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Pathologisches Horten: Praxisleitfaden zur interdisziplinären Behandlung des Messie-Syndroms
Pathologisches Horten: Praxisleitfaden zur interdisziplinären Behandlung des Messie-Syndroms
Pathologisches Horten: Praxisleitfaden zur interdisziplinären Behandlung des Messie-Syndroms
eBook430 Seiten4 Stunden

Pathologisches Horten: Praxisleitfaden zur interdisziplinären Behandlung des Messie-Syndroms

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Über dieses E-Book

Das Messie-Syndrom oder pathologisches Horten – eine neue psychische Störung: Fast jeder Mensch kennt Situationen, in denen es schwerfällt, sich von Gegenständen zu trennen, so dass sich rasch Unordnung ausbreitet. Bei manchen ist das nur eine Lade oder betrifft ausschließlich das Auto oder ein Zimmer. Bei manchen Menschen jedoch betrifft es den gesamten Lebensbereich und führt zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität. Was sind die Chancen und Schwierigkeiten einer psychischen Diagnose? Nach welchen Kriterien kann das Phänomen diagnostisch erfasst werden? Wie entsteht und entwickelt sich das pathologische Horten? Wie kann man Betroffene professionell psychotherapeutisch und psychosozial begleiten und behandeln? 

Die Autorin diskutiert diese und weitere Fragen auf Basis psychoanalytischer Theorien und leitet daraus praxisnahe Behandlungsempfehlungen für Psychotherapeutinnen, Psychiater und Psychologen ab. Auch für weitere Professionisten multidisziplinärer Teams, wie Hausärzte, Sozialarbeiter und Familienbetreuer, sowie Lehrende und Studierende bietet das Buch wertvolle Informationen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum27. Aug. 2018
ISBN9783662572818
Pathologisches Horten: Praxisleitfaden zur interdisziplinären Behandlung des Messie-Syndroms

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    Buchvorschau

    Pathologisches Horten - Nassim Agdari-Moghadam

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018

    Nassim Agdari-MoghadamPathologisches Hortenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-57281-8_1

    1. Einführung

    Nassim Agdari-Moghadam¹  

    (1)

    Wien, Österreich

    Nassim Agdari-Moghadam

    Email: praxis@agdari.at

    1.1 Geschichte der Messie-Forschung in Österreich

    1.2 Zur Begrifflichkeit

    1.3 Internationaler Forschungsstand

    1.3.1 Zur Relevanz für die psychoanalytischen Theorien

    1.4 Gesellschaftliche und kulturelle Einflussfaktoren

    1.4.1 Die Bedeutung von Gegenständen in unserer Gesellschaft

    1.4.2 Haben statt Sein

    1.4.3 Die Relevanz von Sicherheit in Gesellschaften

    Literatur

    Als im Jahr 2005 im Rahmen der Gründung einer neuen Universität für Psychotherapiewissenschaften auch eine Selbsthilfegruppe für Betroffene geschaffen wurde, dachte noch niemand daran, dass das ein bedeutsamer historischer Moment sein könnte. Die Selbsthilfegruppe entstand aus dem Bedarf einiger Betroffener heraus und aus dem Bedürfnis, das eigene Leid mit dem anderer zu teilen. Die meisten Teilnehmer hatten bis dahin geglaubt, sie wären ganz alleine mit diesem Phänomen, und waren zunächst einmal über die Anwesenheit der anderen erleichtert.

    Damals dachte auch noch niemand daran, dass dies Ausdruck einer neuen psychischen Störung sein könnte. Zum damaligen Zeitpunkt war noch gar nicht einzuschätzen, wie viele Personen davon betroffen waren bzw. einen Leidensdruck hatten. Die Situation war zum einen geprägt von vielen hilfesuchenden Betroffenen; zum anderen gab es kein Angebot von Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Es war ein Phänomen, eine Ausdrucksform, und es gab kein Fachpersonal, das diese Form der Darstellung verstand oder mit den Betroffenen hätte arbeiten können.

    Zu Beginn der Gespräche mit den Betroffenen war lange Zeit nicht klar, ob es sich bei dem Phänomen um einen Way-of-life, einen Trend oder eine psychische Störung handelte. Die Krankheitswertigkeit einer psychischen Störung ist heutzutage vor allem in den Manualen der ICD und des DSM zu finden. Dieses Phänomen war dort nicht beschrieben, und trotzdem gab es Betroffene, die von massiven Einschränkungen in ihren Wohn- und Lebensbereichen betroffen waren und mit einem großen Leidensdruck lebten. Das große Engagement und die aktive Beteiligung der Betroffenen waren erkennbar. Der nachfolgende (Abschn. 1.1) gibt einen Überblick über die Geschichte der Messie-Forschung an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien.

