Psychodynamische Gerontopsychosomatik
Von Gereon Heuft
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Über dieses E-Book
Gereon Heuft
Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Lehr- und Kontrollanalytiker der DGPT, ist Universitätsprofessor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Universität Münster und Leiter der gleichnamigen Klinik am Universitätsklinikum Münster. Er ist Ärztlicher Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) der Bundesärztekammer/Bundespsychotherapeutenkammer.
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Buchvorschau
Psychodynamische Gerontopsychosomatik - Gereon Heuft
1Gerontopsychosomatik – Definition und kurze historische Entwicklung
Psychosomatische Aspekte alter Menschen beziehen sich auch in Handbüchern eher auf Situationen der körperlichen Pflege und des Lebensendes (z. B. Engel, 1997). Das Lehr- und Forschungsgebiet der Gerontopsychosomatik befasst sich bei über 60-Jährigen darüber hinaus mit
–den psychischen Auswirkungen bzw. der Bewältigung des normalen körperlichen Alternsprozesses – verstanden als psychodynamischer Entwicklungsaufgabe,
–der besonderen Genese, Phänomenologie und Symptomatik psychischer Störungen und Persönlichkeitsstörungen im Alter,
–den nicht organisch bedingten psychosomatischen (»funktionellen«) Störungen und Somatisierungsstörungen alter Menschen,
–den Folgen psychischer Traumatisierungen auch in früheren Lebensabschnitten bei heute Älteren,
–den im Alter vermehrt auftretenden somato-psychosomatischen Wechselwirkungen (Coping; Compliance) bei schweren Körperkrankheiten und
–der Erforschung adaptiver Prozesse im Kontext der im Alter auftretenden Gewinne (»späte Freiheiten«) und Verluste (Rollenverluste; Gefährdung des sozialen Netzwerks).
Methodisch bedient sich die Gerontopsychosomatik sowohl somatisch-biologischer Mess- als auch gerontologisch-psychologischer Forschungsmethoden, wobei die Biografie- und die Psychotherapieforschung in der Psychoanalyse wurzelt. Unter dem Aspekt klinischer Behandlungen diskutiert die Gerontopsychosomatik spezielle psychotherapeutische Behandlungsprobleme aller genannten Forschungsbereiche bei alten Menschen. Zur psychotherapeutischen Intervention stehen die psychodynamischen (tiefenpsychologisch fundierten und psychoanalytischen) sowie die kognitiv-behavioralen Psychotherapieverfahren (vgl. Methodenpapier des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie, Version 2.8, 2010) zur Verfügung, ergänzt um psychotraumatologischen Behandlungsmethoden (z. B. EMDR; vgl. Kapitel 3.3.3) sowie um spezielle Entspannungsverfahren.
Schwerpunkt dieses Buches sind die psychodynamischen Konzepte sowohl einer Entwicklungspsychologie der zweiten Hälfte des Erwachsenenalters als auch der sich daraus ableitenden Behandlungskonzepte. Dabei ist die kompetente Differenzialdiagnose gerontopsychiatrischer Störungen, die in diesem Band nicht vertieft wird, ebenso wichtig wie die Differenzialdiagnose möglicher internistischer Erkrankungen, die vor allem in Lehrbüchern der Geriatrie behandelt wird.
Durch die Formulierung des Konzepts Gerontopsychosomatik in einem 1989 eingereichten Manuskript für die »Zeitschrift für Gerontologie« (Heuft, 1990b) und kurz darauf in der Zeitschrift »Psycho« (Lamprecht, 1990) entstand ein zunehmendes Bewusstsein für die Notwendigkeit, vor allen Störungsaspekten auch die normal-konflikthafte Entwicklung in der zweiten Hälfte des Erwachsenenalters zu beschreiben. Die hierzu notwendige Konzeptbildung hat sicher dazu beigetragen, dass sich ein zunehmendes Interesse an der Bedeutung des körperlichen Alterns für die psychische Entwicklung in der zweiten Hälfte des Erwachsenenlebens entwickeln konnte.
