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Dissoziation: Theorie und Therapie
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eBook577 Seiten5 Stunden

Dissoziation: Theorie und Therapie

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Über dieses E-Book

Wenngleich dissoziative Symptome und Störungen häufig auftreten, werden sie im klinischen Alltag sehr oft nicht erkannt und behandelt. Psychotherapeutische Ansätze zur Behandlung von Dissoziation finden sich kaum, so dass sich viele Kliniker mit dieser Symptomatik unsicher fühlen.

Dieses Buch gibt einen vollständigen und aktuellen Überblick über dissoziative Symptome und Störungen; es beschreibt, wie sie sich ausprägen und was man therapeutisch tun kann.

Im 1. Teil werden Grundlagen dissoziativer Symptome und Störungen ausführlich dargestellt – von der Historie über die Klassifikation bis hin zu Erhebungsinstrumenten, Ätiologie und Neurobiologie. Der 2. Teil ist bestimmten psychiatrischen Störungsbildern gewidmet, bei denen Dissoziation häufig auftritt wie z.B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung, der posttraumatischen Belastungsstörung, aber auch der Schizophrenie. Im 3. Teil wird zunächst die Datenlage zu psychotherapeutischen und pharmakotherapeutischen Ansätzen überblickartig dargestellt. Schließlich wird ein Therapieleitfaden zur Behandlung verschiedenster dissoziativer Symptome und Störungen beschrieben.

Der modulare Aufbau des Leitfadens erlaubt es, das spezifische Vorgehen in der Therapie zu individualisieren. Bei komorbider Symptomatik können die Therapiemodule in einen Gesamtbehandlungsplan integriert werden.

- Aktuell und wissenschaftlich fundiert

- Überblick für Wissenschaftler und Kliniker

- Beschreibung dissoziativer Symptome und Störungen

- Störungsübergreifender modularer Therapieansatz

- Praxisorientiert mit vielen Fallbeispielen und Arbeitsblättern

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum13. Jan. 2014
ISBN9783642350665
Dissoziation: Theorie und Therapie

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    Buchvorschau

    Dissoziation - Kathlen Priebe

    Teil 1

    Psychologische und biologische Grundlagen

    Kathlen Priebe, Christian Schmahl und Christian StiglmayrDissoziation2013Theorie und Therapie10.1007/978-3-642-35066-5_1

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    1. Geschichte des Begriffs Dissoziation

    Kathlen Priebe¹  , Christian Schmahl¹   und Christian Stiglmayr²  

    (1)

    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim, Deutschland

    (2)

    Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaftliche Psychotherapie Berlin, AWP-Berlin, Witzlebenstr. 30a, 14057 Berlin, Deutschland

    Kathlen Priebe (Korrespondenzautor)

    Email: Kathlen.Priebe@zi-mannheim.de

    Christian Schmahl

    Email: Christian.Schmahl@zi-mannheim.de

    Christian Stiglmayr

    Email: Christian.Stiglmayr@awp-berlin.de

    1.1 Zusammenfassung

    Literatur

    Zusammenfassung

    Das heutige Verständnis von Dissoziation geht auf die Hysteriedebatte zurück. Begründer der systematischen wissenschaftlichen Untersuchung von Dissoziation ist Pierre Janet. Unter Dissoziation verstand er den teilweisen bis vollständigen Verlust der bewussten Kontrolle über ein mehr oder weniger großes Muster von Verhaltensweisen oder Erinnerungen, indem diese aus dem Bewusstsein abgespalten werden. Unter Auflösung des Hysteriebegriffs gehen die dissoziativen Störungen 1980 erstmals im DSM-III ein. Die ICD führt erst 1992 mit dem Erscheinen der 10. Auflage (ICD-10) den Begriff der dissoziativen Störungen ein.

    Der Begriff Dissoziation hat eine lange und bewegte Geschichte. Fremdartigkeit und Sensationslust haftet der Geschichte der Dissoziation wie fast keinem anderen Begriff an. Das Spektrum reicht von Berichten über Hexen, Dämonen- und Teufelsbesessenheit, auf Dächern umherwandernden Somnambulen, theatralisch in Ohnmacht fallenden Frauen bis hin zu multiplen Persönlichkeiten wie z. B. Morton Prince´ klassischem Fallbericht über „Miss Beauchamp" (Prince 1901).

    Fallbericht: Miss Beauchamp (Prince 1901)

    Der amerikanische Psychopathologe und spätere Begründer des Journal of Abnormal Psychology Morton Prince schildert in seinem Artikel einen frühen Fall von multipler Persönlichkeit. Es handelt sich hierbei um Miss Beauchamp, eine Genfer Studentin, die im Alter von 23 Jahren von Morton Prince wegen nervöser Reizbarkeit behandelt wurde. Im Laufe der Behandlung stellte sich allerdings heraus, dass die psychische Einheit der Studentin sich in mindestens 3 Persönlichkeitszustände (B I, B II, B III) aufgegliedert hatte. Diese tauchten ohne ersichtliche Regelmäßigkeit auf, wobei jeder für sich behauptete, die wirkliche Miss Beauchamp zu sein. Selbst Morton Prince räumte ein, dass es für ihn schwierig gewesen sei, die Primärpersönlichkeit zu identifizieren.