    Es sind vor allem die Vielschichtigkeit des Phänomens und die unterschiedlichen Facetten des Dargestellten, die meine Neugier immer noch nähren. Die Arbeit mit Betroffenen und die spätere wissenschaftliche Auseinandersetzung waren von Anfang an geprägt von einem Entdeckergefühl. Ich hatte oft den Gedanken, an etwas Neuem beteiligt zu sein. Und dieses Gefühl wurde 2013 schließlich bestätigt. Dass 2013 dieses Phänomen Eingang in das amerikanische Diagnosesystem DSM-5 gefunden hat, zeigt, wie brisant das Thema gegenwärtig ist. Im letzten Entwurf des ICD-11 ist das „hoarding disorder " als eigenständige Störung im Bereich der Zwangsstörungen angeführt. Man kann ohne Übertreibung in gewisser Weise von einem historisch wichtigen Moment sowohl für die Fachwelt als auch für die Betroffenen sprechen. Die nächsten Jahre werden zeigen, inwiefern das Thema noch an Bedeutung und Relevanz gewinnen wird. Mit dem Eingang in das amerikanische Diagnosesystem DSM-5 und der zu erwartenden Aufnahme in die ICD-11 werden viele Erleichterungen für Betroffene verbunden sein. Gewiss wird die Etablierung einer neuen psychischen Störung auch von viel Kritik begleitet, aber es sollten die Vorteile für die Betroffenen auch erwähnt werden. Die wissenschaftliche Fachwelt spricht mehr vom Gleichen, und die Betroffenen haben mehr Zugang zu Behandlungskonzepten.

    Eine genauere Darstellung der Vor- und Nachteile der aktuellen Entwicklungen sind im Kapitel der diagnostischen Überlegungen zu finden (Abschn. 2.​5).

    Dieser Praxisleitfaden für Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen ergibt sich aus der Notwendigkeit der Diagnosestellung sowie Behandlung dieser neuen Störung.

    Vorarbeiten und Defizite in Theorie und Praxis

    Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Messie-Phänomen in der praktisch-klinischen Arbeit mit den Betroffenen

    Das Sammeln, Durcharbeiten und Analysieren der weltweiten Forschungsergebnisse

    Die fehlende psychoanalytische Betrachtung und Einordnung eines gegenwärtigen psychischen Phänomens

    Der fortlaufende Austausch mit Kolleginnen, Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen und Betreuerinnen

    Das Fehlen einer wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit dem Messie-Syndrom bzw. dem pathologischen Horten als Überblicksarbeit

    In den letzten 80 Jahren gab es immer wieder Artikel und Berichte über Betroffene. In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts begann die internationale wissenschaftliche Community vereinzelt mit einigen Publikationen in PubMed. Allerdings gibt es bis heute noch kein wissenschaftliches deutschsprachiges Gesamtwerk über die Definition, Entstehung, Entwicklung und Behandlung der Störung. Diese Lücke wird mit der vorliegenden Arbeit nun geschlossen.

    Im ersten Teil wird die Etablierung der Messie-Forschung an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien beschrieben. Im deutschsprachigen Raum blickt die wissenschaftliche Auseinandersetzung dieses Phänomens auf eine übersichtliche Geschichte zurück. An der Sigmund Freud Privatuniversität wurde mit der Errichtung einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe zum Thema des pathologischen Hortens und klinischer Arbeit im Rahmen der Universitätsambulanz Pionierarbeit geleistet. Ferner wird in diesem Kapitel sowohl den Fragen der Begrifflichkeit als auch der gesellschaftlichen und kulturellen Einflussfaktoren nachgegangen.

    Das zweite Kapitel widmet sich dem pathologischen Horten bzw. dem Messie-Syndrom aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Theoretische Überlegungen zur Entstehung dieser Störung werden erläutert. Die möglichen Ursachen werden besprochen, und die Symptomatik wird ausführlich dargestellt. Schließlich runden diagnostische Fragen und die Differenzierung der Komorbiditäten sowie Überlegungen zum Spektrum der Störung dieses Kapitel ab.

