Traumafolgestörungen
Von Andreas Maercker
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Über dieses E-Book
Gewalterfahrungen, sexueller Missbrauch, Unfälle, Katastrophen oder Todesfälle im nahen Umfeld, extreme Situationen können zu Traumafolgestörungen führen. Seit 2018 unterscheidet die Weltgesundheitsorganisation in ihrem Klassifikationsverzeichnis vier solcher Störungen: die „klassische“ und die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, dazu die Anhaltende Trauerstörung und die Anpassungsstörung. Diese Langzeitfolgen werden im Buch genau vorgestellt. In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von Interventionen entwickelt, diese Störungen wirksam zu behandeln.
Diese Neuauflage wurde aufgrund der bahnbrechenden Neuerungen, an denen der Herausgeber auf internationaler Ebene entscheidend mit beteiligt war, weitgehend neu konzipiert.
Zu den Neuerungen gehören die Kapitel zu:
- · Komplexe posttraumatische Belastungsstörung
- · Gewalt in der Kindheit und ihre Folgen
- · Niedrigschwellige und innovative Interventionen
- · Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie
- · Psychodynamische Ansätze
DAS Handbuch zu den psychischen Traumafolgestörungen.
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Buchvorschau
Traumafolgestörungen - Andreas Maercker
Hrsg.
Andreas Maercker
Traumafolgestörungen5. Aufl. 2019
../images/45826_5_De_BookFrontmatter_Figa_HTML.pngHrsg.
Prof. Dr. Dr.Andreas Maercker
Abteilung Psychopathologie und Klinische Intervention, Universität Zürich Psychologisches Institut, Zürich, Schweiz
ISBN 978-3-662-58469-9e-ISBN 978-3-662-58470-5
https://doi.org/10.1007/978-3-662-58470-5
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 1997, 2003, 2009, 2013, 2019
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Vorwort zur 5. Auflage
Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es nun dieses Lehrbuch und Nachschlagewerk zu den psychischen Folgen von traumatischen Erlebnissen. Von Anfang an war es den Betroffenen, den Traumaopfern und -überlebenden, direkt gewidmet, und dies soll auch für die neue Auflage so sein. Sie sind es, um derentwillen spezifische Zugänge zum Verständnis ihrer trauma- und belastungsbedingten Störungen und therapeutisches Wissen benötigt werden, um ihre Leiden zu heilen oder zu lindern.
Diese 5. Auflage steht für eine wesentliche internationale Veränderung in den Konzepten und Modellen der zugrunde liegenden Psychotraumatologie. Das Internationale Klassifikationsverzeichnis der Krankheiten und Todesursachen (engl. abgekürzt ICD) der Weltgesundheitsorganisation hat in seiner gerade erschienen 11. Auflage (ICD-11) der „Posttraumatischen Belastungsstörung drei weitere Diagnosen zugesellt, die zusammen die „Traumafolgestörungen
bilden – bzw. in der Fachterminologie des ICD-11 die „Spezifisch belastungsbezogenen Störungen".
Die weiteren Diagnosen dieser Kategorien sind: die „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, die „Anhaltende Trauerstörung
und die „Anpassungsstörung. Das vorliegende Buch wurde gegenüber der Vorauflage vollständig neu strukturiert, um dieser Entwicklung angemessen Rechnung zu tragen. Nebenbei: dass die ICD-11 auf den Begriff „Traumastörungen
als Gruppenbezeichnung verzichtet und stattdessen auf „Belastungsbezogene Störungen" ausweicht, rührt daher, dass die WHO etwas gegen die von ihr international festgestellte Überkonjunktur des Traumabegriffs unternehmen wollte, welche in Ländern mit wenig ausgebauten Gesundheitsystemen weite Bereiche anderen wichtigen psychopathologischen Wissens in Vergessenheit geraten lässt. Dieses WHO-Anliegen wird inhaltlich auch von den Autoren des vorliegenden Buches unterstützt.
Die Neustrukturierung dieser Auflage lässt sich an den jeweils zwei oder mehreren korrespondierenden Kapiteln zu den vier genannten Diagnosen ablesen – zunächst einmal den vier einzelnen Grundlagenkapiteln, gefolgt im zweiten Teil des Buches von den Therapiekapiteln. Der PTBS als prominentester Diagnose sind mehrere neu verfasste Therapiekapitel zugeordnet, u. a. zu den kognitiv-behavioralen, den psychodynamischen und den niederschwelligen Verfahren. Die Therapie der „Komplexen PTBS" ist in zwei neu verfassten Kapiteln vertreten. Ein weiteres neues Kapitel widmet sich einem kultursensitiven Therapieansatz, der auf diejenigen Patientengruppen abzielt, die aus anderen Kulturkreisen außerhalb der westlichen Weltregionen kommen und für welche neue Zugangswege benötigt werden.
Als Herausgeber danke ich allen Mitautorinnen und Mitautoren für ihre Bereitschaft, an der 5. Auflage mitzuwirken. Ein besonderer Dank geht an die in dieser Auflage nicht mehr vertretenen Autorinnen und Autoren für ihre bisherige gute Zusammenarbeit bei der Verbreitung psychotraumatologischen Wissens. Im ehrenden Gedenken möchte ich an den verstorbenen Kapitelautor Günther Deegener erinnern, langjähriger Verantwortlicher im Deutschen Kinderschutzbund e. V., und an den sehr geschätzten Kollegen Lutz Goldbeck, der ursprünglich an seine Stelle treten wollte und der dann völlig überraschend ebenfalls verstarb. In diesem Buch gibt es wie in den Vorauflagen wieder Originalkapitel von englischsprachigen Erstautoren. Mein Dank gilt Dr. Iara Meili, die hier als Übersetzerin mitwirkte. Im Übrigen bedanke ich mich beim Team des Springer-Verlags, insbesondere bei Frau Renate Scheddin (Buchplanung), bei Frau Anja Herzer (Projektmanagement) und bei der Lektorin Frau Dr. Brigitte Dahmen-Roscher, die auch diese Auflage wieder in freundlicher und ideenreicher Weise voranbrachte.
Wir möchten darauf hinweisen, dass wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit in diesem Buch überwiegend das generische Maskulinum verwenden. Dieses impliziert natürlich immer auch die weibliche Form. Teilweise verfahren wir umgekehrt, indem wir das generische Femininum verwenden, das auch die männliche Form impliziert. Sofern die Geschlechtszugehörigkeit von Bedeutung ist, wird selbstverständlich sprachlich differenziert.
Es wäre schön, wenn dieses gemeinsame Buchprojekt wieder zum Nutzen der Betroffenen und Patienten beitragen kann.
Andreas Maercker
Wissenschaftskolleg zu Berlin
Januar 2019
Inhaltsverzeichnis
I Grundlagen
1 Zur Geschichte der Psychotraumatologie 3
H.-P. Schmiedebach
2 Die posttraumatische Belastungsstörung 13
A. Maercker und M. Augsburger
3 Komplexe PTBS 47
A. Maercker
4 Anhaltende Trauerstörung 61
C. Killikelly und A. Maercker
5 Anpassungsstörung 79
R. Bachem
6 Neurobiologie 95
C. Schmahl
7 Gewalt in der Kindheit und ihre Folgen 113
A. de Haan, G. Deegener und M. A. Landolt
8 Diagnostik und Differenzialdiagnostik 129
J. Schellong, M. Schützwohl, P. Lorenz und S. Trautmann
9 Begutachtung 157
U. Frommberger, J. Angenendt und H. Dreßing
II Therapie
10 Psychologische Frühinterventionen 189
J. Bengel, K. Becker-Nehring und J. Hillebrecht
11 Systematik und Wirksamkeit der Therapiemethoden 217
A. Maercker
12 Psychodynamische Behandlung von Menschen mit Traumafolgestörungen 229
L. Wittmann und M. J. Horowitz
13 Kognitive Verhaltenstherapie 249
T. Ehring
14 Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) 275
O. Schubbe und A. Brink
15 Niedrigschwellige und innovative Interventionen 299
A. Maercker
16 Behandlung der komplexen PTBS mit STAIR/Narrative Therapie 311
I. Schäfer, J. Borowski und M. Cloitre
17 Dialektisch-behaviorale Therapie für komplexe PTBS 331
M. Bohus und K. Priebe
18 Ansätze der kulturell angepassten kognitiven Verhaltenstherapie 349
D. E. Hinton
19 Psychopharmakotherapie von Traumafolgestörungen 365
M. Bauer, S. Priebe und E. Severus
20 Therapie der anhaltenden Trauerstörung 379
R. Rosner und H. Comtesse
21 Therapie der Anpassungsstörung 393
H. Baumeister, R. Bachem und M. Domhardt
III Spezielle Aspekte
22 Posttraumatische Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen 411
R. Steil und R. Rosner
23 Posttraumatische Belastungsstörungen bei körperlichen Erkrankungen und medizinischen Eingriffen 443
V. Köllner
24 Militär 461
K.-H. Biesold, K. Barre und P. Zimmermann
25 Folteropfer und traumatisierte Geflüchtete 481
M. Wenk-Ansohn, N. Stammel und M. Böttche
26 Gerontopsychotraumatologie 511
M. Böttche, P. Kuwert und C. Knaevelsrud
27 Besonderheiten bei der Behandlung und Selbstfürsorge für Traumatherapeuten 527
A. Maercker
Stichwortverzeichnis 547
Autorenverzeichnis
J. AngenendtDr.
Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotraumatologische Ambulanz, Universitätsklinikum Freiburg, Freiburg im Breisgau, Deutschland
joerg.angenendt@uniklinik-freiburg.de
M. AugsburgerDr.
Psychopathologie und Klinische Intervention, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
m.augsburger@psychologie.uzh.ch
R. BachemDr.
Psychopathologie und Klinische Intervention, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
r.bachem@psychologie.uzh.ch
K. Barre
Hamburg, Deutschland
kbarre@psychotraumanord.de
M. BauerProf. Dr. Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Technische Universität Dresden Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Dresden, Deutschland
michael.bauer@uniklinikum-dresden.de
H. BaumeisterProf. Dr.
Institut für Psychologie und Pädagogik, Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Ulm, Ulm, Deutschland
harald.baumeister@uni-ulm.de
K. Becker-NehringDr.
Staatliches Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit Internat, Förderschwerpunkt Hören, Stegen, Deutschland
katharina.becker-nehring@bbzstegen.de
J. BengelProf. Dr. Dr.
Institut für Psychologie Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie, Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau, Deutschland
bengel@psychologie.uni-freiburg.de
K.-H. BiesoldDr.