    B I wusste nichts von den anderen. B II kannte B I, jedoch nicht B III, wohingegen B III sowohl B I wie auch B II kannte. Alle 3 Persönlichkeitszustände unterschieden sich stark durch charakteristische Persönlichkeitseigenschaften. B I wurde von Prince „die Heilige genannt, weil sie ernsthaft und fromm war. Sie spielte Geige und war begierig auf das Studium. B III war das genaue Gegenteil: Sie war wie ein Kind, heiter und gutgläubig. Sie wurde von Prince „Sally genannt. B II war die unter Hypnose auftauchende Repräsentation von B I und B III.

    Die sonst so harmlose Sally hasste jedoch B I, versuchte wann immer möglich, dieser Schaden zuzufügen. So liebte sie Anstrengungen, die B I überforderten, erschreckte B I gerne mit Spinnen und genoss ihr Erschrecken. Eine gestrickte Decke, die B I mühsam für das Kind einer guten Freundin über ein Jahr lang herstellte, trennte Sally wieder auf. So fand sich Miss Beauchamp, als sie wieder einmal zu B I wurde, inmitten von Wollfäden, die um Bilder, Möbel und sie selbst gewickelt waren.

    Auch wenn in den meisten Fällen der Begriff „Dissoziation" als solcher noch nicht benannt wurde, finden sich schon früh, v. a. im Zusammenhang mit hysterischen Phänomenen, Beschreibungen, die durchaus dem heutigen Verständnis von Dissoziation entsprechen. Bis heute findet sich eine Faszination für alles, was dem Bewusstsein und damit der unmittelbaren Kontrolle nicht direkt zugänglich, d. h. dissoziiert ist.

    Die Wiege der Dissoziation stellt das mittlerweile veraltete Konzept der Hysterie dar. Das griechische Wort „Hystera bezeichnet die Gebärmutter. In der antiken Vorstellung zu Zeiten von Hippokrates und Platon wandert die Gebärmutter auf der Suche nach Befruchtung begierlich durch den Körper der Frau. Aufgrund der damit einhergehenden unvermeidlichen Raumforderungen kommt es zu hysterischen Phänomenen wie z. B. Erstickungsanfällen, Ohnmachtsanfällen, Lähmungen oder Wahrnehmungsstörungen. Betroffen sein konnten von dieser Problematik folglich nur Frauen. Einer der häufigsten damaligen Behandlungsvorschläge sah folgerichtig die Befruchtung bzw. sexuelle Befriedigung der Frau vor. Hierzu ganz gegensätzlich war im christlich geprägten Mittelalter die „Behandlung v. a. durch die Austreibung alles Sexuellen aus dem Körper der Frau gekennzeichnet. Die Vorstellung einer Besessenheit von Dämonen oder Teufeln, die für die hysterischen Symptome verantwortlich zeichneten, griff zunehmend um sich. Zur Behandlung gab es entsprechende Anleitungen wie z. B. den Hexenhammer (lat. Malleus Maleficarum) des Dominikanermönchs Heinrich Kramer (1430–1505; 2003) aus dem Jahr 1486. Nicht zuletzt aufgrund solcher Veröffentlichungen endeten viele Frauen mit hysterischer Symptomatik vorzeitig auf dem Scheiterhaufen (Abb. 1.1).

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    Abb. 1.1

    Hexenverbrennung. (Unbekannter Künstler; Quelle: Wikimedia Commons)

    Noch lange nach der Hexenverfolgung hielt sich die Annahme, dass von der Erkrankung ausschließlich Frauen betroffen seien und die Behandlung entsprechend gynäkologisch zu erfolgen habe. Gleichzeitig machte sich jedoch die Überzeugung breit, dass die Ursachen für die hysterischen Symptome eher nervenbedingt sind. So war Pierre Pomme (1735–1812; Pomme u. Berkenhout 2010) der Meinung, dass der durch ein Ausbleiben der Regelblutung entstehende Blutstau und der damit einhergehende Druck zu einer Verkleinerung des Nervensystems führt. Die entsprechende Behandlungsmethode war der Aderlass. Ein wesentlicher Verdienst Pomme´s war jedoch seine Annahme, dass ein solcher Blutstau auch durchaus bei Männern vorkommen kann, bedingt z. B. durch Darmverstopfungen. Pomme bezeichnete die „Hysterie des Mannes als Hypochondrie. Thomas Sydenham (1624–1689; Rohatzsch 1838) stellte schließlich fest, dass auch durchaus Männer den Frauen identische hysterische Symptome entwickeln können, wobei Frauen solcherart Symptome entwickeln, wenn sie zu hart arbeiten, Männer hingegen, wenn diese zu häufig sitzende Tätigkeiten ausüben. Zudem verstand Sydenham die hysterischen Symptome von Mann und Frau erstmals als Gemüts- und Gefühlsbeschwerden („Affectio Hysterica). In der Folge wurde der Begriff „Hypochondrie" zunehmend zur Bezeichnung der Überzeugung benutzt, von Krankheiten befallen zu sein. Es war schließlich Robert B. Carter (1828–1918; Carter 1853), der auf Grundlage der Veröffentlichungen von Sydenham als Ursache für hysterische Symptome zum einen eine erhöhte emotionale Labilität und zum anderen traumatische Erfahrungen ausmachte. Es wurden zunehmend häufig Fallberichte veröffentlicht, die in ihrer Beschreibung denen dissoziativer Zustände ähnelten, allen voran kataleptische (anfallsartige Bewegungslosigkeit) wie auch somnambule Zustände (Schlafwandeln) (Abb. 1.2).

