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Psychoanalyse und Medizin: Perspektiven, Differenzen, Kooperationen
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eBook468 Seiten5 Stunden

Psychoanalyse und Medizin: Perspektiven, Differenzen, Kooperationen

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Über dieses E-Book

Aus wissenschaftlichen, klinisch-therapeutischen und berufspolitischen Gründen ist die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Medizin zunehmend diskussionswürdig. In der Person Sigmund Freuds und seiner ersten Schüler noch in Personalunion vorhanden, entfernte sich die Psychoanalyse zunehmend theoretisch wie praktisch von der Medizin. Heute gehört sie mit ihren tiefenpsychologischen Varianten zu den anerkannten Psychotherapierichtungen, sieht sich aber zugleich einem starken Legitimations- und Verdrängungsdruck ausgesetzt. Dabei gibt es auf psychoanalytischer wie auf medizinischer Seite aufeinander verweisende Überlegungen zum Verständnis von Psyche und Körper, zur Genese und Therapie von Krankheiten und zum Umgang mit Sterbenden. Hinzu kommen zahlreiche praktische Verbindungen in der Psychosomatik, in Konsiliar- und Liaisondiensten und in der Aufarbeitung klinischer Erfahrungen (Balintgruppen). Die Depressions-, Trauma-, Krebs- und Schmerzforschung bezieht zunehmend neurowissenschaftliche Erkenntnisse ein. Die in diesen Feldern ausgewiesenen Autorinnen und Autoren gewähren Einblicke in ein breites Feld von Erfahrungen und Reflexionen und befördern ein verbessertes gegenseitiges Verständnis sowie vermehrte Zusammenarbeit.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Sept. 2018
ISBN9783647901077
Psychoanalyse und Medizin: Perspektiven, Differenzen, Kooperationen

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    Buchvorschau

    Psychoanalyse und Medizin - Helmwart Hierdeis

    Sigmund Freud, der »Arzt der Moderne«?

    Über Psychoanalyse und Medizin bei Freud und seinen Schülern

    Die Freud-Biografie des Literaturwissenschaftlers Peter-André Alt (2016) trägt den Titel »Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne«. Diese allzu griffige Formulierung vernachlässigt Freuds überaus kompliziertes Verhältnis zur Medizin (als Wissenschaft) ebenso wie zum Arzttum (als berufliche Praxis). Beide Ambivalenzen sollen im Folgenden auf ihre persönlichen und sachlichen Hintergründe hin vergegenwärtigt und analysiert werden. Da die zu erörternden Inhalte komplexer Natur sind, stelle ich der Übersichtlichkeit halber die Thesen voran, die begründet werden sollen:

    1.Freud wollte die Psychoanalyse als ein autonomes, von der Medizin unabhängiges psychologisches »System« konstituieren und abgrenzen.

    2.Dabei ergab sich die Schwierigkeit, dass dieses angeblich autonome System sich an vielen Stellen als kryptobiologisch bzw. kryptomedizinisch unterlegt zeigte.

    3.Indem die Psychoanalyse zur Bewegung heranwuchs, ergaben sich immer wieder punktuell Synergien (z. B. Kriegsneurosen) und Friktionen (z. B. Kurpfuschereivorwurf) zwischen Psychoanalyse und Medizinsystem.

    4.Mit der sich seit den 1920er Jahren konstituierenden Psychosomatik brach die von Freud angestrebte strikte Abgrenzung von Psychoanalyse und Medizin vollends zusammen.

    Freud: Mediziner und Anti-Mediziner zugleich?

    In den »Studien über Hysterie« (1895d) gibt Freud seiner Verwunderung darüber Ausdruck, wie weit er sich anscheinend von seinen medizinischen Wurzeln entfernt habe: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren« (S. 227).

    Ist das noch Medizin, was ich treibe?, scheint Freud sich an dieser Stelle zu fragen. Entbehrt es womöglich überhaupt des »ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit«? Ist es etwa gar »Literatur«? Dieselben Fragen hat sich später seine Mitwelt gestellt: Mehrmals war er für den Nobelpreis im Gespräch, und zwar sowohl für den der Medizin wie für den der Literatur; beide hat er nicht bekommen, er war offenbar etwas schwer Bestimmbares »dazwischen«.

    In der zitierten Passage bezeichnet er sich als »Psychotherapeuten«, der er nunmehr sei. Die Bezeichnung »Psychoanalytiker« war damals noch in weiter Ferne; den Begriff »Psychoanalyse« hingegen verwendet er schon 1896 zum ersten Mal, und zwar an ziemlich entlegener Stelle (Freud, 1896a, S. 416; Robert, 1986, S. 88). Ist der Psychotherapeut denn kein Arzt, kann man fragen, oder vielleicht nur eine andere Art von Arzt?