Hamburg, Deutschland
kbiesold@aol.com
M. BohusProf. Dr.
Institut Psychiatrische und Psychosomatische Psychotherapie, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI), Mannheim, Deutschland
martin.bohus@zi-mannheim.de
J. Borowski
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
j.borowski@uke.de
M. BöttcheDr.
Behandlungszentrum für Folteropfer, bzfo, Zentrum ÜBERLEBEN gemeinnützige GmbH, Berlin, Deutschland
Klinisch-Psychologische Intervention, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland
m.boettche@ueberleben.org
A. Brink
Abteilung Psychotraumatologie, Unfallkrankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland
annette.brink@ukb.de
M. CloitrePhD Dr.
VA Palo Alto Health Care System, National Center for PTSD, Menlo Park, USA
marylene.cloitre@va.gov
H. ComtesseDr.
Klinische und Biologische Psychologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland
hannah.comtesse@ku.de
M. Domhardt
Institut für Psychologie und Pädagogik, Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Ulm, Ulm, Deutschland
matthias.domhardt@uni-ulm.de
H. DreßingProf. Dr.
Zentralinstitut für seelische Gesundheit Bereich Forensische Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Mannheim, Deutschland
harald.dressing@zi-mannheim.de
T. EhringProf. Dr.
Department Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
thomas.ehring@psy.lmu.de
U. FrommbergerPD Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Mediclin Klinik an der Lindenhöhe, Offenbach, Deutschland
ulrich.frommberger@mediclin.de
A. de Haan
Psychologisches Institut – Gesundheitspsychologie des Kindes- und Jugendalters, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
Abteilung Psychosomatik und Psychiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz
anke.dehaan@kispi.uzh.ch
J. Hillebrecht
Institut für Psychologie, Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie, Universität Freiburg, Freiburg im Breisgau, Deutschland
hillebrecht@psychologie.uni-freiburg.de
D. E. HintonProf.
Mgh Chelsea Health Center, Psychiatry-Massachusetts Devon General Hospital, Chelsea, USA
devon_hinton@hms.harvard.edu
M. J. HorowitzProf. M.D.
Department of Psychiatry, Langley Porter Psychiatry Institute (LPPI), University of California, San Francisco, USA
mardih@lppi.ucsf.edu
C. KillikellyDr.
Psychopathologie und Klinische Intervention, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
c.killikelly@psychologie.uzh.ch
C. KnaevelsrudProf. Dr.
Klinisch-Psychologische Intervention, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland
christine.knaevelsrud@fu-berlin.de
V. KöllnerProf. Dr.
Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation, Rehazentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung und Charité Universitätsmedizin Berlin, Teltow, Deutschland
volker.koellner@charite.de
P. KuwertPD Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, HELIOS Hanseklinikum Stralsund, Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald, Stralsund, Deutschland
kuwert@uni-greifswald.de
M. A. LandoltProf. Dr.
Psychologisches Institut – Gesundheitspsychologie des Kindes- und Jugendalters, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
Abteilung Psychosomatik und Psychiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Zürich, Schweiz
markus.landolt@psychologie.uzh.chmarkus.landolt@kispi.uzh.ch
P. LorenzProf. Dr.
Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Technische Universität Dresden, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, Deutschland
patrick.lorenz@uniklinikum-dresden.de
A. MaerckerProf. Dr. Dr.
Psychopathologie und Klinische Intervention, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
maercker@psychologie.uzh.ch
K. Priebe
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, Berlin, Deutschland
kathlen.priebe@charite.de
S. PriebeProf. Dr.
Unit for Social and Community Psychiatry Newham Centre for Mental Health, Queen Mary University of London, London, England
s.priebe@qmul.ac.uk
R. RosnerProfessor Dr.
Klinische und Biologische Psychologie, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Eichstätt, Deutschland
rita.rosner@ku.de
I. SchäferProf. Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburg, Deutschland
i.schaefer@uke.de
J. SchellongDr.
Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Technische Universität Dresden, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, Deutschland
julia.schellong@uniklinikum-dresden.de
C. SchmahlProf. Dr.
Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, Deutschland
christian.schmahl@zi-mannheim.de
H.-P. SchmiedebachProf. Dr.
Campus Charité Benjamin Franklin, Institut für Geschichte der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
heinz-peter.schmiedebach@charite.de
O. Schubbe
Institut für Traumatherapie, Berlin, Deutschland
schubbe@traumatherapie.de
M. SchützwohlProf. Dr.
Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Technische Universität Dresden Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, Deutschland
matthias.schuetzwohl@uniklinikum-dresden.de
E. SeverusPD Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Technische Universität Dresden Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, Deutschland
emanuel.severus@uniklinikum-dresden.de
N. StammelDr.
Behandlungszentrum für Folteropfer, bzfo, Zentrum ÜBERLEBEN gemeinnützige GmbH, Berlin, Deutschland
n.stammel@ueberleben.org
R. SteilDr.
Institut für Psychologie, Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie, Goethe Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
steil@psych.uni-frankfurt.de
S. TrautmannDr.
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland
sebastian.trautmann1@tu-dresden.de
M. Wenk-AnsohnDr.
Potsdam, Deutschland
m.wenk-ansohn@ansohn.de
L. WittmannProf. Dr.
International Psychoanalytic University, Berlin, Deutschland
lutz.wittmann@ipu-berlin.de
P. ZimmermannPD Dr.
Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland
peter1zimmermann@bundeswehr.org
IGrundlagen
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 Zur Geschichte der Psychotraumatologie – 3
H.-P. Schmiedebach
Kapitel 2 Die posttraumatische Belastungsstörung – 13
A. Maercker und M. Augsburger
Kapitel 3 Komplexe PTBS – 47
A. Maercker
Kapitel 4 Anhaltende Trauerstörung – 61
C. Killikelly und A. Maercker
Kapitel 5 Anpassungsstörung – 79
R. Bachem
Kapitel 6 Neurobiologie – 95
C. Schmahl
Kapitel 7 Gewalt in der Kindheit und ihre Folgen – 113
A. de Haan, G. Deegener und M. A. Landolt
Kapitel 8 Diagnostik und Differenzialdiagnostik – 129
J. Schellong, M. Schützwohl, P. Lorenz und S. Trautmann
Kapitel 9 Begutachtung – 157
U. Frommberger, J. Angenendt und H. Dreßing
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019
Andreas Maercker (Hrsg.)Traumafolgestörungenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-58470-5_1
1. Zur Geschichte der Psychotraumatologie
H.-P. Schmiedebach¹
(1)
Campus Charité Benjamin Franklin, Institut für Geschichte der Medizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
H.-P. Schmiedebach
Email: heinz-peter.schmiedebach@charite.de
1.1 Von der Vielfalt der Diagnosen
1.2 Nervenleiden und Krieg
1.3 Diskussion nach 1945
Literatur
Psychische Reaktionen auf erschütternde Ereignisse sind seit der Antike bekannt. In der Ilias wird erzählt, wie sich Achill nach dem Tod seines Freundes Patroklos auf die Erde warf, die Haare raufte und weinte. Die Mittel zur Überwindung solcher „Nervenzusammenbrüche waren eine tröstende Umsorgung der Betroffenen oder eine im Ritual vollzogene gemeinsame Trauer. Die professionelle Auseinandersetzung mit Traumafolgestörungen, die erst im 19. Jahrhundert begann und mit modernen Lebens- und Arbeitsweisen und der Schaffung neuer Sozial- und Krankenversorgungssysteme verbunden ist, warf Fragen nach den Ursachen für die psychischen Folgeerscheinungen und nach gezielten therapeutischen Interventionen auf. Dominierten zunächst die Ärzte und Psychiater diese Debatten, so beteiligten sich später noch andere Professionen wie Juristen und Psychologen. Die Diskussionen kreisten mehr oder weniger um die zentrale Frage, wie sich im Hinblick auf ein körperliches und/oder psychisches Trauma das Verhältnis von Körper und Psyche gestaltete, welche Mechanismen für die diagnostizierten Symptome verantwortlich und welche individuelle Disposition (Konstitution) möglicherweise gegeben waren. Auch die Bedeutung des Unbewussten und der Wille, nicht zuletzt die Frage der Simulation, spielten eine Rolle. Die im Verlaufe dieser Debatten immer wieder sich ändernden Namen wie z. B. „Railway Spine
, „traumatische Neurose oder „posttraumatische Belastungsstörung
sind Hinweise darauf, wie sich die Ansichten zu Ätiologie, Pathogenese, Therapie etc. änderten und wie sich die sozialen Bewertungen verschoben. Auch die zeitgenössischen unterschiedlichen sozialen, rechtlichen und politischen Bedingungen waren dabei von einem bestimmenden Einfluss. Die Entwicklung der letzten 150 Jahre war dadurch gekennzeichnet, dass sich auf der einen Seite das Spektrum traumatisierender Ursachen sehr stark erweiterte, auf der anderen die Zahl der möglichen Diagnosen immer mehr abnahm, bis sich schließlich der Terminus „posttraumatische Belastungsstörung" als zentrale Diagnose durchsetzte.