    Ein weiteres Kapitel dieses Buchs widmet sich den Behandlungsempfehlungen . Schließlich werden spezielle Besonderheiten und Herausforderungen diskutiert und die Situation des Kindeswohls besprochen. Die Aspekte und die Möglichkeiten des interdisziplinären Austausches werden dargestellt. Dabei werden einige notwendige Annahmen besprochen, die für eine medizinische und psychotherapeutische Behandlung und Versorgung unumgänglich sind, um das ernstzunehmende Leid der Betroffenen zu verstehen und zu reduzieren und um schließlich Verhaltensveränderung zu ermöglichen.

    Das vierte Kapitel beschreibt und ergänzt mittels Fallvignetten psychodynamische Aspekte des pathologischen Hortens.

    Zum Abschluss wird dieser Praxisleitfaden durch eine Zusammenfassung sowie die Darstellung einiger Testverfahren vervollständigt.

    1.1 Geschichte der Messie-Forschung in Österreich

    In Wien begann die intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Messie-Syndroms mit einer Radiosendung. Nach diesem Interview im Jahr 2001 begann die Gruppenanalytikerin Elisabeth Dokulil (ehemals Vykoukal) Gruppentherapien für Betroffene anzubieten – und es zeigte sich bereits damals eine enorme Nachfrage. Im Jahr 2005 wurde dank ihrer Anregungen und Anstrengungen die erste österreichische Selbsthilfegruppe für Betroffene an der Sigmund Freud Privatuniversität etabliert. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich an dieser Gruppe – damals als Studentin – teilnehmen durfte. Diese Selbsthilfegruppe war schon deshalb etwas Besonderes, weil es für Betroffene schwierig war, die Rahmenbedingungen für regelmäßige Gruppentreffen zu schaffen. Es war betroffenen Personen schlicht nicht möglich, sich regelmäßig und kontinuierlich zur selben Zeit am selben Ort zu treffen. Wir haben nach und nach die Gründe und Motive für diese Unzulänglichkeit verstanden. Daher haben wir, die Studentinnen der Sigmund Freud Privatuniversität, diese äußeren Bedingungen zur Verfügung gestellt und konnten so dieser Selbsthilfegruppe beiwohnen. Diese Form der beobachtenden Teilnahme wird noch immer an der Sigmund Freud Privatuniversität praktiziert. Es war für mich eine einzigartige Form, in die Lebenswelten der Betroffenen einzutauchen und ihre Schwierigkeiten zu verstehen. Es war für mich eine kostbare Möglichkeit, sehr viel über dieses Thema direkt und praxisnah zu erfahren. Darüber hinaus war es für mich eine gute Gelegenheit, etwas über die Dynamiken in einer Gruppe – in diesem Falle einer Selbsthilfegruppe – zu lernen.

    Bald nach der Gründung der Selbsthilfegruppe wurde der Bedarf nach Selbsthilfegruppen für Angehörige evident. Darüber hinaus wurden Intervisions- und Supervisionsgruppen angeboten, somit konnten die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten der Universitätsambulanz Einzel- und auch Gruppentherapien anbieten. Zudem wurden viele wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Messie-Syndrom verfasst.

    Wir haben zum Thema bisher insgesamt vier Fachtagungen an der Sigmund Freud Privatuniversität organisiert. Schließlich hat die Forschungsgruppe des Messie-Syndroms 2008 den zweiten Platz des Gesundheitspreises der Stadt Wien gewonnen.

    Im Laufe der Jahre habe ich einige Wohnungen betreten und viele Gespräche mit Betroffenen führen können. Nach Beendigung meiner Ausbildung zur Psychoanalytikerin arbeite ich nun mit Betroffenen in Therapien und biete interessiertem Fachpersonal Seminare und Supervisionen an. Aus diesem Austausch heraus entstand die Idee, den Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen, den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie den Familienhelferinnen und Familienhelfern dieses Behandlungsmanual zu widmen. Für die leichtere Lesbarkeit wird der Begriff des multiprofessionellen Teams für diese Personengruppe verwendet.

