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Die Therapeutische Beziehung in der Psychotherapie: Vom Erstgespräch bis zum Therapieabschluss
Die Therapeutische Beziehung in der Psychotherapie: Vom Erstgespräch bis zum Therapieabschluss
Die Therapeutische Beziehung in der Psychotherapie: Vom Erstgespräch bis zum Therapieabschluss
eBook390 Seiten4 Stunden

Die Therapeutische Beziehung in der Psychotherapie: Vom Erstgespräch bis zum Therapieabschluss

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Über dieses E-Book

Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung für den Therapieerfolg ist verfahrensübergreifend nachgewiesen. In zahlreichen Publikationen werden diese Effekte beschrieben und wissenschaftlich begründet. Wie sich Therapeut*innen jedoch den Herausforderungen eines therapeutischen Dialogs stellen müssen, an welche Grenzen sie geraten können und wie sich die Beziehung über längere Verläufe hinweg bewegt und verändert, wird in diesem Buch beschrieben.  Angehende Psychotherapeut*innen erfahren hier am Beispiel von Einzelfallberichten und allgemeinen theoretischen Reflexionen, wie sich die therapeutische Beziehung über alle Phasen der Therapie – vom Erstgespräch bis zum Therapieabschluss – entwickeln kann, welche Probleme es zu bewältigen gibt und wie jede*r Therapierende einen eigenen Weg zu einer tragfähigen Beziehung mit seinen/ihren Patient*innen findet.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum25. Juli 2021
ISBN9783662621127
Die Therapeutische Beziehung in der Psychotherapie: Vom Erstgespräch bis zum Therapieabschluss

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    Buchvorschau

    Die Therapeutische Beziehung in der Psychotherapie - Gisela Gandras

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021

    G. GandrasDie Therapeutische Beziehung in der Psychotherapiehttps://doi.org/10.1007/978-3-662-62112-7_1

    1. Einleitung

    Gisela Gandras¹  

    (1)

    Bad Schwartau, Schleswig-Holstein, Deutschland

    Gisela Gandras

    Email: ggandras@gmx.de

    1.1 Professioneller Rahmen

    1.2 Historische Veränderungen

    1.3 Psychotherapie im Gegensatz zu anderen heilkundlichen Disziplinen

    1.4 Die Unmöglichkeit oder Asymmetrie der therapeutischen Beziehung in der Psychotherapie

    1.5 Familiarität

    1.6 Freundschaft und Liebe

    1.7 Die Bedeutung der Sprache im therapeutischen Dialog

    1.8 Spiritualität

    Theoretisch ist die therapeutische Beziehung als einer der wichtigsten Faktoren für den Erfolg einer Psychotherapie gut beforscht. Hermer und Röhrle gehen in ihrem 2008 erschienenen Handbuch ausführlich auf historische, methodische und diagnostische Aspekte der Patient-Therapeut-Beziehung ein. Speziell für die psychodynamischen Psychotherapien legen Gödde und Stehle (2016) eine fundierte Zusammenstellung von Forschungsergebnissen zur Therapiebeziehung vor.

    Im hier vorgelegten Band geht es nicht um eine wissenschaftliche Erklärung dafür, warum der therapeutischen Beziehung ein solcher Stellenwert in Heilungsprozessen zukommt, sondern es soll die praktische Seite dieser wichtigen Therapievariable beleuchtet werden. Im Fokus steht deshalb die Frage: Wie kann ein Therapeut wirksame Therapiebeziehungen aufbauen? Wie kann er sie steuern, verbessern und halten? Worauf hat er Einfluss? An welchen Beobachtungen kann er sich orientieren?

    Begonnen wird mit einigen Anmerkungen über allgemeine Charakteristika von Psychotherapiebeziehungen.

    In welchem beruflichen Kontext entstehen sie?

    Welche historische Entwicklung hat dieses eher moderne Berufsbild bereits erfahren?

    Wie unterscheiden sich Psychotherapiebeziehungen von anderen Arzt-Patient-Beziehungen?

    Welche Elemente von Psychoedukation und Beratung gehören zur Psychotherapie, welche nicht?

    Welche Analogien zu familiären und persönlichen Beziehungen lassen sich herstellen?

    Welchen Stellenwert haben weltanschauliche Aspekte im therapeutischen Dialog?

