten aufseiten des Psychotherapeuten. Erst mit der Kommunikation des empathischen Verstehens und der unbedingten positiven Beachtung des Klienten lassen sich Aussagen darüber treffen, wie die inneren Prozesse des Psychotherapeuten im Rahmen der therapeutischen Begegnung in einen Ausdruck gekleidet und vom Klienten empfangen werden können.

    Erinnert sei im Hinblick auf die therapeutische Beziehung auch an die Unterscheidung verschiedener Abstraktionsebenen im Sinne einer Hierarchie (Höger 1989; Stumm u. Keil 2002, S. 32; Eckert u. Biermann-Ratjen 2011, S. 64):

    Professionelle Beziehung

    Dabei steht der Umstand, dass es sich um eine professionelle Beziehung handelt, als oberstes und abstraktestes Prinzip an der Spitze.

    Drei Grundhaltungen

    Darunter finden sich die drei Grundhaltungen als Wesensmerkmale des therapeutischen Beziehungsangebots.

    Verhaltenscluster

    Auf der Ebene darunter lassen sich Verhaltenscluster zur möglichen Umsetzung der Einstellungen des Psychotherapeuten bilden, z. B. evozierende Reaktion, Feedback, Mitteilen der eigenen Resonanz, Zusammenfassungen.

    Konkrete Handlungen

    Und schließlich sind auf der untersten Stufe ganz konkrete Handlungen in konkreten Situationen angesiedelt.

    Die Praxisrelevanz dieser hierarchischen Taxonomie ist zweifacher Natur: Erstens lassen sich die Konkretisierungen auf der jeweils unteren Ebene nicht eindeutig aus den höheren ableiten. Zweitens darf die jeweils untere Ebene den Prinzipien der übergeordneten nicht widersprechen. Dies heißt z. B., dass verhaltensmäßige Umsetzungen nur dann modellkonform sind, wenn sie im Einklang mit dem Erleben der Grundhaltungen stehen. Diese Regel liefert einen wertvollen Prüfstein: Erlebe ich als Psychotherapeut in der jeweils gegebenen Situation die Kernbedingungen?

    Für die Betonung der drei Grundhaltungen ist die Personzentrierte Psychotherapie weithin bekannt. In der Tat sind dazu viele Publikationen erschienen, einige davon im wahrsten Sinne des Wortes ganze Bücher füllend (z. B. Bozarth u. Wilkins 2001; Haugh u. Merry 2001; Wyatt 2001).

    Die Grundhaltungen werden freilich niemals vollständig erfüllt sein, sondern bestenfalls in Form einer Annäherung. Im Normalfall ist wohl eher ein Bemühen darum anzutreffen, und es werden auch immer Abweichungen davon zu beobachten sein.

    Wir werden uns im Folgenden – mit Verweisen, wo Interessierte jeweils vertiefende Ausführungen zu den drei Grundhaltungen finden können – mit der Darlegung einiger wesentlicher Aspekte dazu begnügen.

    2.1.3.1 Kongruenz

    Rogers hat vor allem in seinem Spätwerk (z. B. Rogers 1980/1991b) die Kongruenz des Psychotherapeuten als die grundlegendste Therapiebedingung angesehen. Als Gegenteil von Inkongruenz (Kap.​ 1 und Abschn. 2.1.2) ist Kongruenz durch (einen hohen Grad an) Übereinstimmung gemachter Erfahrungen und deren Symbolisierung charakterisiert bzw. durch die weitgehende Integration dieser Erfahrungen in das Selbstkonzept . Synonyme dafür sind in personzentrierter Diktion: Integriertheit, Ganzheit oder Authentizität.

    Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Kongruenz des Psychotherapeuten in diesem Sinn nicht groß genug sein kann. Sie stellt eine wünschenswerte Funktionsfähigkeit des Psychotherapeuten dar. Lietaer (1992) bezeichnet sie als die obere Grenze für das Empathievermögen des Psychotherapeuten. Das, was ich an mir selbst nicht haben kann, kann ich auch bei den Klienten nicht verstehen.

