Soziale Psychiatrie: Das Handbuch für die psychosoziale Praxis
Von Wulf Rössler
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Buchvorschau
Soziale Psychiatrie - Wulf Rössler
Verzeichnis der Herausgeber und Autoren von Band 2
Herausgeber
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wulf Rössler
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Militärstrasse 8
Postfach 1930
CH-8021 Zürich
wulf.roessler@uzh.ch
Prof. Dr. med. Wolfram Kawohl
Privatdozent an der Universität Zürich
Gastprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg
Leiter Zentrum für Soziale Psychiatrie
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Militärstrasse 8
Postfach 1930
CH-8021 Zürich
wolfram.kawohl@puk.zh.ch
Autoren
PD Dr. phil. Vladeta Ajdacic-Gross
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Militärstrasse 8
Postfach 1930
CH-8021 Zürich
vajdacic@dgsp.uzh.ch
Prof. Dr. oec. Volker Amelung
Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
D-30625 Hannover
Amelung.Volker@mh-hannover.de
Univ. Prof. Dr. med. Michaela Amering
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien
Währinger Gürtel 18–20
A-1090 Wien
michaela.amering@meduniwien.ac.at
PD Dr. med. Josef Bäuml
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Ismaninger Strasse 22
D-81675 München
J.Baeuml@t-online.de
Dr. med. Frank Bergmann
zns Kapuzinerkarree
Kapuzinergraben 19
D-52062 Aachen
bergmann@bvdn-nordrhein.de
Prof. Dr. Dipl.-Psych. Thomas Bock
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie W37
Martinistraße 52
D-20246 Hamburg
bock@uke.de
PD Dr. med. Anke Bramesfeld
Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
D-30623 Hannover
bramesfeld.anke@mh-hannover.de
Dr. med. René Bridler
Sanatorium Kilchberg
Alte Landstrasse 70
CH-8802 Kilchberg
rene.bridler@sanatorium-kilchberg.ch
Dr. med. David Briner
Stadt Zürich, Städtische Gesundheitsdienste, Psychiatrisch-Psychologische Poliklinik
Walchestrasse 31
Postfach 3251
CH-8021 Zürich
david.briner@zuerich.ch
Carsten Burfeind, M.A.
Burfeind Training | Beratung | Mediation
Ludolfingerplatz 7
D-13465 Berlin
info@burf.de
Prof. Dr. Tom Burns
University of Oxford, Departement of Psychiatry
Warneford Lane
OX3 7JX Oxford (UK)
tom.burns@psych.ox.ac.uk
Prof. Dr. Manfred Cramer
Hochschule München, Fakultät für Sozialwissenschaften
Am Stadtpark 20
D-81243 München
cramer@hm.edu
Dr. phil. Aba Delsignore
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UniversitätsSpital Zürich
Culmannstrasse 8
CH-8091 Zürich
aba.delsignore@usz.ch
Margrit Dubi
Stiftung Melchior
Postfach
CH-4018 Basel
dubi.margrit@bluewin.ch
Dr. med. Ulrich Erlinger
Sanatorium Kilchberg
Alte Landstrasse 70
CH-8802 Kilchberg
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Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LVR Klinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität, Medizinische Fakultät, Düsseldorf
Bergische Landstrasse 2
D-40629 Düsseldorf
wolfgang.gaebel@uni-duesseldorf.de
Mag. theol., Diplomsozialarbeiter Peter Gardowsky
HPE Österreich Wien
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A-3430 Tulln
peter@gardowsky.com
lic. phil. Annika Gnoth
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
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PD Dr. med. Elmar Habermeyer
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstrasse 31
Postfach 1931
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elmar.habermeyer@puk.zh.ch
Dr. med. Viola Habermeyer
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Lenggstrasse 31
Postfach 1931
CH-8032 Zürich
viola.habermeyer@puk.zh.ch
PD Dr. med. Karsten Heekeren
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Militärstrasse 8
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PD Dr. med. Urs Hepp
Psychiatrische Dienste Aargau AG, Externer Psychiatrischer Dienst EPD
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lic. phil. Franz Hierlemann
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Büro und Praxis (ehem. Sozialpsychiatrischer Dienst Hildesheim)
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Universitätsklinik für Psychiatrie Bern, Abteilung für Psychotherapie
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Prof. Dr. med. Thomas W. Kallert
Park-Krankenhaus Leipzig, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Morawitzstraße 2
D-04289 Leipzig
thomas.kallert@parkkrankenhaus-leipzig.de
Prof. Dr. med. Dipl. oec. med. Falk Kiefer
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5
D-68159 Mannheim
falk.kiefer@zi-mannheim.de
Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Stefan Klingberg
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen
Calwer Str. 14
D-72076 Tübingen
stefan.klingberg@med.uni-tuebingen.de
Jana Konrad, B. Sc. (PHPN, CH)
Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Sektion Prozess-Ergebnis-Forschung
Ludwig-Heilmeyer-Strasse 2
D-89312 Günzburg
jana.konrad@bkh-guenzburg.de
Dr. med. Roland Kowalewski
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Selnaustrasse 9
CH-8001 Zürich
roland.kowalewski@puk.zh.ch
PD Dr. med. Bernd Krämer
Krisenintervention Olten, Psychiatrische Dienste
Baslerstrasse 150
CH 4600 Olten
ambi-olten.pd@spital.so.ch
Elisabeth Kronenberg
sintegrA zürich, Betreuungsdienst
Hofackerstrasse 36
CH-8032 Zürich
e.kronenberg@sintegra-zh.ch
Dr. med. Steffen Lau
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Alleestrasse 57
Postfach 50
CH-8462 Rheinau
steffen.lau@puk.zh.ch
Prof. Dr. med. Christoph Lauber
Services psychiatriques Jura bernois – Bienne-Seeland
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Prof. Dr. phil. Cordula Löffler
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D-88250 Weingarten
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Dipl.-Psych. Sabine Loos
Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Sektion Prozess-Ergebnis-Forschung
Ludwig-Heilmeyer-Strasse 2
D-89312 Günzburg
sabine.loos@bkh-guenzburg.de
Dr. med. Katharina Lötscher
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Heliosstrasse 32
Postfach 2081
CH-8032 Zürich
katharina.loetscher@puk.zh.ch
Birgit Matter, M. Sc. PH
Hechlenberg 20
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Günter Meyer, M.A.
Pflegestation Meyer & Kratzsch GmbH & Co. KG
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D-10785 Berlin
g.meyer@meyer-und-kratzsch.de
Dr. Hans-Jochim Meyer
Amselstieg 33
D-25421 Pinneberg
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Dr. med. Jochen Mutschler
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Militärstrasse 8
Postfach 1930
CH-8021 Zürich
jochen.mutschler@puk.zh.ch
Dr. med. Franziska Peter
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Selnaustrasse 9
CH-8001 Zürich
franziska.peter@puk.zh.ch
Dr. phil. Mario Pfammatter
Universitätsklinik für Psychiatrie Bern, Abteilung für Psychotherapie
Laupenstrasse 49
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mario.pfammatter@spk.unibe.ch
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D-81675 München
g.pitschel-walz@lrz.tum.de
Dr. Dipl. Psych. Irmgard Plößl
Rehabilitationszentrum Rudolf-Sophien-Stift GmbH
Schockenriedstr. 40
D-70565 Stuttgart
ploessl@rrss.de
Prim. Dr. med. Georg Psota
Psychosozialer Dienst Wien
Modecenterstrasse 14/B/16
A-1030 Wien
chapost@psd-wien.at
PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernd Puschner
Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II, Sektion Prozess-Ergebnis-Forschung
Ludwig-Heilmeyer-Strasse 2
D-89312 Günzburg
bernd.puschner@bkh-guenzburg.de
cand. med. Karla Ranft
Walramstraße 37
D-65183 Wiesbaden
karla.ranft@gmx.de
Dr. med. Christa Roth-Sackenheim
Breite Strasse 63
56626 Andernach
Tuula Rouhiainen
Brüdtweg 11
D-21033 Hamburg
tuuli@hotmail.de
lic. phil. Gaby Rudolf
Raum für Wohlbefinden und Lebendigkeit
Wattstrasse 16
CH-4056 Basel
kontakt@gaby-rudolf.ch
Cornelia Rüegger, M.A.
Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Professionsforschung und kooperative Wissensbildung
Riggenbachstrasse 16
CH-4600 Olten
cornelia.rueegger@fhnw.ch
PD Dr. med. Nicolas Rüsch
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Militärstrasse 8
Postfach 1930
CH-8021 Zürich
nicolas.ruesch@dgsp.uzh.ch
Thomas Rüst, M.A.