    Immerhin bleibt Freud dem medizinischen Sprachgebrauch lebenslang treu: Seine für ihn selbst verwunderlich literarischen Krankengeschichten bezeichnet er weiterhin als Krankengeschichten, vom »Psychotherapeuten« spricht er kaum jemals, sondern viel häufiger vom die Psychoanalyse ausübenden Arzt, z. B. »Ratschläge für den Arzt (!) bei der psychoanalytischen Behandlung« (1912e). Auch der Ausdruck »Behandlung« bezeichnet normalerweise die Tätigkeit des Arztes. Von Freud wird sie schon frühzeitig abgewandelt zu »Psychische Behandlung, Seelenbehandlung« (1890a).

    Die Medizinhistoriker Leibbrand (1953, S. 377 ff.) und später wesentlich ausführlicher Ellenberger (1973) haben gezeigt, wie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf breiter Front eine Abkehr von der materialistisch-technischen Medizin des späten 19. Jahrhunderts (z. B. Virchow) einsetzte, für die der Unterschied zwischen Menschen- und Tierheilkunde »nur der Unterschied der Kundschaft« (Leibbrand, 1953, S. 378) war, hin zu einem Interesse für die psychische Seite der Medizin. Diese Emanzipationsbewegung sehen die Medizinhistoriker in den Hypnose- und Suggestionstherapien am Werk, ebenso wie etwas später in den sich ausdifferenzierenden tiefenpsychologischen Schulen. In diesem Kontext ist das Aufkommen der Begriffe »Psychotherapeut« bzw. »Psychotherapie« zu sehen, von denen noch nicht einmal ausgemacht ist, ob sich das mit ihnen Bezeichnete als Teil der Medizin oder womöglich auch als Gegenbewegung zu ihr verstehen will.

    Wenn also Freud sich hier als »Psychotherapeuten« bezeichnet – ein Ausdruck, den er später kaum noch verwendet –, so verweist dieser Sprachgebrauch auf den der Hypnotiseure (Forel), der (Wach-) Suggestionstherapeuten (Coué, Dubois) und vor allem auf seinen unmittelbaren Zeitgenossen Pierre Janet. Sie alle waren darauf bedacht, das Psychische als eine eigene Potenz dem Physischen gegenüberzustellen. Typisch, wenn auch überspitzt, ist ein z. B. von Forel als »Galimathias« kritisierter Satz von Dubois: »L’émotion est psychologique et non physiologique, elle est intellectuelle et non somatique« (Forel, 1889/1907, S. 188).

    Freuds von Anfang an ambivalentes Verhältnis zur Medizin, das sich in zahlreichen Äußerungen nachweisen lässt, ist auf zwei Ebenen zu betrachten: der persönlich biografischen und der wissenschaftsdogmatischen.

    Freuds Entwicklung vom Neurologen zum Psychologen

    Was die biografische Ebene betrifft, liegen die Fakten ziemlich offen zutage: Freud strebte eigentlich eine wissenschaftliche Laufbahn in der Physiologie an, publizierte über weit vom Klinischen entfernte neuroanatomische und -physiologische Themen wie das Nervensystem des Aals – und musste auf den Rat seines Lehrers Brücke hin einsehen, dass eine akademische Karriere für ihn wenig aussichts-reich sei, teils wegen seiner privaten wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihn die akademische Durststrecke bis zur Professur kaum überstehen lassen würden, teils auch wegen seiner jüdischen Abkunft, die eine akademische Berufung im nationalkonservativ-katholisch geprägten Wiener Universitätsmilieu stark behindern würde. Brückes Rat lautete, er solle die Niederlassung als Arzt anstreben.

    Nicht zuletzt weil er heiraten und eine Familie gründen wollte, folgte er dem Rat und ließ sich 1885 als Nervenarzt nieder. Aber auch hier gestaltete sich der Berufsstart schwierig: Von den rein neurologischen Patienten konnte er nicht leben, er musste etwas anderes, »Moderneres« und für eine zahlungskräftige Klientel Attraktiveres finden. Er wurde über seinen ärztlichen Mentor Josef Breuer mit der Hypnose bekannt und nahm an den Entwicklungen dieser neuen, überwiegend französisch geprägten Medizin mit Hypnose (Charcot, Forel) und Wachsuggestion (Bernheim, Liébeault) zunehmend lebhaften Anteil.

