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Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung: Ein Lehrbuch für die Praxis
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eBook1.183 Seiten12 Stunden

Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung: Ein Lehrbuch für die Praxis

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Über dieses E-Book

Wie können psychische Erkrankungen bei Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung zeitgemäß und leitliniengerecht behandelt werden? Ausgehend von Gesprächen mit Familien zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität werden systematisch psychische und häufige körperliche Krankheitsbilder vorgestellt, wobei die evidenzbasierten Fakten durch eine subjektive Perspektive ergänzt werden. Der Fachteil fokussiert auf Besonderheiten in der Symptompräsentation, Diagnostik und Therapie und zeigt anschaulich den interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz auf. Die 2. Auflage ist unter anderem erweitert durch die Themenfelder: sensorische Beeinträchtigungen, Unterstützte Kommunikation, rechtliche Aspekte und herausfordernde Verhaltensweisen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Mai 2023
ISBN9783170411487
Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung: Ein Lehrbuch für die Praxis

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    Buchvorschau

    Psychische Gesundheit bei Störungen der Intelligenzentwicklung - Tanja Sappok

    Online-Zusatzmaterial

    Als Online-Zusatzmaterial stehen Ihnen folgende Dateien zum Download bereit:

    •  Zu Kap. 62: »Basisassessment«

    •  Zu Kap. 62: »Gewichtskontrollblatt«

    Wichtige Informationen sowie den Link, unter dem die Zusatzmaterialien verfügbar sind, finden Sie in Kap. 62.

    Vorwort zur 2. Auflage

    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Co-Production 2.0 – ein Buch geht in die nächste Phase. Ich habe mich über die Einladung des Kohlhammer-Verlags zur Herausgabe einer zweiten Ausgabe gefreut, ist es mir doch eine Herzensangelegenheit, damit zur psychischen Gesundheit von Personen mit einer kognitiven Beeinträchtigung beizutragen. Wie Sie bereits an der Anrede erkennen können: Ab jetzt wird gegendert! Außerdem ist ein Register angelegt worden, damit Sie die für Sie relevanten Passagen gut finden können. Erfreulicherweise haben quasi alle Autorinnen und Autoren unverzüglich die Überarbeitung und Aktualisierung ihrer Kapitel zugesagt oder sogar weitere Themen ergänzt: Johannes Fellinger hat ein Kapitel über sensorische Beeinträchtigungen geschrieben, Regina Fabian über Theatertherapie, Stefania Calabrese und Kolleginnen über Unterstützte Kommunikation, Knut Hoffmann und Tatjana Voß über rechtliche Aspekte und ich selbst gemeinsam mit meinen Kollegen Hauke Hermann und Aleksey Lytochkin über herausfordernde Verhaltensweisen – allesamt relevante bzw. innovative Themengebiete. Vielen Dank an alle Mitwirkenden!

    Ein solches Herausgeberwerk lebt von der Verschränkung der interdisziplinären und multiprofessionellen Sichtweisen und wird durch Beiträge von Betroffenen und ihren Angehörigen weiter aufgewertet. Hier haben wir uns auf den Weg von einer »Medizin für Menschen mit Behinderungen« hin zur »Inklusiven Medizin« gemacht. Dieser Weg ist noch lange nicht zu Ende, aber immerhin: Ein Anfang ist gemacht!

    Nun wünsche ich Ihnen eine unterhaltsame, spannende, aufschlussreiche und anregende Lektüre und freue mich über Ihre Rückmeldungen und Anregungen,