Thomas Rüst GmbH
Eleonorenstrasse 18
CH-8032 Zürich
truest@bluewin.ch
Dr. Friedrich Schmidl
Psychosozialer Dienst Wien
Modecenterstrasse 14/B/16
A-1030 Wien
Dipl. Soz.-arb. (FH) Bettina Schmidt
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Soziale Arbeit
Lenggstrasse 31
Postfach 1931
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bettina.schmidt@puk.zh.ch
Rose-Marie Seelhorst
AG Niedersachsen und Bremen e. V. (AANB)
Wedekindplatz 3
D-30161 Hannover
rm-sl@t-online.de
Prof. Dr. Peter Sommerfeld
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Riggenbachstrasse 16
CH-4600 Olten
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andreas.spengler@t-online.de
Dipl. Theol. Tony Styger
Dargebotene Hand – Tel 143
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Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
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Universitätsklinik für Psychiatrie Bern, Abteilung für Psychotherapie
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Dr. med. Thomas Utz
Burstwiesenstrasse 58
CH-8055 Zürich
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Dr. med. Bernhard van Treeck
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Dr. med. Roland Weber
Sozialpsychiatrischer Dienst des Kantons Schwyz
Mittlere Bahnhofstrasse 1
CH-8853 Lachen
roland.weber@spd.ch
Dr. med. Steffi Weidt
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UniversitätsSpital Zürich
Culmannstrasse 8
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steffi.weidt@usz.ch
PD Dr. rer. soc. Dipl.-Psych. Andreas Wittorf
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Tübingen
Calwer Str. 14
D-72076 Tübingen
andreas.wittorf@med.uni-tuebingen.de
Dipl.-Psych. Harald Zäske
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LVR Klinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine-Universität, Medizinische Fakultät
Bergische Landstrasse 2
D-40629 Düsseldorf
Harald.Zaeske@lvr.de
Teil 1: Präventive Ansätze
1 Suizidprävention
Vladeta Ajdacic-Gross
Kapitelübersicht
1.1 Einleitung
1.2 Historischer Rückblick
1.3 Über Definitionen hinaus
1.4 Risikofaktoren, Risikogruppen
1.5 Risikomechanismen
1.6 Prozessmodelle und Typologien des Suizids und Implikationen für die Prävention
1.7 Präventionsmaßnahmen und -strategien
1.7.1 Präventionsmaßnahmen auf individueller Ebene
1.7.2 Präventionsstrategie auf Organisationsebene: US Air Force
1.7.3 Präventionsstrategien auf sozietaler Ebene: Beispiel Nürnberger Bündnis
1.7.4 Präventionsstrategien auf sozietaler Ebene: Beispiel Präventionskonzept Zürich
1.8 Anhang: einige Fakten zum Suizid
Zusammenfassung
Die Suizidprävention hat nach wechselvollem Schwanken zwischen Zuversicht und Zweifel in den letzten beiden Jahrzehnten einen Durchbruch erlebt, der v. a. mit zwei Studien – der Gotland-Studie und dem Nürnberger Bündnis gegen Depression – in Zusammenhang steht. Mit dem Aufschwung wurde zugleich die Komplexität der Herausforderungen sichtbar: Die Suizidprävention muss sich an unterschiedlichen Suizidtypen, Mechanismen, Risikogruppen etc. messen, um ähnlich erfolgreich zu werden, wie dies etwa die Prävention der Mortalität bei Unfällen/Verkehrsunfällen ist.
1.1 Einleitung
Suizid ist keine psychische Störung. Wie andere pathologische Verhaltensweisen (Suchtmittelkonsum, Selbstverstümmelung, extreme Formen des Risikoverhaltens, deviantes Essverhalten etc.) ist der Suizid über Verhaltensmotive, Verhaltensmuster, die benutzten Methoden etc. für die Prävention zugänglich – dies zusätzlich zur Behandlung von möglicherweise zugrundeliegenden psychischen Krankheiten bzw. zur Betreuung in Krisensituationen.
Der vorliegende Beitrag bietet zunächst eine eilige Übersicht über die Geschichte der Suizidprävention, um in der Folge einzelne Problemfelder und deren Implikationen für die Suizidprävention anzugehen: Risikofaktoren, Risikomechanismen, Prozessmodelle und Suizidtypen. Schließlich werden Präventionsmaßnahmen auf individueller und auf systemischer Ebene diskutiert.
1.2 Historischer Rückblick
Über viele Jahrhunderte des Mittelalters und der Neuzeit beschränkte sich die Prävention des Suizids aufs Richten und Henken – kirchlich verfügte und weltlich umgesetzte Sanktionen, die gegenüber Überlebenden nach Suizidversuch wie auch auf die Leichen angewendet wurden. Die Sanktionen umfassten auch nachgelagerte Rituale (z. B. rund um die Beseitigung der Leiche) wie auch juristische Konsequenzen (z. B. die Enteignung des Erbes der Hinterbliebenen). In der Neuzeit, wohl zunächst in protestantischen Regionen, setzt ein allmählicher Wandel der Einstellungen ein, den Markus Schär (Schär 1985) in einer blendenden Arbeit zum Suizid im Alten Zürich (1500–1800) nachgezeichnet hat. In gleichem Maße wie die Mordzahlen sinken, steigen die Suizidzahlen und bereiten der kirchlichen Obrigkeit zunehmende Sorgen. Nach und nach wird die Sanktionswut des Mittelalters abgelöst durch Erklärungsversuche wie Melancholie. Dem Seelenheil des Suizidenten wird damit eine Hintertüre offen gelassen, die Reue wird als milderndes Argument eingeschlossen. Die Pfarrer werden angehalten, den heimgesuchten Seelen durch Beistand und Gebet zu helfen.
Die Zunahme der Suizidzahlen wird – wie auch das Ringen um Sanktionen und Alternativen – bis zum 20. Jahrhunderts weitergehen. Die Entwicklung wird im 19. Jahrhundert Statistiker, Psychiater und schließlich auch Soziologen auf den Plan rufen.¹ Suizid wird spätestens seit Durkheim als Krisensymbol der Industrialisierung und des gesellschaftlichen Umbruchs betrachtet.
In seiner 1933 erschienen Monographie »To Be or Not To Be« zählt Louis Dublin die damals bekannten Vereinigungen auf, die sich der Suizidprävention widmeten. Darunter ist auch ein Zürcher Verein »Komitee zur Bekämpfung des Selbstmordes«,² das in den 1920ern mit folgender Annonce auf sich aufmerksam machte: »Selbstmord – rächt sich furchtbar! Verzweifelnde, gequälte Seelen erhalten Rat und womöglich Hilfe. Man schreibe vertrauensvoll …« Das Komitee wurde von Anfragen mittelloser Menschen überhäuft und musste seine Aktivitäten einstellen.
Ein erster Meilenstein der Suizidprävention, wie wir sie heute kennen, war das 1948 durch Erwin Ringel in Wien gegründete Zentrum zur Suizidprävention. Ein zweiter Meilenstein entstand mit der Gründung der Samaritans und dem Beginn der Telefonseelsorge 1953. Als Krisentelefon, »Dargebotene Hand« etc. (► Kap. 9 und 14, Bd. 2) hat die Telefonseelsorge ein große Verbreitung gefunden und ist heute aus der Palette niederschwelliger Hilfsangebote in Krisensituationen nicht mehr wegzudenken.
Zu einem weiteren Meilenstein entwickelte sich die Entgiftung des Haushaltgases, die in England ab Ende der 1950er Jahre und in anderen Ländern ab den 1960ern erfolgte. Mit dem CO-haltigen Haushaltgas verschwand in England die damals häufigste Suizidmethode; darüber hinaus sank beinahe in selbem Maß auch die Gesamtsuizidrate (Gunnell et al. 2000, Thomas und Gunnell 2010). Die methodenorientierte Suizidprävention deckte in der Folge ein brachliegendes Präventionspotenzial auf:
Reduktion der Schusswaffenverfügbarkeit in privaten Haushalten und eine Reihe weiterer Sicherheitsmaßnahmen bei beruflichen oder militärischen Schusswaffenbesitzern
Reduktion der Verpackungsgrößen und Änderung der Verschreibungsregeln bei Medikamenten
Sicherung von Hot Spots, z. B. Brücken, Plattformen, Eisenbahnstrecken, wo sich gehäuft Suizide ereignen
In eine andere Stoßrichtung ging die so genannte Gotland-Studie Ende der 1980er Jahre (Rutz et al. 1989, Rutz 2001). Sie erfasste alle Hausärzte auf der schwedischen Insel Gotland und involvierte sie in Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema Depression. Die Evaluation der Studie erbrachte u. a. Hinweise auf eine Reduktion der Suizidhäufigkeiten. Auch wenn diese Hinweise statistisch und punkto Nachhaltigkeit auf unsicheren Beinen standen, bestärkten sie die Überzeugung, dass mit der Untertützung so genannter Multiplikatoren, z. B. Ärzte, die Suizidprävention erfolgreich vorangetrieben werden kann. Als Beispiel für ein Folgeprojekt sei die Weiterbildungskampagne »Krise und Suizid« der Schweizerischen Ärztevereinigung in den 1990er Jahren genannt.
Noch einen Schritt weiter gehen konzertierte Präventionsprogramme wie das »Nürnberger Bündnis gegen Depression« (Althaus et al. 2005, Althaus et al. 2007), ein inzwischen vielfach kopiertes Programm. Es bietet ein Modell, wie verschiedene Stoßrichtungen – Weiterbildung von Hausärzten, Einbezug von Multiplikatoren, Information der Öffentlichkeit, Angebote für Betroffene und Angehörige – zeitgleich miteinander kombiniert werden können in der Erwartung, dass kombinierte Maßnahmen zusammen erfolgreicher sind als die Summe der einzelnen Maßnahmen. Auch hier erbrachte die Evaluation vielversprechende Ergebnisse, die der Suizidprävention neue Optionen eröffneten. Die Suizidprävention erscheint heute mehr denn je machbar, erfolgversprechend, lohnend zu sein.
1.3 Über Definitionen hinaus
Zum Suizid existieren eine Reihe von Definitionen (Shneidman 1985, Wolfersdorf 2008), die notwendig und nützlich sind: z. B. im Hinblick auf die Feststellung von Todesursachen, hier insbesondere der gewaltsamen Todesursachen. Zugleich sind Definitionen für das Verständnis des Suizids vor allem behindernd. Weshalb?