    Die Entwicklung Freuds vom Neurologen zum Psychologen lässt sich am detailliertesten in seinen Briefen an Wilhelm Fließ (1950a/1962) verfolgen. Am Anfang der Korrespondenz kommt er mehrfach auf eine offenbar von Fließ vermittelte Patientin Frau A. mit einer Gehstörung zu sprechen, die er nach dem ersten Kontakt eher als somatisch bedingt diagnostiziert: »keine Neurose«, vor allem weil das typische Merkmal begleitender Angstsymptome fehle. So führt er die Störung auf eine bereits vor 17 Jahren (!) durchgemachte »postdiphteritische Lähmung der Beine« zurück, die ein »punctum minimae resistentiae« hinterlassen habe. Schon nach einem Vierteljahr diagnostiziert er unbedenklich eine »gemeine zerebrale Neurasthenie« – aufgrund »chronischer Hyperämie des Schädelinhalts«, wie er gängige ärztliche Erklärungsmuster offenbar persiflierend hinzufügt (S. 53). Ein weiteres Vierteljahr später ist die Störung verschwunden, die Diagnose Neurasthenie steht jetzt außer Zweifel, und Freud verordnet eine Wasserkur im Gebirge zur Rekonvaleszenz. Wenn man so will: 90 % Neurologie, 10 % Psychologie!

    Im Lauf der weiteren Fließ-Korrespondenz mit den diversen Beilagen bleibt als somatisches Element die Vorstellung von Neurasthenie als Folge sexueller Spannungen durchgehend erhalten, daneben aber drängt sich, gipfelnd im »Entwurf einer Psychologie« von 1895 (1950c), das psychologische Element, wenngleich auf dem Hintergrund neuronaler Verknüpfungen, immer mehr in den Vordergrund.

    Um es vorläufig und plakativ zu benennen: Unter Beibehaltung des gewohnten medizinischen Vokabulars entwickelt Freud sich gleichsam »unter der Hand« immer mehr vom Arzt zum Psychologen.

    Freuds Psychologie – ein »System«?

    Diese Entwicklungslinie vom Neurologen zum Psychologen wird von den Freud-Biografen übereinstimmend wahrgenommen. Das Kapitel in Gays Freud-Biografie (1988), das den entscheidenden Entwicklungsschritt schildert, wie Freud sozusagen »zu Freud« wurde, ist überschrieben »A Psychology for Psychologists« (Gay, 1988, S. 117 ff.). Um eine solche war es Freud in der Tat zu tun. Das Material, woran Freud diesen seinen wissenschaftsdogmatisch zentralen Gesichtspunkt entwickelte, war der Traum; den Grundstein seines »Systems« legte er in der »Traumdeutung« (1900a). Freud ging es, wie Gay ausführt, um »a scientific theory of the mind«. »The principle of psychological determinism, the view of the mind as consisting of forces in conflict, the concept of the dynamic unconscious and the concealed power of passion in all mental activity, pervade its very texture« (S. 119).

    So weit, so richtig. Es ging Freud um eine Psychologie, die sozusagen auf ihren eigenen Füßen stehen konnte, die keine Anleihen bei der Physiologie mehr nötig hatte, wie die medizinisch-psychiatrischen Vorläufer sie brauchten, die vor ihm über den Traum geschrieben hatten.

    Gay ist indessen als Biograf und zudem Psychoanalytiker zu nahe an seinem »Helden«, um den notwendigen Schritt der objektivierenden Distanzierung tun zu können. Diese »reine Psychologie«, um die es Freud von der »Traumdeutung« an ging – hat er das Projekt denn auch wirklich umsetzen können? Schon 1979 (dt. 1982) hat sich der Wissenschaftshistoriker Frank J. Sulloway an einer »intellektuellen Biografie« Freuds versucht, die in der von Psychoanalytikern dominierten Freud-Biografik nur wenig Anklang gefunden hat. Gay (1988) nimmt, soweit ich sehe, keinen Bezug auf sie; Alt (2016, S. 29) bezieht sich an einigen wenigen, für die »intellektuelle Biografie« jedoch unwesentlichen Punkten darauf.

    Sulloway stellt Freud als »Kryptobiologen« in der Nachfolge Darwins vor und seine angeblich autonome, von der Physiologie unabhängige Psychologie als das Produkt der psychoanalytischen Heldenlegende. Detailliert weist er Freuds tastende Positionierungsversuche zwischen den Auffassungen der eher organisch denkenden Wiener Psychiater und Neurophysiologen und den französischen eher psychologisch konzipierten Erklärungen von Hysterie und Hypnose auf.