    1.1 Professioneller Rahmen

    Den professionellen Rahmen, in dem eine Psychotherapie durchgeführt wird, gibt in der Regel die gesetzliche oder auch private Krankenversicherung vor, zu der ein Therapeut über seine Kassenzulassung einen Zugang erhält. Daneben gibt es nach wie vor einen freien Markt für Psychotherapie im Rahmen des Heilpraktikergesetzes. Wirtschaftliche Grundlage ist ein Vertrag über eine kostenpflichtige heilkundliche Leistung. Diese wird im Fall einer Versicherungsleistung nicht vom Patienten selbst, sondern über seine Krankenversicherung reguliert. Schon diese indirekte Form der Bezahlung kann Auswirkungen auf die Therapiebeziehung haben, je nachdem, welche Einstellung der Patient zum Solidarprinzip von Versicherungen und deren Leistungen hat:

    Der Patient betrachtet den Therapeuten als Dienstleister, dessen Bemühungen er über seinen Beitrag abgegolten hat, sodass er einen Anspruch auf Psychotherapie hat.

    Der Patient hat Skrupel, die Leistung in Anspruch zu nehmen, nimmt er dadurch doch viel kränkeren Patienten den Platz weg.

    Der Patient ist bestrebt, den „Besten" aus der Gruppe der Therapeuten ausfindig zu machen, analog einem sehr teuren Medikament, das auf jeden Fall bessere Wirkungen verspricht als ein Generikum.

    Der Patient möchte zwar die mit der Psychotherapie verbundene Aufmerksamkeit und Fürsorge in Anspruch nehmen, negiert aber die auf dem Weg dorthin erforderliche Diagnose einer psychischen Erkrankung und kämpft mit dem Therapeuten darum, nicht als krank gewertet zu werden. Aus dem Blickwinkel der Krankenkasse entspricht eine solche Haltung einem Versicherungsbetrug: Eine Leistung wird gefordert, obwohl kein Schadensfall vorliegt.

    Vom Therapeuten wird als Voraussetzung eine Approbation erwartet, mit der gewährleistet ist, dass er eine staatlich kontrollierte Ausbildung absolviert hat; somit ist eine Qualitätskontrolle für seine Professionalität gegeben. Der Patient kann also davon ausgehen, dass der Therapeut „gut" ist, d. h. er arbeitet professionell und unterwirft sein Vorgehen bestimmten qualitativen Anforderungen. Ob er diese Anforderungen einhält, wird jedoch nur im Verlauf seiner Ausbildung durch laufende Supervision der ersten 15 bis 20 eigenen Behandlungsfälle überprüft. Nach Abschluss der Ausbildung kann der Therapeut sein Vorgehen weitgehend selbst bestimmen, er ist lediglich in folgenden Punkten zu einer Kontrolle seiner Tätigkeit verpflichtet:

    Fortbildungspflicht

    Qualitätsmanagement inkl. Dokumentationspflicht

    Einhaltung der Psychotherapie-Richtlinien

    Berichtspflicht für Langzeittherapieanträge (Gutachterverfahren)

    Alle vier Bereiche sind für die Gestaltung von therapeutischen Beziehungen relativ unbedeutend: Die Fortbildungspflicht ist inhaltlich nicht eingegrenzt, der Psychotherapeut kann beliebig entscheiden, ob er sich mit Abrechnungsmodalitäten, neuen Therapietechniken oder mit Supervision beschäftigt. Schaut man sich die Manuale zum Qualitätsmanagement an, mit denen die geleistete Arbeit abgesichert werden soll, so stößt man auf Kriterien, die das Wesen psychotherapeutisch effektiver Arbeit nur rudimentär wiedergeben können. Variablen wie „Strukturqualität, „Ergebnisqualität und „Prozessqualität" legen zwar nahe, dass in einer Psychotherapie messbar ist, wie gut ein Therapeut gearbeitet hat, die Daten für solche Beurteilung kommen jedoch eher aus formalen Einschätzungen, z. B. ob die Vorgänge in der Praxis sauber dokumentiert wurden, ob die Stunden regelmäßig eingehalten wurden und ob die Praxisräume in hygienisch einwandfreiem Zustand sind. Was wirklich im Verlauf der Therapie bewegt wurde, z. B. das Vorkommen von Einsichtsmomenten (siehe Kap. 6.​5), wie sie von Daniel Stern (2005) als entscheidendes Element für den Therapieeffekt bzw. -erfolg beschrieben wurde, ist so individuell, dass es naturgemäß in solchen Skalen keinen Niederschlag finden kann.