Definitionen versuchen in der Regel, ein Phänomen möglichst genau zu fassen oder alternativ eine bestimmte Sichtweise in den Vordergrund zu rücken. Dies ist bei homogenen Phänomenen hilfreich, bei heterogenen eher nicht. Bei Suiziden treffen offensichtlich sehr unterschiedliche Verhaltensmotive und -muster zusammen. Es gibt nicht den Suizid, es gibt bestenfalls verschiedene Suizidtypen. Der Weg zur Erfassung der Heterogenität von Suiziden und deren besserem Verständnis führt daher nur über die Empirie.³
Beim Beispiel der Suizide ist die Empirie nicht frei von Tücken. Sie sagt zunächst, dass Suizide seltene Ereignisse sind. Dies gilt jedoch nicht für suizidales Verhalten. Jede/jeder zweite Schweizer/-in berichtet in Langzeitstudien über Suizidgedanken, doch nur jede/jeder Hundertste stirbt an Suizid. Anders gesagt: Von 50 Menschen mit Suizidgedanken stirbt einer an Suizid und 49 an anderen Todesursachen. Auf einen Suizid kommen schätzungsweise zehn Suizidversuche. Anders gesagt: einer von zehn Suizidversuchern wird später an Suizid sterben, neun hingegen an anderen Todesursachen.⁴ Auch im Kontext der Suizidalität bzw. des suizidalen Verhaltens sind Suizide Ausnahmeerscheinungen und scheinen vor diesem Hintergrund am ehesten Unfällen zu gleichen, sozusagen psychischen Unfällen.⁵ Diese Charakterisierung ist bei Kurzschlusssuiziden unmittelbar nachvollziehbar, wo suizidale Impulse sich schnell auf- und ebenso schnell wieder abbauen. Sie trifft aber auch bei anderen Suizidtypen (Abschnitt 1.6, Übersicht) zu, wo krisenhafte Entwicklungen sich zeitlich verdichten, um danach zu verschwinden oder zumindest wieder abzuflauen.
Indes wirft die Charakterisierung einer Vielzahl von Suiziden als psychische Unfälle unmittelbar ein kontrastreiches Licht auf die Forschung und die Prävention. Sichtbar wird, dass Theorien, empirische Forschung, Erfassungsinstrumente, Präventionsbemühungen v. a. Suizidalität adressieren und nicht Suizide – zwei empirisch sehr unterschiedliche Phänomene.⁶ Die Charakterisierung von Suiziden als psychische Unfälle legt eine Denkweise nahe, die probabilistisch ist und nicht deterministisch. Es geht demnach nicht mehr um theoretisch begründbares, zwangsläufig sich anbahnendes Verhalten, sondern um seltene Ereignisse, deren Vorhersage und Prävention. Gesucht sind Kombinationen von prädispositiven, situativen, Personen- und Prozessmerkmalen, die die Heterogenität der Suizide möglichst gut repräsentieren können. Um eine bessere Vorhersagbarkeit für Suizide zu erhalten und besser abgestimmte Präventionsmaßnahmen zu treffen, bedarf es einer Auswahl von Prädiktionsmodellen, die der Vielfalt des Suizidgeschehens angepasst sind.⁷
1.4 Risikofaktoren, Risikogruppen
Im Folgenden wird eine knappe Auslegeordnung von Risikofaktoren/-gruppen und Risikomechanismen dargelegt. Risikofaktoren können mit einer individuellen Situation einhergehen (z. B. einem kritischen Lebensereignis) oder Gruppen von Menschen mit einem erhöhten Suizidrisiko charakterisieren – Risikogruppen. Risikofaktoren für Suizid können lange vorbestehen – in Analogie zum Diathese-Stress-Modell als Vulnerabilitätsfaktoren – oder sie können als krisenhafte Situationen, Prozesse, Ereignisse unmittelbar einen hohen Leidensdruck auf betroffene Menschen ausüben.⁸
Es gibt kaum andere Todesursachen, die vergleichbar stark über die Zeit oder über Risikogruppen hinweg schwanken wie der Suizid. Zur Illustration seien einige Beispiele gelistet (► Tab. 1.1).
Die Liste der Risikogruppen lässt sich lange weiterführen, ohne erschöpfend zu sein: Survivors, Menschen nach Suizidversuch, Menschen mit psychischen Krankheiten und Suchtstörungen, Menschen mit belastenden Symptomen (z. B. psychischen Schmerzen (psychache), Hoffnungslosigkeit), Menschen während und nach stationärem Aufenthalt in psychiatrischer Klinik, Menschen nach Festnahme/Gefängniseinweisung, nach Trennung, Verlust von Kindern, Eltern, nach Verwitwung, Menschen mit schweren chronischen Erkrankungen, Menschen nach anderen schweren Schicksalsschlägen, nach kritischen Lebensereignissen in Kombination mit hoher subjektiver Wertigkeit, isolierte Menschen, Menschen mit wenig sozialer Unterstützung, Opfer von Missbrauch, Gewalt, Vergewaltigung.
Die Implikation dieser Liste für die Prävention des Suizids ist gleichermaßen einfach wie kompliziert: neben allgemeinen, für alle Gruppen anwendbaren Maßnahmen sind Präventionsprojekte erforderlich, die gezielt auf einzelne Gruppen, Situationen, Prozesse eingehen. Auch dies ist nicht zuletzt eine Parallele zu Unfällen und zu in diesem Bereich angewandten Präventionsstrategien.
Tab. 1.1: Erhöhung des Suizidrisikos bei einzelnen Risikogruppen
1.5 Risikomechanismen
Der Suizid gehört zu den am längsten und am besten erforschten Themen in der Epidemiologie, Psychiatrie und Soziologie – und zugleich auch zu den am schlechtesten verstandenen. Damit Prävention erfolgreich ansetzen kann, braucht es ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Mechanismen, die zu einem Suizid führen.
Einen ersten Schlüssel bietet die Unterscheidung zwischen einseitig suizidfördernden Mechanismen und einseitig suizidprotektiven Mechanismen.⁹ Das heißt, man kann die meisten Mechanismen eindeutig der einen oder anderen Art zuordnen und entsprechend Präventionsmaßnahmen daran ausrichten.
Beispiele für suizidfördernde Mechanismen:
Kritische Lebensereignisse, Traumatisierungen, akuter Leidensdruck
Chronischer Leidensdruck, psychische und schwere somatische Krankheiten
Gelegenheiten
Imitation, Werther-Effekt
Neigung zu Kurzschlusshandlungen (Impulsivität, Aggressivität)
Enttabuisierung des Suizids
Beispiele für suizidprotektive Mechanismen:
Psychotherapeutische Behandlung
Medikamentöse Behandlung
Begleitung, soziale Unterstützung
Soziale Kontrolle (in soziologischem Sinne, z. B. Termine)
Enttabuisierung psychischer Krankheiten, Metaphern (Stress, Burnout)
1.6 Prozessmodelle und Typologien des Suizids und Implikationen für die Prävention
Verschiedene Prozessmodelle und Typologien versuchen, differenzierte Vorstellungen des suizidalen Geschehens zu entwickeln. Zu den bekanntesten Prozessmodellen gehört Ringels »präsuizidales Syndrom« mit seinem Fokus auf einen abgestuften Prozess der Einengung der Gedanken und Handlungsmöglichkeiten. Formal ähnlich gliedert Pöldingers Stadienmodell die Dynamik von Gedanken, Impulsen und Suizidvorbereitung. Die Palette der Prozessmodelle umfasst eine Reihe weiterer Modelle, zunehmend auch mit psychologischem Hintergrund (Wolfersdorf und Etzersdorfer 2011).
Ähnich heterogen zeigt sich die Ausgangslage bei den Typologien des Suizids (vgl. Übersicht bei Rogers und Lester (2010)). Einfach und für das Verständnis der Suizide aus der Perspektive der Gelegenheiten¹⁰ aufschlussreich ist die Unterteilung der Suizidmethoden. Nicht jede, der sich mit Medikamenten vergiftet, würde auch aus großer Höhe springen. Nicht jeder, der zu einer Waffe greift, würde einen Suizid auch mit einem Messer begehen. Grob wird zwischen rigiden oder harten Methoden vs. nicht rigiden Methoden (hauptsächlich Vergiftungen) unterschieden.
Oft zitiert wird die soziologisch geprägte Typologie von Emile Durkheim, der zwischen anomischem, egoistischem, fatalistischem und altruistischem Suizid unterschied. Die psychoanalytische Parallele dazu stammt von Karl Menninger. Er verband Suizide mit dem Wunsch, getötet zu werden, zu töten und zu sterben. Ähnlich unterteilte Jean Baechler Suizide in eskapistische, aggressive, Opferungs- und Risikoverhalten-Subtypen. Spätere Typologie-Entwürfe entwickelten sich aus empirischen Analysen, also Klassifizierungsversuchen z. B. anhand von Clusteranalysen. Dies führte zu Typologien, die unterschiedliche Verhaltensdimensionen berücksichtigen, wie jene von Reynolds und Berman: Flucht/Verwirrung/Aggression/Entfremdung/Depression.
Es ist offensichtlich, dass alle Prozessmodelle und Typologien dem Alltagsverständnis entgegenkommen, Plausibilität versprechen und durchaus von heuristischem Wert sind. Zugleich ist auch klar, dass sie ähnlich wie Definitionen immer nur eine begrenzte – formale oder inhaltliche – Perspektive aussortieren und sich insofern v. a. durch Beliebigkeit auszeichnen. Wie lässt sich der Beliebigkeit von Prozessmodellen und Typologien beikommen?
Richtungsweisend sind Modelle, die ätiologische und Prozesskomponenten mit dem Ziel zusammenführen, Varianten des suizidalen Verhaltens abzubilden. Ein einfaches und prägnantes Beispiel bietet die Differenzierung zwischen Krisen- und Krankheitsmodell des Suizids (Wolfersdorf 2008, Wolfersdorf und Etzersdorfer 2011). Das erste Modell sieht den Suizid als Ausgang einer verstörenden, kränkenden, psychisch schmerzvollen und/oder ausweglosen Krisensituation. Suizid erscheint als eine dysfunktionale Variante der Krisenbewältigung neben anderen (Selbstverstümmelung, Suchtverhalten, Aggression, Risikoverhalten etc.). Beim Krankheitsmodell wird dem Suizidgeschehen ein Zusammenspiel zwischen Prädisposition, psychischer Krankheit und auslösenden Faktoren zugrundegelegt.