    1.2 Zur Begrifflichkeit

    Im deutschsprachigen Raum gab es vor der Aufnahme in die Diagnosemanuale weder einen exakten Begriff noch eine genaue Definition dieser neuen psychischen Störung. Es gibt daher in der Forschungsliteratur eine große Vielfalt von Bezeichnungen für das zu untersuchende Phänomen, z. B. Messie-Syndrom (Pritz et al. 2008), Vermüllungssyndrom (Dettmering und Pastenaci 2004), Diogenes-Syndrom (Klosterkötter und Peters 1985), Organisations-Defizit-Störung (Barocka et al. 2004) und Desorganisationsproblematik (Steins 2003).

    Die amerikanische und später auch die deutsche Selbsthilfegruppenbewegung verwendete zu Beginn der 1980er-Jahre das Wort „Messie, kreiert von Sandra Felton – selbst eine Betroffene. „Mess steht dabei für das Durcheinander und die Unordnung. Die Problematik dieses Begriffs besteht aufgrund der Endung auf „ie allerdings in einer gewissen Verniedlichung der Betroffenen. Das ist vermutlich der Grund, warum der Begriff „Messie sich in internationalen wissenschaftlichen Fachkreisen nicht etablieren konnte. Allerdings ist hervorzuheben, dass es sich erstmals um ein psychisches Phänomen handelt, welches über die Betroffenen selbst Aufmerksamkeit gefunden hat. Andere psychische Störungen und Phänomene sind nach Ärzten oder anderen Fachleuten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, bezeichnet worden. Möglicherweise kommt hier dem pathologischen Horten eine Sonderstellung zu. Generell darf man sich fragen, wie psychische Diagnosen sich zukünftig entwickeln und wie sie bezeichnet werden.

    In der globalen englischsprachigen Community wurde in Anlehnung an die amerikanische Forschung das Phänomen von Beginn an „hoarding genannt, anfänglich noch sehr stark mit der Zwangsstörung assoziiert („compulsive hoarding ). Seit 2013 ist das Phänomen als neue, eigenständige Störung in das DSM-5 aufgenommen worden, mit der Bezeichnung „hoarding disorder". Im letzten Entwurf der ICD-11 (Stand April 2018) ist es unter den Zwangsstörungen angeführt.

    Der Begriff „hoarding – zu Deutsch: Horten – ist eine Ableitung des Wortes „Hort, das laut etymologischem Wörterbuch ursprünglich „verborgener Schatz, Versteck, Höhle" bedeutet. Es war in nachmittelhochdeutscher Zeit ausgestorben und wurde erst wieder nach der Entdeckung des Nibelungenliedes wiederbelebt (Kluge 2002, S. 423). Diese etymologische Wurzel des Wortes mit Bedeutungen wie Schatz und Versteck ist psychologisch betrachtet und gedeutet interessant.

    Ein zusätzlicher Aspekt ist die geschichtliche Entwicklung der Verwendung dieses Wortes. Wurde der Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorwiegend für Geld und Goldwerte gebraucht, so ist er später in den allgemeinen Gebrauch übergegangen (Pfeifer 2000, S. 558). Die ursprüngliche Verwendung ist in der Gegenwart nicht mehr geläufig und gerät in Vergessenheit. Psychoanalytisch betrachtet, weist die Wurzel des Begriffs allerdings deutlich auf die unbewusste Bedeutung hin. Obwohl aktuell die Bedeutung von Geld und Goldwerten in diesem Zusammenhang verloren gegangen zu sein scheint, bleibt die subjektive Bedeutung der Schätze bestehen und stellt das Gemeinsame dar.

    Der Begriff „Sammeln" wird häufig im Zusammenhang mit dem pathologischen Horten erwähnt. Allerdings ist dieser Begriff nicht ideal, weil er auf eine falsche Fährte lockt und nicht ausreichend gut beschreibt, welche Schwierigkeiten das pathologische Horten mit sich bringt.

    Die meisten Betroffenen haben keine Sammlungen; es sammelt sich viel eher alles an.

    Die Gegenstände sind dabei nicht gleich, trotz gewisser Vorlieben. Es kommt häufig vor, dass ein Betroffener mehr Papier und Gedrucktes und ein anderer eher technische Geräte hortet. Aber deshalb sind es keine Sammlungen. Die Ansammlung basiert nicht – wie beim klassischen Sammeln – auf einer systematischen Ordnung, etwa nach Jahreszahlen oder Modellen, sondern stets dem subjektiven Drang und Zwang, nichts weggeben zu können. Das Verb „sammeln wird vom Suffix „sam- abgeleitet, das ursprünglich ein selbstständiges Wort mit der Bedeutung „von gleicher Beschaffenheit" bedeutete (Kluge 2002, S. 783). Es wird kaum gesammelt, also nichts zusammengetragen, was zusammengehört – oder ausschließlich in einem sehr individuellen Sinn. Daher ist dem Begriff des Hortens auch im Deutschen der Vorzug zu geben.