    Sulloways Konstruktion der Abhängigkeit Freuds von Darwin mag überzeichnet sein; sicherlich zutreffend indessen ist seine Demaskierung der psychoanalytischen Heldenlegende, die Freuds Schöpfung einer rein psychologischen Seelen- und Krankheitslehre als völlig unabhängig von historischen Vorläufern ebenso wie von aktuellen Trends in den Nachbarwissenschaften ausweisen wollte. Da Freuds Einführung unbewusster Variablen in das Modell des psychischen Apparats eng an die physiologische Vorstellung vom Reflexapparat angelehnt war (siehe seine Formulierung, der psychische Apparat müsse (!) »gebaut sein wie ein Reflexapparat« (1900a, S. 540) – warum »muss« er das?, frage ich mich) und ebenso wenig wie später das Strukturmodell der Psyche mit Es, Ich und Über-Ich seine Abkunft von der Neuroanatomie des menschlichen Gehirns verleugnen kann – von Freud aber entgegen aller Evidenz geleugnet wird (verräterisch ist z. B. an seiner Seelenskizze von 1923b, S. 252 die dort eingezeichnete »Hörkappe«– die Psyche hat keine »Hörkappe«; höchstens das Gehirn mag eine haben).

    Freuds Orientierung in den Jahren 1880–1895, der Zeit seiner vor allem der »Hysterie« gewidmeten Zusammenarbeit mit Breuer, findet Sulloway (1982), sei »dualistisch« (S. 89 ff.) gewesen, beide hätten neben ihrer neurologischen Grundorientierung ein ausgesprochen »starkes Interesse für psychologische Prozesse« gehabt (S. 114). Im Zuge der Entfremdung von Breuer sei Freuds bedeutsamer »Entwurf einer Psychologie« entstanden. Freuds Psychologie aber sei dabei keineswegs zu jener »reinen Psychologie« geworden, wie Freud vorgab. Indessen habe er eine »Politik der wissenschaftlichen Unabhängigkeit« (S. 11) von den Nachbardisziplinen (bei Sulloway vor allem der Biologie, aber Gleiches gilt sicher von der Medizin) betrieben, die »seinen jungen und noch schwankenden Wissenschaftszweig in Gewahrsam zu nehmen drohte« (S. 603). Der Mythos von Freud als »reinem Psychologen« sei einer der Eckpfeiler gewesen, »an denen die traditionelle psychoanalytische Geschichtsschreibung lange ihr beeindruckendes Freud-Bild aufgerichtet« habe (S. 661 f.). Die von Freud in die Welt gesetzte Legende von der Ablehnung seiner Ideen durch die Wiener Ärzteschaft habe gleichfalls dazu gedient, die Politik der Unabhängigkeit zu untermauern.

    Auch Ferenczi (1933/1972) charakterisiert Freuds wissenschaftliches Weltbild als »dualistisch«: »Seine intellektuelle Redlichkeit führte ihn zur Erkenntnis der Tatsache, daß das Seelenleben nur von der subjektiven Seite durch introspektive Methoden zugänglich sei, und weiterhin zu der Feststellung, daß die psychische Realität der durch diese subjektiven Methoden erkannten Tatsachen unbezweifelbar sei. So wurde Freud zum Dualisten. Er verfolgt seine psychologischen Forschungen bis zu den menschlichen Trieben, die er als Grenzlinie zwischen dem Psychischen und dem Physischen betrachtet, eine Grenze, die seiner Meinung nach die psychologische Forschung nicht überschreiten sollte« (S. 294), eine Grenze zudem, die Ferenczi mit der von ihm postulierten »Bioanalyse« selbst soeben zu überschreiten im Begriff war – in enger Weggenossenschaft mit seinem Freund Georg Groddeck, der sich von Freud deshalb zahlreiche briefliche Rügen gefallen lassen musste (Bittner, 2016, S. 35 ff.).

    Freuds »intellektuelle Redlichkeit«, die ihn zu dieser Grenzziehung führte, soll nicht in Zweifel gezogen werden. Anderseits kann man darin auch ein Stück Wissenschaftspolitik erblicken: Er schuf sich auf diese Weise sein eigenes Reich. Die vielfach vorhandenen biologischen Einflüsse wurden verleugnet und unkenntlich gemacht, um die Fiktion einer rein empirisch-psychologisch begründeten Wissenschaft aufrechterhalten zu können – was ihn allerdings in eine Antiposition zu seiner medizinisch-biologischen Herkunft brachte (vgl. Sulloway, 1982, S. 372 ff.).