Einen Schritt weiter geht eine Typologie, die Suizidtypen mit unterschiedlichen Prozessmodellen verbindet und somit Anhaltspunkte für unterschiedliche präventive Ansätze bietet:
Kurzschlusssuizide (►Abb. 1.1): Kurzschlusssuizide setzen keine hohe Basissuizidalität voraus, jedoch Impulsivität, Irritabiliät oder Aggressivität; häufig sind junge Menschen betroffen; Präventionsmaßnahmen zielen auf Zeitgewinn, Beseitigung von letalen Mitteln (Schusswaffen, Medikamente), unmittelbare Begleitung
Suizide aufgrund eines sich aufbauenden Leidensdrucks (►Abb. 1.2): Dieser Suizidtyp ist gekennzeichnet durch einschneidende oder ausweglose Situationen (z. B. Verlusterlebnis, schwere somatische Krankheit); die Präventionsmaßnahmen umfassen in erster Linie therapeutische Interventionen; zusätzliche Maßnahmen in Analogie zu Kurzschlusssuiziden
Suizide aufgrund wiederkehrenden Leidensdrucks (►Abb. 1.3): Wiederkehrender Leidensdruck aufgrund von Remissionen und Relapses bei psychischen Störungen; Prävention durch psychiatrische Behandlung mit dem Ziel, den Leidensdruck während der Relapses zu senken; zusätzliche Maßnahmen in Analogie zu Kurzschlusssuiziden
Suizide aufgrund chronischer Suizidalität (►Abb. 1.4): Anhaltender Leidensdruck mit hoher Basissuizidalität; Prävention durch psychiatrische Behandlung mit dem Ziel, Leidensdruck bzw. Basissuizidalität zu senken
Bilanzsuizide, assistierte Suizide¹¹
Wolfersdorf und Etzensdorfer (2011) bemerken berechtigterweise, dass sich Suizidtypen/Prozessmodelle zumeist in der einen oder anderen Weise überlagern. Dennoch bietet die Typologie ein heuristisches Instrument, um relativ schnell und zuverlässig die Stoßrichtung präventiver Maßnahmen zu evaluieren.
Im übrigen verweist die einfache Typologie auf eine grundsätzliche Einsicht: Die meisten Suizide gehören zu den Typen 1–3, also zu solchen, die für präventive Maßnahmen sehr gut zugänglich sind. Das Potenzial der Suizidprävention ist weitaus größer, als man gemeinhin annimmt.
Abb. 1.1–1.4: Vereinfachte Darstellung von Basissuizidalität (durchgezogene Linie), abweichendem Verlauf (gestrichelte Linie) und hypothetischem Threshold-Bereich, in welchem der Entscheidungsprozess in Richtung Suizid kippt
1.7 Präventionsmaßnahmen und -strategien
Im Laufe der letzten Jahrzehnte, da man sich nicht mehr mit Prophylaxe sondern mit Prävention beschäftigt, sind auch eine Reihe von neuen Präventionsklassifikationen entstanden. Auf diese wird im ► Kap. 32, Bd. 2, eingegangen. Im folgenden sollen Maßnahmen und Strategien auf individueller und systemischer Ebene dargelegt werden, letztere anhand von drei Beispielprojekten.
1.7.1 Präventionsmaßnahmen auf individueller Ebene
Die Prävention/Intervention auf individueller Ebene teilt sich auf in praktische Maßnahmen sowie krisen- bzw. notfallpsychiatrische Maßnahmen. Zur ersten Gruppe gehören:
Suizid ansprechen, Entlastung durch Zuhören bieten
Zeit gewinnen
Letale Mittel verringern/beseitigen
Da sein (und notfalls bleiben), soziale Kontrolle ausüben
Soziales Netzwerk, Begleitung aktivieren
Kleine Hindernisse aufbauen (z. B. Termine abmachen, Nicht-Suizid-Pakt)
Kontakthäufigkeit, soziale Unterstützung erhöhen
Im Hinblick auf die zweite Gruppe lässt sich beispielsweise Wolfersdorfs (2008) Unterscheidung der Grundprinzipien der Krisenintervention aufführen:
Beziehung aufbauen
Diagnostik und Einschätzung von Suizidalität/Handlungsdruck/psychischer Störung
Management der aktuellen Situation
Therapie
1.7.2 Präventionsstrategie auf Organisationsebene: US Air Force
Das Air Force Suicide Prevention Program (AFSPP) bietet ein Beispiel für erfolgreiche Suizidprävention innerhalb einer Organisation (Ramchand et al. 2011).¹² Das AFSPP wurde sorgfältig vorbereitet, 1996 implementiert und später evaluiert (Knox et al. 2010).
Das Programm umfasst elf Initiativen, die sich teils auf Suizid, teils auf psychische Belastungen wie traumatischen Stress beziehen, und die im Laufe der Jahre angepasst und gegebenenfalls ergänzt wurden:
Einbezug der Kader: Commitment und kommunikative Unterstützung top-down
Thematisierung in der Aus- und Weiterbildung
Guidelines und Training von Vorgesetzten als Gatekeeper bzw. Multiplikatoren (Kenntnis der Hilfsangebote, Nutzungsmöglichkeiten, Triage, Ansprechen von Problemen)
Präventive Maßnahmen auf Gruppen- bzw. kollektiver Ebene – u. a. mit dem Ziel, diejenigen Betroffenen zu erreichen, die nicht individuelle Hilfe aufsuchen
Ausbildungsmaßnahmen auf Gruppen- bzw. kollektiver Ebene
Begleitmaßnahmen im Kontext von Strafuntersuchungen und Strafmaßnahmen (weil diese als Risikoperioden für Suizid identifiziert worden waren)
So genannte trauma stress response teams
Suborganisationen, die koordinative Maßnahmen übernehmen
Erhöhter Vertraulichkeitsgrad bzw. eingeschränkte Informationspflicht in Bezug auf weitere Stellen bei Vorliegen von Suizidalität
Tools zur Erfassung von psychischer Gesundheit bzw. Belastungen in einzelnen Einheiten und Vorgesetztenberatung bei der Entwicklung von Interventionen
Surveillance-System
Zusammenfassend stechen v. a. zwei Stoßrichtungen dieses Programms hervor: einerseits zielen die Maßnahmen sowohl auf die individuelle wie auch auf die kollektive Ebene und anderseits wird die zentrale Rolle von Vorgesetzten als Multiplikatoren und als Gatekeeper innerhalb der Organisation betont.
1.7.3 Präventionsstrategien auf sozietaler Ebene: Beispiel Nürnberger Bündnis
Das »Nürnberger Bündnis gegen Depression« ist nicht direkt auf die Suizidprävention ausgerichtet, sondern nimmt den Umweg über das Stichwort Depression. Die Eingrenzung auf ein der Suizidalität zugrunde liegendes Krankheitsmodell wie auch der Fokus auf die Weiterbildung von Hausärzten erscheinen als eine Fortführung der Gotland-Studie (Abschnitt 1.1). Das Nürnberger Bündnis erweitert jedoch diesen Ansatz um weitere Dimensionen. Neben Hausärzten werden auch andere Multiplikatoren wie Pfarrer, Lehrer, Apotheker etc. in die Weiterbildung einbezogen. Zudem beinhaltet das Programm Angebote für Betroffene und Angehörige wie z. B. Selbsthilfegruppen und v. a. auch eine umfassende Öffentlichkeitskampagne zur Aufklärung und Entstigmatisierung der Depression. Bemerkenswert ist, dass das Label »Depression« die Öffentlichkeitskampagne erst möglich und erfolgreich macht, auch wenn Suizid und Suizidversuche das primäre Erfolgskriterium des Programms sind.
Die Evaluation des Programms erfolgte im Rahmen eines Vergleichs zwischen Nürnberg und Würzburg als Kontrollstadt. Das Interventionsfenster umfasste zwei Jahre, 2001 und 2002. Die Zahl der Suizide und Suizidversuche nahm in Nürnberg während dieses Zeitfensters um 24 % ab, während sie in Würzburg auf dem gleichen Level verharrte (Althaus et al. 2007). Auch andere Erfolgskriterien wie etwa die Wahrnehmung der Depression als ernsthafte Krankheit zeigten zumindest vorübergehend die erhofften Veränderungen.
Das Nürnberger Bündnis ist ein ressourcenintensives Programm. Ähnlich wie bei der Gotland-Studie erscheint die Nachhaltigkeit als ein ernsthaftes Problem, dem sich nur durch Wiederholungen und Kontinuität begegnen lässt. Dennoch hat sein Erfolg eine Lawine von Folgeprojekten zunächst in Deutschland, dann in ganz Europa (Althaus et al. 2005, Hegerl et al. 2006) ausgelöst.
1.7.4 Präventionsstrategien auf sozietaler Ebene: Beispiel Präventionskonzept Zürich
Die Schweiz kennt keine nationale Strategie zur Suizidprävention. Unter den Kantonen sticht einzig Zug mit einer umfassenden Strategie heraus. Ausgangspunkt des Zürcher Präventionskonzepts war ein 2008 im kantonalen Parlament eingereichtes Postulat, worin der Regierungsrat (die kantonale Exekutive) aufgefordert wurde, über die Suizidprävention im Kanton Zürich zu berichten, ein Suizidpräventionskonzept zu erarbeiten, zu realisieren und dessen Wirksamkeit zu überprüfen. Die erste Aufgabe wurde einer Gruppe von Fachleuten übertragen, zu der auch der Verfasser gehörte. Sie bestand kurz zusammengefasst darin, die Suizidprävention aus dem Nichts heraus zu initialisieren.
Die Bestandsaufnahme der bestehenden Organisationen, die in irgendeiner Weise zur Suizidprävention beitragen, ergab ein Bild, das für westliche Industrieländer durchaus typisch ist. Zürich verfügt über ein ausgebautes System von niederschwelligen Beratungs- und Hilfsangeboten sowie ambulanten, teilstationären und stationären psychiatrischen Einrichtungen, die allesamt mit ihren Aufgaben indirekt die Suizidprävention stärken und/oder zur Versorgung suizidaler Menschen beitragen.¹³ Große Lücken bestehen hingegen bei Maßnahmen, die direkt und gezielt die Prävention des Suizids zum Gegenstand haben. Entsprechend konkretisierte das Konzept eine »Strategie der 100 Schritte«, die sich v. a. auf die unterschiedlichen direkten Maßnahmen konzentriert. Adressaten waren nicht primär die Öffentlichkeit oder Multiplikatoren wie beim – mit Ressourcen ausgestatteten – Nürnberger Bündnis, sondern Politik und Verwaltung mit dem Ziel, deren Commitment zu gewinnen.