    Ein weiterer Faktor im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ist deren Versorgungsauftrag. Damit stellen die Kassen sicher, dass ihre Versicherten Zugang zu der von ihnen benötigten Leistung finden. Ein Therapeut verpflichtet sich, frei werdende Therapieplätze neu zu belegen und Termine zur Verfügung zu stellen, die über die Terminservicestelle gebucht werden. Für die Therapiebeziehung liegt die Annahme zugrunde, jeder Therapeut müsste potenziell mit jedem Patienten arbeiten können. Berechtigt daran ist natürlich das Postulat, dass Patienten nicht wegen fehlender Sympathie einfach zurückgewiesen werden können. Wie in den folgenden Kapiteln vertieft wird, sind jedoch unreflektierte Animositäten zwischen Therapeut und Patient schädlich für den Prozess und führen zu destruktiven Verstrickungen, unter denen eine psychische Gesundung nicht gefördert werden kann. Jeder Therapeut wird im Verlauf seiner Praxistätigkeit beobachten, dass er sich irgendwann an Fälle herantraut, die er wegen des Krankheitsbildes, des Auftretens des Patienten oder wegen persönlicher Empfindsamkeiten am Anfang nicht übernommen hätte. Umgekehrt muten sich gerade Berufsanfänger manchmal komplexe Fragstellungen zu, bei denen ein erfahrener Therapeut keine ausreichende Prognose sieht und die Behandlung deshalb ablehnt.

    Fallbeispiel

    Eine Kandidatin, die neben ihren ersten eigenen Therapien noch in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, wollte einen ihrer stationären Patienten ambulant weiterbehandeln. Die Supervisorin war einverstanden, doch der im Ausbildungsinstitut für die Zweitsicht zur Bestätigung der Indikation zuständige Arzt sah den Fall als zu kompliziert für eine Ausbildungsbehandlung an, sodass die Therapeutin ihre Idee nicht weiter umsetzen konnte. Als sie vier Jahre später ihre Approbation erreicht und eine Kassenzulassung erhalten hatte, übernahm sie den Patienten doch noch, der in der Zwischenzeit eine kurze VT absolviert hatte.

    Eine andere Kandidatin hatte bereits niederfrequent einige Stunden mit einer Patientin unter Supervision gearbeitet, doch es war noch kein Antrag auf Langzeittherapie gestellt worden, die Stunden wurden unter Probatorik bzw. der allgemeinen Gesprächsziffer mit dem Ausbildungsinstitut abgerechnet. Die Situation der Patientin spitzte sich zu, sie sagte Therapiestunden ab und geriet in eine Vernachlässigung ihrer Lebensbewältigung, die auf eine strukturelle Beeinträchtigung hindeutete. Unter dieser Entwicklung hielt es die Supervisorin nicht mehr für indiziert, eine Umwandlung in Langzeittherapie zu beantragen, zuvor sollten die Lebensverhältnisse einigermaßen geordnet sein, damit eine Regelmäßigkeit der Therapieteilname überhaupt abgesichert werden könne. Auch zeichneten sich Suchtaspekte ab, die noch nicht eingrenzbar waren. Die Therapeutin hielt sich nicht an die Empfehlung aus der Supervision, holte von einem zweiten Supervisor eine Meinung ein und setze die Behandlung unter dessen Begleitung fort.

    Diese Beispiele zeigen, wie tief eine Therapiebeziehung bereits in der Probatorik bzw. vor dem eigentlichen Beginn einer Therapie gehen kann, sodass sie über äußere Hindernisse hinweg gehalten wird.

    Die Lern- und Erfahrungsgeschichte, die ein Therapeut mit dem Beginn seiner eigenen Praxis eröffnet, ist individuell und einzigartig. Denn jede gescheiterte, ebenso wie jede halbwegs erfolgreiche Therapie ergänzt und erweitert den Erfahrungshorizont in alle Richtungen. So wird einerseits eine unter schwierigen Umständen begonnene und schließlich mit gutem Ergebnis abgeschlossene Therapie Mut machen, sich auf ähnlich problematische Ausgangskonstellationen einzulassen; ebenso wird ein Therapeut nach einem unglücklichen Therapieabbruch zukünftig vorsichtiger auf Warnhinweise reagieren, die die Prognose, Bündnisfähigkeit oder das angenommene Strukturniveau allzu sehr belasten oder einschränken.

    Lag bis 2017 noch im Gutachterverfahren eine gewisse Verlaufskontrolle, da bis dahin nach 50 bzw. 160 h ein Fortführungsantrag gutachterpflichtig war, so ist diese Funktion nun entfallen, Gutachter haben keinen Einblick mehr in den Verlauf und die Entwicklung therapeutischer Beziehungen.