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    Abb. 1.2

    Hémi-léthargie et hémi-catalepsie. (Aus: Iconographie photographique de la Salpêtrière 1876, Fotografie: Paul Regnard; Quelle: Wikimedia Commons)

    Wenn auch die Hypnose als Behandlungsmaßnahme schon vorher von James Braid (1795–1860) erfunden wurde – wobei bis dato zumeist im Rahmen von Bühnenaufführungen genutzt –, war es Hippolyte Bernheim (1840–1919; Guillemain 2010), der zeigen konnte, dass viele der hysterischen Symptome unter Hypnose hervorrufbar waren (bereits zuvor konnte gezeigt werden, dass durch Hypnose hysterische Symptome verschwinden konnten). Zudem entdeckte er den „posthypnotischen Auftrag, d. h. die Möglichkeit, einer betreffenden Person während der Hypnose Befehle zu erteilen, die er im Anschluss ohne jegliche Erinnerung an den Auftrag erfüllte. Dadurch wurde auf einmal deutlich, wie „nicht bewusste Erinnerungen einen direkten Einfluss auf das Bewusstsein haben können.

    Jean-Martin Charcot (1825–1893), der Begründer der modernen Neurologie, setzte sich auf systematisch-wissenschaftliche Art und Weise mit den zunehmend häufig beschriebenen hysterischen Phänomenen auseinander. Auf der Suche nach neuen Erklärungsmodellen richtete er eine spezielle Station für „Krampfkranke" in der Pariser Salpêtrière ein (Abb. 1.3).

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    Abb. 1.3

    Une leçon clinique à la Salpêtrière. (Gemälde von André Brouillet 1887; Quelle: Wikimedia Commons)

    Charcot gelang mittels Hypnose auch die Behandlung von posttraumatischen Lähmungen bei Männern nach einem Eisenbahnunfall. Zwei sehr prominente Schüler Charcots waren Sigmund Freud (1856–1939) und der französische Psychologe Pierre Janet (1859–1947). Beide schlossen sich der Auffassung Charcots an, dass der Hysterie zwar keine organische Genese zugrunde liegt, es sich jedoch gleichzeitig um eine schwerwiegende Erkrankung handelt, die einer entsprechenden Behandlung zuzuführen ist. Als Ursache nahmen Charcot und seine Schüler traumatische Erlebnisse an, die in den hysterischen Symptomen ihre Auswirkungen fanden. Janet (1889¹,1989) wies darauf hin, dass er hierbei einen Zusammenhang zwischen emotionaler Übererregung und den fraglichen Symptomen vermutete. Zur Beschreibung des zugrundeliegenden Prozesses benutzte er in diesem Zusammenhang den Begriff Dissoziation. Janet verstand darunter den teilweisen bis vollständigen Verlust der bewussten Kontrolle über ein mehr oder weniger großes Muster von Verhaltensweisen oder Erinnerungen. Der basale Pathomechanismus der Dissoziation bestand Janet zufolge in der Abspaltung bestimmter Erlebnisanteile aus dem Bewusstsein (Janet 1907). Die dissoziierten Erfahrungs-, Reaktions- und Funktionssysteme entziehen sich demnach dem Bewusstsein, bleiben jedoch weiterhin aktiv und sind in der Folge für die dissoziativen Phänomene verantwortlich. Davon betroffen sein können sowohl körperliche (z. B. Schmerzreize, eine bestimmte Bewegung, ein Geruch oder Geschmack) wie auch psychische Komponenten (z. B. Amnesie bzgl. bestimmter Erfahrungen und Gefühle). Indem Janet dissoziative Phänomene auf vielen hundert Seiten seiner Dissertation detailliert beschrieb und klassifizierte, legte er Ende des 19. Jahrhunderts den Grundstein für die systematische wissenschaftliche Erforschung derselben (Janet 1889 ¹,1889). Wie sich weiter unten zeigen wird, war Janets Verständnis von Dissoziation der damaligen Zeit weit voraus. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die erstmalige Erwähnung des Begriffs „Dissoziation" nicht auf Janet zurückgeht. Stattdessen findet der Begriff erstmals 1845 bei dem französischen Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours (1804–1884) im Rahmen seiner Experimentaluntersuchungen zu den Auswirkungen des Haschischkonsums Verwendung. Er stellte hierbei fest, dass es unter Drogeneinwirkung zu einer Abspaltung von Ideen kommt, die als nicht der eigenen Person zugehörig empfunden werden.

    Im Gegensatz zu Janet, der dissoziative Phänomene als Ausdruck passiver mentaler Prozesse verstand, die auf eine autoregulative Verarbeitung traumatischer Prozesse rückschließen lassen, ging Freud (Übersicht: Mentzos 1986) von aktiven mentalen Verdrängungsprozessen als Grundlage solcher Phänomene aus. Hysterische Symptome entstehen demzufolge aus einem Konflikt zwischen ins Bewusstsein drängenden, meist sexuellen Wünschen und Fantasien und dem Bestreben, diese Wünsche nicht zuzulassen. Gelöst wird der Konflikt, indem die Triebregungen in ein Körpersymptom umgewandelt werden, das den Konflikt symbolhaft darstellt. Diesen zentralen Mechanismus bezeichnet Freud unter strenger Vermeidung des Begriffs „Dissoziation" als Konversionsprozess . Hierbei orientierte sich das Interesse v. a. an den körperbezogenen Hysteriesymptomen, da diese deutlich häufiger beobachtet wurden. Im Gegensatz zu Janet, der als Ursache für dissoziative Störungen auch traumatische Ereignisse im Erwachsenenalter für möglich hielt, musste Freud zufolge die eigentliche Ursache vor dem 4. Lebensjahr liegen. Unter dem Einfluss dieses psychoanalytischen Konversionsmodells geriet der Dissoziationsbegriff lange Zeit in Vergessenheit. Erst mit der Einführung moderner Klassifikationssysteme wurde der Begriff zunächst teilweise, schließlich gänzlich reaktualisiert.