1.1 Von der Vielfalt der Diagnosen
Als einer der ersten brachte der Londoner Chirurg John Eric Erichsen die Persistenz von psychovegetativen Störungen in seiner Schrift „On railway and other injuries of the nervous system" kausal mit einem Unfall in Verbindung (Erichsen 1866). Obwohl er als Schöpfer des Terminus „Railway Spine bezeichnet wird, lehnte er diesen Begriff ab und sprach von einer „concussion of the spine
. Diese Rückenmarkserschütterung sei ein häufiger Effekt von Eisenbahnunfällen und Folge einer Gewalteinwirkung, ohne dass man allerdings genau die „molecular changes" im Rückenmark beschreiben könne. Sekundär komme es zu entzündlichen Veränderungen des Rückenmarks, die nach einer gewissen Latenz zu Rückenschmerzen, Empfindungs- und Bewegungsstörungen in den Extremitäten, Verstopfung, Funktionsstörungen im Urogenitalbereich etc. führten. Auch die Beteiligung des Gehirns sei durch Gedächtnis-, Denk- und Schlafstörungen gegeben.
Die vermehrte Aufmerksamkeit gegenüber diesen Traumafolgestörungen zu diesem Zeitpunkt war von verschiedenen kulturellen, wissenschaftlichen, sozialen und rechtlichen Gegebenheiten bestimmt (Fischer-Homberger 1970, 1975). So stand die Eisenbahn als Produkt der industriellen Revolution für die Überwindung großer Entfernungen in nie da gewesener Schnelligkeit, als ein Symbol für den neuen Rhythmus der Moderne, der Reisen, Güteraustausch und die Erschließung neuer Regionen in ungeahntem Ausmaß möglich zu machen versprach. Doch die zahlreichen Eisenbahnunfälle verwiesen auf die Gefährlichkeit und die damit verbundenen Risiken. Dementsprechend wurde mithilfe von Versicherungen und Schadensersatzansprüchen eine sozialpolitische Versöhnung mit der neuen Innovation angestrebt. In England existierte seit 1846 der Fatal Accidents Act, der zum ersten Mal Schadenersatzansprüche möglich machte und 1864, zwei Jahre vor der Publikation von Erichsen, durch einen Zusatzartikel auch die Opfer von Eisenbahnunfällen einbezog. Darüber hinaus hat auch die neuroanatomische und physiologische Forschung um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihren Arbeiten zu der spinalen Reflexlehre, der Nervenelektrizität (Brazier 1988) und der Gehirnarchitektonik (Hagner 2008) mannigfache Anregungen geboten, um die in Frage stehenden Phänomene mithilfe dieser neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu interpretieren. Auch wenn Erichsen dem Erschrecken und der Angst, die eine akute oder chronische Entzündung bewirken können, (Erichsen 1866, S. 47–48) und damit einer psychischen Reaktion eine gewisse Rolle bei dem Entstehen der Symptome zusprach, so stand dennoch die somatische Grundlage ganz im Vordergrund.
Auch Hermann Oppenheim, der in Berlin von 1883 bis zu seiner Publikation 1889 über die traumatische Neurose rund einhundert Fälle zusammengetragen hatte – meistens verunglückte Industriearbeiter, deren Störungen teilweise nach der neu geschaffenen Unfallversicherung zu entschädigen waren – maß anatomisch-physiologischen Alterationen eine wichtige Bedeutung bei. Als mögliche Ursachen kam u. a. ein vermehrter Blutdurchfluss durch das Gehirn ebenso in Frage wie „molekulare Veränderungen. Oppenheim lehnte allerdings die Myelitis als Ursache für die Symptome ab und betrachtete das Gehirn als zentralen Ort des Geschehens. Der Versuch, anhand postmortaler Untersuchungen eine Korrelation zwischen der zu Lebzeiten erkennbaren Symptomatik und postmortalen Veränderungen herzustellen, zeigte in Anbetracht der recht wenigen Fälle keine überzeugenden Ergebnisse. Die Beobachtung, dass bestimmte Individuum nach einem Schreckereignis funktionelle Störungen und/oder anatomische Veränderungen aufweisen und andere nicht, führte zu der Frage nach einer besonderen individuellen Beschaffenheit des Nervensystems. Beeinflusst von der Degenerationstheorie und dem Erblichkeitsparadigma wurde eine individuelle Anfälligkeit auf der Basis einer „neuropathischen/psychopathischen Belastung
angenommen, d. h. eine Disposition des Nervensystems in Form einer unsichtbaren strukturellen und materialen Differenz, die auch als Ausdruck einer hereditären „Minderwertigkeit" galt.
Im Laufe der Jahre sprach Oppenheim den psychischen Faktoren als Ursache eine immer wichtigere Rolle zu. Sowohl die erlebte Angst wie auch die Erschütterung der Psyche benannte er als pathogenetische Faktoren und führte aus, dass die körperlichen Verletzungen keine wesentliche Bedeutung gewinnen würden, „wenn nicht die krankhaft alterirte Psyche in ihrer abnormen Reaction auf diese körperlichen Beschwerden die dauernde Krankheit" schüfe (Oppenheim 1892, S. 178). Diese Verschiebungen in Oppenheims Konzept waren dem Umstand geschuldet, dass er sich verstärkt mit den Theorien Jean-Martin Charcots zur Hysterie (Micale 1990, 2001) auseinandersetzen musste und vor diesem Hintergrund sein Konzept zu überprüfen hatte. Obwohl Oppenheim die traumatische Neurose als eigene Entität begriff und sie nicht unter die Hysterie subsumieren wollte, wie dies Charcot tat, konzidierte er, dass in wenigen Fällen sogar hysterische Formen der psychischen Alteration unter den Traumapatienten beobachtet werden könnten (Oppenheim 1892, S. 130). Als Therapie empfahl er in erster Linie das Fernhalten von Schädlichkeiten und eine nicht beschwerliche Tätigkeit. Der Einhaltung von Ruhe maß er eine hohe Relevanz zu. In einigen Fällen half die Behandlung des Kopfes mit galvanischem Strom gegen Kopfschmerz, Schwindel und Schlaflosigkeit, bei anderen Patienten griff er zu Brompräparaten und verabreichte Sulfonal, Paraldehyd oder in schweren Fällen Chloralhydrat und Morphium (Oppenheim 1892, S. 189–194).
Schon in den 1880er-Jahren folgen nicht alle den Vorstellungen Oppenheims. Der Leipziger Neurologe und Psychiater Paul Julius Möbius zählte die traumatische Neurose zur Hysterie (Möbius 1888). Oppenheim selbst trug zu einer Grenzverwischung bei, als er zugestand, dass es Fälle gebe, die man ohne Bedenken als traumatische Hysterie oder traumatische Neurasthenie bezeichnen könne (Oppenheim 1892, S. 9). Die zunehmende Nähe und Überschneidung zwischen traumatischer Neurose, Hysterie und Neurasthenie und die für eine Begutachtung nötige Abgrenzung provozierte eine intensive Debatte unter den Fachleuten. Bei all diesen Diagnosen kam die Frage der individuellen Disposition ins Spiel. Beim Vorliegen einer besonderen Disposition in Form einer hereditären Nervenschwäche bedeutete dies, dass ein körperliches oder psychisches Trauma lediglich eine Triggerfunktion für das Entstehen der Symptome haben konnte, aber eben keine eigene ursächliche Bedeutung. Als im Jahre 1916 im Ersten Weltkrieg die Erörterung der Kriegsneurose einen Höhepunkt erreichte, wurde das Oppenheimsche Konzept endgültig verlassen (Lerner 2001) und vermehrt Hysterie und Neurasthenie diagnostiziert.
Die von dem Neurologen George Miller Beard aus New York zwischen 1869 und 1883 immer wieder beschriebene „American Nervousness" breitete sich unter dem Begriff der Neurasthenie in Europa aus (Gijswijt-Hofstra und Porter 2001). Das Aufkommen der Neurasthenie sollte auch die Bewertung des Traumas bei den psychovegetativen Störungen beeinflussen. Wenn die Verbreitung der Neurasthenie als modernes Leiden an die sich rapide verändernden kulturellen, industriellen und sozialen Neuerungen, besonders in den Städten, im „nervösen Zeitalter" (Radkau 1998) geknüpft war, dann war auch eine Zunahme unter den Arbeitern wahrscheinlich. Im Auftreten von starken Erschöpfungszuständen, geknüpft an eine permanente psychische Überlastung mit Verlust psychischer Energie aufgrund von lärmenden und beschleunigten Arbeits- und Lebensbedingungen, sah man eine typische Zivilisationskrankheit. Untersuchungen bestätigten die Ausbreitung der Neurasthenie auch unter Arbeitern (Leubuscher und Bibrowicz 1905). Bei Bestehen einer Neurasthenie sprach man dem Trauma nur eine Triggerfunktion zu.