    Ob der einzelne Therapeut es also als notwendig erachtet, seine Therapiebeziehungen immer wieder einer Prüfung zu unterziehen, ob er sich kontinuierlich fragt, was er tut und welche Bedeutung er für die einzelnen Patienten in je unterschiedlicher Weise hat, ist berufs- oder versicherungsrechtlich nicht zu regeln. Die meisten Therapeuten besuchen allerdings regelmäßig Intervisionsgruppen, wobei natürlich auch dort ihrer eigenen Initiative anheimgestellt ist, ob und wie viele Fälle sie den Kollegen vorstellen.

    Sind die ersten eigenen Therapiefälle im Rahmen der Ausbildung noch spannend und neu, so kann sich im Verlauf einer langjährigen Psychotherapiepraxis ein recht technisches Versorgungsverständnis entwickeln, unter dem Patienten im Stundentakt abgefertigt werden und der Therapeut sein Engagement im Wesentlichen als Zeiteinheit versteht, die er dem Patienten zur Verfügung stellt. Eine innere Repräsentanz des Patienten im Therapeuten entwickelt sich hier gar nicht erst, dieser muss sich mühsam die individuellen Familienverhältnisse ins Gedächtnis rufen, oder gar in seiner Akte nachlesen, während der Patient vor ihm sitzt. Eine lebendige therapeutische Beziehung wird zugunsten von Erfahrung und Routine vermieden. Ein solcher Therapeut, der vermeintlich schon alles weiß und nur noch wenig Interesse für die persönlichen Eigenarten seines Gegenüber aufbringt, wird zwar Sicherheit vermitteln, seine Patienten auf die Dauer aber kaum weiterbringen können. Vor allem wird er selbst kaum noch Freude an seiner Arbeit haben und die Gefahr eines Burn-out ist groß. Zwar ist die persönliche Zufriedenheit nicht der Zweck seiner Tätigkeit, sie ist aber in gewissem Umfang notwendig, wenn der Therapeut seine Arbeit als sinnvoll erleben will und sich die Bereitschaft bewahren soll, sich immer wieder auf neue Patienten einzustellen. Über „Burnout in der Psychotherapie" berichtet Schmidbauer (2006).

    Die folgenden Voraussetzungen begünstigen ein langjährig ausgeglichenes Arbeitsleben eines Psychotherapeuten:

    Der Therapeut hat ein Interesse an der Behandlung, das über eine begrenzte, technisch motivierte Zuwendung hinausgeht und sich aus einem Menschenbild speist, das auf seelische Gesundheit ausgerichtet ist.

    Der Therapeut ist bereit, sich als Gegenüber in der therapeutischen Beziehung für Projektionen, Erwartungen, Übertragungen zur Verfügung zu stellen und diese zu reflektieren.

    Er sieht sich in der Lage, für jeden neuen Patienten ein ausreichendes Maß an Interesse, Neugier und Empathie mitzubringen.

    Er ist bereit, sich auf das Entwicklungstempo des Patienten einzulassen, dies nicht zu forcieren, sich aber auch nicht mit einem Stillstand zu arrangieren.

    Auf einen Blick

    Seinen Versorgungsauftrag kann ein Psychotherapeut nur so weit erfüllen, als er sich dem Patienten und seiner Problematik gewachsen fühlt und er eine ausreichend wohlwollende, positive Grundhaltung entwickelt.

    Andererseits muss einem Therapeuten zugemutet werden, sich auch schwieriger Patienten mit langer Vorgeschichte oder unsympathischen Persönlichkeitsaspekten anzunehmen, wenn eine Chance auf Verbesserung ihrer Symptomatik und Lebenssituation besteht.