    »Es gibt zwei Methoden, eine psychologische Theorie aufzustellen«, meint Ellenberger (1973). Die eine führt induktiv von der Faktensammlung über die »Isolierung von Faktoren zu Verallgemeinerungen und Gesetzmäßigkeiten. Die zweite ist, ein theoretisches Modell aufzubauen und dann zu schauen, wie die Fakten sich hinein fügen, um dann, wenn nötig, das Modell umzubauen. Einer zu seiner Zeit weit verbreiteten Tendenz folgend zog Freud die letztere Methode vor« (S. 655).

    In der Fließ-Korrespondenz kann der Leser Freud beim Modellbauen an seinem »Entwurf einer Psychologie« gleichsam über die Schulter schauen. »In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche […] haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinander zu greifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen« (Freud, 1962, S. 115).

    Nehmen wir die Metapher beim Wort: »das Ding«, die »Maschine«. Freud hat hier eine Kunstfigur geschaffen wie die Automaten und Spielfiguren des E. T. A. Hoffmann, denen er später eine bedeutende Abhandlung gewidmet hat, oder wie moderne Roboter, wo die Maschine wie ein wirklicher Mensch zu laufen beginnt: den später im englischen Sprachraum sogenannten »psychological man« (Rieff, 1969, zit. nach Dahrendorf, 1958/2006, S. 19). Freuds Psychologie ist, so folgere ich, eine Konstruktion, ein »System«: mit allen Vor- und Nachteilen eines solchen.

    Der Vorteil eines solchen Systems liegt auf der Hand: Es ist ein Ordnungsprinzip, das gestattet, die chaotische Welt der Erscheinungen zu sortieren und einzuordnen. Auch die Medizin ist in diesem Sinn ein (immer wieder anderes) System: Zu Freuds Zeiten war es z. B. bestimmt von Virchows Entwurf der Zellularpathologie oder auch vom legendären »Mechanistenschwur« von Helmholtz, Brücke und Dubois-Reymond, die sich demnach verschworen haben sollen nachzuweisen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam seien als die chemisch-physikalischen. Im Fall der oben erwähnten Frau A. z. B. hatte Freud zu wählen, ob sie ins System der Psychologie (10 %) oder in das der Neurologie (90 %) einzuordnen sei.

    Damit ist zugleich der entscheidende Nachteil berührt: Systeme haben Systemgrenzen, Übergänge oder ein »sowohl als auch« sind nicht vorgesehen; entweder ist es bei Frau A. der Folgezustand einer Diphterie oder eine Neurasthenie. Übergänge und Mischformen sind systemwidrig und müssen daher »verdrängt« werden.

    Psychoanalyse und Medizinsystem: Synergien (»Kriegsneurosen«) und Dissonanzen (»Laienanalyse«)

    Schon in der Einleitung zu seinen »Vorlesungen« (1916–1917a) hatte Freud seine überwiegend medizinischen Hörer darauf vorbereitet: Was sie hier zu hören bekämen, würde etwas anderes sein als Medizin, auch etwas anderes als Psychiatrie (S. 13).

    Die im Folgenden zu behandelnden Ambivalenzen zwischen Psychoanalyse und Medizin in ihrer zweiten Phase waren weniger in der wissenschaftlichen Axiomatik als vielmehr in den berufspolitisch praktischen Gegebenheiten begründet. Ein explizites Interesse von Medizin und Gesundheitspolitik an der Psychoanalyse manifestierte sich in der Tatsache, dass auf dem Internationalen Budapester Kongress 1918 (Bericht von Ferenzci u. v. Freund, 1919) unmittelbar nach Kriegsende zwar nur wenige Psychoanalytiker, dafür aber Ministerialbeamte der österreichischen, ungarischen und deutschen Ressortministerien offiziell als Beobachter teilnahmen. Der Grund für dieses überraschende Interesse seien die Kriegsneurosen gewesen, denen die offizielle Psychiatrie während des Krieges relativ hilflos gegenübergestanden habe. Besondere Aufmerksamkeit hätten die Erfahrungen des deutschen Arztes und Psychoanalytikers Ernst Simmel in einem Militärhospital während des Krieges gefunden (Gay, 1988, S. 376). Auch Freuds dortiger Kongressbeitrag (1919a) kehrt (vielleicht im Blick auf die Hospitanten) die Nähe zur Medizin heraus: Gleich einleitend spricht er von »unserer ärztlichen Aufgabe« (S. 183), betont das gelegentlich notwendige Aktivwerden des analytischen Arztes bis hin zur grundsätzlichen Bereitschaft, »das reine Gold der Analyse mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren«, wo dies in der »Massenanwendung unserer Therapie« notwendig sein sollte (S. 193). Er fasst »Anstalten und Ordinationsinstitute« für die ärmeren Schichten ins Auge, »an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind« (S. 193), und erwähnt zum Schluss auch die zurückliegenden Erfahrungen in der Behandlung der Kriegsneurotiker. »Die Erfahrungen an Kriegsneurotikern«, sagt Ferenczi in seinem Budapester Vortrag etwas süffisant, »führten allmählig (sic!) etwas weiter als zur Entdeckung der Seele« – »sie führten die Neurologen beinahe zur Entdeckung der Psychoanalyse« (S. 19).