Auch eine traumatische Genese von Psychosen kam vereinzelt zur Sprache. Schon 1883 sprach Emil Kraepelin von Psychosen, die sich unter dem Einfluss der kleinen Reize des täglichen Lebens entwickeln würden (Kraepelin 1883, S. 16); 1901 benutzte er den Begriff der „Schreckpsychose", die z. B. durch chronische körperliche Überanstrengung oder tiefgreifende anhaltende Gemütserregung entstehen könne. Bei diesen Schreckpsychosen bestehe eine tiefgreifende Umwälzung der gesamten Gemütslage, wobei die Störungen nur langsam, unter Umständen überhaupt nicht mehr, weggehen würden (Kraepelin 1901, S. 266). Auch Karl Kleist hielt 1918 echte Psychosen nach psychischen Traumata für möglich, die er ebenfalls als Schreckpsychosen bezeichnete. Er führte diese Zustände nicht auf organische Hirnschädigungen zurück und betonte, dass sie auch ohne psychopathische Veranlagung entstehen könnten (Kleist 1918). Möglicherweise durch die heftige Opposition Bonhoeffers gegen diese Ansicht konnten sich diese vereinzelten Positionen zur traumatischen Genese von Psychosen aber in der Fachwelt nicht durchsetzen.
Zwischen 1880 und 1914 förderte zudem ein versicherungsrechtlicher Hintergrund die Erörterung der traumatischen Neurose (Schmiedebach 1999). In Preußen existierte seit 1838 ein Gesetz zur Entschädigung bei Eisenbahnunfällen, das 1871 auf die Beschäftigten in Bergwerken, Steinbrüchen und Fabriken ausgedehnt worden war. In einem mehrjährigen Reformprozess wurde schließlich im Deutschen Reich ein neues Unfallversicherungsgesetz im Juli 1884 verabschiedet, das nach verschiedenen Veränderungen 1911 27 Millionen Personen betraf. In diesem Kontext bestimmte die traumatische Neurose in Abgrenzung zur Hysterie und Neurasthenie mit ihrer auf einen konkreten Unfall bezogenen Ätiologie die ärztliche Begutachtungspraxis. Obwohl die Anzahl derjenigen, die aufgrund einer traumatischen Neurose eine Berentung erhielten, nur 0,26–2 % aller berenteten Industriearbeiter ausmachte (Bleuler 1918, S. 388), gewann bald die Frage der Simulation eine wachsende Bedeutung, die auch nach dem Ersten Weltkrieg weiter diskutiert wurde (Moser 1991; Neuner 2011). Im Kampf gegen die Simulation blieben politische Stellungnahmen und Angriffe auf die Sozialdemokratie nicht aus. Einige Sanatorien seien Zentren sozialdemokratischer Aktivitäten, wo Patienten darin trainiert würden, Symptome der traumatischen Neurose vorzugeben (Seeligmüller 1891, S. 981–982).
Eine weitere entscheidende Verschiebung hinsichtlich der Pathogenese ergab sich aus der neuen Bedeutung, die der Vorstellung und dem Willen als ursächliche Faktoren zugesprochen wurden. 1891 sprach Möbius von einem durch „ein mit Vorstellung verbundenes Wollen" und bemühte die Mechanismen der Suggestion, die bei den entsprechenden Personen die Symptomatik hervorrufen würden (Möbius 1891). Durch die Betonung des Willens unterstellte er ein mehr oder weniger vorsätzliches Agieren, was den pathologischen Charakter der Störung relativierte und das Verhalten mit einem Status des Bewusstseins in Verbindung brachte. In diesem Kontext entstand der Begriff der „Begehrungsvorstellung (Fischer-Homberger 1975), hervorgerufen durch eine fragwürdige Versicherungsgesetzgebung. Robert Gaupp, Direktor der Nervenklinik in Tübingen, betonte zudem die starke Rolle der Affekte, benannte die „gefühlsstarken Vorstellungen
als den Kern der Störung. Damit kennzeichnete er die Vorstellungen und Gefühle der betroffenen Person als pathologisch (Gaupp 1906). Auf der Grundlage dieser Überlegungen sprachen sich viele Ärzte für die Kürzung der Renten oder eine Einmalzahlung aus. Zudem verlangte man Zwangsmaßnamen, um die Patienten zur Arbeit zu zwingen oder sie zur Arbeit zu erziehen (Leppman 1906). Der Wandel vom somatischen zu einem Leiden der individuellen Willens- und Gefühlskonstellation bei besonderer Disposition waren also bereits vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend vollzogen (Lengwiler 2000).
1.2 Nervenleiden und Krieg
Unter den Bedingungen des Krieges erfuhren diese bereits vorhandenen Positionen eine Verstärkung (Hofer 2004; Eckart 2005). Zudem entwickelten die Psychiater neue Systeme zur effektiven Nutzung der verbleibenden Arbeitskraft der ca. 180.000 betroffenen Soldaten der deutschen Armeen. Dabei blieben die Diagnosen für den posttraumatischen Symptomkomplex mit Lähmungen, Zittern, Sprach- und Sehstörungen etc. unterschiedlich. Von 100 psychisch auffälligen Soldaten an der Berliner Charité, die dort von 1915–1918 stationär aufgenommen worden waren, konstatierten die Ärzte bei 45 eine psychopathische Konstitution, bei 46 eine Hysterie (Linden et al. 2012). Nach den Untersuchungen von Petra Peckl, die sich auf eine Stichprobe von 352 Krankenakten von „Kriegsneurotikern aus dem Bestand des Bundesarchiv-Militärarchivs stützte, wurden die sich darbietenden psychischen Störungen nur zu rund 10 % mit dem Begriff der Neurose gefasst. Zum größten Teil stellen die Ärzte die Diagnose Hysterie (rund 39 %) oder Neurasthenie (rund 36 %), wobei die Neurasthenie keineswegs nur den Offiziersdienstgraden vorbehalten war, sondern auch Mannschaftsdienstgrade betraf. Die Diagnose Hysterie allerdings besaß bei den Ärzten eine häufig feststellbare abwertende Konnotation (Peckl 2014). Da Wille und Vorstellungen im Zentrum beim Kampf gegen die Symptome standen, ging es den Ärzten primär um die Umpolung des Willens, was in ca. einem Drittel der Fälle durch radikale und brutale Maßnahmen (Riedesser und Verderber 1996) erreicht werden sollte. In der Therapie der Neurasthenie und der Hysterie zeigten sich Unterschiede. Während die Neurastheniker eher zurückhaltend, insbesondere durch roborierende Kost, Beruhigungsmittel (z. B. Brom, Veronal) und die Verordnung von ausgedehnten Ruhezeiten behandelt wurden, kamen bei rund 43 % der Hysteriker rigide Mittel in Anwendung (Peckl 2014, S. 62). Hierzu zählten z. B. die Applikation von schmerzhaften Strömen, Zwangsexerzieren oder die sog. Überrumpelungsmethode, bei der kräftige Wechselströme unter Zuhilfenahme von Wortsuggestion in Befehlsform und Ausnutzung des Subordinationsverhältnisses eine Heilung in nur einer Sitzung erzwingen sollten. Der Patient sollte dem Willen des Arztes in einer Zwangsbehandlung unterworfen werden, dem er nicht ausweichen konnte. Darüber hinaus war die Gewöhnung oder Erziehung zur Arbeit voranzutreiben und eine möglichst baldige militärische Verwendung oder Integration in Arbeitszusammenhänge zu erreichen. Dazu entwickelte man ein modernes Managementsystem, bei dem die sich in Rekonvaleszenz befindlichen Soldaten einer mehrstufigen Begutachtung unterzogen wurden, die das Ziel hatte, die einzelne Person entsprechend der individuellen Leistungsmöglichkeit einer Arbeitsstelle oder einer militärischen Aufgabe auch ohne endgültige Heilung zuzuführen. Um die Gewöhnung an die Arbeit und eine unmittelbare Verfügbarkeit der Arbeitskräfte zu nutzen, wurden teilweise Neurotikerstationen in der Nähe von Fabriken und Landwirtschaftsbetrieben eingerichtet (Lerner 2003). In diesem neu geschaffenen, nach Bedarfsanalysen und zweckbestimmter Ressourcennutzung ausgerichteten System waren die Ärzte in ihrem Zusammenwirken mit Militär, Ministerien und Betrieben in einen „rationellen
Funktionsablauf eingebunden. Hinsichtlich der Entlassungszahlen gibt es von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedliche Ergebnisse. Etwa ein Viertel der Neurastheniepatienten wurden als kriegsverwendungsfähig eingeschätzt, gut 30 % als garnisonsverwendungsfähig, also als nicht frontdiensttauglich, und 16 % als arbeitsverwendungsfähig. Bei den Hysteriepatienten sahen die Zahlen anders aus. Nur 14 % galten als kriegsverwendungsfähig, 26 % als garnisonsverwendungsfähig; als arbeitsverwendungsfähig wurden rund 24 % eingestuft, jedoch erhielten ca. 22 % eine Klassifizierung als dienstunbrauchbar (Peckl 2014, S. 79).