    1.2 Historische Veränderungen

    Von den Veränderungen, die sich in der medizinischen Versorgung in den letzten 50 Jahren vollzogen haben, ist auch die Psychotherapie als spät darin verankerte Leistung schon betroffen. Ist das ärztliche Berufsbild auch nach wie vor hoch angesehen, so haben sich dessen Merkmale verändert. Die Verehrung, die noch im vergangenen Jahrhundert einem scherzhaft als „Halbgott in Weiß" bezeichneten Arzt entgegengebracht wurde, ist aus unterschiedlichsten Gründen erodiert. Das hat sicher mit einem grundsätzlichen Rückgang autoritärer Beziehungsstrukturen zu tun (auch Polizisten oder Ersthelfer werden immer häufiger im Rahmen ihrer Arbeit infrage gestellt oder gar attackiert), aber auch mit einer Technisierung medizinischer Leistungen, mit der Auflösung lebenslanger Bindungen an einen persönlichen Hausarzt, mit der Verbreitung von Gemeinschaftspraxen und Teilarbeitsmodellen, aber auch mit einem höheren Gesundheitsbewusstsein, bei dem Krankheit nicht mehr als schicksalhafte Fügung gilt, sondern als Folge ungesunder oder riskanter Lebensweise. Waren Krankenkassen und Sozialversicherungen zu Zeiten ihrer ersten gesetzlichen Umsetzung als Pflichtversicherung ein Instrument, um materielles Elend Kranker und ihrer Familien abzuwenden, so sind sie immer mehr zu Gesundheitskassen geworden, deren Schwerpunkt in der Prophylaxe, also dem Verhindern von Krankheit liegt: Fitnesskurse werden von Krankenkassen mitfinanziert, ebenso wie Entspannungsübungen, Ernährungsberatungen, Raucherentwöhnungen und Kreislauftrainingsmaßnahmen. Medizinische Erkenntnisse sowie Forschungsschwerpunkte zielen nicht mehr vorrangig auf die Entwicklung von Behandlungstechniken ab, sondern auf Verhinderung von Krankheiten, Minimierung von Risiken. Damit haben medizinische Leistungen einen pädagogischen Charakter gewonnen. Sieht man sich eine moderne Reha-Klinik an, erschließt sich auf den ersten Blick, dass hier keine Kranken oder Pflegebedürftigen herumlaufen, sondern Lernende, Kursteilnehmer in Sportkleidung, die mit Geschäftigkeit ihr Tagespensum an Übungsgruppen und Seminaren erledigen. Neben die genuinen ärztlichen Behandlungsaufgaben, wie Medikation, Operation und differenzierte Diagnostik, sind pädagogische Aufgaben der Prävention und Gesundheitserziehung getreten. Heilserwartungen werden abgelöst durch das Postulat von Selbstdisziplin in der Lebensführung: gesunde Ernährung, Bewegung, Stressausgleich, Vermeiden von Suchtmitteln.

    Die Psychotherapie kommt nicht nur aus einer ärztlich-autoritären Position heraus, sondern hat daneben auch eine pädagogische Tradition, insbesondere in den humanistischen Ausprägungen oder schon zu den Gründungszeiten der Psychoanalyse in der Individualpsychologie Alfred Adlers als erste Abspaltung der Psychoanalyse. Wenn Patienten oder Ratsuchende hier autoritäre Erwartungshaltungen zeigen, haben diese eher weltanschaulich-religiösen Charakter, Therapeuten werden als spirituelle Lehrer, als Lebenshelfer, Seelsorger angesehen, von denen man Anregungen und Kenntnisse über ein „richtiges Leben erwartet (siehe Alfred Adler: „Wozu leben wir?, 1931, und „Vom Sinn des Lebens, 1933) In der großen antiautoritären Befreiungsbewegung der 70er bis 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelten sich psychologisch ausgerichtete Heilslehren, die zuweilen den Nimbus von Scharlatanerie und Esoterik hatten, sodass sich die Psychotherapie erst allmählich sozusagen aus der Schmuddelecke als ernstzunehmende seriöse Heilbehandlung etabliert hat. Buchholz (2006) schreibt dazu: „Psychotherapie war etwas, dessen sich die allgemeine Ärzteschaft annahm und sehr ambivalent darauf reagierte: Einerseits wurde sie immer als unwissenschaftlich diffamiert, andererseits vertrat man selbstbewusst gegenüber den Neuerern, dass man das schon immer gemacht habe (S. 72). In dem Ausmaß, in dem Psychotherapie immer selbstverständlicher als Kassenleistung in Anspruch genommen wird, machen Versicherte selbstbewusst ihren Anspruch auf diese Leistung geltend als etwas, die ihnen zumindest alle zwei Jahre zusteht. Der pädagogische Aspekt schlägt sich in den Formulierungen vieler Patienten nieder, die etwas lernen möchten: sich besser durchzusetzen, sich abzugrenzen, für sich zu sorgen, egoistischer zu werden etc. und die gleichwohl damit psychische Symptome vorweisen wie aggressive Hemmungen, allzu altruistische Beziehungsmuster bis zur Selbstaufgabe etc. Versorgungs-, Heilungs- und Lernaspekte kommen deshalb gleichmäßig in den Erwartungen von Psychotherapiepatienten vor.

    1.3 Psychotherapie im Gegensatz zu anderen heilkundlichen Disziplinen

    Doch gibt es trotz des pädagogischen Überschneidungsbereichs bei der Psychotherapie und anderen medizinischen Fachgruppen einen wesentlichen Unterschied: Die Psychotherapie ist keine Anwendung oder Technik, die auf einen im Wesentlichen passiven, im Extremfall gar narkotisierten Patienten ausgeübt wird, und sie ist selbst in der verhaltenstherapeutischen Vertiefung mehr als ein reiner Lernprozess.