    Während des 1. und 2. Weltkriegs wurde beobachtet, dass bei Frontsoldaten dissoziative Symptome auch in Folge traumatischer Erlebnisse auftreten können. So zeigten einige der Soldaten deutliche Erinnerungslücken hinsichtlich zurückliegender Kampfhandlungen (retrograde Amnesie) oder fanden sich an einem anderen Ort wieder, ohne darüber Auskunft geben zu können, wie sie zu diesem Ort gekommen waren (Fugue). Zu Forschungszwecken wurde daraufhin in der ersten Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals für Psychische Störungen (DSM-I; APA 1952) eine Trennung zwischen Dissoziation („dissociative reaction = Amnesie und die damit assoziierten Symptome) und Konversion („conversion reaction = hysterische Körpersymptome) eingeführt. Im DSM-II (APA 1968) setzte sich die psychoanalytische Tradition allerdings wieder durch: Unter der Überschrift „hysterische Neurose fanden sich beide Symptomgruppen wieder zusammengefasst. Als Reminiszenz an die Janet´sche Tradition wurde allerdings eine Trennung in „hysterische Neurose , Konversionstypus und „hysterische Neurose, dissoziativer Typus eingeführt. Unter dem Eindruck der traumatischen Auswirkungen des Vietnamkrieges und der mittlerweile empirisch gesicherten Beobachtungen, dass dissoziative Phänomene auch unabhängig von psychosexuellen Konflikten und hysterischen Persönlichkeitsstrukturen auftreten können, wurde im DSM-III (APA 1980) das bis dahin völlig überfrachtete Hysteriemodell aufgelöst. Diese Sichtweise ist bei der Entwicklung des DSM-III-R (APA 1987) sowie des DSM-IV (APA 1941,1996) beibehalten worden. Ehemals hysterische Störungen, die sich auf rein psychischem Niveau subsummieren lassen (Amnesien, Trance, Besessenheit, Dämmerzustände, Fugue, multiple Persönlichkeit), wurden als dissoziative Störungen bzw. als dissoziative Bewusstseinsstörungen klassifiziert; ehemals hysterische Störungen mit früh beginnenden, multiplen und vagen Beschwerden in verschiedensten Organsystemen (z. B. Kopf- oder Gesichtsschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, sexuelle Gleichgültigkeit) wurden als Somatisierungsstörung en unter den somatoformen Störungen eingeordnet. Pseudoneurologische Körpersymptome (z. B. Koordinations- oder Gleichgewichtsstörungen, Lähmung- oder Muskelschwäche, Flüsterstimme, Blindheit) wurden als Konversionsstörung en ebenfalls unter der Kategorie der somatoformen Störungen geführt. Unter Umgehung des Begriffs „hysterisch findet sich im Kapitel „Persönlichkeitsstörungen" die histrionische Persönlichkeitsstörung . Mit dieser Neuordnung fand Janets frühes Verständnis von Dissoziation eine späte Würdigung. In dem neu erschienenen DSM-5 (APA 2013) wurde diese Einteilung im Wesentlichen beibehalten, erhielt jedoch teilweise eine Neuordnung (Abschn. 2.​1).

    Mit dem Erscheinen der aktuellen 10. Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10) im Jahr 1992 führte schließlich auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Begriff der dissoziativen Störungen ein.

    1.1 Zusammenfassung

    Das heutige Verständnis von Dissoziation geht auf die Hysteriedebatte zurück. Begründer der systematischen wissenschaftlichen Untersuchung von Dissoziation ist Pierre Janet. Unter Dissoziation verstand er den teilweisen bis vollständigen Verlust der bewussten Kontrolle über ein mehr oder weniger großes Muster von Verhaltensweisen oder Erinnerungen, indem diese aus dem Bewusstsein abgespalten werden. Unter Auflösung des Hysteriebegriffs gehen die dissoziativen Störungen 1980 im DSM-III erstmals ein. Die ICD führt erst 1992 mit dem Erscheinen der 10. Auflage (ICD-10) dissoziative Störungen ein.

    Literatur

    American Psychiatric Association (APA) (1952) Diagnostic and statistical manual of mental disorders DSM-I, 1. Aufl. American Psychiatric Association, Washington DC

    American Psychiatric Association (APA) (1968) Diagnostic and statistical manual of mental disorders DSM-II, 2. Aufl. American Psychiatric Association, Washington DC

    American Psychiatric Association (APA) (1980) Diagnostic and statistical manual of mental disorders DSM-III, 3. Aufl. American Psychiatric Association, Washington DC

    American Psychiatric Association (APA) (1987) Diagnostic and statistical manual of mental disorders DSM-III-R, 3. rev Aufl. American Psychiatric Association, Washington DC

    American Psychiatric Association (APA) (1996) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-IV (deutsche Bearbeitung und Einleitung: Saß H. Wittchen H-U, Zaudig M). Hogrefe, Göttingen (engl 1994: Diagnostic and statistical manual of mental disorders DSM-IV, 4. Aufl)

    American Psychiatric Association (APA) (2013) Diagnostic and statistical manual of mental disorders, DSM-5. American Psychiatric Association, Washington DC

    Carter RB (1853) On the pathology and treatment of hysteria. Churchill, London

    Guillemain H (2010) La méthode coué: histoire d’une pratique de guérison au XXe siècle. Seuil, Paris