    Auf Konfrontationskurs mit der Medizin hingegen führte der Streit um die Laienanalyse, das heißt um die Frage, ob auch andere als Ärzte die Psychoanalyse ausüben dürften, wie z. B. Oskar Pfister, der sie als Pfarrer in Zürich vor allem im Rahmen seiner Konfirmandenseelsorge, oder Hans Zulliger, der sie als »kleine Psychotherapie« bei Erziehungsschwierigkeiten in der Schule praktizierte.

    Der Streit spitzte sich im Jahr 1925 zu, als der nichtärztliche Psychoanalytiker Theodor Reik in Wien wegen Kurpfuscherei angeklagt wurde. In diesem Kontext entstand Freuds Abhandlung »Die Frage der Laienanalyse« (1926e). Freud geht hier auf grundsätzliche Distanz: Es sei nicht zu wünschen, dass »die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde« (S. 283). Nach seiner dezidierten Meinung gab es keinen sachlichen Grund, die Zulassung zur psychoanalytischen Ausbildung und Tätigkeit auf Ärzte zu beschränken.

    Freuds Vorstellungen waren auch unter den Psychoanalytikern umstritten. Auf einem Symposium 1927 prallten die Meinungen hart aufeinander, selbst in Freuds Wiener Gruppe: Reik sprach sich (nicht ganz unparteiisch, wie er einräumt) dafür aus, Hitschmann, Sadger und Deutsch (sämtlich Ärzte) dagegen: mit rechtlichen oder medizinischen Begründungen. England und Ungarn waren eher laienanalysefreundlich eingestellt, am dezidiertesten war die Ablehnung in den USA (Gay, 1988, S. 495 ff.).

    Da das medizinische (und sicherlich einleuchtende) Hauptargument darin bestand, dass nur der Arzt eine medizinisch behandlungsbedürftige körperliche Krankheit ausschließen könne, erklärt sich daraus, wie wichtig es Freud z. B. in seinen Auseinandersetzungen mit Groddeck war, die Grenze zwischen psychischen Krankheiten, die in die Zuständigkeit der Psychoanalyse fallen sollten, und physischen, für die die Medizin zuständig sei, so strikt zu verteidigen.

    Freud lässt in seiner abschließenden Stellungnahme (1926a) zu dieser unendlich langen Diskussion in den Heften 1 bis 3 der »Internationalen Zeitschrift« (1927), in der sich immer wieder die gleichen Argumente wiederholten, eine gewisse Resignation anklingen, gibt aber doch in einigen Punkten nochmals eine dezidierte eigene Stellungnahme ab, vor allem: »daß die Psychoanalyse kein Spezialfach der Medizin ist […]. Die Psychoanalyse ist ein Stück Psychologie, auch nicht medizinische Psychologie im alten Sinne oder Psychologie der krankhaften Vorgänge, sondern Psychologie schlechtweg« (S. 289) – ebenso wie Elektrizitäts- oder Strahlenlehre Teile der Physik seien, auch wenn sie von der Medizin in Dienst genommen werden könnten. Er schließt: »Die […] medizinische Ausbildung erscheint mir als ein beschwerlicher Umweg zum analytischen Beruf, sie gibt dem Analytiker zwar vieles, was ihm unentbehrlich ist, lädt ihm aber außerdem zu viel auf, was er nie verwerten kann« (S. 288).