    Die Frage der Kongruenz des Psychotherapeuten hat aber auch einen kommunikativen bzw. interpersonellen Aspekt:

    Transparenz des Psychotherapeuten

    Hierbei geht es um die Transparenz des Psychotherapeuten für den Klienten (Synonyme dafür: Echtheit, Natürlichkeit, Ehrlichkeit) und die brisante Frage, die wir im Anschluss noch aufgreifen: Welches Ausmaß an Transparenz ist angemessen?

    Reaktion auf die Inkongruenz des Klienten

    Es geht aber auch darum, dass als Reaktion auf die Inkongruenz des Klienten Inkongruenz beim Psychotherapeuten angestoßen werden kann (vgl. dazu die Theorie der zwischenmenschlichen Beziehung in Rogers 1959/2016).

    Bedeutung der Therapiebedingung Kongruenz

    Erstens bedeutet Kongruenz, dass der Psychotherapeut sich seines Erlebens dem Klienten gegenüber weitestgehend bewusst ist bzw. dass es ihm potenziell verfügbar ist, wenn er es nicht unmittelbar präsent hat. Dies bildet ein intrapsychisches Geschehen ab und repräsentiert daher die Innenseite der Kongruenz.

    Zweitens bedeutet Kongruenz, dass die willkürliche (wie die unwillkürliche) Kommunikation des Erlebens des Psychotherapeuten der therapeutischen Situation dem Klienten gegenüber in Einklang mit seinem eigentlichen Erleben steht. Dies verweist auf die interpersonelle Ebene und repräsentiert daher die Außenseite der Kongruenz (vgl. Lietaer 1992).

    Innen- und Außenseite von Kongruenz: Intrapsychischer vs. interpersoneller Aspekt

    Intrapsychische Ebene

    Aus Abb. 2.2 lassen sich drei Konstellationen ableiten, wie das Erleben des Psychotherapeuten (im linken Kreis) und die Repräsentation des Erlebens in seinem Selbstkonzept (im rechten Kreis) zueinander stehen können:

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    Abb. 2.2

    Verhältnis von Erleben und Selbst des Psychotherapeuten

    Kongruentes Erleben (A)

    Dort, wo Erleben und Selbstkonzept einander überlappen, ist der Psychotherapeut kongruent.

    Inkongruenz aufgrund verzerrter Symbolisierung (B)

    Dort, wo das Selbst für sich steht, also keine exakte Basis im Erleben hat, sind Erfahrungen des Psychotherapeuten von diesem verzerrt symbolisiert.

    Inkongruenz aufgrund unvollständiger Symbolisierung (C)

    Dort, wo das Erleben nicht vom Selbstkonzept abgedeckt wird, werden Erfahrungen des Psychotherapeuten von diesem in verleugnender Weise abgewehrt, oder es weist auf noch nicht (ganz) gewahr Gewordenes hin (Abb. 2.2).

    Interpersonelle Ebene

    Abb. 2.3 veranschaulicht neben dem Erleben des Psychotherapeuten (im linken Kreis) und der Repräsentation des Erlebens in seinem Selbstkonzept (im rechten Kreis) auch noch die Kommunikation des Erlebens des Psychotherapeuten in der therapeutischen Beziehung, und zwar sowohl die explizite (in der Ellipse) als auch die implizite Kommunikation. Unter explizit wird hier zum einen die bewusst gesetzte und erlebte (Segmente D und F) und zum anderen die unwillkürliche, nicht im Selbstkonzept abgebildete Kommunikation verstanden (Segment H). Implizite Kommunikation bedeutet hier, dass der kommunikative Aspekt des Erlebens weitestgehend unmerklich für das Gegenüber ist (Segmente E, G und I). Die explizite Kommunikation schließt demgemäß verbale, paraverbale (z. B. Stimmlage, Lautstärke, Sprechpausen) und nonverbale Kommunikation mit ein. Die implizite äußert sich – der Maxime folgend, dass „es keine Nicht-Kommunikation gibt" – in nur schwer fassbaren nonverbalen Phänomenen.