    Janet P (1889) L´Automatisme Psychologique, Reprint 1989. Société Pierre Janet, Paris

    Janet P (1907) The major symptoms of hysteria. Macmillan, New YorkCrossRef

    Kramer H (2003) Der Hexenhammer – Malleus maleficarum, 3. rev Aufl. dtv, München

    Mentzos S (1986) Hysterie. Fischer, Frankfurt

    Moreau de Tours JJ (1845) Du haschisch et de l´aliénation mentale: Études psychologiques. Fortin, Masson & Cie, Paris (engl: Hashish and mental illness. Masson, Paris)

    Pomme P, Berkenhout J (2010) A treatise on hysterical and hypochondriacal diseases: in which a new and rational theory is proposed, and a … cure recommended … Nabu Press (Reprint der Erstveröff 1777)

    Prince M (1901) The development and genealogy of the Misses Beauchamp: A premininary report of a case of multiple personality. Proc Soc Psychol Res 15: 466–483

    Rohatzsch R (Hrsg) (1838) Thomas Sydenham’s sämmtliche medicinische Schriften in die deutsche Sprache übersetzt von J. Kraft herausgegeben mit einer Lebensbeschreibung von Dr. R. Rohatzsch. Erster Band. Ebnersche Buchhandlung, Ulm

    World Health Organisation (WHO) (1991). Internationale Klassifikation psychischer Krankheiten. Klinisch-diagnostische Leitlinien nach Kapitel V (F) der ICD-10. (1. Aufl.; Hrsg: Dilling H, Mombour W, Schmidt MH). Huber, Bern

    Kathlen Priebe, Christian Schmahl und Christian StiglmayrDissoziation2013Theorie und Therapie10.1007/978-3-642-35066-5_2

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    2. Klassifikation und Phänomenologie

    Kathlen Priebe¹  , Christian Schmahl¹   und Christian Stiglmayr²  

    (1)

    Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5, 68159 Mannheim, Deutschland

    (2)

    Arbeitsgemeinschaft für Wissenschaftliche Psychotherapie Berlin, AWP-Berlin, Witzlebenstr. 30a, 14057 Berlin, Deutschland

    Kathlen Priebe (Korrespondenzautor)

    Email: Kathlen.Priebe@zi-mannheim.de

    Christian Schmahl

    Email: Christian.Schmahl@zi-mannheim.de

    Christian Stiglmayr

    Email: Christian.Stiglmayr@awp-berlin.de

    2.1 Klassifikation

    2.1.1 Dissoziative Symptome

    2.1.2 Dissoziative Störungen

    2.2 Phänomenologie

    2.2.1 Dissoziative Symptome

    2.2.2 Dissoziative Störungen

    2.3 Epidemiologie und Verlauf

    2.3.1 Dissoziative Symptome

    2.3.2 Dissoziative Störungen

    2.3.3 Dissoziative Amnesie

    2.3.4 Dissoziative Fugue

    2.3.5 Dissoziative Identitätsstörung

    2.3.6 NNB dissoziative Störung-1

    2.3.7 Depersonalisationsstörung

    2.3.8 Konversionsstörungen

    2.3.9 Dissoziativer Stupor

    2.3.10 Trance - und Besessenheitszustände

    2.3.11 Dissoziative Bewegungsstörungen

    2.3.12 Dissoziative Krampfanfälle

    2.3.13 Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen

    2.3.14 Ganser-Syndrom

    2.4 Abgrenzung zwischen normaler und pathologischer Dissoziation

    2.4.1 Zusammenfassung

    Literatur

    Zusammenfassung

    Sowohl die ICD-10 als auch das DSM-5 verstehen unter Dissoziation einen psychophysiologischen Prozess, dessen wesentlichstes Charakteristikum in einer Desintegration der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Wahrnehmung der Umwelt sowie der Sensorik, Sensibilität und Motorik besteht. Absorptionsphänomene sowie Gefühle von Losgelöstheit und Taubheit gelten als „normale", nicht pathologische Dissoziation. Andere dissoziative Zustände treten vorrangig in Extremsituationen auf, allen voran Amnesie, Depersonalisations- und Derealisationsphänomene sowie Veränderungen in der Identität. Die Lebenszeitprävalenz für schwerwiegende dissoziative Symptome liegt in der Allgemeinbevölkerung bei ca. 3 %, in klinischen Populationen zwischen 14 und 30 %. Nicht pathologische dissoziative Phänomene kommen in der Allgemeinbevölkerung bei nahezu 100 % der Befragten vor.

    Wenngleich weitgehende Einigkeit darüber besteht, was definitorisch unter Dissoziation zu verstehen ist, herrscht doch bis heute ein großer Dissens darüber, welche Symptome zur Dissoziation hinzu gezählt werden sollen. Diese Uneinigkeit spiegelt sich sehr deutlich in den einschlägigen Klassifikationssystemen wieder. Aber auch in der phänomenologischen Beschreibung dissoziativer Symptome findet diese Unschärfe ihren Niederschlag. In den nachfolgenden Kapiteln versuchen wir, trotz der bestehenden heterogenen Betrachtungsweisen, eine für den Leser transparente und nachvollziehbare Beschreibung der Klassifikation und Phänomenologie dissoziativer Störungen und Symptome zu geben.