    Für eine Übergangszeit, so gesteht Freud zu, »solange die Schulen nicht bestehen, die wir uns für eine Heranbildung von Analytikern wünschen, sind die ärztlichen Personen das beste Material für den künftigen Analytiker. Nur darf man fordern, daß sie ihre Vorbildung nicht an Stelle der Ausbildung setzen […], daß sie der Versuchung widerstehen, mit der Endokrinologie und dem autonomen Nerven-system zu liebäugeln, wo es darum geht, psychologische Tatsachen durch psychologische Hilfsvorstellungen zu erfassen« (S. 294). Also auch für die Mediziner gilt: psychologia psychologice!

    Schließlich lehnt er die lässige Sprachgewohnheit ab, die »ärztliche« als die »richtige Analyse« von deren »Anwendungen« abzugrenzen. »In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet« (S. 295).

    Alle diese Punkte laufen darauf hinaus, die Psychoanalyse als »ein Stück Psychologie« – oder vielleicht richtiger noch: als eine Wissenschaft sui generis zu postulieren, die methodisch autonom ihren eigenen Erkenntnisgesetzen folgt und ebenfalls nur nach Methoden sui generis gelehrt und gelernt werden kann. Dies würde zum Konzept einer Psychoanalytischen Universität führen, wie es heute in Berlin und Wien realisiert ist.

    Freud und der Nobelpreis: Literatur, Medizin oder keins von beiden?

    Der schwedische Psychologe Nils Wiklund (2007) hat die Geschichte der gescheiterten Versuche, Freud für die Nobelpreise für Literatur und für Medizin zu nominieren, unter Benutzung des Materials der Schwedischen Akademie nachgezeichnet. Zum erstgenannten ist hier nicht viel zu sagen: Der Vorschlag kam von Romain Rolland, der gerade selbst den Nobelpreis bekommen hatte; er wurde von den Gutachtern abgelehnt.

    Der Nobelpreis für Medizin war längere Zeit in der Diskussion. Bereits in den Jahren 1915–1920 wurde Freud mehrfach vorgeschlagen und dann nochmals mehrfach in den Jahren 1927–1937. Hier erscheinen die letzten Endes zwar ablehnenden Gutachten substanzieller und gerechter das Für und Wider abwägend. Einer der Gutachter, der schwedische Psychiater Viktor Wigert, urteilte 1933, »Freuds Betrachtungsweise sei in hohem Grad revolutionie-rend. Auch wären mehrere ›Entdeckungen‹ Freuds so wichtig für die Psychiatrie, daß ein Nobelpreis sicherlich in Frage kommen könne. Das Problem sei jedoch, daß Freuds Lehren immer noch unbewiesen seien – die Verleihung eines Nobelpreises aber setze voraus, daß die zu belohnende Entdeckung völlig gesichert sei« (Wiklund, 2007). Besser lässt sich das Dilemma »Freud und die Medizin« kaum charakterisieren: revolutionäre Entdeckungen, von durchaus nobelpreiswürdiger Wichtigkeit für die Psychiatrie – aber eben nicht im strengen Sinn der Medizin bewiesen, die »unumstößliche naturwissenschaftliche Beweise« verlange.

    Freud spielte eben nicht in dieser Liga. Einstein hat den Nagel wohl auf den Kopf getroffen, als er damals urteilte: Es erscheine ihm zweifelhaft, ob ein Psychologe wie Freud für den Medizinnobelpreis tatsächlich wählbar sei (Gay, 1988, S. 456, Fußnote). Da haben wir es: Daniel Kahneman, der einzige Psychologe, der bisher meines Wissens einen Nobelpreis erhielt, bekam den für Wirtschaftswissenschaft! Für Psychologen gibt es eben anscheinend keinen Nobelpreis, welcher Richtung sie auch angehören mögen.

    Freuds Stolperstein: die Psychosomatik

    Freud hatte die Psychoanalyse »als Psychologie« begründen wollen, »dualistisch« hatte Ferenczi diesen Ansatz genannt. Damit aber war der Körper nicht aus der Welt geschafft, auch »als Psychologe« (der noch dazu von Hause aus Arzt war!) musste sich Freud wohl oder übel zu ihm verhalten.