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    Abb. 2.3

    Verhältnis von Erleben, Selbst und Kommunikation des Psychotherapeuten

    Hier sei daran erinnert, dass speziell die Kongruenz des Psychotherapeuten um ein Vielfaches häufiger nonverbal, also beiläufig, zum Ausdruck kommt als verbal – nach Tepper und Haase (1978; zit. nach Cornelius-White 2007) 23-mal mehr (zum Vergleich: bezüglich Respekt 5-mal mehr und in Bezug auf Empathie doppelt so viel). Dies belegt den Charakter der Kongruenz als einer kontinuierlichen Melodie im Hintergrund des therapeutischen Geschehens, die sich dem Klienten jenseits bewusster „Klänge vermittelt und ihm tief „unter die Haut gehen kann.

    Inwieweit die geforderte unbedingte Wertschätzung des Psychotherapeuten für den Klienten kongruent ist, hinterfragen z. B. Forschungsarbeiten von Krause (2005). Danach sind über den Gesichtsausdruck kommunizierte sogenannte „negative" emotionale Reaktionen von Psychotherapeuten sehr viel häufiger zu beobachten, als dies deren Selbsteinschätzung entspricht, und zwar über alle psychotherapeutischen Verfahren hinweg (Abb. 2.3). Es gibt also Hinweise zu der Annahme, dass dies auch auf Personzentrierte Psychotherapeuten zutrifft.

    Gefordert ist vom Psychotherapeuten jedenfalls, dass er weder einer Selbsttäuschung unterliegt noch dem Klienten gegenüber sich mit bewusster Absicht verstellt und ihm gleichsam etwas vormacht, indem er z. B. versucht, einem Klischee zu entsprechen. In beiden Fällen würde die Fassade darauf abzielen, den Zustand des „Hauses verschleiern zu wollen. Im ersten Fall weiß der Psychotherapeut selbst nicht exakt, was er empfindet. Im zweiten Fall spielt er in voller Absicht eine Rolle, die dem eigentlichen Empfinden nicht entspricht. Daher hat das Synonym „Echtheit seine volle Berechtigung: In beiden Fällen wäre der Psychotherapeut somit „unecht" und letztlich auch nicht aufrichtig. Moralisch betrachtet mag das Vorspielen falscher Tatsachen verwerflicher scheinen, in der psychotherapeutischen Praxis wird jedoch das Unwissentlich-inkongruent-Sein des Psychotherapeuten die weitaus häufigere Problematik darstellen.

    Für das Verhältnis von Erleben, Selbst und interpersoneller Kommunikation ergeben sich im Sinne von Abb. 2.3 folgende Konstellationen:

    Transparente Kongruenz (D)

    Dort, wo alle drei Ebenen, also Erleben, Selbst und die explizite und implizite Kommunikation des Erlebens, einander überschneiden, kommuniziert der Psychotherapeut sein kongruentes Erleben, vor allem auch das empathische Verstehen und die unbedingte Wertschätzung des Klienten, in transparenter Weise. Auch die unwillkürliche Körpersprache steht im Einklang mit dem Selbsterleben.

    Selektive Authentizität (E)

    Dort, wo Erleben und Selbst einander überschneiden, also zwar ein kongruentes Erleben gegeben ist, der Psychotherapeut sich aber dazu entschließt, dies nicht explizit zu kommunizieren, ist er in seiner bewussten Kommunikation selektiv. So könnte der Psychotherapeut z. B. in Bezug auf einen Klienten das Bild von einem unersättlichen Baby haben, aber angesichts der Beziehungsdynamik darauf verzichten, dieses Bild dem Klienten mitzuteilen, weil dieser es als Kritik auffassen könnte.