    2.1 Klassifikation

    2.1.1 Dissoziative Symptome

    Begrifflich meint Dissoziation das Gegenteil von Assoziation. Unter Dissoziation wurde in der US-amerikanischen Tradition bis einschließlich der 4. Ausgabe des Statistischen und Diagnostischen Manuals für Psychische Störungen (DSM-IV; APA 1994 ¹, 1996) ein psychophysiologischer Prozess verstanden, dessen wesentlichstes Charakteristikum in einer Desintegration der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt besteht. Die Internationale Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10; WHO 1993) weitete im Unterschied zum DSM das Merkmal des Integrationsverlust s auf die neurophysiologischen Funktionen der Sensorik, Sensibilität sowie Motorik aus (z. B. Koordinations- oder Gleichgewichtsstörungen, Lähmung- oder Muskelschwäche, Flüsterstimme, Blindheit). Damit folgte die ICD-10 sehr stark dem Janet´schen Verständnis von Dissoziation, nämlich dass sowohl körperliche wie auch psychische Komponenten betroffen sein können. Für eine solche Zusammenlegung spricht auch die Beobachtung, dass beide Symptombereiche sehr häufig gemeinsam auftreten (z. B. Saxe et al. 1994) und damit Ausdruck eines gemeinsamen Prozesses sind (Brown et al. 2007; Nemiah 1988a, 1988b; Nijenhuis 2009). Gleichzeitig belegen Studien zu Konversionsstörung en ein ähnliches Ausmaß an dissoziativen Symptomen, wie dies bei dissoziativen Störungen auf rein psychischem Niveau der Fall Ist (z. B. Prüter et al. 2002; Spitzer et al. 1999). Freyberger und Mitarbeiter (1998) bemerken hierzu, dass die Annäherung einen Fortschritt darstellt, „da Dissoziation als ‚integrierender und basaler Pathomechanismus´ bei den dissoziativen und Konversionsstörungen eine wichtige Rolle spielt" (S. 224). Dieser Sichtweise schließt sich das DSM in seiner neuesten Ausgabe an (DSM-5; 2013), sieht eine Unterbrechung oder Diskontinuität der Körperwahrnehmung, der Motorik und des Verhaltens nunmehr als integralen Bestandteile dissoziativer Störungen. Explizit erwähnt das DSM zusätzlich die Emotion als weitere betroffene Entität.

    Wir folgen im weiteren Verlauf des Buches dem europäischen Verständnis der ICD-10, weisen jedoch auf Unterschiede zum DSM-5 an gegebener Stelle hin. Gleichzeitig schließen wir uns der Einschränkung der ICD-10 an, körperbezogene Symptome ausschließlich auf Funktionen der Sensorik, Sensibilität und Motorik (Konversionsymptome) zu reduzieren. Damit grenzen wir uns von der Verwendung des Begriffs „somatoforme Dissoziation" zur Beschreibung körperorientierter dissoziativer Symptome, wie er von Nijenhuis (2004) angewendet wird, ab. Nijenhuis schließt unter diesem Begriff zusätzlich alle somatoformen Störungen ein, d. h. auch Schmerzsymptome oder gastrointestinale Symptome. Wir haben uns für dieses Vorgehen entschieden, um eine Vermengung mit dem Begriff „somatoforme Störungen", wie er in den Klassifikationssystemen zur Anwendung kommt, zu vermeiden.

    Zu den psychischen Symptomen zählt ein breites Spektrum an Störungen des Integrationsprozesses , die folgende Bereiche betreffen können:

    Bewusstsein,

    Identität,

    Gedächtnis,

    Kognition,

    Affekt.

    Körperbezogenen Symptome können folgende Bereiche betreffen:

    Bewegung,

    Sinnesempfindungen.

    2.1.2 Dissoziative Störungen

    Grundsätzlich muss zwischen dissoziativen Symptomen und dissoziativen Störungen unterschieden werden. Eine Störung liegt nur dann vor, wenn dieser Zustand die alltägliche Funktionsfähigkeit beeinträchtigt bzw. subjektives Leiden zur Folge hat (APA 2013). Meist handelt es sich bei dissoziativen Störungen um spezifische Ausformungen von Clustern dissoziativer Einzelsymptome.

    Für das DSM-5 wurden einige grundlegende Veränderungen vorgenommen (Spiegel et al. 2011, 2013; APA 2013). Verantwortlich hierfür ist die Anxiety, Obsessive-Compulsive Spectrum, Posttraumatic, and Dissociative Disorders Work Group. Es bestand Einigkeit darin, die unterschiedlichen Definitionen im aktuellen DSM-IV-TR (APA 2003) sowie ICD-10 zu einer neuen Definition zusammenzuführen. So schließt sich das DSM-5 beispielsweise weitgehend der Sichtweise der ICD-10 an, dass die Depersonalisations- und Derealisationsstörung zusammengelegt werden sollten und dass Störungen der Körperbewegungen Bestandteil dissoziativer Störungen sind. Trotzdem bleiben die Konversionsstörungen weiterhin Bestandteil der ehemals somatoformen Störungen (DSM-5: Störungen mit somatischen Symptomen und verwandte Störungen), mit der Begründung, dass der symptomatologische Zusammenhang zwischen Konversionsstörungen und somatoformen Störungen stärker ausfällt als zwischen Konversionsstörungen und dissoziativen Störungen (z. B. Sar et al. 2004). Folgende Einzelstörungen sind demnach Bestandteil der dissoziativen Störungen im DSM-5:

    Depersonalisations-/Derealisationsstörung,

    dissoziative Amnesie (einschließlich dissoziativer Fugue),

    dissoziative Identitätsstörung,

    andere spezifische dissoziative Störungen,

    unspezifische dissoziative Störungen (NNB dissoziative Störungen).