    Voraussetzung für eine Psychotherapie ist ein hohes Engagement des Patienten, eine Hoffnung, eine Heilserwartung, die er aktiv mitgestaltet. Es lässt sich sozusagen mit Haut und Haaren auf die Behandlung ein. Nur wenn er eine große Offenheit zeigt, die Therapieziele mit formulieren kann (siehe Hohage 2000, S. 12 ff.), und bereit ist, über sein inneres Erleben Auskunft zu geben und regelmäßig zu kommen, kann die Therapie Ergebnisse bringen. Diese Eigenleistung ist allerdings zu einem geringen und meist nur kurzfristig wirkungsvollen Teil kompensierbar durch Suggestion oder durch Identifikation mit dem Therapeuten. Je charismatischer die Ausstrahlung des Therapeuten ist, je souveräner sein Auftreten angesichts quälender psychischer Mangelzustände des Patienten, wird schon dieser erste Eindruck positive Effekte haben, fühlt er sich doch gleich aufgehoben, erkannt, gehalten und sicher. Diese Sicherheit ist aber nur geliehen und wird kaum anhalten (siehe Abschn. 5.​4 zu Übertragungsheilungen). Im therapeutischen Prozess muss der Patient die mit dem Beginn der Therapie verbundene Hoffnung auf Veränderung transformieren in eine Bereitschaft, konsequent sein Verhalten und Erleben zu überdenken und zu modifizieren. Umgekehrt kann sich der Therapeut nicht auf seinen Anfangserfolgen ausruhen, sondern muss den Patienten auf einem Weg begleiten, der ihn selbst überflüssig macht und den Patienten von seinem Einfluss ablöst. Nur dann können die begonnenen Veränderungen für die Zeit nach dem Ende der Therapie stabil bleiben. Der langfristige Effekt einer Psychotherapie lebt also davon, was der Patient im Verlauf der Behandlung verinnerlicht hat, was er als sein eigenes, persönliches Ziel angenommen hat und unabhängig von der Gegenwart des Therapeuten weiter verfolgt. Der Therapeut arbeitet darauf hin, sich und seine Funktion im Patienten zu verankern und als Gegenüber entbehrlich zu werden.

    Die therapeutische Beziehung hat damit eine intensivere Bedeutung als in anderen Bereichen. Einem Kardiologen oder Orthopäden ist es möglich, mit seinem Patienten vor oder nach seinem diagnostischen/therapeutischen Eingriff über belanglose Dinge zu plaudern, Meinungen auszutauschen, und sogar persönliche Fragen zu stellen. Die persönliche Beziehung – so sie denn vom Arzt gewünscht wird – tritt hier neben die heilkundliche, ohne dass letztere beeinträchtigt wird. In einer psychotherapeutischen Beziehung dagegen gibt es eine solche, persönliche Ebene neben der professionellen nicht und darf sie nicht geben, da alle Informationen, die der Patient offenbart, von therapeutischem Interesse sind, während die Ausgangslage des Therapeuten neutral bleiben muss. Sprich: eine Trennung von sachlich notwendigen und persönlichen Beziehungsaspekten ist in der Psychotherapie nicht möglich. Eine so verstandene Neutralität des Therapeuten bedeutet nun aber keineswegs, dass er nicht emotional auf das reagieren würde, was der Patient vorbringt. Im Gegenteil setzt der Therapeut seine eigenen Empfindungen zum empathischen Verständnis des Patienten und zur Reflexion der Wirkung seiner Äußerungen ein. Dieser Weg ist allerdings einseitig. Die persönlichen Reaktionen des Therapeuten dienen nicht zur Klärung seiner eigenen innerseelischen Spannungen oder Regulierung seiner persönlichen Interessen, sondern einzig allein dem szenischen Verständnis des Patienten. Dieses Merkmal der Einseitigkeit macht die Professionalität der Therapiebeziehung in der Psychotherapie aus.

    1.4 Die Unmöglichkeit oder Asymmetrie der therapeutischen Beziehung in der Psychotherapie

    Die Paradoxie der psychotherapeutischen Beziehung besteht darin, dass es hier einerseits um die persönlichsten Empfindungen, die intimsten Erlebnisse und die ureigensten Erfahrungen des Patienten geht, dass der Therapeut diese ganz persönlichen Offenbarungen versteht, teilt und spiegelt, oft in einem nie zuvor gekannten Ausmaß, dass er aber als Person selbst neutral und unsichtbar bleibt. Ausschließlich die persönlichen Befindlichkeiten des Patienten sind Gegenstand des therapeutischen Dialogs, die des Therapeuten sind unerheblich.