    Wie kommt das Psychische in den Körper? Die Antwort, die der »Dualist« Freud fand: durch Konversion. Psychische Zuständlichkeiten, also vor allem unintegrierbare Affekte, können ins Körperliche verschoben werden und sich dort als hysterisches Symptom manifestieren. Diese Vorstellung stammt aus Freuds frühester Zeit; schon bei Anna O., der »Urpatientin« der Psychoanalyse, waren solche Konversionssymptome reichlich zu finden. Besonders bekannt ist die Episode (Breuer, 1895/1979, S. 243 f.) mit dem kleinen Hund ihrer Gesellschafterin, einem »ekelhaften Tier«, das aus dem Glas seines Frauchens trank. Anna, die das beobachtete, konnte plötzlich nicht mehr trinken: Der Ekelaffekt war in eine körperliche Funktionshemmung »konvertiert« worden. Der Ekelaffekt wird im hysterischen Symptom ver-leiblicht. Dieses Konversionsmodell blieb in der Psychoanalyse während der nächsten zwanzig Jahre mehr oder weniger unangetastet.

    In die Diskussion kam erst Bewegung, als der Baden-Badener Naturheilarzt Georg Groddeck (1866–1934) am 27. Mai 1917 mit einem langen Brief Kontakt zu Freud aufnahm (Groddeck u. Freud, 1974). Er schildert dort die Erfahrungen, die ihn in seiner Arbeit mit somatisch Kranken von der Richtigkeit der psychoanalytischen Annahmen wie Verdrängung und Widerstand überzeugt hätten. In diesem Brief hatte Groddeck seine theoretische Position umrissen: »[…] daß Körper und Seele ein Gemeinsames sind, daß darin ein Es steckt, eine Kraft, von der wir gelebt werden, während wir zu leben glauben« (S. 9). Freud ist begeistert von Groddecks Beispielen, von denen viele, aber durchaus nicht alle, im heutigen Sinn als »psychosomatisch« klassifiziert werden können (etwa das Arthrose-Beispiel in Groddeck, 1923, S. 159 ff.). Strittig bleibt aber bis ans Ende ihres beiderseitigen wissenschaftlichen Austausches (Groddeck starb 1934) dessen monistisches und vitalistisches Dogma, wie bereits zitiert. Freud hält es für einen mystizistischen Irrweg, den Unterschied zwischen Seelischem und Körperlichem aufzuheben. Das seien »philosophische Theorien […], die nicht an der Reihe sind« (Groddeck u. Freud, 1974, S. 15, zu Groddecks vitalistischer Konzeption vgl. Fröhlich, 2016).

    Freuds Paradigma ist ein klar begrenzt psychologisches. Ihn interessieren allein die Verknüpfungen und Kausalitäten im Seelischen, das Körperliche kommt, wie in der Konversion, lediglich als Erfolgsorgan für Seelisches in Betracht. Der Dissens zwischen beiden findet seinen Höhepunkt 1923, als Groddeck sein »Buch vom Es« veröffentlicht und Freud nur wenige Monate später seine Abhandlung »Das Ich und das Es« (1923b), worin er Groddecks Es-Begriff übernimmt, ihn aber in sein eigenes Modell vom Ich, Es, Über-Ich einpasst, was Groddeck als eine Art Verstümmelung und Domestizierung seines »all-waltenden« Es empfindet.

    In der Zwischenzeit hatte Groddeck an Sándor Ferenczi (1873–1933) einen Bundesgenossen und Freund unter den Psychoanalytikern gefunden, dessen Gedanken sich in eine ähnliche Richtung bewegten und der seinerseits das strikt begrenzte psychologische Paradigma Freuds aufzusprengen versuchte, indem er eine »Bioanalyse« projektierte (1924/1972). Obwohl Freud sich Ferenczi gegenüber nicht so dezidiert äußerte, würde er den Groddeck gegenüber explizit erhobenen Vorwurf, das Organische »mutwillig« zu beseelen (Groddeck u. Freud, 1974, S. 137), der Sache nach vermutlich auch gegen Ferenczi erheben. Ferenczi, Groddeck und später Wilhelm Reich also versuchten, die von Freud strikt gesetzte und verteidigte Grenze seines »psychologischen Paradigmas« zu sprengen.

    Es ist nunmehr eine Reihe von Schülern Freuds zu würdigen, die im Kontext der sich konstituierenden psychosomatischen Betrachtungsweise bedeutende Beiträge geleistet haben. Felix Deutsch, Viktor von Weizsäcker und Franz Alexander versuchten auf je unterschiedliche Weise, die Ferenczi-Groddeck’sche Spekulation auf den Boden des wissenschaftlich Nachvollziehbaren zurückzuholen, während Siegfried Bernfeld, der einzige Psychologe in dieser Reihe von Ärzten, sich mit Ferenczi überwiegend kritisch auseinandersetzte, an Freuds Postulat einer »reinen Psychologie« ohne Abstriche festhalten wollte und dafür Sukkurs in der akademischen Psychologie seiner Zeit

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