Das Konzept führt ein einfaches, jedoch erschöpfendes 5-Säulen-Modell der Suizidprävention ein:
Einschränkung von suizidalen Mitteln: insbesondere Medikamentensuizid, Schusswaffen, Hot Spots (Stürze, Eisenbahn)
Verhinderung von Imitationssuiziden: Einflussnahme auf Medienberichterstattung; Fokus auf Suizid bei Jugendlichen (z. B. durch Betreuung von Schulklassen nach erfolgtem Suizid); Darstellung des Suizids im Internet
Auf Risikogruppen gerichtete Prävention:
►Kap. 1.3, Bd. 2
Zusammenarbeit mit Multiplikatoren: Einzelprojekte, Aus- und Weiterbildungsprojekte wie auch Vernetzungsprojekte in Zusammenarbeit mit: Ärzte/Hausärzten, Psychologen, Pflegenden, Apothekern, Pfarrern, Vorgesetzten, Feuerwehrleuten, Polizisten, Lehrern, Lehrlingsausbildner, Jugendarbeitern, Sozialarbeiter etc.
Inanspruchnahme von Hilfe:
Öffentlichkeitsarbeit, z. B. nach dem Nürnberger Modell, mit dem Ziel, die Hemmschwellen und die Stigmatisierung der Inanspruchnahme von Hilfe in Krisensituationen zu senken
Niederschwellige Hilfsangebote, Stärkung der ambulanten Versorgung
Ausgehend von diesen fünf Säulen lassen sich zwei Arten von Querschnittsmaßnahmen unterscheiden:
Kombinierte Maßnahmen
Strategie-, Steuerungs- und Koordinationsmaßnahmen
Für die Umsetzung der Suizidprävention im Kanton Zürich wurde ein 3-Phasenmodell zur Diskussion gestellt. Es stellt die effizientesten und einfachsten Maßnahmen an den Anfang, in Phase 2 und 3 werden zunehmend komplexere und organisatorisch anspruchsvollere Maßnahmen integriert. Die Phasen lauten und umfassen im Einzelnen:
Phase 1 (wichtigste Lücken schließen): Einzelne methodenspezifische Maßnahmen (z. B. Hotspot-Sicherung), Institutionalisierung von regionalen und bezirksweisen interdisziplinären Suizidrapporten (runde Tische), Institutionalisierung von Kriseninterventionskonzepten in Schulen, Einführung von »Green Cards« als Minimalmaßnahme in der Nachsorge nach
Suizidversuch und stationären psychiatrischen Aufenthalten.
Phase 2 (komplexe, dringende Problemlösungen und Sensibilisierung): Umfassende Nachsorge nach Austritten aus psychiatrischen Institutionen oder nach Suizidversuch; Koordination der Versorgung suizidaler Jugendlicher im Sinne einer Überbrückungslösung im Hinblick auf ein Kriseninterventionszentrum (KIZ) für Jugendliche; Schulung von Lehrpersonen zum Thema Suizid und Krise, Sensibilisierung und Schulung von Medienschaffenden; Projekte mit ausgewählten Risikogruppen mit zusätzlicher Stoßrichtung der Sensibilisierung von Multiplikatoren und der Öffentlichkeit; statistisches Monitoring von Suiziden und Suizidversuchen im Kanton Zürich.
Phase 3 (Konsolidierung): Aus- und Weiterbildung für Multiplikatoren; kantonale Helpline für Fachpersonen (Coaching, Triage); kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit im Kontext der Prävention für den Kanton Zürich; Kriseninterventionszentrum (KIZ) auch für Jugendliche; Unterrichtsmaterialien mit den Themen psychische Gesundheit, Suizidalität, psychische Krankheiten; Monitoring der Medien.
Wie weit das Konzept erfolgreich durch die politischen Instanzen gehen wird, wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen.
1.8 Anhang: einige Fakten zum Suizid
Suizid ist eine häufige Todesursache: etwa jeder 50. aktuelle Todesfall im deutschsprachigen Raum ist ein Suizid. In der Schweiz und Österreich suizidierten sich während der 2000er Jahre jährlich ca. 1.300–1.400 Menschen und in Deutschland ca. 10.000. Die Suizidraten lagen bei ca. 18 (CH), 17 (A) bzw. 12,5 (D) pro 100.000 Einwohner.¹⁴ In der Schweiz sind unter den Suiziden auch assistierte Suizide mit eingerechnet. Deren Zahl nahm während der 2000er Jahre von etwa 100 auf zuletzt (2009) knapp 300 zu (Bundesamt für Statistik BFS 2012).
In Bezug auf das Gesamt der potenziell verlorenen Lebensjahre¹⁵ tragen Suizide in der gleichen Größenordnung (10–15 %) bei wie die Herz-Kreislauf-Krankheiten; lediglich die Krebsmortalität (25 %) hat einen höheren Impact. Suizid macht namentlich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen etwa 25 % aller Todesfälle aus.
Aus einer Generation stirbt etwa ein Mensch aus 100 an Suizid. Es wird im Allgemeinen geschätzt, dass auf einen Suizid etwa zehn Suizidversuche kommen – die Lebenszeitprävalenz für Suizidversuche geht somit gegen 10 %. Die Lebenszeitprävalenz für Suizidgedanken liegt bei ca. 50 %, d. h. jeder zweite gibt in epidemiologischen Surveys an, Suizidgedanken gehabt zu haben. Bezogen auf einen 12-Monate-Zeitraum berichten je nach Alter 10–15 % der Befragten über suizidale Gedanken (unveröffentlichte Daten aus der epidemiologischen Zürich-Studie von Jules Angst). Zu den interessantesten Paradoxien gehört, dass Männer sich häufiger suizidieren, während Suizidversuche bei Frauen häufiger sind. Analog verhält es sich mit Suiziden im Alter und Suizidversuchen bei Jugendlichen.
Es ist bemerkenswert, dass sich die Suizidraten in den westlichen Ländern in den vergangenen dreißig Jahren um etwa 25–30 % zurückgebildet haben. Dies ist in Zusammenhang mit einer parallelen Zunahme der Verschreibungsraten von Antidepressiva gebracht worden. Vorgelagerte Prozesse – Nachfrage nach Fachpersonen, Hilfe durch Hausärzte, Psychologen oder Psychiater, Enttabuisierung der Depression (Stichworte: Stress, Burnout), Psychologisierung der Gesellschaft – dürften jedoch die ausschlaggebenden Motoren hinter dieser Entwicklung sein.
Die Suizidraten nehmen mit dem Alter zu – bei über 80-jährigen Männern liegen sie im Bereich knapp unter oder über 100 pro 100.000 und bei ebenso alten Frauen gehen sie gegen 50 pro 100.000. Hingegen sind die absoluten Häufigkeiten im mittleren Alter am höchsten.
Die Suizidverteilungen nach Methoden variieren stark von Land zu Land und nach Geschlecht. Männer bevorzugen letalere Methoden, die Frauen dagegen Vergiftungen, wo es in der überwiegenden Zahl der Fälle beim (ersten und letzten) Suizidversuch bleibt.
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2 Prävention von Abhängigkeitserkrankungen
Jochen Mutschler, Roland Kowalewski und Falk Kiefer
Kapitelübersicht
2.1 Einführung und Terminologie der Suchtprävention
2.2 Schädlicher Konsum, Missbrauch, Abhängigkeit
2.3 Suchtmittel und Entstehungsbedingungen für Abhängigkeitserkrankungen
2.4 Epidemiologie, Evidenz und neurobiologische Aspekte der Suchtprävention
2.5 Beispiele und Möglichkeiten für Suchtprävention
2.6 Schwierigkeiten und Grenzen der Suchtprävention
Zusammenfassung
Suchtprävention dient der Vorbeugung von gesundheitlichen und psychischen Schäden durch unterschiedliche Suchtmittel und der Verhinderung von Abhängigkeitserkrankungen. Weiterhin sollen durch eine moderne Suchtprävention Dritte vor Passiveffekten direkter Noxen (z. B. Tabakrauch) geschützt und indirekte Folgeschäden (z. B. Beschaffungskriminalität) minimiert werden. Wirksame Strategien sind multimodal und setzten bereits bei jungen Menschen an. In diesem Buchkapitel sollen exemplarisch erfolgreiche Beispiele und Möglichkeiten suchtpräventiver Strategien und deren Grenzen vorgestellt werden.
2.1 Einführung und Terminologie der Suchtprävention
Abhängigkeitserkrankungen wurden lange Zeit nicht als »vollwertige« Krankheit anerkannt (Tabakabhängigkeit ist bis heute noch nicht vollständig anerkannt bei den Kostenträgern!). Bis in die heutige Zeit gelten Menschen mit einer Suchterkrankung oft noch als Willensschwach. Weit verbreitet sind Vorurteile wie »die Erkrankung ist selbstverschuldet«, oder »eine schlechte Gewohnheit« der Betroffenen. Diese in der Gesellschaft verankerte moralische Haltung führt u. a. zu der typischen Verleugnung des Konsums über lange Zeiträume bei Betroffenen. Der Mehrzahl der Betroffenen bleibt so der Zugang zu einer frühzeitigen und wirksamen Therapie versagt, weil Scham, Unsicherheit und Stigmatisierung zu einer Verdrängung des Problems führen.
Ziel dieses Buchkapitels soll es daher sein, zunächst über die Terminologie substanzbezogener Störungen aufzuklären sowie moderne Präventionsmöglichkeiten und deren Grenzen vorzustellen. Zunächst stellt sich die Frage, was überhaupt unter Sucht bzw. Abhängigkeit zu verstehen ist.