Obwohl es verschiedene Gemeinsamkeiten zwischen den deutschen und den französischen Ärzten im Hinblick auf Genese und Therapie der „Kriegsneurosen gibt, so sind doch auch Differenzen erkennbar. So spielte z. B. die Frage nach den Rentenansprüchen in Frankreich eine weit geringere Rolle, obwohl bei ähnlicher Gesetzeslage auch 1915 der Begriff der „sinistroses de guerre
in die Debatte eingeführt wurde (Michl 2007, S. 214). Auch das Konzept der Neurasthenie erzielte weit weniger Resonanz. Grundsätzlich war in Frankreich ein stärkeres Interesse an den psychischen Mechanismen, wie sie in den Unfall- und Kriegsverletzungen auftraten, an der Frage nach dem Zusammenhang zwischen den mechanischen und seelischen Erschütterungen festzustellen. Eine weit größere Bedeutung wiesen die französischen Ärzte der Angst und den Emotionen zu. Während in Deutschland eine ängstliche-depressive Grundstimmung bei einzelnen Patienten als eine Prädisposition für diverse Erkrankungen angesehen wurde, unternahmen die französischen Ärzte den Versuch, die Kriegsangst in ihren physischen und psychischen Erscheinungsformen zu erfassen und ihre pathologische Wirkung auf den Gesamtorganismus zu bestimmen. Dabei gingen sie davon aus, dass durch die Kriegsaffekte Angst auch erworben werden konnte. Angst stelle eine Brücke zu den Emotionsneurosen her, die bereits vor dem Krieg in der französischen Psychiatrie erörtert wurden und denen durch die Erfahrungen des Krieges vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte (Michl 2007, S. 253–259). In England zeigte das „shell-shock treatment" ein weites Spektrum, in dem die Applikation von faradischen Strömen, Medikamenten (Brom) und eine ruhebestimmte Erholung in Anwendung kamen, allerdings abhängig vom militärischen Rang wie auch vom Typ des Hospitals, bei dem Peter Leese drei Qualitätsstufen unterscheidet. Die Diagnose der Neurasthenie hat nach seinen Untersuchungen in der englischen Kriegspsychiatrie eine wichtigere Rolle als in Frankreich gespielt (Leese 2001).
Auch im Zweiten Weltkrieg wurden in der Wehrmacht kriegsneurotische Symptome ausgemacht, wenngleich auch verstärkte Verschiebungen zu psychosomatischen Symptomkomplexen existierten (Kloocke et al. 2005a). Da es keinen Sanitätsbericht gibt und die Diagnosebezeichnungen nach wie vor sehr unterschiedlich waren, liegen kaum valide Zahlen vor. Im Vergleich der unterschiedlichen Aussagen scheint eine Zahl von 3–5 % aller Lazaretteinweisungen für die Nerven- und Geisteskrankheiten wahrscheinlich, wobei diese Zahl auch psychotische Störungen einschließt, also nicht ausschließlich „kriegsneurotische Fälle betrifft. Bei dem Versuch, die Verwirrung bei den diagnostischen Benennungen zu überwinden und Begriffe, die einen Zusammenhang zwischen Krieg und psychischen Symptomen herstellten, zu vermeiden, wurde auf der 4. Tagung der beratenden Fachärzte 1944 entschieden, eine Differenzierung danach vorzunehmen, ob eine somatische Störung vorliege oder nicht. Danach wurde eine abnorme Erlebnisreaktion, die sich nur im psychischen Bereich abspielte und keine Somatisierungen aufwies, von einer psychogenen Funktionsstörung unterschieden. Bei dieser „abnormen seelischen Reaktion
traten körperliche Erscheinungen wie Zittern, Lähmung, Kontrakturen etc. auf. Hinsichtlich der Therapie griff man auf das Arsenal des Ersten Weltkriegs zurück, allerdings ergänzt durch die Elektrokrampftherapie, die als neue Errungenschaft das Spektrum verstärkte und verschiedentlich zur Anwendung kam. Bei der Versorgung traumatisierter Soldaten kam ein Staffelungssystem zur Anwendung. In einer ersten Stufe wurden die Soldaten zunächst in frontnahe Ruheräume gebracht. Besserten sich die Symptome nach einer gewissen Zeit nicht, so kamen sie ins nächste Feldlazarett. War auch hier kein zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen, so verlegte man die Person in ein Kriegslazarett mit einer eigenen Nervenabteilung. Stellte sich auch hier keine nachhaltige Besserung ein, so konnte der Patient entweder in ein Reservelazarett des Ersatzheeres in der Heimat überführt oder im Falle einer „Behandlungsunfähigkeit" in eine Sonderabteilung des Ersatzheeres abkommandiert werden. In diesen Abteilungen wurde unter Anwendung eines strengen Regimes versucht, den Charakter und die Disziplin des Betroffenen zu stärken, um brauchbare Soldaten für das Feldheer zu erhalten. Schon bei der Einweisung in die Sonderabteilung wurden die Kranken darüber informiert, dass, sollte eine Rückversetzung in die Truppe nicht möglich sein, Kriegsgericht oder eine Überführung in ein Konzentrationslager drohe. Einige dieser Wehrmachtsangehörige sind in Vernichtungslagern ermordet worden (Blaßneck 2000, S. 61).
1.3 Diskussion nach 1945
In den deutschsprachigen Lehrbüchern der Psychiatrie wurde das psychische Trauma nach 1945 kaum thematisiert. In den 1970er-Jahren etablierte sich für anhaltende psychotraumatische Störungen der ICD-8-Terminus „abnorme Erlebnisreaktion . Anfang der 1990er-Jahre fand die Bezeichnung „posttraumatische Belastungsstörung
Eingang in die Lehrbücher (Kloocke et al. 2005b). Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre haben in den USA verschiedene Veranstaltungen stattgefunden, bei denen sowohl die Folgen des Holocausts als auch die Folgen von Gewalt bei anderen Katastrophen erörtert und relativ uniforme Symptombilder unabhängig von der Art der Gewalteinwirkung festgestellt wurden (Venzlaff et al. 2004). 1964 publizierten von Baeyer et al. ein umfassendes Werk, das die verschiedenen extremen Belastungssituation im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und die dabei erlittenen Traumatisierungen und ihre Auswirkungen auf Psyche und Persönlichkeit zum Thema machte. Dabei werden die durch Schreck und Angst angestoßenen psychischen Veränderungen in einem komplexen Bezugssystem verortet. So wird bei der Erörterung der traumatischen Neurose z. B. auf die Beteiligung bewusstseinsferner Persönlichkeitsschichten, in denen der Mensch seinen „Komplexen preisgegeben ist, verwiesen. Zudem fragen die Autoren, ob nicht überhaupt eine mehr an dem „Sinngehalt des traumatischen Erlebens selbst
anknüpfende Betrachtungsweise zu einem besseren und wirklichkeitsnäheren Verständnis für abnormes Erleben und Verhalten in und nach extremen Belastungssituationen führen könne. Im Zusammenhang mit der Erörterung des Begriffs des psychischen Traumas werden die erweiterten und komplizierten Zusammenhänge wie u. a. die „energetisch-psychodynamische Theorie der Schule Freuds und schließlich auch „die existential-anthropologische Forschung
genannt. Damit sei das psychische Trauma aus seiner „Isolierung herausgetreten; dennoch könne nicht ganz auf den abgenutzten Begriff verzichtet werden, da der Mensch ein verletzliches Wesen sei, bei dem die Läsionen der „seelisch-geistigen Gefügeordnung
nun einmal krankmachende Wirkung entfalten können (von Baeyer et al. 1964, S. 34). Die Autoren setzen sich mit einem breiten Spektrum von Läsionsmöglichkeiten auseinander, zu denen u. a. Kriegsbelastung, Deportation und Verfolgungsbelastungen, Gefangenschaft, Hunger, Flucht, Zwangssterilisationen, soziale und kulturelle Entwurzelung. gehören. Damit ist spätestens 1964 ein Tableau von bislang in dieser Umfänglichkeit nicht gegebenen Traumatisierungsmöglichkeiten benannt. Die Psychiater schlugen jedoch keine übergeordnete Diagnose für alle diese auf ein Trauma zurückzuführenden Störungen vor. Zur diagnostischen Klassifizierung der erlebnisreaktiven Folgen wurden u. a. die chronisch-reaktive Depression wie paranoide Fehlhaltungen erörtert. In der Folgezeit hat besonders der Vietnamkrieg mit seinen Folgen die Herausbildung einer eigenen Psychotraumatologie sehr unterstützt (Seidler 2013, S. 10). Das Spektrum auslösender Schädigungen erweiterte sich ab den 1960er-Jahren kontinuierlich – u. a. spielte bald die Verletzung einer körperlich-sexuellen Integrität eine wichtige Rolle –, gleichzeitig reduzierte sich die Zahl der diagnostischen Möglichkeiten, bis 1980 eine einzige übergeordnete Diagnose ins DSM III aufgenommen wurde: die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Einer der Psychiater, der in seinen Arbeiten seit 1976 maßgeblich Untersuchungen für die empirische Identifikation der Kriterien für die PTSB publizierte, war Mardi Horowitz (Horowitz 2011). Aktuell werden die Häufigkeiten der PTBS in Abhängigkeit von der Art des Traumas folgendermaßen angegeben: ca. 40 % nach Vergewaltigung, ca. 35 % nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit, ca. 25 % nach anderen Gewaltverbrechen, ca. 25 % bei zivilen Kriegsopfern, ca. 15 % bei ehemaligen Soldaten, ca. 35 % bei Folter- und Verfolgungsopfern, ca. 10 % bei schweren Verkehrsunfällen (Maercker 2017, S. 31–32).
