Von der Orthodoxie zur Pluralität – Kontroversen über Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse
Von Werner Bohleber
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Werner Bohleber
Dr. phil. Werner Bohleber ist Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt a. M. sowie Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV).
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Buchvorschau
Von der Orthodoxie zur Pluralität – Kontroversen über Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse - Werner Bohleber
Teil I:Kontroversen über den Pluralismus, die Metapsychologie und die Frage einer konzeptuellen Integration
Die Etablierung des Pluralismus in der Psychoanalyse
Psychoanalyse erhebt den Anspruch, eine Wissenschaft des Unbewussten zu sein und über eine umfassende und reichhaltige Theorie des menschlichen Seelenlebens zu verfügen. Sie hat sich nicht in erster Linie auf dem Feld der Universitäten entfaltet, sondern in einer psychoanalytischen Bewegung, die sich 1910 mit der Gründung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) eine berufsständische Vereinsstruktur gab, eine Ausbildung zum Psychoanalytiker aufbaute, über eigene wissenschaftliche Zeitschriften verfügte und eigene Tagungen und Diskussionsforen organisierte. Diese Organisationsform sicherte einerseits Wachstum und Verbreitung der Psychoanalyse, andererseits schuf sie einige grundlegende Probleme der Psychoanalyse, mit denen wir uns bis heute auseinandersetzen müssen (vgl. dazu Makari, 2008).
Die Frage, inwieweit es möglich ist, ein konsistentes psychoanalytisches Theoriegebäude zu errichten, verfolgt die Psychoanalyse von Anfang ihrer Institutionalisierung an. Zu seinen Lebzeiten war Freud für die psychoanalytische Bewegung der Garant der Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnisse. Mit den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« (1905d) hatte Freud den entscheidenden Baustein für seine Theorie der Psychosexualität und der grundlegenden Bedeutung der infantilen Sexualität, die im Ödipuskomplex kulminierte, gefunden und formuliert. Auch hatte sich die psychoanalytische Behandlungsmethode als Technik zur Behandlung von Psychoneurosen etabliert. Aber schon bald nach Gründung der IPV eskalierten die theoretischen Differenzen mit Alfred Adler, der mehr eine Theorie des vorbewussten Ichs als eine des Unbewussten favorisierte und die Aggression als Triebstrebung gegenüber der Sexualität bevorzugte. Zudem betonte Adler die Geschwisterrivalität mehr als den Ödipuskomplex. Nach mehreren Debatten kam es schließlich 1911 zum endgültigen Bruch mit Adler. Auch die persönlichen und wissenschaftlichen Differenzen mit Carl Gustav Jung eskalierten seit 1910. Jung hatte sich zunehmend seinen mythologischen Forschungen zugewandt und sich dann in »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912) von Freuds psychosexueller Libidotheorie und der infantilen Sexualität abgewandt. 1913 kam es zum endgültigen Bruch mit Freud.
Diese ganze Entwicklung hatte den Charakter eines Reinigungsprozesses. Die in der IPV verbleibende Gruppe hatte sich in eine homogene freudianische Bewegung gewandelt, die die Psychoanalyse auf der theoretischen Basis der Psychosexualität begründete. Alle freudianischen Anhänger, die diese oder andere Teile von Freuds Entdeckungen und Theorien nicht geteilt hatten, waren verschwunden. Die Loyalität gegenüber Freud wurde zu einem zentralen Identitätsmerkmal der Psychoanalytiker innerhalb der IPV.¹
Aber Freud war kein dogmatischer Denker. Mit seiner analytischen Methode, den Regeln der freien Assoziation des Patienten und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Analytikers sowie der Entdeckung von Übertragung und Widerstand hatte Freud einen Raum geschaffen, in dem die Innenwelt des Menschen erforscht werden konnte. Die Breite der Phänomene, die Freud untersuchte, hatte eine Reichhaltigkeit klinischer Beobachtungen und kultureller Analysen zur Folge, die in den verschiedenen Phasen seines Schaffens zu unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen führte, wobei Freud jedoch seine triebtheoretischen Grundüberzeugungen und die Konzeption der Psychoanalyse als einer biologisch begründeten Naturwissenschaft stets durchhielt. Freud hat nicht versucht, die Widersprüche und Inkonsistenzen, die sich daraus ergaben, zu begradigen oder in ein widerspruchsfreies System umzuwandeln.
Auf diese Weise hat Freud zwei Modelle des Seelenlebens – oder, wie er es nannte, des psychischen Apparates – formuliert. Das erste und frühere topografische Modell (1915e) unterscheidet drei Systeme: das Unbewusste, das Vorbewusste und das Bewusste. Jedes System hat seine Funktionen, seine Abwehrformen und seine Besetzungsenergie. Der Übergang seelischen Materials von einem System zum anderen wird durch Zensoren kontrolliert. Vorstellungen, Erinnerungen und Verhaltensweisen werden auf diese Weise verschiedenen psychischen Orten zugewiesen.
Durch seine therapeutischen Erfahrungen fühlte sich Freud nach und nach gezwungen, das Ich, seine Funktionen und Abwehroperationen neu zu bedenken. Im topografischen Modell war das Ich noch als eine psychische Instanz gedacht worden, die ihren Platz in den Systemen von Vorbewusst und Bewusst hatte. Jetzt musste Freud aber erkennen, dass die Abwehroperationen des Ichs weithin unbewusst sind. Ähnlich erging es ihm bei der Analyse des Schuldbewusstseins und der Versagung von Wünschen, auch hier agierte das involvierte Über-Ich unbewusst. All das führte zur Revision seines ersten topischen Modells und zur Formulierung eines zweiten, des sogenannten Strukturmodells mit seinen Instanzen Ich, Es und Über-Ich (1923b). Da Teile des Ichs und Über-Ichs unbewusst sind, verliert die Trennung der psychischen Systeme entlang der Achsen von bewusst und unbewusst ihren fundamentalen Charakter. Das Es, als Reservoir der Triebe, beinhaltet nicht mehr die Gesamtheit des psychisch Unbewussten. Eine Entscheidung, die in der Folge immer wieder in theoretische Schwierigkeiten führte und dazu zwang, auf das topische Modell zurückzugreifen. Auch rückte mit dem Strukturmodell das Ich, seine Entwicklung und seine Abwehrmechanismen ins Zentrum einer sich ausbildenden Ich-Psychologie, wodurch das Unbewusste als zentrales Thema in den Hintergrund