    Im deutschsprachigen Raum wird das Phänomen nun vermehrt mit dem Begriff „pathologisches Horten übersetzt, daher wurde die Bezeichnung in dieser Arbeit ebenso übernommen. Die Begriffe „Messie-Phänomen, „Messie-Syndrom sowie „pathologisches Horten sind in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung historisch gewachsen und daher – jedenfalls in dieser Arbeit – synonym zu verstehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt keine offizielle Übersetzung des Begriffs „hoarding disorder vor. Die deutschsprachige Version der ICD-11 wird in den nächsten Jahren erwartet. Es spricht einiges dafür, dass der Begriff im Deutschen mit „pathologisches Horten übersetzt wird. Eine Übersetzung als „zwanghaftes Horten oder „Sammel- und Hortstörung beschreibt die Psychodynamik des Phänomens nicht ausreichend und vernachlässigt das wichtige Symptom, Schwierigkeiten mit dem Wegwerfen zu haben. Der Begriff „pathologisches Horten" hat zwar den Nachteil, dass der Terminus des Pathologischen darin vorkommt, aber den Vorteil, dass die Betroffenen ernstgenommen werden. Vor allem können Verniedlichungen im Sinne von Verleugnungen somit eher ausgeschlossen werden.

    Die Bezeichnung „Messie-Syndrom und der Begriff „pathologisches Horten sind in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Forschungsliteratur historisch gewachsen und bei Erfüllung der Diagnosekriterien synonym zu verstehen und zu verwenden.

    1.3 Internationaler Forschungsstand

    Um das Messie-Phänomen ganzheitlich zu betrachten, muss man sich auch mit seinen Wurzeln im angloamerikanischen Raum beschäftigen. Welche Entwicklungen hat die Erforschung des Phänomens hinter sich? Womit beschäftigt sich die Scientific Community derzeit? Diese Fragen sollen in den nächsten Kapiteln beantwortet werden.

    Es ist von großer Relevanz, ob es sich bei der Auseinandersetzung mit der Störung um Aussagen und Ergebnisse einem akademisch-wissenschaftlichen oder einem populärwissenschaftlichen Zusammenhang handelt. Gerade das Messie-Syndrom bzw. das pathologische Horten bietet eine große Bühne für Ratgeber von Betroffenen für Betroffene bis hin zu selbsternannten Messie-Forschern und Experten. Daher ist die Durchsicht der Literatur primär im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Stand wesentlich und für die Erstellung eines Praxisleitfadens unumgänglich.

    Daher möchte ich die Scientific Community erwähnen, die vor allem im englischsprachigen Raum und in den USA anzutreffen ist. Die Arbeit dieser Gruppe von Forschern ist von Selbsthilferatgebern klar abzugrenzen. Es ist wieder einmal die Darstellungsform, die häufig auffallend, interessant und ekelerregend zugleich auf die meisten wirkt.

    Wenn wir von einer neuen psychischen Störung an sich sprechen, ist es jedenfalls wichtig, dass die Erkenntnisse darüber weltweit ausgetauscht werden. Vor allem im Hinblick auf die Diagnosesysteme ist es unerlässlich, dass Diagnosen, egal ob in Österreich, Texas oder Indien, nach denselben Kriterien gestellt werden können. Dieser Anspruch, international von den gleichen Krankheiten und Störungen zu sprechen, sie diagnostizieren und behandeln zu können, war ein wesentliches Motiv für die Einführung der ICD. Die grundlegenden und entscheidenden Schwierigkeiten der Diagnosemanuale werden ausführlich in Abschn. 2.​5 besprochen.

    Mit dem Suchbegriff „hoarding kann man auf PubMed zum ersten Mal 1975 einen entsprechenden Artikel finden. Er trug den Titel „Diogenes syndrome. A clinical study of gross neglect in old age. Eine Auseinandersetzung mit einem Phänomen bzw. einer Störung, die erst seit rund 40 Jahren besteht, ist noch als erstaunlich jung einzustufen.