Vor dem Hintergrund dieses erweiterten Ursachenverständnisses konnten in der neueren deutschen Geschichte auch die Traumafolgen der Haft in DDR-Gefängnissen unter dieser Diagnose erforscht werden. Dabei erfolgte aber keine Beschränkung auf die Haftfolgen, sondern es wurden auch die psychischen Auswirkungen der politischen Verfolgungen thematisiert (Spitzer et al. 2007; Freyberger und Spitzer 2014), und in diesem Kontext wurde von politischen Traumatisierungen in der DDR gesprochen (Trobisch-Lütge und Bomberg 2015). Die Übergänge zwischen physischer und psychischer Traumatisierung durch Haft und alltägliche Repression gelten als fließend (Priebe et al. 1996), sodass die Alltagserfahrungen in der DDR traumatische Züge annehmen konnten. Diese Erweiterung des Traumabegriffs auf das Alltagserleben in politischen Diktaturen wird in Deutschland paradigmatisch am Beispiel der DDR erforscht. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass mit den von der „operativen Psychologie" der DDR-Staatssicherheit intendierten Zersetzungen einzelner Personen mithilfe der Erkenntnisse der Psychologie (Richter 2001) eine besondere Traumatisierungsursache im Alltag der DDR gegeben war.
Die skizzierte Entwicklung macht deutlich, wie sich das Psychische im Kontext einer Traumatisierung, ausgehend von den psychovegetativen Störungen nach Eisenbahnunfällen auf der Basis einer Myelitis, zu einer eigenständigen, den Menschen auszeichnenden Sphäre erweitert hat. Dabei zeigt die mittelweile anerkannte Vielfalt der Traumatisierungsursachen, die unter einer einzigen Diagnose klassifiziert werden, wie sich das Psychische dem Körperlichen, zumindest was die Verletzbarkeit betrifft, gleichberechtigt angenähert hat. Dieser Prozess war sowohl von professionellem Input getragen wie auch von sozialpolitischen Veränderungen, politischen Gegebenheiten, wechselnden anthropologischen Vorstellungen, psychodynamischen Konzepten und differenten Menschenbildern beeinflusst.
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Andreas Maercker (Hrsg.)Traumafolgestörungenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-58470-5_2
2. Die posttraumatische Belastungsstörung
A. Maercker¹ und M. Augsburger¹
(1)
Psychopathologie und Klinische Intervention, Universität Zürich, Zürich, Schweiz
A. Maercker (Korrespondenzautor)
Email: maercker@psychologie.uzh.ch
M. Augsburger
Email: m.augsburger@psychologie.uzh.ch
2.1 Traumadefinition und Traumaarten
2.1.1 Traumadefinition nach ICD-11 und DSM-5
2.1.2 Klassifikation von Traumata
2.2 Erscheinungsbild der PTBS
2.2.1 Symptomtrias der PTBS
2.2.2 Zusatzsymptome
2.2.3 Diagnosevergabe nach ICD-11 und DSM-5
2.2.4 Dissoziation und emotionale Veränderungen
2.3 PTBS im Rahmen der belastungsbezogenen Störungen
2.4 Epidemiologie und Verlauf der PTBS
2.4.1 Epidemiologie
2.4.2 Verlauf
2.5 Die Entstehung der PTBS: ein multifaktorielles Rahmenmodell
2.5.1 Risiko- bzw. Schutzfaktoren
2.5.2 Ereignisfaktoren
2.5.3 Aufrechterhaltungsfaktoren
2.5.4 Ressourcen oder gesundheitsfördernde Faktoren
2.5.5 Posttraumatische Prozesse und Resultate
2.6 Gedächtnismodelle
2.6.1 Furchtstrukturmodell
2.6.2 Duales Gedächtnismodell
2.7 Kognitive Modelle
2.7.1 Veränderte kognitive Schemata
2.7.2 Kognitives Störungsmodell
2.8 Das sozial-interpersonelle Modell
2.8.1 Nahe Beziehungen und die Gesellschaft
2.8.2 Empirische Belege zum sozial-interpersonellen Modell
Literatur
Die Beobachtung, dass extreme Ereignisse extreme Reaktionen verursachen, ist schon alt. Doch erst 1980 wurde die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) offiziell als Krankheitsbild definiert und anerkannt. Seit dieser Erstbeschreibung wandelte sich die Beschreibung des Störungsbildes, zuletzt bei der Abfassung der aktuell gültigen internationalen Klassifikationssysteme DSM-5 der American Psychiatric Association (APA) bzw. ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Trotz markanter Unterschiede in der Operationalisierung in den beiden Systemen sind folgende Merkmale ähnlich definiert.
Hauptkriterien der posttraumatischen Belastungsstörung
Erlebnis eines Traumas
Wiedererleben/Intrusionen (unwillkürliche und belastende Erinnerungen an das Trauma)
Vermeidungsverhalten
Wahrnehmung einer gegenwärtigen Bedrohung/anhaltendes physiologisches Hyperarousal (Übererregung)
Andauern der Symptome über einen gewissen Zeitraum
Bedeutsame Funktionseinschränkungen
Diese Kriterien werden in den folgenden Abschnitten genauer beschrieben.
2.1 Traumadefinition und Traumaarten
2.1.1 Traumadefinition nach ICD-11 und DSM-5
Das erste der PTBS-Kriterien ist das sog. Traumakriterium.
Traumakriterium
Nach ICD-11 sind Traumata definiert als Ereignis oder Serie von Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß (WHO 2018). Neu hinzugekommen ist außerdem eine Traumadefinition für die komplexe Form der PTBS, die das traumatische Ereignis hinsichtlich Zeitdauer und Intensität spezifiziert (für Details ► Kap. 3).
Das amerikanischen DSM-5 beschreibt Traumata folgendermaßen: „Konfrontation mit tatsächlichem oder drohenden Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt" (A-Kriterium, APA 2013, S. 369).
Andere Erlebnisse, die umgangssprachlich ebenfalls als persönliches Trauma bezeichnet werden können (z. B. enttäuschte Erwartungen, Auseinanderbrechen einer Beziehung), entsprechen nicht dem o. g. Traumakriterium, in dessen Mittelpunkt eine Todeskonfrontation oder andere extreme Gefahrensituationen stehen.
Im früheren DSM-IV wurde noch zwischen 2 Aspekten des Traumakriteriums unterschieden – einer objektiven Ereigniskonstellation sowie der subjektiven Wahrnehmung von Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen (APA 2000). Analog war es auch im ICD-10 notwendig, dass das traumatische Ereignis eine tiefe Verzweiflung auslöst (Weltgesundheitsorganisation; WHO 1994). In den aktuell gültigen Fassungen beider Klassifikationssysteme wurde auf diese Unterscheidung verzichtet. Der Grund lag in dem Auftreten einiger Konstellationen, in denen trotz des Erlebens eines traumatischen Ereignisses das subjektive Empfinden nicht vorlag. Dabei handelt es sich z. B. um (Maercker et al. 2013a):
wiederholte oder langandauernde Gewalterfahrungen,
Gewalterfahrungen bei Kindern und Jugendlichen oder trainierten professionellen Einsatzkräften,
veränderten Bewusstseinszuständen schon während des Traumas.
Weiterhin nennt das DSM-5 eine Liste (nicht abschließender) Beispiele traumatischer Ereignisse und 4 mögliche Formen der Traumaexposition.
Formen der Exposition nach DSM-5 (APA 2013)
Direkte Erfahrung
Persönliche Zeugenschaft
Erfahren von einem plötzlichen und gewaltsamen Ereignis in der nahen Familie bzw. bei nahen Freunden
Wiederholte oder extreme Konfrontation mit aversiven Details eines Ereignisses
2.1.2 Klassifikation von Traumata
Die vielen unterschiedlichen traumatischen Ereignisse, auf die solche Definitionen zutreffen, lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten zusammenstellen bzw. einteilen. Als orientierendes Schema bewährt haben sich Einteilungen in
menschlich verursachte vs. zufällige Traumata,
kurz-(Typ-I-) vs. langfristige (Typ-II-)Traumata – seit Neuerem erweitert um
medizinisch bedingte Traumata (◘ Tab. 2.1; Erstfassung in Maercker 1998).
Tab. 2.1
Schematische Einteilung traumatischer Ereignisse (Weiterentwickelt nach Maercker 1998)
aDer Status dieser Eingruppierung ist noch Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen
Die Typ-I-Traumata sind meist durch akute Lebensgefahr, Plötzlichkeit und Überraschung gekennzeichnet, während die Typ-Il-Traumata durch Serien verschiedener traumatischer Einzelereignisse und durch geringe Vorhersagbarkeit des weiteren traumatischen Geschehens gekennzeichnet sind (Terr 1989).
Der Status der medizinisch bedingten Traumata ist noch nicht endgültig geklärt. Das DSM-5 begrenzt die Einbeziehung medizinischer Erkrankungen als traumatisches Ereignis, indem betont wird, dass eine medizinische Situation mit einem plötzlichen katastrophenartigen Ausmaß einhergehen müsse, um als traumatisches Ereignis bewertet werden zu können (z. B. Aufwachen während einer Operation, anaphylaktischer Schock; APA 2013). Besonderheiten der PTBS-Prävalenz und im Verlauf dieser Traumata sind Gründe für eine separate Behandlung (► Kap. 23) und weiteren Forschungsbedarf für diese Traumakategorie.