    Kommunikation von unauthentischem Erleben (F)

    Dort, wo die explizite Kommunikation im Einklang mit dem Selbstkonzept steht, jedoch diskrepant zum Erleben auf der tieferen organismischen Ebene ist, kommuniziert der Psychotherapeut ein verzerrtes, somit ein nicht authentisches Erleben. Dies ist mit großer Wahrscheinlichkeit mit körperlichen Signalen verbunden, die eine „andere Sprache sprechen. So kann ein Psychotherapeut z. B. dem Klienten gegenüber Worte der Wertschätzung verwenden, in seiner Körperspannung und in seinem Tonfall mag sich aber ein Widerwille, Unmut oder Unbehagen in Bezug auf den Klienten abzeichnen (► „Autonome, unwillkürliche Körpersprache bei Inkongruenz [H]).

    Selektive Inauthentizität (G)

    Dort, wo der Psychotherapeut sich dazu entschließt, ein Selbsterleben, das eine verzerrte Symbolisierung beinhaltet, nicht preiszugeben, ist er hinsichtlich eines inkongruenten Erlebens selektiv. So könnte ein Psychotherapeut z. B. meinen, dass es besser ist, den Klienten nicht über seine ärgerlichen Gefühle zu informieren, die er als angemessene Reaktion auf ein provokantes Verhalten des Klienten interpretiert. Wenn sein Ärger aber die erlebte Hilflosigkeit überdeckt, deren er sich nicht gewahr ist, dann würde er mit einer Mitteilung seines Ärgers ohnehin nicht sein authentisches Erleben vollständig offenbaren. Auch hier wird die körpersprachliche Kommunikation freilich eine sein, die die Inkongruenz vermittelt.

    Autonome (unwillkürliche) Körpersprache bei Inkongruenz (H)

    Dort, wo die Kommunikation ein Erleben zum Ausdruck bringt, das nicht im Selbstkonzept verankert ist, handelt es sich um autonome, also nicht bewusst gesteuerte Signale, wie sie sich im unwillkürlichen Verhalten manifestieren, d. h. in der Körpersprache im weitesten Sinn. So kann z. B. ein Psychotherapeut erröten, weil er sich ertappt fühlt oder ihm etwas peinlich ist, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Für die interpersonelle Dynamik ist die körpersprachliche Kommunikation des Psychotherapeuten jedenfalls von größter Bedeutung, insbesondere jene, die das Ausmaß der drei Grundhaltungen vermittelt.

    Nicht bewusste implizite Prozesse (I)

    Schließlich ist an jene Möglichkeit zu denken, dass ein Erleben weder mit einer mit Gewahrsein verbundenen Symbolisierung einhergeht noch mit einer expliziten kommunikativen Qualität. Dies ist bei inneren Prozessen des Psychotherapeuten der Fall, z. B. bei nicht bewussten Fantasien oder Gedanken, bei denen kein körpersprachliches Korrelat zu erkennen ist.

    Kongruenz nur in der therapeutischen Beziehung?

    Beachtenswert ist, dass die Kongruenz des Psychotherapeuten zwar im Rahmen der therapeutischen Beziehung gefordert ist, jedoch nicht darüber hinaus! Das heißt, dass Psychotherapeuten in ihrem privaten Leben durchaus inkongruente Züge aufweisen und zugleich begabte und in gewisser Weise auch – aufgrund spezifischer Qualitäten – kompetente Kollegen sein können, die für ganz bestimmte Klienten dann durchaus von Nutzen sein können, wenn die Arbeit mit diesen nicht ihre eigenen Inkongruenzkonstellationen zum Schwingen bringt.

    Ausmaß an Transparenz bzw. Äußerungen aus dem Bezugsrahmen des Psychotherapeuten

    Greifen wir noch einmal die Frage nach der Angemessenheit im Hinblick auf die Transparenz auf: Was bzw. wie viel soll der Psychotherapeut von seinem Erleben in welcher Form dem Klienten mitteilen bzw. davon transparent machen?

    Hier scheiden sich die Geister: Barbara Brodley (2011), prominente Proponentin der klassischen klientenzentrierten Strömung bis zu ihrem Tod 2007, plädierte für große Vorsicht in Bezug darauf, was

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