    Ebenso sind die Lebensumstände, Familienstand, Erfahrungen, Erlebnishintergrund etc. des Therapeuten unmaßgeblich. Jedes Detail aus dem persönlichen Leben des Therapeuten, das sich dem Patienten erschließt, kann zum Ausgangspunkt von Projektionen, Nähewünschen, Übertragungen des Patienten werden und beeinträchtigt die Neutralität des Therapeuten.

    Die absolute Vermeidung personenbezogener Offenbarungen ist andererseits eine Fiktion, die niemals einzuhalten ist, zeigt sich der Therapeut doch schon allein in seiner physischen Existenz, seiner Kleidung, seiner Sprache, der Ausstattung seiner Praxisräume in persönlicher Weise und verrät, was für ein Mensch er ist.

    Hilgers beschäftigt sich ausführlich mit dem Gleichgewicht zwischen Authentizität und Neutralität in der Psychotherapie. Er schreibt: „Begrenzte Äußerungen des Behandlers über sein eigenes Leben oder seine Erfahrungen sind dann förderlich, wenn sie dem therapeutischen Prozess und nicht der Selbstdarstellung des Therapeuten oder der Befriedigung der Neugier des Patienten dienen." (Hilgers 2018, S. 5)

    So wenig die persönlichen Erlebnisse des Therapeuten in der Behandlung thematisiert werden, so bilden sie doch den Hintergrund, die Matrix für dessen Empathie. Denn das Verständnis des Therapeuten für die Einlassungen des Patienten ergibt sich aus folgenden Quellen:

    Eigene Erfahrung analoger eigener Gemütszustände

    Klinische Erfahrung ähnlicher Krankheitssymptome und Therapieverläufe

    Theoretische Kenntnisse

    Der persönliche Fundus von miterlebten, gehörten, gelesenen, gesehenen Lebensgeschichten

    Natürlich kann kein Therapeut über eine so umfangreiche Lebenserfahrung verfügen, dass er für jedes vorgetragene Problem, jede Notlage auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann. Das ist weder möglich noch erforderlich. Dennoch bildet der Hintergrund eigener Erfahrungen die Grundlage für Einfühlung und Empathie. „Wir können den anderen lediglich durch die Linse unserer eigenen Subjektivität wahrnehmen. Um ihn zu verstehen, müssen wir ergründen, wie wir wahrnehmen", schreibt Jänicke (2010, S. 15). Der Therapeut wird, auch wenn er nicht das Erleben kennt, von seinem Ehepartner betrogen zu werden, die Gefühlsqualität der Eifersucht aus eigener Anschauung kennen, und sei es aus Erinnerungen an eine Rivalität mit Geschwistern um die Gunst der Eltern. Der Patient wird seinerseits sofort merken, wenn der Therapeut sich ihm auf der Grundlage einer tiefen Einfühlung zuwendet oder eher aufgrund eines abstrakten Problemverständnisses. So arbeitet sich der Therapeut im Dialog immer wieder dahin vor, dass er die vom Patienten gerade empfundenen Gemütsbewegungen teilen kann, dass er nicht nur weiß, sondern spürt, wovon dieser spricht. Im Extremfall darf ein Psychotherapeut auf eine Äußerung seines Patienten hin auch weinen, wenn er sicherstellen kann, dass seine Trauerreaktion (oder seine Rührung) einzig und allein aus dem aktuellen Patientenkontakt gespeist wird und nicht aus einer von ihm in die Therapiestunde hineingetragenen Grundstimmung heraus.

    Bollas nennt diese therapeutische Fähigkeit, das eigene Erleben im Kontakt mit dem Patienten und beim Anhören von dessen Einfällen wiederzubeleben das „selbstanalytische Moment und definiert: „Akzeptiert der Analytiker sich selbst in der Rolle eines Patienten, so steht dahinter die Einsicht, dass Sein und Selbst-Erfahrung der Kenntnis dessen, was verstanden werden soll, vorauszugehen haben. (2012, S. 246)

    Die eigene Erfahrung, d. h. Szenen und Bilder aus der eigenen Biografie sind zwar der Hintergrund, niemals aber der Gegenstand des Verständnisses. Dieses entsteht, wenn sich Therapeut und Patient in der Sitzung in ihrem gemeinsamen Erleben zu dem, was der Patient berichtet hat, begegnen. Selbstverständlich sind solcherart Begegnungen auch im alltäglichen Lebensbezug möglich, sie zeichnen sich durch das Erleben großer Nähe aus. Wie unterscheidet sich nun aber die therapeutische Nähe von der, durch die familiäre und freundschaftliche Bindungen getragen werden?

