Widerstand, Abwehr und Bewältigung
Von Inge Seiffge-Krenke und Frank Kollmar
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Über dieses E-Book
Inge Seiffge-Krenke
Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke ist Professorin für Entwicklungspsychologie und Psychoanalytikerin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, Sprecherin des Beirats der Lindauer Psychotherapiewochen und im Leitungsteam der OPD-KJ. Gegenwärtig ist sie als Dozentin und Supervisorin in verschiedenen Praxiskontexten und in der Ausbildung von Kinder-, Jugendlichen- und Erwachsenentherapeuten tätig.
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Buchvorschau
Widerstand, Abwehr und Bewältigung - Inge Seiffge-Krenke
1 Vorbemerkungen
Viele von Freud geprägte psychoanalytische Termini haben in unsere Alltagssprache Eingang gefunden. Tatsächlich gehören Wörter wie Fehlleistung, Libido, Neurose, Ödipuskomplex, Projektion, Sublimierung, Trauma oder Unbewusstes mehr oder weniger zum allgemeinen Sprachgebrauch, wenn von psychischen Angelegenheiten die Rede ist. Auch die von Freud ursprünglich »erfundenen« Begriffe der Abwehr und des Widerstandes gehören dazu. Sie werden aber nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in anderen psychotherapeutischen Ansätzen oftmals synonym verwendet, ohne den geschichtlichen und klinischen Hintergrund einzubeziehen und die therapeutischen Konsequenzen zu reflektieren. Dieses Buch zeigt auf, welche konzeptuellen Differenzierungen die Psychoanalyse seit Anbeginn in Bezug auf Abwehr und Widerstand vorgenommen hat und welche therapeutischen Konsequenzen sich aus den unterschiedlichen Abwehr- und Widerstandsformen ergeben. Es demonstriert, dass sich eine bedeutsame psychologische Forschung, die Bewältigungsforschung, auf den Grundlagen der Abwehrlehre entwickelte – ohne allerdings dieses »Fundament« zu benennen –, Abwehrprozesse sind auch hier am Werk.
Abwehr und Widerstand sind also keineswegs austauschbare Schlagworte, deren man sich beliebig bedienen sollte, wenn der Therapieprozess stockt. Sie zeigen vielmehr bedeutsame Bewältigungsleistungen des Patienten, geben uns wertvolle Hinweise auf seine Struktur, die Nähe zum Therapeuten, den gegenwärtigen therapeutischen Prozess und die Platzierung von Interventionen. In diesem Buch ist nicht der Raum, die sehr umfangreiche Bewältigungsforschung darzulegen, die durch die psychoanalytische Abwehrlehre angestoßen wurde, es sollen aber einige Bezüge aufgezeigt werden, die auf ein integratives Modell als therapeutischen Ansatz hinführen.
2 Abwehr und Widerstand im Alltag, in der Geschichte und in der Psychotherapie
Abwehr und Widerstand begleiten das alltägliche Leben und lassen sich überall finden – auch in der deutschen Geschichte. Besonders deutlich sind sie jedoch in der psychodynamischen Psychotherapie, auch deshalb, weil die Parameter so genau festgelegt sind und Abweichungen, Umdeutungen und Verarbeitungen dann besonders gut erkennbar werden.
2.1 Widerstand und Abwehr als ubiquitäre Phänomene
Abwehr und Widerstand sind ubiquitäre Phänomene, auf die man in vielen Alltagsbereichen und in der Literatur stößt. »Die Marquise von O.« (Kleist, 1808) ist geradezu ein Paradebeispiel von Abwehr. Diese »Krankengeschichte« hätte auch Freud nicht besser formulieren können.