Seit der Erstbeschreibung der PTBS wurden viele Studien durchgeführt, um zu untersuchen, ob die verschiedenen traumatischen Auslöserereignisse zum gleichen Störungsbild führen. Bei der Untersuchung großer Gruppen von Betroffenen wurde übereinstimmend bestätigt, dass Symptome aus den Hauptsymptomgruppen der PTBS (► Abschn. 2.2) bei den verschiedensten Traumaarten gefunden werden, unabhängig davon, ob bei den Betroffenen ein Trauma z. B. durch Naturkatastrophen, Kriminalität, Vergewaltigung oder ein anderes traumatisches Ereignis ausgelöst wurde (Davidson und Foa 1993).
◘ Abb. 2.1 zeigt, dass es ein ähnliches Symptomprofil bei verschiedenen Traumata gibt, was die Annahme eines einheitlichen Störungsbildes stützt.
../images/45826_5_De_2_Chapter/45826_5_De_2_Fig1_HTML.pngAbb. 2.1
Symptomprofile über verschiedene Traumaarten. (Mod. nach Green et al. 1990; Foa et al. 1995; Başoğlu et al. 1994)
Es hat sich allerdings gezeigt, dass einerseits die willentlich durch Menschen verursachten Traumata und andererseits die zeitlich länger andauernden Typ-Il-Traumata in vielen Fällen zu stärker beeinträchtigenden, komplexen Symptomen und chronischeren psychischen Folgen führen können als die anderen Formen. Basierend auf diesen Befunden wurde das klinische Bild der komplexen PTBS im neuen ICD-11 definiert. Genaueres wird im folgenden Kapitel (► Kap. 3) beschrieben. Hier sollen dagegen die Symptome der PTBS (auch „klassische PTBS" genannt) erläutert werden.
2.2 Erscheinungsbild der PTBS
Fallbeispiel: Opfer eines kriminellen Überfalls
Ein 60-jähriger Patient berichtet:
„Seit dem Überfall bin ich ein völlig anderer Mensch geworden. Abends liege ich im Bett und dann kommen diese Gedanken und Bilder, und dann liege ich ewig wach. Ich habe jetzt einen Punkt erreicht, wo ich merke, es geht einfach nicht mehr weiter …
Wenn ich irgendwo bin, und es gibt ein plötzliches Geräusch, da zucke ich zusammen. Da ist es wieder. Man kann’s nicht abstellen. Man muss es sich mal so vorstellen: Das ist wie ein elektrischer Schlag. Und der geht sofort nach oben und löst bei mir einen Schweißausbruch aus. Ich bin nervlich völlig am Ende …
Meine Freunde versuchen immer wieder, mich aufzumuntern. Sie sagen, ich soll das jetzt vergessen und mir doch mal ein schönes Leben machen. Das tut unheimlich weh. Das schmerzt, weil ich mir das gar nicht mehr richtig vorstellen kann …
Den Park, in dem der Überfall geschah, kann ich seitdem nicht mehr besuchen. Auch abends oder in der Dunkelheit traue ich mich kaum mehr vor die Tür aus Angst vor einem erneuten Überfall …
Ich habe keine Hoffnung mehr. Meine Freunde wollen mir ja wirklich helfen, aber das geht ja nicht. Es kann mir ja niemand helfen. Ich muss das selber schaffen. Aber ich muss immer an diesen Sonnabend zurückdenken. Und dann merke ich immer, dass ich diese Belastung jetzt bis zu meinem Tod ertragen muss … Ich tu’ meinen Freunden ja so leid. Der Kontakt mit mir ist für sie deshalb sehr belastend. Ich ziehe mich deshalb von meinen Freunden zurück."
2.2.1 Symptomtrias der PTBS
Im Fallbeispiel beschreibt der Patient Symptome der 3 Hauptsymptomgruppen der PTBS, die unabhängig vom zugrunde liegenden Klassifikationssystem vorhanden sein müssen:
Intrusionen/Wiedererleben,
Vermeidung,
Wahrnehmung gegenwärtiger Bedrohung/Hyperarousal.
2.2.1.1 Intrusionen/Wiedererleben
Patienten mit PTBS sind durch lebhafte Eindrücke des traumatischen Ereignisses gekennzeichnet, die ungewollt und nicht kontrollierbar in den wachen Bewusstseinszustand wie auch in den Schlaf „eindringen". Symptome des Widererlebens können jeweils in Form vieler Einzelsymptome bzw. -beschwerden auftreten. ◘ Tab. 2.2 nennt und beschreibt diese Symptome in der Reihenfolge, in der sie im amerikanischen DSM-System aufgelistet sind.
Tab. 2.2
Einzelsymptome der Symptomgruppe Wiedererleben
Zusätzlich wird markiert, ob diese für eine Diagnose nach ICD-11 bzw. DSM-5 erforderlich sind. Das ICD-11 hat sich aufgrund der besseren klinischen Handhabbarkeit und wissenschaftlicher Befunde dafür entschieden, nur besonders schwere und spezifische Symptome einzubeziehen. Beispielsweise wird das Symptom „Intrusionen/Wiedererleben" nicht dazugerechnet, weil es auch häufig bei Traumatisierten ohne PTBS-Diagnose auftritt.
2.2.1.2 Vermeidung
Die Betroffenen versuchen oft mit aller Macht, die sie überflutenden Gedanken „abzuschalten", d. h. nicht mehr an das Geschehene zu denken. Trotz dieser intensiven Versuche gelingt dies in den meisten Fällen nicht. Die Einzelsymptome bzw. -beschwerden werden in ◘ Tab. 2.3 genauer beschrieben.
Tab. 2.3
Einzelsymptome der Symptomgruppe Vermeidung
2.2.1.3 Wahrnehmung gegenwärtiger Bedrohung/physiologische Übererregung
Der Körper reagiert nach einem Trauma mit, auch wenn die Betroffenen die körperlichen Folgen oftmals nicht im Zusammenhang mit dem Trauma sehen. Die Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems senkt sich, d. h. auch kleinere nachfolgende Belastungen führen zu stärkerer Erregung (Hyperarousal). ◘ Tab. 2.4 beschreibt die einzelnen Symptome.
Tab. 2.4
Einzelsymptome der Symptomgruppe Wahrnehmung gegenwärtiger Bedrohung/Übererregung
2.2.2 Zusatzsymptome
Zusätzlich zu den bereits genannten Symptomgruppen formuliert das DSM-5 weitere typische Symptome, die Veränderungen in Kognitionen und Stimmungen beschreiben. Diese sind in ◘ Tab. 2.5 aufgeführt bzw. erläutert. Im ICD-11 werden diese Symptome überwiegend dem Störungsbild der komplexen PTBS (► Kap. 3) zugeordnet.
Tab. 2.5
Einzelsymptome der Symptomgruppe kognitive Veränderungen und Veränderungen der Stimmung (nur im DSM-5)
Symptommuster bei Kindern
Für traumatisierte Kinder zeigen sich einige Abweichungen im Symptommuster, was zur Beschreibung einiger Besonderheiten der PTBS im Kindesalter führt. Details sind in ► Kap. 22 zu finden.
2.2.3 Diagnosevergabe nach ICD-11 und DSM-5
Die vorab genannten Tabellen erläutern die Haupt- und Zusatzsymptome, die bei einer PTBS auftreten. In den beiden Klassifikationssystemen ICD-11 bzw. DSM-5 wurden verschiedene diagnostische Algorithmen entwickelt, die jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Symptomen zur Diagnosestellung erfordern.
Übereinstimmend betonen beide Klassifikationssysteme die Notwendigkeit bedeutsamer Funktionseinschränkungen zur Diagnosestellung. Außerdem weist das Zeitkriterium darauf hin, dass die zeitlich unmittelbaren psychischen Folgen nach einem traumatischen Ereignis (nach Stunden bzw. einigen Tagen) nicht als PTBS aufgefasst werden. Sie werden hingegen als akute Belastungsreaktion (Zusatzcode im ICD-11) beschrieben bzw. als akute Belastungsstörung (DSM-5) diagnostiziert.
Die folgenden Übersichten zeigen die Kriterien im Detail.
Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung nach dem ICD-11 (WHO 2018)
Die Betroffenen sind einem extrem bedrohlichen oder katastrophalen Ereignis oder einer Serie von Ereignissen ausgesetzt
Wiedererleben des traumatischen Ereignisses oder der Ereignisse in der Form lebhafter intrusiver Erinnerungen, von Flashbacks oder Albträumen, begleitet von starken und überwältigenden Gefühlen wie Angst oder Horror sowie starken physischen Empfindungen oder Gefühlen der Überwältigung oder einem Erleben der gleichen intensiven Gefühle, die während des traumatischen Ereignisses erlebt wurden
Vermeidung von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis oder die Ereignisse oder
Vermeidung von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das traumatische Ereignis oder die traumatischen Ereignisse erinnern
Anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten gegenwärtigen Bedrohung, z. B. durch Hypervigilanz oder eine verstärkte Schreckreaktion auf Reize wie unerwarteter Lärm
Die Symptome müssen mindestens über mehrere Wochen anhalten und bedeutsame Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, ausbildungsrelevanten, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen verursachen
Bedingungen für eine Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung nach dem DSM-5 (ohne Kriterien für Kinder) (APA 2015)
A.
Ereigniskriterium muss erfüllt sein
B.