    Im deutschsprachigen Raum beschreiben Klosterkötter und Peters erstmals das Diogenes-Syndrom. Allerdings war das Phänomen damals ausschließlich auf geriatrische Patienten bezogen (Klosterkötter und Peters 1985).

    1987 folgte eine Publikation im American Journal of Psychotherapy mit dem Titel „Compulsive Hoarding" (Greenberg 1987). 1990 (Greenberg et al.) erschien im Journal of Clinical Psychiatry der Artikel „Hoarding as a Psychiatric Symptom", und damit begann das Thema wissenschaftlich größeres Interesse zu finden. Es folgten Anfang der 1990er-Jahre noch vereinzelt, aber mit Mitte der 1990er-Jahre jedes Jahr zahlreiche psychologische und psychiatrische Publikationen, die das pathologische Horten betrafen.

    Im deutschsprachigen Raum sind die Veröffentlichungen eher vereinzelt. Daher werden die wesentlichen deutschsprachigen Arbeiten im Folgenden überblicksartig dargestellt:

    Zunächst sind die Arbeiten von Steins zu erwähnen, die das Messie-Phänomen aus sozialpsychologischer Sicht beschrieben und den Begriff der Desorganisationsproblematik geschaffen haben (Steins 2003). Der Begriff des „Vermüllungssyndroms" geht auf Dettmering zurück. Damit wurde vor allem ein psychiatrisch relevantes Phänomen beschrieben, das sich vorwiegend mit sozialer Isolation, Müll als Entlastung und Panikreaktion bei Entmüllung beschreiben ließ (Dettmering und Pastenaci 2004). Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung des Messie-Syndroms wurde 2005 von der Schweizerin Annina Wettstein publiziert (Wettstein 2005).

    Der Psychoanalytiker Rehberger beschrieb in „Messies – Sucht und Zwang" mit der Darstellung einiger klinischer Fallgeschichten zum einen die Nähe des Messie-Syndroms zur Zwangsstörung und zum anderen schwere Bindungsstörungen in den Biografien (Rehberger 2007). Aus der interdisziplinären Vernetzung psychotherapeutischer Forschungsarbeiten der Sigmund Freud Privatuniversität mit psychiatrischen Forschungsergebnissen entstand der Sammelband „Das Messie-Syndrom" (Pritz et al. 2008).

    Die bisherigen deutschsprachigen Publikationen aus dem Jahr 2017 stammen von der Heilpraktikerin Schröter („Messie-Welten) sowie 2018 von Külz und Voderholzer („Pathologisches Horten).

    Historisch wurde man zum ersten Mal auf das extreme Horten von Gegenständen aufmerksam durch die Collyer-Brüder Ende der 1940er-Jahre. Homer und Langley Collyer entstammten einer gebildeten und reichen amerikanischen Familie und bewohnten ein Haus in Harlem (New York City). Sie galten als Einsiedler und lebten sozial sehr isoliert. Die Fenster und Türen waren verbarrikadiert, und im Haus wurden Fallen aufgestellt. Nach dem Tod der Eltern bewohnten die beiden Brüder das Haus alleine weiter. Aufgrund von Geruchsbelästigung brach die Polizei das Haus auf, und die beiden Brüder wurden tot aufgefunden. Zunächst wurde Homer Collyer tot aufgefunden – verdurstet –, und Tage später auch sein Bruder Langley, gefangen in einer seiner Fallen. Langley hatte den blinden und kranken Homer gepflegt. Rund eine Tonne Gegenstände wurde aus dem Haus entfernt (Lidz 2008). Somit war schon der erste bekannte Fall bewegend und erschütternd zugleich. Es ist das Fremde im anderen, das Abnorme, das anziehend und zugleich abstoßend wirkt.

    Das akademisch-wissenschaftliche Interesse hat sich offensichtlich parallel mit der Etablierung der Selbsthilfegruppenbewegung entwickelt. Seit Beginn der 1990er-Jahre interessieren sich vor allem klinische Psychologen und Psychiater für das pathologische Horten. Es sind vor allem die Forschungsarbeiten der Teams rund um Randy Frost vom Smith College, Massachusetts, David Mataix-Cols vom Karolinska Institut in Stockholm, die Forschungsgruppen um Dr. David Tolin von der Yale Medical School sowie das Team um Dr. Jack Samuels von der Johns-Hopkins-Universität, Baltimore, zu erwähnen.