Die Marquise von O. wird vom Grafen vor der Vergewaltigung durch Russen »gerettet«. Während der Graf auf Reisen ist, vermutet die Marquise, dass sie schwanger sei, und wird auch kurze Zeit später von einem Arzt und einer Hebamme darin bestätigt. Daraufhin wird sie von ihrem Vater aus seinem Haus verstoßen und zieht auf einen Landsitz nach V. Dort verfasst die Marquise eine Anzeige, in der sie öffentlich mitteilt, dass sie ohne ihr Wissen in andere Umstände gekommen sei und nun nach dem Vater des Ungeborenen sucht, um ihn aus Rücksicht auf ihre Familie zu heiraten. Es ist der Graf, und sie heiratet ihn auch, aber sie ist sehr distanziert zu ihm. Nach einem Jahr wirbt der Graf ein weiteres Mal um die Marquise von O. und sie heiraten glücklich zum zweiten Mal.
Es ist ein mutiger Schritt der Marquise, sich öffentlich dazu zu äußern; er zeigt, wie komplett wirksam die Abwehrmechanismen der Verdrängung und Verleugnung waren. Ein aktuelleres Beispiel für diese Abwehrmechanismen gibt Navid Kermani, der bereits im Jahr 2005, anlässlich der Wiedereröffnung des Burgtheaters in Wien, von den zahlreichen Flüchtlingen sprach, die über das Meer zu uns kommen. In dieser Rede hat er das Mittelmeer »als das größte Massengrab Europas« bezeichnet. Die Fakten waren klar, aber sie wurden verleugnet, verdrängt und bagatellisiert.
Ganz ähnlich verhielten sich Weimarer Bürger, die von der amerikanischen Armee zwangsweise durch das gerade befreite Konzentrationslager Buchenwald geführt wurden. Die Reaktionen, die in einer Foto- und Filmserie veröffentlicht wurden, reichten von Erschütterung über theatralische Gesten bis zu Ungläubigkeit. Dabei hatten die Weimarer doch jahrelang den besten Ausblick auf die Rauchsäulen in Buchenwald und das KZ unter anderem mit Nahrungsmitteln versorgt.
Auch der Film »Labyrinthe des Schweigens« (2014) mit Alexander Fehling illustriert die Mauer aus Bagatellisierung, Verdrängung, Verleugnung eindrucksvoll. Ein junger Jurist versucht in Frankfurt aufzudecken, dass Nazis noch gegenwärtig – der Film spielt in den 1960er Jahren – hohe Positionen unbeschadet bekleiden, obwohl er nachweisen konnte, welche Verbrechen sie begangen haben. Verleugnung, Verdrängung und Bagatellisierung werden eindrucksvoll vor Augen geführt.
2.2 Abwehr und Widerstand in der Geschichte der Psychoanalyse – bis heute
Auch in der Wissenschaftsgeschichte finden wir viele Beispiele von Abwehr und Widerstand: Als Darwin 1850 seine »Entstehung der Arten« schrieb, entwickelte zeitgleich Wallace eine ebensolche Theorie, die jedoch nicht zur Kenntnis genommen wurde (Bronowski, 1979).
Auch in der Psychoanalyse findet sich Spaltung und Widerstand gegen Neuerungen. Einige Beispiele mögen dies illustrieren: Es ist bekannt, dass sich Jung und Adler von Freud und der Mittwochgesellschaft abwandten und eigene Schulen gegründet haben. Der Streit zwischen Anna Freud und Melanie Klein (»war and peace among the ladies«, Kristeva, 2008) ist legendär und hat zur Gründung zweier kinderanalytischer Schulen in London in unmittelbarer Nähe geführt, die bis heute existieren. Anna Freud war es auch, die sich Bowlbys bindungstheoretischen Ansichten verschloss, obgleich sie mit Bowlby hinsichtlich der Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die kindliche Entwicklung übereinstimmte. Diese Orthodoxie führte dazu, dass Anna Freud den Begriff »attachment behavior« wie ein »Unwort« behandelte und dass es lange zu einer Ausklammerung der Forschungen Bowlbys aus den »heiligen Hallen« der Psychoanalyse kam (Ludwig-Körner,