2.2 Schädlicher Konsum, Missbrauch, Abhängigkeit
Die Weltgesundheitsorganisation WHO ordnet die Zuständigkeit für Diagnostik, Behandlung und für Teilaspekte der Prävention von »substanzinduzierten Störungen« dem Bereich der seelischen Gesundheit zu (► Kap. 32, Bd. 2). Die Übergänge vom noch als unproblematisch eingestuften Gebrauch der Substanz bis zum Missbrauch und der Abhängigkeit sind oft fließend. DSM-V und ICD-11 werden daher zukünftig »Sucht und zugehörige Störungen« dimensional operationalisieren und den Terminus der Suchtmittel-»Gebrauchsstörung« einbringen. In der derzeit gültigen zehnten Version der International Classification of Diseases (ICD 10) werden die entsprechenden Diagnosegruppen allerdings noch kategorial definiert und operationalisiert.
Der »riskante Konsum« bezeichnet, am Beispiel Alkohol, einen Konsum oberhalb einer definierten Grenze bei dem ein erhöhtes statistisches Risiko, besteht, eine substanzbezogene Störung zu entwickeln. Die WHO definiert aktuell einen täglichen Alkoholkonsum von 20 g (0,2 l Wein oder 0,4 l Bier) für Frauen und 40 g (0,4 l Wein oder 0,8 l Bier) für Männer als Grenzwerte, deren Überschreitungen innerhalb eines interindividuell unterschiedlichen Zeitraums zu Gesundheitsschädigungen führen können.
Beim Tabakkonsum wird im Gegensatz zum Alkohol keine unbedenkliche Untergrenze festgelegt (Deutsche Forschungsgemeinschaft 2005), wenngleich auch bekannt ist, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von tabakassoziierten Erkrankungen (z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen, Karzinome der Atemwege und chronisch obstruktive Lungenerkrankung) mit dem Ausmaß des Tabakkonsums zusammenhängt. Beim Tabakrauch kommt noch der besondere Aspekt hinzu, dass sich nicht nur der direkte Konsument schädigt, sondern Passivrauchen wissenschaftlich gesichert in hohem Maße für indirekt exponierte Menschen gesundheitsschädlich ist (Deutsches Krebsforschungszentrum 2005).
Die Diagnose »schädlicher Gebrauch« nach ICD-10 erfordert das Vorliegen einer bereits eingetretenen Schädigung der psychischen – z. B. depressive Episode (Alkohol), schizophrene Psychose (Cannabis) – oder körperlichen Gesundheit – z. B. Chronische Bronchitis (Tabak), Pankreatitis (Alkohol), Myokardinfarkt (Kokain) etc. – durch den Substanzmittelkonsum.
Von einer »Abhängigkeit« nach ICD-10 wird gesprochen, wenn mindestens drei von insgesamt sechs Kriterien im Laufe eines Jahres nachweisbar waren:
Starker Wunsch oder Zwang, die jeweilige Substanz zu konsumieren (»Craving«)
Minderung der Kontrolle über Beginn, Umfang und Beendigung des Substanzkonsums
Eine Toleranzentwicklung
Das Auftreten von Entzugserscheinungen
Die Vernachlässigung anderer Neigungen und Interessen zugunsten des Substanzkonsums
Die Fortführung des Konsums trotz eindeutig eingetretener körperlicher, psychischer oder sozialer Folgeschäden
Es handelt sich bei einer Abhängigkeit um einen Symptomenkomplex unterschiedlicher körperlicher, kognitiver und Verhaltensphänomene, die zu einem Leidenszustand bei den Betroffenen (und/oder deren Umfeld) und zu Beeinträchtigungen im sozialen Umfeld (z. B. beruflich) führen können.
Es werden verschiedene Ebenen der Prävention unterschieden, wobei die Grenzen fließend ineinander übergehen können:
Primärprävention verfolgt das Ziel der Vermeidung (oder Verzögerung) eines problematischen Suchtmittelkonsums bereits im Vorfeld. Im Kanton Zürich beispielsweise beginnt die Suchtprävention in der Volksschule und umfasst verschiedene Bausteine, die bis hin zur Frühintervention bei Verhaltensauffälligkeiten von Schülern reicht. Neben der Information, Erziehung und Aufklärung gibt es weitere gesellschaftliche Aspekte der Primärprävention wie z. B. Werbeverbote. Zur primären Prävention gehört aber auch, gesundes Verhalten zu stärken.
Liegt bereits ein Problem mit einem Suchtmittel vor (z. B. riskanter Konsum, schädlicher Gebrauch bzw. eine Abhängigkeit) und soll einer weiteren Suchtentwicklung entgegengewirkt werden bzw. Verringerung/Vermeidung von gesundheitlichen Schäden, spricht man von sekundärer Prävention.
Die tertiäre Prävention bezeichnet alle Interventionen, die der Verhinderung des Fortschreitens oder des Eintritts von Komplikationen bei einer bestehenden Abhängigkeitserkrankung dienen. Die tertiäre Prävention umfasst beispielsweise die Opiatsubstitution, bei der es u. a. auch darum geht, Drogenkriminalität zu verhindern. Ein weiterer Aspekt ist die Rückfallprophylaxe.
Weiterhin sind Maßnahmen, die auf einzelne Individuen oder kleine soziale Gruppen abzielen (Verhaltensprävention, z. B. Information in Schulen), von übergeordneten, allgemeinen Maßnahmen (Verhältnisprävention, z. B. Werbeverbot, Preisgestaltung, Zugangsbeschränkung) zu unterscheiden.
2.3 Suchtmittel und Entstehungsbedingungen für Abhängigkeitserkrankungen
Als stoffgebundene Suchtmittel werden Substanzen bezeichnet, welche eine psychoaktive Wirkung aufweisen und eine Abhängigkeit erzeugen können. Zu dem Bereich der legalen Suchtmittel werden beispielsweise Tabak, Alkohol und einige Medikamente (z. B. Analgetika, Hypnotika) gezählt. Weitere (in der Regel illegale) Suchtmittel sind Opiate, Cannabinoide, Stimulanzien (z. B. Amphetaminderivate), Kokain, Halluzinogene und flüchtige Lösungsmittel. Neben stoffgebundenen Suchtmitteln gibt es die nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten, z. B. pathologisches Spielen oder »Internetsucht« (= pathologischer Internetgebrauch: Dieses relativ neue Krankheitsbild ist aufgrund methodischer Schwierigkeiten in Prävalenz und Diagnostik noch schwierig einzuschätzen, die Therapie orientiert sich jedoch derzeit an derjenigen stoffgebundener Abhängigkeiten), welche aber für Betroffene und deren soziales Umfeld genauso schädigend und belastend sein können wie stoffgebundene Abhängigkeiten.
Angesichts der immensen und immer wieder unterschätzten Bedeutung der legalen Suchtmittel Tabak und Alkohol, wird in diesem Buchkapitel vorwiegend auf diese beiden Substanzen fokussiert.
Das motivationale Belohnungs- und Verstärkungssystem ist der zentrale Angriffspunkt aller Suchtstoffe. Das Risiko, eine Abhängigkeit zu entwickeln ist individuell unterschiedlich ausgeprägt. Neben genetischen spielen Umwelt- und soziale Faktoren eine wichtige Rolle in der Pathogenese von Suchterkrankungen. Weiterhin spielt es eine wichtige Rolle, wie schnell die jeweilige Substanz zu einer Abhängigkeit führt. Nikotin gehört beispielsweise neben Opiaten zu den am schnellsten süchtig machenden Substanzmitteln.
Am Beispiel Tabak wird der soziale Einfluss deutlich: Die Tabakindustrie vermarktet ihre Produkte seit Jahrzehnten begleitet von großen Werbeausgaben. Obwohl formaljuristisch verboten entsteht der Verdacht, dass primär Jugendliche angesprochen werden sollen, welche durch Werbeattribute wie Freiheit und Autonomie vom Rauchen fasziniert sein sollen. Peer-Gruppen vermitteln ein Gefühl des Dazugehörens, die Kommunikation und Geselligkeit wird positiv beeinflusst, es entwickeln sich Lernprozesse, welche durch die positiven Aspekte des Konsums gefestigt werden (z. B. Stressreduktion, Vigilanzsteigerung, Beruhigung etc.) (Fehr 2006).
Das genetische Risiko eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln ist dabei relativ bedeutsam: So wird beispielsweise das Risiko für die Entwicklung einer Alkohol- oder Tabakabhängigkeit bei ca. 60 % gesehen, bei der Kokainabhängigkeit liegt das Risiko gar bei knapp 80 %, selbst bei nicht stoffgebundenen Süchten wie bei der Spielsucht liegt das genetische Risiko noch bei über 50 %. Doch die Genetik kann nicht die ganze Varianz des Erkrankungsrisikos erklären, das Suchtmittel muss grundsätzlich zunächst einmal verfügbar sein, damit ein Individuum sich diesem überhaupt exponieren kann (Stichwort: Verhältnisprävention).
In den letzten Jahren und Jahrzehnten konnte eine Vielzahl von neurobiologischen Veränderungen im Gehirn von abhängen Menschen aufgedeckt werden. Es existieren auch Tiermodelle für nahezu alle Suchterkrankungen. Insgesamt zeigen alle präklinischen und klinischen Befunde, dass es sich bei Abhängigkeitserkrankungen um komplexe Störungen der Gehirnfunktion handelt. Zunächst wird das jeweilige Suchtmittel intermittierend eingenommen. Der pharmakologische Effekt der Substanz führt zu einer tiefgreifenden Verhaltensänderung. Im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung entsteht ein zunehmendes Verlangen, die Substanz erneut einzunehmen (= Suchtdruck/Craving). Die Grundlage für die zunächst angenehm empfundene Wirkung des Suchtmittels stellt das mesolimbische Belohnungs- und Verstärkungssystem (ventrale Area tegmentalis, limbisches System, Corpora amygdaloidea, Nucleus accumbens) mit Aktivierung der opioidergen und dopaminergen Neurotransmission dar. Wesentlich ist, dass es sich bei dem Belohnungs-/Verstärkungssystem um einen Mechanismus mit positiver Rückkopplung handelt; Einnahmeverhalten verstärkt positiv Einnahmeverhalten bis zum Kontrollverlust.