    Randy Frost hat mit seiner ersten Veröffentlichung („The Hoarding of Possessions", 1993) den Grundstein für sein Forschungsgebiet festgelegt und jedes Jahr mit seinem Team mehrere Studien zum Thema veröffentlicht. David Mataix-Cols hat entscheidende Studien eingebracht, insbesondere im Hinblick auf die Relevanz einer eigenständigen Störung.

    1.3.1 Zur Relevanz für die psychoanalytischen Theorien

    Beim Studium der internationalen Forschungsliteratur gewinnt man bald den Eindruck, dass man in der Theorie der Psychoanalyse keine Antworten und Behandlungsratschläge finden könnte. Sie scheint in der globalen Psychologie oder Psychiatrieforschung in Vergessenheit geraten zu sein. Und es wirkt so, als würde nurmehr der behavoriale Behandlungsansatz Antworten auf alle Fragen geben. Allerdings gibt es wenige Studien, die in diesem Zusammenhang zu erwähnen sind. Eine davon heißt „Diagnosis and Assessment of Hoarding Disorder" (Frost et al. 2012). Sie ist eine der wenigen, die in der Einleitung die Arbeiten Freuds und Fromms zumindest erwähnt. Die „anale Trias" aus Freuds triebtheoretischem Modell wird dabei zitiert, und es wird auf diesen Zusammenhang als maßgebend für die theoretische Konzeptualisierung der Zwangsstörungen hingewiesen.

    Die Autoren der Studie „Hoarding Versus Collecting" beziehen sich auf Freud und Fromm und meinen dazu:

    In contrast to the theoretical conceptualizations of hoarding offered in previous work (Freud, Fromm), these operational criteria were intended to define the features that characterize hoarding at a pathological, rather than merely idiosyncratic, level. (Nordsletten und Mataix-Cols 2012, S. 167)

    Die Theorie der Psychoanalyse als das bloße Aufzählen von eigentümlichen Eigenschaften der Persönlichkeit zu verstehen ist weit gefehlt. Selbstverständlich kann man mit psychoanalytischen Modellen ein ätiologisches Verständnis für psychische Phänomene gewinnen.

    Es ist wichtig zu verstehen, dass die Wurzeln des „Normalen durchaus im „Pathologischen zu finden sind, jedoch zu einem Zeitpunkt der Entwicklung, an dem das „Pathologische" noch gänzlich zu einer normalen Entwicklungsphase zählt.

    Freud hat das Studium der Neurosen als Vorbereitung für ein Verständnis der Psychosen verstanden. Und er hat die Psychoanalyse dazu berufen gesehen, „eine wissenschaftliche Psychiatrie der Zukunft zu ermöglichen, die sich nicht mehr mit der Beschreibung sonderbarer Zustandsbilder und unbegreiflicher Abläufe (…) zu begnügen braucht" (Freud 1940a, S. 422).

    Das Studium der psychoanalytischen Arbeiten in Bezug auf die Entstehung und Entwicklung von Störungen und Symptombildungen kann viele Möglichkeiten aufzeigen. Aus diesem Verständnis heraus ermöglicht es letztlich auch behandlungstechnische Wege. Es ist auffallend, dass viele der heutigen Annahmen und Forschungsergebnisse schon sehr früh in psychoanalytischen Theorien und Konzepten wurzeln und zu finden sind. Daher werden die psychoanalytischen Schulen und Konzepte in dieser Arbeit vorwiegend aus der Primärliteratur heraus beschrieben.

    Zunächst wurde in angloamerikanischen Forschungsgruppen das Messie-Phänomen, also das „hoarding syndrome", als Symptom der Zwangsstörung angesehen; erst nach einigen Jahren der Forschung stellte sich eine kritische Auseinandersetzung damit ein. Es ist zu vermuten, dass die Zuordnung des Hortens zum Spektrum der Zwangsstörungen aus dem klinischen Alltag heraus entstanden ist. Die vielen hundert Teilnehmer der umfangreichen Studien aus Kliniken mit Patienten mit einer diagnostizierten Zwangsstörung stellten den Beginn der Forschung in den USA dar. An der Sigmund Freud Privatuniversität bildete den Beginn der Forschung jedoch eine explorative Studie, die durch Deskription und durch Erfahrung und Dokumentation geprägt war. Sie hatte also einen psychoanalytischen Ansatz, den man ursprünglich aus der Ethnopsychoanalyse kennt. Das Begleiten der Selbsthilfegruppe durch Studentinnen ermöglichte einen anfänglich hypothesenfreien Raum der Beobachtung und des Erlebens.