    Die dissoziative Fugue zählt im DSM-5 nicht mehr als eigenständige Störung, sondern wird unter der dissoziativen Amnesie geführt. Eine dissoziative Amnesie mit dissoziativer Fugue erhält jedoch eine eigene Kodierungsnummer, nämlich die, die sie auch im DSM-IV-TR hatte.

    Die vormals im DSM-IV-TR zusammen veranlagten Trance- und Besessenheitszustände (unter der nicht näher bezeichneten dissoziativen Störung, NNB) werden im DSM-5 nun getrennt aufgeführt. Trancezustände finden sich unter den anderen spezifischen dissoziativen Störungen, Besessenheitszustände hingegen als eine Variante der DIS.

    Mit Einführung des DSM-5 wurde als Ersatz für die somatoformen Störungen eine neue Kategorie eingeführt, die der „Störungen mit somatischen Symptomen und verwandte Störungen" (Somatic Symptom and related Disorders). Vor allem durch eine deutliche Reduktion der Anzahl der Störungen innerhalb dieser Kategorie soll nun der geringen Trennschärfe zwischen den einzelnen somatoformen Störungen im DSM-IV-TR begegnet werden.

    Wie in Tab. 2.1 dargestellt, fasst damit das DSM-5 identisch zum DSM-IV-TR auch weiterhin fast sämtliche Störungen mit einer körperlichen Symptomatik unter den Störungen mit somatischen Symptomen und verwandte Störungen zusammen, wohingegen die ICD-10 hier eine Unterscheidung vornimmt: Die im DSM-5 als Konversionsstörungen benannten Symptome finden sich unter den dissoziativen Störungen; nur Symptome mit Beschwerden in verschiedensten Organsystemen finden sich dort unter den somatoformen Störungen (Abb. 2.1). Den beiden Klassifikationssystem gemeinsam ist, dass der Konversionsstörung bzw. den körperbezogenen dissoziativen Störungen häufig Belastungsfaktoren oder Konflikte vorausgehen, die Diagnosen aber auch vergeben werden dürfen, wenn sich ein solcher Zusammenhang nicht feststellen lässt.

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    Abb. 2.1

    Zuordnung der dissoziativen und somatoformen Störungen in DSM-5 und ICD-10

    Tab. 2.1

    Ehemals hysterische Störungen in ICD-10 und DSM-5

    Ein weiterer interessanter Unterschied zwischen den beiden Klassifikationssystemen findet sich in der inhaltlichen Ausgestaltung des Begriffs „Konversion . Traditionell meint Konversion die Überführung eines Konflikts oder einer psychischen Belastung in ein symbolhaftes körperliches Symptom, meist in Form neurologischer Ausfallerscheinungen. Genau diese Definition wird im DSM-5 für die dort aufgeführten Konversionsstörungen übernommen. In der ICD-10 wird diese Symptomatik hingegen unter den dissoziativen Symptomen geführt, jedoch nicht explizit als Konversionsstörungen benannt. Stattdessen wird der Begriff „Konversionsstörungen als Synonym für den Begriff „dissoziative Störungen benutzt. Ziel dieses Vorgehens in der ICD-10 ist die Kennzeichnung, dass allen, körperlichen wie auch psychischen Symptomen, derselbe Pathomechanismus zugrunde liegt. Wir schließen uns im weiteren Vorgehen der traditionellen Verwendung des Begriffs „Konversion an und meinen damit folglich ausschließlich pseudoneurologische Ausfallerscheinungen.

    Wie in Tab. 2.1 jedoch auch deutlich wird, sind die beiden Konzepte hinsichtlich der Einordnung ehemals hysterischer Symptome, die sich auf rein psychischem Niveau abbilden, weitgehend gleich – mit Ausnahme der Derealisations- und Depersonalisationsstörung. Im europäischen Verständnis werden Depersonalisation und Derealisation als Ich-Störungen angesehen, die eng mit dem Schizophreniekonzept verbunden sind (Jaspers 1913; Scharfetter 1999). Zudem erwähnt die ICD-10, dass im Gegensatz zu den dissoziativen Störungen Depersonalisation und Derealisation nicht mit Leistungseinbußen in den Bereichen Wahrnehmung, Gedächtnis und Bewegung einhergehen. In der ICD-10 wird das Depersonalisations-/Derealisationssyndrom entsprechend nicht wie im DSM-5 als dissoziative Störung, sondern unter den „sonstigen neurotischen Störungen" geführt.

    Ehemals hysterische Symptome mit früh beginnenden multiplen und vagen Beschwerden in verschiedensten Organsystemen werden in der ICD-10 als Somatisierungsstörungen unter den somatoformen Störungen geführt, im DSM-5 als Störung mit somatischen Symptomen unter den Störungen mit somatischen Symptomen und verwandten Störungen. Unter derselben Rubrik werden auch Schmerzen benannt, die keiner oder nur unzureichend einer körperlichen Ursache zugeordnet werden können. Einigkeit besteht auch hinsichtlich der Einordnung der histrionischen Persönlichkeitsstörung . Auch dissoziativer Stupor , Trance- und Besessenheitszustände sowie das Ganser-Syndrom werden einheitlich als dissoziative Störungen benannt. Allerdings werden im DSM-5 diese Störungen nicht als eigene Kategorie geführt, sondern unter den anderen spezifischen dissoziativen Störungen subsumiert, und der Begriff Stupor wird dort in einer anderen Bedeutung als in der ICD-10 benutzt (siehe hierzu ▶ Abschn. 2.2.2). Im Übrigen sind unter dieser Kategorie auch Fälle subsumiert, die „einer dissoziativen Identitätsstörung ähneln, jedoch nicht sämtliche Kriterien für diese Störung erfüllen." (APA 2013, S. 292; Übersetzung durch die Autoren ▶ Abschn. 2.2.2).