Symptomgruppe: Wiedererleben (1 Symptom, ◘ Tab. 2.2, für Diagnose notwendig)
C.
Symptomgruppe: Vermeidung (1 Symptom, ◘ Tab. 2.3, für Diagnose notwendig)
D.
Veränderungen im Gefühlzustand und/oder in Kognitionen (mind. 2 Symptome notwendig)
E.
Symptomgruppe: chronische Übererregung (2 Symptome, ◘ Tab. 2.4, für Diagnose notwendig)
F.
Dauer der Beeinträchtigungen (Symptome der Kriterien B, C, D und E) ist länger als 1 Monat
G.
Die Störung verursacht klinisch bedeutsame Belastungen oder Beeinträchtigungen im sozialen und Berufsbereich sowie anderen wichtigen Funktionsbereichen
H.
Keine Entstehung durch Substanz (Alkohol, Drogen, Medikamente) oder andere medizinische Ursache (Krankheit)
Zusätzliche Einteilung
Dissoziativer Subtyp
Verzögerter Beginn (mindestens 6 Monate nach dem Ereignis)
Hinweis
Für die Diagnosestellung für Kinder unter 6 Jahren gelten abweichende Symptombeschreibungen
Im Vergleich der beiden Klassifikationssysteme fällt auf, dass die Kriterien für das DSM-5 ausführlicher und komplexer formuliert sind. Der diagnostische Algorithmus lässt weniger Spielraum zu. Im Gegensatz dazu genügt beim ICD-11 das Vorhandensein von Symptomen aus jeder der drei Hauptgruppen. Sämtliche unspezifische und mit anderen Störungsbildern überlappende Symptome werden nicht in die Diagnosestellung mit einbezogen. Diese Reduktion auf die wesentlichen Symptome stellt ein Aspekt der Grunderneuerungen der diagnostischen Kriterien im ICD-11 dar. Dies soll eine kulturübergreifende Verwendbarkeit und einfache Handhabung gewährleisten mit dem Ziel der größtmöglichen klinischen Nützlichkeit (Maercker et al. 2013a).
Weiterhin unterscheidet sich das DSM-5 dadurch, dass es Symptome veränderter Kognitionen und Gefühlszustände auflistet (Symptomgruppe D, vgl. ► Abschn. 2.1.2). Die Diagnose der komplexen PTBS kennt das DSM-5 nicht, dafür aber die PTBS-Untergruppe „PTBS vom dissoziativen Subtyp".
Für den praktischen Alltag ist dies problematisch, wenn dadurch ggf. unterschiedliche Personen mit dem einen, aber nicht mit dem anderen Diagnosesystem eine PTBS-Diagnose erhalten.
Übereinstimmung der PTBS-Diagnose nach ICD-11 und DSM-5
Eine Übersichtsarbeit von Brewin et al. (2017) zeigt, dass die Diagnostik, abhängig vom verwendeten Klassifikationssystem, zu erheblichen Unterschieden führt. Bei Erwachsenen sind die PTBS-Raten geringer, wenn nach den neuen ICD-11-Kriterien im Vergleich zu ICD-10 oder DSM-5 diagnostiziert wird. Zu bedenken ist, dass in diesen Studien auf dem DSM-IV basierende Interviews und Fragbögen eingesetzt wurden. Infolgedessen könnten die Befunde anders aussehen, wenn spezifisch für ICD-11 entwickelte Verfahren eingesetzt werden. Bei Kindern und Jugendlichen hingegen sind die Prävalenzraten nach ICD-11 vergleichbar zu DSM-IV und DSM-5. Weiterhin werden nur nach ICD-11 beeinträchtigte Jugendliche mit einer PTBS klassifiziert, die die Kriterien für eine Diagnose nach DSM nicht erfüllen. Damit scheint es nach diesen ersten Untersuchungen gelungen zu sein, die diagnostischen Kriterien zu vereinfachen und einer inflationären Vergabe der Diagnose PTBS, wie es im ICD-10 kritisiert wurde (vgl. Maercker et al. 2013a), entgegenzuwirken. Doch sollten bei der Diagnosestellung unbedingt andere Störungen berücksichtigt werden, die ebenfalls gehäuft nach dem Erleben traumatischer Ereignissen auftreten.
Unter der Lupe
Ein konsistentes Ergebnis epidemiologischer Untersuchungen von Traumatisierten ist die hohe Komorbidität mit anderen Diagnosen. Je nach Untersuchung wird angegeben, dass bei 50–100 % der Patienten mit PTBS komorbide Störungen vorliegen. Meist haben Patienten mit PTBS mehr als eine weitere komorbide Störung (Brunello et al. 2001).
2.2.4 Dissoziation und emotionale Veränderungen
2.2.4.1 Dissoziation
Übereinstimmend wird dissoziativen psychischen Prozessen eine wichtige Rolle innerhalb der PTB-Symptomatik zugeschrieben. Flashbacks können dabei als klassische Dissoziationszustände angesehen werden: Der Realitätsbezug im Hier-und-Jetzt geht verloren, und die Betroffenen fühlen sich in das traumatische Geschehen zurückversetzt. Dabei kommt es zu Fehlwahrnehmungen und Fehldeutungen der Umgebungssituation. Die (Teil-)Amnesien (ein DSM-5-Kriterium) sind weitere dissoziative Phänomene, die sich während der Gesundung wieder bessern können. Im Rahmen der komplexen PTBS bzw. beim dissoziativen Subtyp kommt es zu weiteren dieser Symtome (► Kap. 3).
2.2.4.2 Scham und Schuld
Ein sehr häufig zu findender Affekt bei Traumaopfern ist Scham. Die Scham ist dabei ein Gefühls- und Körperzustand von der eigenen Bloßstellung und damit einhergehende Befürchtungen vor der Zurückweisung durch andere. Schamzustände werden sowohl als verbalisierbare wie auch als sensorische Erinnerungen enkodiert.
Schuld bezeichnet das Gefühl, die Verantwortung für das Geschehe zu tragen bzw. nicht alles in seiner Kraft Stehende getan zu haben, aber auch eine „Überlebensschuld (z. B. Vorwürfe, den Holocaust überlebt zu haben, „survivor guilt
, vgl. Horowitz 1976, 2011).
Scham und Schuld sind sehr häufig als aufrechterhaltende Faktoren der PTBS gefunden worden, unabhängig vom Typ des traumatischen Ereignisses und mit höherer Auftretenswahrscheinlichkeit nach dem Erleben multipler Ereignisse (Andrews et al. 2000; Aakvaag et al. 2016).
Unangemessene Schuldgefühle von Traumatisierten sind nachträgliche Reattribuierungsversuche der Betroffenen (z. B. „Ich habe eine große Mitschuld am Vorgefallenen") im Dienste einer Illusion der Kontrollierbarkeit der Traumaverursachung (z. B. „Wenn ich mich nicht so verhalten hätte, wäre alles nicht passiert"). Die genannten sozialen Gefühle können allerdings auch bei den Personen induziert werden, die dem Traumaopfer nahestehen oder professionell mit ihm zu tun haben (z. B. Schuldgefühle, nicht angemessen auf den Betroffenen eingehen zu können).
2.2.4.3 Ekel
Scham geht oft einher mit Ekel. Diese Emotion dominiert häufig bei Patientinnen mit PTBS als Folge sexueller Gewalt (Fairbrother und Rachman 2004) und zwar in Form von Ekelgefühlen in Bezug auf sich selbst sowie gegenüber bestimmten Stimuli (z. B. Nahrungsmittel, deren Geruch, Geschmack oder Konsistenz die Patientinnen an die traumatischen Situationen erinnern).
2.2.4.4 Ärger
Ärger- und Racheaffekte und -gedanken sind ebenfalls häufig bei Traumatisierten beschrieben worden (Olatunji et al. 2010), v. a. bei einer PTBS nach Kriegseinsätzen sowie bei vielen Kriminalitätsopfern (Orth und Wieland 2006). Sie können sich auf die zentralen Akteure während der Traumatisierung (Täter) beziehen oder auch auf Personen, mit denen man nach dem Trauma interagierte (z. B. „Die Einsatzhelfer am Unfallort haben alles schlimmer gemacht – das waren die reinsten Verbrecher"). Anhaltender Ärger kann zu einem fortgesetzten Hyperarousal führen, was ebenfalls der Traumaverarbeitung entgegensteht. Befunde weisen darauf hin, dass Ärger eine sekundäre Emotion ist, die infolge der Belastung durch die PTBS-Kernsymptomatik entsteht (Orth et al. 2008). Glück et al. (2017) konnten mittels Netzwerkanalyse zeigen, dass v. a. das Grübeln („rumination") über die eigenen Ärgergefühle eine wichtige Rolle bei der PTBS spielt.
PTBS und erhöhte Aggressionsbereitschaft
Wenn Ärger sich durch Handlungsbereitschaft zur Racheintention entwickelt, kann es dazu kommen, dass ein Opfer selbst zum Täter wird (bsp. Vater der Flugzeugunglücksopfer, der einen Fluglotsen ermordete). Ein Zyklus der Gewalt ist auch bei in Kindheit und Jugend traumatisierten späteren Gewalttätern in Einzelfällen klinisch-gutachterlich belegbar. Dies ist ganz besonders in fragilen Weltgegenden bedeutsam, in denen sich eine anhaltende soziale Gewaltspirale entwickeln kann, die nicht nur in erhöhtem Risiko für