    Die besondere Relevanz des Zweifels bei der Zwangsneurose wurde bereits von Freud und später auch von Grunberger dargestellt. Eine umfangreiche Studie mit über 1100 Probanden bestätigte dieses charakteristische Merkmal der Zwangsstörung erneut (vgl. Samuels et al. 2017).

    Der aktuellste Fachartikel zum Thema pathologisches Horten stammt aus der Schweiz und von Thomas Maier. In dem Artikel geht der Autor der Frage nach, ob es sich um ein Symptom oder um ein Syndrom handelt, und weist ebenso auf das DSM-5 hin. Maier unterscheidet die Symptome beim pathologischen Horten von jenen der Zwangserkrankung und stellt fest, dass beim Messie-Syndrom der intrusive und Ich-dystone Charakter fehlt (Maier 2017).

    Aus psychoanalytischer Sicht ist es erklärbar, dass der intrusive Charakter der Zwangsstörung sich auf die Zwangsgedanken und -handlungen bezieht. Beim pathologischen Horten aber geht es um einen anderen Aspekt der Zwangsstörung , nämlich um das Festhalten und Sich-nicht-trennen-Können. Daher wird die Symptomatik weder als intrusiv noch als Ich-dyston erlebt. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass in den internationalen Studien sehr bald eine Verbindung zu den Störungen des Zwangsspektrums wahrgenommen wurde. Aus den Testverfahren ergab sich eine gemeinsame Schnittmenge von Personen, die an einer Zwangsstörung erkrankt waren und Symptome des Messie-Syndroms aufwiesen. Aus einem psychoanalytisch geprägten Modell heraus wurden die Symptome des pathologischen Hortens von Anfang an mit dem Bereich der Zwangsneurose assoziiert. Diese gegenseitige wissenschaftliche klinisch-theoretische Bestätigung ist beeindruckend.

    Zum pathologischen Horten gibt es zudem äußerst wenige Studien aus der Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie , allerdings existieren einige Hinweise auf interessante Zusammenhänge. Viele Tendenzen sind bereits in der Kindheit erkennbar und könnten früh behandelt werden. Die kanadische Studie Three reasons why studying hoarding in children and adolescents is important verteidigt die Notwendigkeit der frühen Behandlung. Die Autoren halten fest, dass die Symptome des pathologischen Hortens oftmals bereits in der Kindheit erkennbar sind, sich chronisch entwickeln und bis ins Erwachsenenalter bestehen. Des Weiteren ist das pathologische Horten mit einer Reihe von negativen Erlebnissen und Folgeerscheinungen assoziiert (vgl. Burton et al. 2015).

    Bezüglich der Diagnosestellung im Kindes- und Jugendalter ist anzumerken, dass Jugendliche Entwicklungsphasen wiederholend und vertiefend durchleben. Darüber hinaus sind sie zusätzlich mit der Organisation ihrer aggressiven und sexuellen Impulse beschäftigt. Unordentliche Jugendzimmer und eine wiederauflebende „Schmutzeslust " können in dieser Entwicklungsphase bei vielen Jugendlichen beobachtet werden. Allerdings ist es in der gesamten psychosexuellen Entwicklung entscheidend, ob es sich um eine Phase handelt oder ob pathologische Anteile sich chronifizierend in die Persönlichkeitsentwicklung einfügen. Daher beginnen die Konfrontation und das Bewusstwerden des Problems für die Betroffenen meistens mit der ersten eigenen Wohnung. Hier können Tendenzen zum pathologischen Horten festgestellt werden.

    Bei einer Untersuchung von 109 Kindern mit einer diagnostizierten Angststörung konnte festgestellt werden, dass bei 22 % der Probanden die Eltern Tendenzen zum Horten beschrieben. Die teilnehmenden Kinder mit der erhöhten Tendenz zum Horten erzielten ebenfalls in den anderen Bereichen wie Aggression, Aufmerksamkeit, Ängstlichkeit, Zwangsstörungen sowie depressive Symptomatik höhere Werte. Die gefundenen Ergebnisse lassen einen Zusammenhang zwischen Verhalten und emotionaler Dysfunktion vermuten. Es bedarf zukünftig weiterer Forschung, um die Zusammenhänge zwischen Angststörungen, Störungen der

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