Im weiteren Verlauf werden Verhaltensmuster, die in Bezug zur Substanzeinnahme stehen, zwanghaft-repetetiv, unelastisch und unkontrolliert. Hier spielen bei der Alkoholabhängigkeit beispielsweise GABAerge und serotonerge Neurotransmittersysteme eine entscheidende Rolle für die Abhängigkeitsentwicklung. Nach einer gewissen Zeit des Substanzkonsums stellt sich eine zunehmende Gewöhnung mit Toleranzbildung ein. Als Folge der Toleranzbildung kommt es zu einer Dosissteigerung, begleitet von körperlichen Entzugssymptomen bei zu niedriger eingenommener Dosis. Diese Entzugssymptome sind als negativer Verstärker wirksam und tragen wesentlich zum fortgesetzten Konsum bei vielen Betroffenen bei. Das Suchtmittel wird zur Behandlung der Entzugssymptome vom Suchtmittel eingesetzt. Die Fähigkeit, auf das Suchtmittel zu verzichten, geht trotz schwerwiegender negativer Konsequenzen verloren (Kiefer 2005).
Für die langfristige Aufrechterhaltung der »psychologischen« Abhängigkeit spielen insbesondere Effekte, die über die Theorie der klassischen Konditionierung, also über eine unbewusste Kopplung von Reiz und Reaktion, zu erklären sind, eine entscheidende Rolle: die Kopplung von suchtassoziierten Reaktionen an suchtassoziierte Reize. Da die Konditionierung sowohl Substanzeffekte als auch Toleranzeffekte betreffen kann, kann bei einem abhängigen Patienten unter abstinenten Bedingungen situationsabhängig sowohl eine konditionierte Substanzwirkung (mit positiver Verstärkung durch Aktivierung des Belohnungssystems) als auch eine konditionierte Toleranz (mit negativer Verstärkung durch Entzugssymptome) auftreten. Während also die verstärkenden Substanzeffekte und die Toleranzentwicklung wesentliche Bedingungen für die fortgesetzte Substanzeinnahme darstellen, so erklären die beschriebenen konditionierten Mechanismen Rückfälle aus Phasen kontinuierlicher Abstinenz. Konditionierte Stimuli können über Jahre fortwirken und sowohl einen appetitiven Reiz als auch eine konditionierte Entzugssituation herstellen, also sowohl als positive wie auch als negative Verstärker wirksam sein.
Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich wichtige therapeutische Implikationen: Besteht eine Abhängigkeit, ist die Entkopplung von Substanzeinnahme und Substanzeffekt ein notwendiges Ziel der Behandlung (= Sekundärprävention). Da das motivationale Belohnungs- und Verstärkungssystem zentraler Angriffspunkt aller Suchtstoffe ist, begründet eine wechselnde Motivation in Bezug auf Beginn und Fortsetzung der Behandlung nicht den Therapieabbruch, sondern dessen Intensivierung. Rückfälle sind dann als Ausdruck der Schwere der Erkrankung zu sehen. Therapien sollten daher polypragmatisch angelegt sein. Alle symptomatischen Maßnahmen, die dazu beitragen, die Abstinenz oder eine reduzierte Einnahme des Suchtmittels herzustellen, bilden die Voraussetzung dazu, den Circulus vitiosus aus Substanzeinnahme, Verstärkung und weiterer Substanzeinnahme zu durchbrechen.
2.4 Epidemiologie, Evidenz und neurobiologische Aspekte der Suchtprävention
Durch die Verteuerung von Tabakprodukten, Primärpräventivmaßnahmen, Werbeverbote und die Nichtraucherschutzgesetze konnte in den letzten Jahrzehnten ein Rückgang der Rauchprävalenzen bei Jugendlichen erreicht werden (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2011). In der Health Behaviour in School-aged Children (HBSC)-Studie zeigte sich für Schweizer Jugendliche, dass allerdings noch 12 % der 15-Jährigen täglich Zigaretten rauchen, dieser Anteil ist im Wesentlichen zwischen 2006 und 2010 kaum verändert (Windlin et al. 2011). Der Anteil an 15-jährigen Jugendlichen, die mindestens wöchentlich rauchen, liegt bei 17 %. Die Prävalenz des Rauchens steigt dann mit zunehmendem Alter an und liegt bei ca. 26 % der Gesamtbevölkerung ab dem 15. Lebensjahr (Statistisches Bundesamt 2009). In einigen asiatischen oder osteuropäischen Ländern finden sich noch deutlich höhere Raucherprävalenzen in der Bevölkerung. Weltweit sterben jährlich ca. 5,1 Millionen Menschen an tabakassoziierten Erkrankungen. Diese stellen somit auch die größte Einzeltodesursache dar (WHO 2009). Die Bedeutung des Tabakkonsums zeigt sich allerdings nicht nur an der hohen Zahl der assoziierten Todesfälle, auch chronische Krankheitsfolgen und -zustände durch Tabakkonsum führen zu einem zunehmenden Verlust an Lebensjahren bzw. zu gesundheitlich beeinträchtigten Lebensjahren (= Disability-adjusted Life Years, DALY). Aus dem »Global Burden of Disease« der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2009) geht hervor, dass Tabakkonsum mit 17,9 % und Alkoholkonsum mit 1,6 % unter den zehn wichtigsten Risikofaktoren für Krankheit und Tod in Ländern mit hohem Einkommen rangieren (WHO Global Burden of Disease 2009). Die direkten und indirekten Kosten des Tabakkonsums betragen in Deutschland ca. 33,55 Milliarden Euro (Deutsches Krebsforschungszentrum 2009).
Bislang noch unklar und zum Teil umstritten ist, weshalb die Komorbidität im Bereich der Abhängigkeitserkrankungen zum Teil extrem hoch ist (Batra 2000). So sind beispielsweise zwischen 90–100 % aller Menschen mit einer Drogenabhängigkeit oder Alkoholabhängigkeit tabakabhängig. Selbst bei Patienten mit einer Spielsucht finden sich im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhte Rauchprävalenzen. Die durch das Tabakrauchen bedingte Mortalitätsrate liegt bei ca. 11 %, kommt das Tabakrauchen kombiniert mit problematischem Alkoholkonsum vor, steigt die Gesamtmortalität um weitere 6 % (Batra 2011).
Eine zum Teil umstrittene Theorie aus den 1970er Jahren, welche das Phänomen der hohen Komorbidität im Suchtbereich zu erklären versucht, ist die »Gateway-Theorie«: Leicht zugängliche und vermeintlich unproblematische Suchtstoffe führen dazu, dass später gefährlichere und härtere Suchtstoffe/Drogen konsumiert werden, dies wird durch epidemiologische Daten gestützt (Degenhardt et al. 2007). Die Plastizität des Gehirnes ist während der Pubertät besonders groß.
Die so genannten Einstiegsdrogen sind Tabak, Alkohol und Cannabis. Insbesondere der Tabakkonsum ist in vielen Fällen die erste psychoaktive Substanz, die von Jugendlichen konsumiert wird (Gateway-Theorie) (Kandel 2002).
Wie aktuelle Experimente an Tieren gezeigt haben, kann Nikotin die Lernfähigkeit im Striatum (Belohnungssystem) mittels molekulargenetischer Mechanismen bahnen und führt später zu einer erhöhten Anfälligkeit für Kokain (Levine et al. 2011). Ähnliche Befunde wurden für Ratten berichtet, welche zunächst in jungem Alter Cannabis exponiert waren und zeitversetzt höhere Opiatmengen einnahmen, als Ratten in der Kontrollgruppe, die vorher nicht Cannabis exponiert gewesen waren (Ellgren et al. 2007). Dieses Modell und die vorgestellten Forschungsbefunde, wenn auch nicht gänzlich unumstritten, sprechen für eine pharmakologische/biologische Ursache, wegen derer es zu der häufigen Komorbidität im Suchtbereich kommt, und verdeutlichen, wie wichtig daher präventive Strategien sind, die bereits bei Kindern und Jugendlichen ansetzen. Allerdings zeigen aktuelle Cochrane Reviews, dass die Studienlage hinsichtlich verschiedener Präventivmaßnahmen nicht einheitlich ist (Rauchen), teilweise sogar keine Effekte durch früh ansetzende präventive Maßnahmen erreicht wurden (Carson et al. 2011, Thomas and Perera 2006). Am erfolgversprechendsten zeigte sich hinsichtlich Tabakprävention bei jungen Menschen in verschiedenen Studien die gleichzeitige Anwendung eines »Mix« an verschiedenen Präventivmaßnahmen (Lantz et al 2000). Limitationen der gegenwärtigen Präventionsforschung im Suchtbereich sind jedoch, dass oftmals ungenügende Methoden und Zielkriterien zur Anwendung kommen und kulturelle Aspekte zu wenig beachtet werden (Foxcroft et al. 2011).
2.5 Beispiele und Möglichkeiten für Suchtprävention
Der überwiegende Anteil der Studien zur Suchtprävention der letzten Jahre befasst sich mit Programmen für Kinder und Jugendliche. Es gibt inzwischen eine Vielzahl an evidenzbasierten Präventivprogrammen. Erfolgreiche Programme kennzeichnet, dass sie früh beginnen, interaktiv und multimodal aufgebaut sind (Winters et al. 2007). Dies sei am Beispiel der Suchtprävention im Kanton Zürich dargestellt: Im Kanton Zürich ist die Suchtprävention in einem Stellenverbund organisiert und besteht aus acht Fachstellen mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Ziele sind die Verhinderung/Verzögerung des Suchtmittelkonsums, gesundes Verhalten zu stärken und zum Ausstieg aus dem Konsum zu motivieren, falls bereits Suchtmittel konsumiert werden. Die Fachstellen stellen Informationsmaterialien zur Verfügung, führen Weiterbildungsveranstaltungen durch und entwickeln Konzepte zur Suchtprävention. Es findet eine enge Zusammenarbeit mit Schulen, Freizeiteinrichtungen für Jugendliche, Familien- und Elternorganisationen und Institutionen der Altersarbeit statt. Weiterhin finden Weiterbildungen in verschiedenen Bereichen statt. Die Schwerpunkte der Züricher-Suchtprävention sind:
Alkohol, Tabak und Cannabis
Jugendschutz
Spiel- und Internetsucht
Früherkennung und -intervention
Suchtprävention im Alter
Vernetzung und Kooperationen
Umfangreiche Informationen zur Suchtprävention im Kanton Zürich, Möglichkeiten zum Selbsttest des eigenen Suchtmittelkonsums und wichtige Adressen finden sich auf der Homepage im Internet: www.suchtpraevention-zh.ch.