    Auch wenn die ICD-10 und das DSM-5 damit die meisten der genannten Störungen einheitlich als dissoziative Störungen ansehen, kommen sie doch zu einer gänzlich unterschiedlichen Bewertung derselben: Die ICD-10 sieht die Vergabe einer eigenständigen Diagnose für die Störungen dissoziativer Stupor, Trance- und Besessenheitszustände sowie Ganser-Syndrom als gerechtfertigt an, das DSM-5 bleibt hier, wie bereits im DSM-IV-TR, deutlich zurückhaltender. Gleichwohl muss ergänzend erwähnt werden, dass auch den Autoren der ICD-10 die Anerkennung der Diagnose Ganser-Syndrom schwer fiel, sonst hätten sie diese nicht unter die Überschrift „andere dissoziative Störungen subsumiert. Dasselbe Vorgehen haben die Autoren übrigens auch für die Diagnose „multiple Persönlichkeitsstörung gewählt. Bereits der erste Satz in der Kriterienbeschreibung wirft entsprechend eher Fragen auf, als dass er Antworten gibt: „Diese Störung ist selten, und es wird kontrovers diskutiert, in welchem Ausmaß sie iatrogen oder kulturspezifisch ist." (ICD-10, S. 169; ▶ Abschn. 2.2.2).

    2.2 Phänomenologie

    Nachfolgend werden die unter ▶ Abschn. 2.1.1 und ▶ Abschn. 2.1.2 aufgeführten Symptome und Störungen näher beschrieben. Wir folgen hierbei dem europäischen Verständnis und beziehen körperbezogene dissoziative Symptome und Störungen mit ein.

    2.2.1 Dissoziative Symptome

    Dissoziative Symptome begleiten sehr viele psychische Störungen (Sar u. Ross 2006) oder sind sogar, wie z. B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder der Panikstörung , integraler Bestandteil derselben. In einer repräsentativen Untersuchung der Allgemeinbevölkerung erfüllte die Gruppe mit mindestens 3 dissoziativen Symptomen im Vergleich zu Personen ohne dissoziative Symptome 4-mal so viele psychiatrische Diagnosen (Mulder et al. 1998). Einen Überblick über dissoziative Symptome gibt Tab. 2.2.

    Tab. 2.2

    Beispiele dissoziativer Symptome. (Adapt. nach Stiglmayr et al. 2010 [DSS] und Spitzer et al. 2005 [FDS])

    Grundlage unserer symptombezogenen Zuordnungen stellt das AMDP-System dar (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2007). Zur besseren Abgrenzung zu psychotischen Erkrankungen (Kap. 7) folgen wir dem AMDP-System allerdings nicht hinsichtlich der Zuordnung der Depersonalisations- und Derealisationsphänomene zu den Ich-Störungen. Stattdessen sind wir der Meinung, dass es sich bei der Depersonalisation wie auch der Derealisation um prototypische dissoziative Symptome handelt.

    Psychische Symptome

    Auch wenn sich zahlreiche psychische Symptome nicht nur einer der Kategorien wie z. B. Störungen des Bewusstseins, Störungen der Identität etc. zuordnen lassen, soll nachfolgend der Versuch unternommen werden, eine solche in Abhängigkeit vom Schwerpunkt der Symptomatik vorzunehmen. Bis heute existiert zudem eine große Unsicherheit, welche Symptome überhaupt zur Dissoziation hinzuzuzählen sind. Aufbauend auf unsere klinischen Erfahrungen haben wir uns auf eine Auswahl an dissoziativen Symptomen festgelegt. Dies betrifft v. a. den Einbezug von Depersonalisations-, Derealisations- und Konversionssymptomen bei gleichzeitigem Ausschluss weiterer somatoformer Symptomatik. Weitere Details finden sich in den nachfolgenden Beschreibungen.

    Störungen des Bewusstseins

    Störungen des Bewusstseins betreffen die Wachheit bzw. Quantität (Vigilanz) sowie die Klarheit bzw. Qualität des Bewusstseins. Eine eingeschränkte Wachheit (Bewusstseinsminderung) reicht von Benommenheit über Schläfrigkeit bis hin zu Bewusstlosigkeit (Koma). Beispiele für eine eingeschränkte Wachheit im Rahmen von Dissoziation sind Tagträume bis hin zu Ohnmachtsanfällen. Die Klarheit des Bewusstseins kann in Bewusstseinseintrübung, Bewusstseinseinengung sowie Bewusstseinsverschiebung bzw. -erweiterung unterteilt werden. Die Bewusstseinseintrübung betrifft v. a. das Verständnis vom Zusammenhang zwischen der eigenen Person und der Umwelt. Zu den Phänomenen der Bewusstseinseintrübung zählen u. a. eine eingeschränkte Auffassungsgabe oder eine erhöhte Ablenkbarkeit. Diese Phänomene sind mehr oder weniger Bestandteil der meisten dissoziativen Symptome, wie dies z. B. bei Personen der Fall ist, die ihre Umgebung nicht mehr oder nur noch teilweise wahrnehmen. Phänomene der Bewusstseinseinengung betreffen v. a. die Reduktion des gesamten Erlebens und Verhaltens auf wenige Themen. Beispiele hierfür sind Absorptionsphänomene , z. B. von einem Film gebannt und in der Folge nicht mehr oder nur noch

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