    1.5 Familiarität

    Therapiebeziehungen werden häufig mit familiären Bindungsmustern charakterisiert. Der Therapeut ist „der gute Vater, die „feinfühlige Mutter, die ein Patient in seiner Kindheit entbehrt hat. Und dem Therapeuten wachsen seinen Patienten wie Kinder ans Herz. Der Patient fühlt sich im Therapieraum „zu Hause". Die Therapiekinder werden flügge. Einerseits ist die Idee, man könne einen Patienten durch ausreichendes elterliches Wohlwollen zu einer Nachreifung bewegen und so versäumte Entwicklungsschritte nachholen, naiv und unanalytisch, da sie der angestrebten Bewusstwerdung verdrängter Konfliktebenen zuwiderläuft. Andererseits aber ist der in einer Psychotherapie bereit gestellte Entwicklungsraum sehr wohl einer elterlich-gewährenden Atmosphäre vergleichbar, sodass ohne eine positiv-wohlwollende Ausstrahlung des Therapeuten, ohne seine Freude über die Autonomieschritte, kaum eine gelungene Psychotherapie vorstellbar ist.

    Wie viel Familiarität darf also sein? Inwiefern ist es legitim, wenn Patienten ihren Therapeuten als Elternäquivalent betrachten? Da der wohl größte Teil von Übertragungsmustern aus der frühen Eltern-Kind-Beziehung, aus den darin erlebten Mängeln, den Defiziten und typischen Konflikten herrührt, ist eine Korrektur solcher Beziehungserfahrungen stets ein wesentlicher Bestandteil einer Psychotherapie; dies gilt implizit vermutlich auch für die Verhaltenstherapie. Für den Patienten wird damit der Therapeut zum Elternteil, im einengenden sowie im befreienden Sinne. Der Unterschied ist jedoch, dass es in der Therapiebeziehung nicht ausreicht, auf die Wirksamkeit der neuen Elternerfahrung zu bauen, sondern dass der Weg über das Bewusst-Machen von Elternerwartungen geht und der Therapeut sowohl die Eltern des Patienten als auch die eigene Position, die er gegenüber dem Patienten gelegentlich einnimmt, immer wieder relativiert. Die Arbeit „in der Übertragung (siehe Bettighofer 2004, S. 126 f.), bei der der Patient völlig neue Eltern-Erfahrungen macht, als er sie selbst als Kind hatte, wird immer ergänzt durch die Arbeit „an der Übertragung, bei der diese Prozesse bewusst gemacht werden und damit dem Einflussbereich des Patienten zugänglich sind (siehe König 1997, S. 52 f.). Analog fühlt sich der Therapeut mal als wohlwollender, mal als verärgerter Vater, und in ihm werden Empfindungen geweckt, die er aus dem Kontakt zu seinen eigenen Kinder, Eltern, Enkeln, Nichten und Neffen etc. kennt. Doch auch hier greift wieder die Asymmetrie: Der Patient darf sich familiär aufgehoben fühlen, während der Therapeut seine Empfindungen von Familiarität lediglich in der Reflexion seiner Gegenübertragung berücksichtigt. Er kann sogar an seiner Elternfunktion Freude haben, bleibt aber mit seinen eigenen familiären Bedürfnissen natürlich außerhalb der Therapie. Die Pflege seiner persönlichen Ressourcen im Privatleben – sei es als Familienmensch, als Alleinstehender, als Ehepartner – ist daher eine wichtige Voraussetzung für eine befriedigende Therapeutentätigkeit. Der Therapeut braucht ein privates Umfeld, in dem er sein kann, ohne sich pausenlos bewusst zu machen, was er gerade tut, was er sagen darf, sondern in dem er sich treiben lassen kann. Und der Patient braucht einen Therapeuten, der nicht auf ihn angewiesen ist, der ihn nicht benötigt, sondern dessen Interesse an ihm zwar erheblich, aber nicht persönlich ist.

    Fallbeispiel

    Wie unterschiedlich sich das eigene Erleben und die eigene Bewertung von Familiarität bei verschiedenen Therapeuten auswirken können, zeigt dieses Fallbeispiel aus der Supervision:

    Ein Ausbildungskandidat schilderte mir,

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