Die Prävention ist die erste Säule des inzwischen in der Schweiz anerkannten Vier-Säulen-Modells der Bekämpfung von Abhängigkeitserkrankungen: Prävention und Forschung, Repression (z. B. Bekämpfung der Kriminalität), Therapie und Rehabilitation sowie Schadenminderung (Fehr und Wetter 2008).
Eine effektive Suchtprävention setzt frühzeitig an und umfasst in der Regel mehrere Ebenen, die hier am Beispiel der Tabakabhängigkeit veranschaulicht werden:
Eine der effektivsten Maßnahmen, um Menschen vom Rauchen abzuhalten bzw. Raucher zum Aufhören zu animieren, ist die Erhöhung der Tabaksteuer
(Weltbank 2003, World Health Organization 2009).
Daten belegen, dass ein umfassendes Werbeverbot Tabakkonsum verringern kann (Saffer und Chaloupka 2000, Weltbank 2003, World Health Organization 2009).
Anerkennung der Tabakabhängigkeit als vollwertige Erkrankung und entsprechend Finanzierung und Aufbau von effektiven Tabakentwöhnungsprogrammen.
Warnhinweise über gesundheitliche Folgen des Tabakkonsums auf Verpackungen
Information und Aufklärung
Öffentliche Rauchverbote erhöhen das Bewusstsein über die Gefährdung durch Passivrauchen. Weiterhin konnte inzwischen eindrücklich wissenschaftlich belegt werden, dass die öffentlichen Rauchverbote zu einer eindrücklichen Reduktion der Herzinfarktrate und Angina Pectoris führen. Damit verbunden sind sekundär enorme ökonomische Einsparungen (Sargent et al. 2012).
Verkaufsverbot an Minderjährige
2.6 Schwierigkeiten und Grenzen der Suchtprävention
Grundsätzliches Ziel primärer Prävention ist es, dass menschliches Leiden von vorneherein verhindert werden soll, d. h. gesunde Menschen sollen vor möglichen zukünftigen Leiden bewahrt werden, sofern dies möglich ist. Insbesondere Kinder und Jugendliche, die die abhängigkeits- und gesundheitsbezogenen Folgen eines Suchtmittelkonsums noch nicht richtig einschätzen können, sind durch Präventivmaßnahmen besonders zu schützen. Diese ethischen Grundpfeiler führen zu staatlicher Präventionspolitik und stehen (vermeintlich) konträr zum individuellen Freiheitsrecht, welches postuliert, dass jedes Individuum frei und selbstbestimmt für seine Gesundheit Verantwortung übernehmen kann oder auch soll. Aus der Definition von Abhängigkeit/Sucht geht jedoch hervor, dass ein abhängiger Mensch sein Verhalten zugunsten des Substanzkonsums nicht mehr frei steuern kann und letztlich vom Suchtmittel beherrscht wird. Diese Widersprüche um Werte und Normen lassen sich allerdings nicht komplett auflösen und sind sicher stark abhängig von der jeweiligen Substanz.
Am Beispiel Alkohol wird offenkundig, dass alkoholische Getränke nicht nur als Suchtmittel zu sehen sind, sondern bereits sehr früh in der Menschheitsgeschichte als Genuss- und Lebensmittel eine wichtige Rolle spielten. Darüber hinaus erschienen alkoholische Getränke bis in dieses Jahrhundert Medizinern als wertvolle Substanz: So wurde Alkohol als Stärkungsmittel gegen die Melancholie, als Anregungsmittel gegen unterschiedliche Schwächezustände, oder beispielsweise zur Therapie der Tuberkulose eingesetzt. Heute wird im Gegensatz zu Spirituosen oder Bier insbesondere Wein als gesundheitsfördernd betrachtet. So werden protektive Effekte von geringen Alkoholmengen auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Atherosklerose und Demenzerkrankungen breit diskutiert und untersucht.
Exemplarisch hierfür steht der Begriff des »französischen Paradoxon«, welches die niedrigere Sterblichkeit der Franzosen an der koronaren Herzerkrankung im Vergleich zu anderen Mitteleuropäern trotz durchschnittlich höherem Konsum gesättigter Fettsäuren beschreibt. Dennoch ist der pro Kopf Konsum von reinem Alkohol direkt mit alkoholassoziierten körperlichen Folgeerkrankungen, Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und allgemeiner Mortalität assoziiert. In Deutschland beläuft sich die Zahl der Alkoholabhängigen auf ca. 1,6 Millionen und damit auf etwa 3 % der erwachsenen Bevölkerung (ca. 5 % der Männer und ca. 2 % der Frauen). Neben den alkoholabhängigen Patienten gibt es in Deutschland ca. 2,7 Millionen Erwachsene, die einen »schädlichen Gebrauch« von Alkohol betreiben und 5 Millionen Personen mit einem so genannten »riskanten Konsum« (Bundesministerium für Gesundheit 2000). Zusammengerechnet ergibt sich also für 9,3 Millionen Menschen ein alkoholbedingter Beratungs- und/oder Behandlungsbedarf. In den westlichen Industrienationen gehen ca. 11 % aller Todesfälle direkt oder indirekt auf den Konsum von Alkohol zurück (Murray 1997). Weniger als 10 % der Alkoholabhängigen finden sich jedoch in einer suchtspezifischen Behandlung. So werden 91 % der alkoholabhängigen Patienten in Allgemeinkrankenhäusern ausschließlich wegen ihrer somatischen Krankheiten behandelt, nur 6 % aller Alkoholabhängigen finden den Weg in Kliniken mit einem suchttherapeutischen Angebot. Es muss davon ausgegangen werden, dass in Arztpraxen bei mindestens 17 % der Patienten Alkoholprobleme vorliegen, in Allgemeinkrankenhäusern sogar bei 20 % (John 1999). Diese Zahlen machen eindrücklich deutlich, dass präventive Maßnahmen im Bereich Alkohol höchst sinnvoll sind.
Letztlich ist eine komplett suchtmittelfreie Gesellschaft aber wohl utopisch. Die Prohibition in den Vereinigten Staaten zwischen 1919–1933 führte bekanntermaßen nicht zu den gewünschten Auswirkungen. Dennoch weisen zusammengefasst die meisten wissenschaftlichen Befunde darauf hin, dass präventive Maßnahmen dazu führen, dass es zu weniger Leiden auf Seiten der direkt Betroffenen, aber auch der indirekt Betroffenen (z. B. Angehörige, Gesellschaft) kommt.
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3 Indizierte Prävention unter besonderer Berücksichtigung der Früherkennung von Psychosen
Anastasia Theodoridou und Karsten Heekeren
Kapitelübersicht
3.1 Der Präventionsbegriff
3.2 Prävention spezifischer Erkrankungen am Beispiel psychotischer und demenzieller Erkrankungen
3.3 Interventionen bei erhöhtem Risiko für psychotische Störungen
3.4 Wege in die Versorgung
3.5 Aufbau und Organisation von Früherkennungsdiensten
3.6 Ethische Überlegungen
Zusammenfassung
Für die indizierte Prävention ist es erforderlich, Symptome oder Marker zu identifizieren, die eine prognostische Aussage hinsichtlich des Auftretens der Erkrankung ermöglichen. Die Früherkennung eines Erkrankungsrisikos – z. B. eines ernsten Psychoserisikos – soll die Chance einer Frühbehandlung eröffnen. Vorraussetzung für eine therapeutische Intervention ist eine hinreichende diagnostische Sicherheit mit einem mehrschrittigen Vorgehen. Mangelnde Kenntnisse oder Missinterpretationen von Symptomen können zu einer verzögerten Hilfe führen. Die wissenschaftlichen Bemühungen zielen darauf ab, die Entwicklung von spezifischen Vorhersagemodellen zu optimieren. Damit soll eine kritische Bewertung von Wirksamkeit, Nützlichkeit, Verbreitungsgrad und ein Effizienznachweis vor der breiten Einführung in die medizinische Praxis ermöglicht werden.
3.1 Der Präventionsbegriff
Der Präventionsbegriff wird in der Fachliteratur unterschiedlich definiert und führt damit zu einer gewissen Verwirrung im Alltag (zu diesem Thema ► Kap. 32, Bd. 2). Bereits seit dem 19. Jahrhundert ist die Sozialmedizin bemüht, das Auftreten von Krankheiten zu verhindern. Dieses Anliegen führte dazu, dass Auslösefaktoren von Krankheiten gesucht wurden mit dem Ziel, diese zu vermeiden. Hurrelmann merkt dazu an: »Krankheitsprävention bezeichnet alle Eingriffshandlungen, die dem Vermeiden des Eintretens oder des Ausbreitens einer Krankheit dienen« (Hurrelmann 2010, S. 14). Im weiteren Verlauf haben sich verschiedene Einteilungskriterien von Prävention etabliert. 1957 wurde durch die Commission on Chronic Illness eine zweistufige Einteilung der Prävention in Primär- und Sekundärprävention vorgenommen. Dabei beziehen sich primärpräventive Maßnahmen auf die Zeit vor der Krankheitsmanifestation und sekundärpräventive Maßnahmen auf die Zeit nach Krankheitsmanifestation, beinhalten somit Behandlung und Rückfallprophylaxe.
Die heute bekannteste Einteilung stammt von Caplan (1964). Hierbei zielt die Primärintervention auf die Senkung der Inzidenzrate (Häufigkeit von Neuerkrankungen), die Sekundärprävention auf die