Noch 1979 stellte Radebold unter der programmatischen Überschrift »Psychosomatische Probleme in der Geriatrie« in der ersten Auflage des Lehrbuchs von v. Uexküll fest: »Der Bereich Alter und Altern stellt innerhalb der Psychosomatischen Forschung ein weitgehend vernachlässigtes Gebiet dar« (S. 728). Auch die weiteren Auflagen (bis zur 4. Aufl. 1990) verdeutlichen einen gleichbleibend geringen Wissensstand. Die Geriatrie als ein seinerzeit wenig wertgeschätztes Aufgabengebiet innerhalb der Inneren Medizin interessierte sich für die psychischen Auswirkungen körperlicher Alternsprozesse ebenfalls nicht. Gleiches galt für die Gerontopsychiatrie: Zwischen 1971 und 1979 führte die »Bibliographia Gerontopsychiatrica« lediglich 43 sehr heterogene Publikationen zu psychischen Aspekten im Alter auf. Lehrbuchbeiträge fehlten bis dahin praktisch völlig (Ausnahme: Müller, 1967).
In den 1970er Jahren begriff die psychologische Gerontologie Altern als einen »Vorgang der Veränderung« (Lehr, 1977) in scharfer Abgrenzung zu den bis dahin dominierenden biologischen und physiologischen Alterstheorien, die Altern vor allem als defizitär, defekthaft und involutiv sahen. Parallel beschrieben die Soziologie (Tews, 1974) und die Biologie (Platt, 1976) die Situation des alten Menschen mit seinen objektiven Veränderungen. Auch wenn man aus heutiger Sicht dem damaligen pointierten gerontologischen Standpunkt eine gewisse Idealisierung des Alters vorhalten kann, waren die Ergebnisse zur anhaltenden Lernfähigkeit und Kompetenz alter Menschen für den weiteren Diskussionsprozess eminent wichtig. Der Alternsprozess wurde zunehmend als eine eigenständige Phase wesentlicher Entwicklungen begriffen: »Jeder Arzt und therapeutisch Tätige muß sich vergegenwärtigen, daß der Mensch im höheren und hohen Lebensalter jetzt nach der Kindheit zum zweiten Mal innerhalb seines Lebenszyklus in eine zunehmend von ihm selbst wenig beeinflußbare und fremdbestimmte Situation kommen kann« (Radebold, 1979, S. 729). Bei der nachfolgenden Darstellung aktueller Konzepte zur Entwicklungspsychologie (Kapitel 2.3) wird jedoch herausgestellt, dass sich die drohende Abhängigkeit in dieser Lebensphase von der Abhängigkeit in der Kindheitsentwicklung grundlegend unterscheidet.
Im Hinblick auf die Prävalenz psychischer Störungen im Alter zeigt sich, dass die Schätzungen der Psychiatrie-Enquete (Bericht zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, 1975) der heutigen Datenlage entspricht, auch wenn die Diagnosegruppen unter dem Einfluss der Weiterentwicklung der ICD- bzw. DSM-Systematik heute teilweise anders benannt werden. Selbst wenn man von den demenziellen Erkrankungen absieht, entsprechen die Prävalenz- und Inzidenzzahlen psychischer sowie psychosomatischer Störungen jenseits des 60. Lebensjahres denen im mittleren Erwachsenenalter. Da der Anteil der psychotherapeutisch behandelten Älteren jedoch mit steigendem Alter bedeutsam abnimmt, sprechen wir zu Recht immer noch von einer »Indikationszensur« gegenüber der Psychotherapie Älterer. Diese Generationen »verlangen« oft eine solche Behandlung noch nicht, und ihre behandelnden Ärzte denken an eine Psychotherapieindikation bei ihren älteren Patientinnen und Patienten viel zu