    herzlich, auch im Namen aller Autorinnen und Autoren,

    Tanja Sappok – Berlin im Januar 2023

    I.      Einführung

    1          Störungen der Intelligenzentwicklung – Überlegungen zur Begrifflichkeit

    Tanja Sappok, Dan Georgescu und Germain Weber

    Die subjektive Perspektive

    »Ich fühle mich nicht eingeschränkt. Ich bin zufrieden, meist glücklich.«

    Fabian Neitzel im Juni 2017

    1.1        Die Ausgangslage

    Im Schreibprozess ist unter den beteiligten Autorinnen und Autoren eine Diskussion zur Frage der verwendeten Begrifflichkeit angestoßen worden, die in diesem Kapitel aufgegriffen und vertieft werden soll. In der Medizin und der Psychologie wählt man zunächst den Begriff des im Schreibprozess noch gültigen diagnostischen Manuals ICD-10 (World Health Organization (WHO) 1992): Die Intelligenzminderung, wobei sowohl im klinischen als auch im pädagogischen Handlungsfeld der Begriff der geistigen Behinderung vor allem in Deutschland und der Schweiz noch weit verbreitet ist. Aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive bleibt die Definition des Begriffes Geist eine komplexe Herausforderung! Von Befürwortern des Begriffs geistige Behinderung wird angeführt, dass damit nicht nur intellektuelle, sondern auch sozioemotionale Aspekte einbezogen werden. In diesem Begriffsdiskurs offenbaren sich jedoch weit tiefergehende Probleme. Einerseits birgt das mit einer bestimmten Bezeichnung verbundene Label die Gefahr der Stigmatisierung und damit auch der Ausgrenzung bzw. das Label ist stark mit dem Denken einer bestimmten Epoche gegenüber dieser Personengruppe verhaftet. Andererseits bietet eine kategoriale Begrifflichkeit eine verbindliche Beschreibung und liefert Erklärungen für auffällige intellektuell-kognitive Entwicklungen und damit assoziierte Entwicklungsverläufe und Verhaltensweisen, über die sich dann wieder bestimmte soziale oder medizinische Unterstützungsbedarfe definieren lassen.

    1.2        Historische Begriffsentwicklung

    Frühere Fachbegrifflichkeiten wie Schwachsinn oder – für die unterschiedlichen Schweregrade – Debilität, Imbezillität und Idiotie werden nicht mehr verwendet, auch wenn sie zum Teil noch z. B. in älteren Gesetzestexten auftauchen. Erst 2021 wurde der Begriff »Schwachsinn« im §20 StGB zur Schuldunfähigkeit durch »Intelligenzminderung« ersetzt. Auch die mentale Retardierung gilt in der deutschen medizinischen Terminologie als überholt. Ab den 1960er Jahren wurden medizinische Konzepte durch eine pädagogisch geprägte, soziale Sichtweise von Behinderung ergänzt. Das Denken gegenüber dieser Personengruppe führte zu anderen Formen der Unterstützung und Lebensbegleitung für sie, in der Regel in gesonderten Settings. Der Begriff geistige Behinderung ist mit diesen letztlich gesellschaftlichen Veränderungen im Behindertenbereich stark konnotiert. Ab den 1990er Jahren wurde in der englischsprachigen Literatur die Verwendung des Begriffs mental retardation in Frage gestellt, da er als diskriminierend empfunden wurde und nicht die wesentlichen Merkmale beschreibe. Auch im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses, der in der »Behindertenszene« in der Zeit stetig an Bedeutung gewann, wurde das Label mental retardation heftig kritisiert. Als Folge wurden weltweit neue Begrifflichkeiten eingeführt: In den USA intellectual disability, in Großbritannien learning disability und im deutschsprachigen Raum intellektuelle Behinderung (vorgeschlagen und begründet von Weber 1997) bzw. die in der Pädagogik weitverbreitete intellektuelle oder kognitive Beeinträchtigung. Diese Begriffe fanden die Unterstützung von People First Selbstbestimmt-Leben Initiativen. Es folgten zum Teil sehr kontroverse, nachlesebare Begriffs-Diskurse in international hoch angesehenen Fachgesellschaften und Fachzeitschriften (Luckasson und Reeve, 2001; Schalock, Luckasson und Shogren, 2007), bevor diese sich zu einer entsprechenden Umbenennung entschlossen. Aus einer rezenten Begriffsverwendungsanalyse auf dem Medium twitter geht hervor, dass der Begriff mental retardation vor allem in einem pejorativen, stark diskriminierenden Kontext (Schimpfwort) Verwendung findet, der Begriff intellectual disability dagegen vor allem in Kurznachrichten des wissenschaftlichen und akademischen Austausches zu finden ist (Kocman und Weber, 2017). Der Begriff intellectual disability wird auf Deutsch häufig mit intellektueller Beeinträchtigung (American Psychological Association (APA) 2013) übersetzt und soll eine Wende zu einem neuen gesellschaftlichen Denken im Sinne der sozialen Teilhabe gegenüber dieser Personengruppe markieren. Die Tabelle gibt einen Überblick über die historische Begriffsentwicklung in den diagnostischen Manualen ICD und DSM ( Tab. 1.1). Hierin sind die Originalbegrifflichkeiten aufgeführt.

    Tab. 1.1:    Historische Begriffsentwicklung in den diagnostischen Manualen ICD und DSM

    1.3        Die Perspektive der Familien

    Familien tun sich zum Teil anfänglich mit der Behinderung schwer und für viele war es ein jahrelanger Prozess, bis die Behinderung als solche anerkannt und angenommen werden konnte ( Teil II. Der Mensch liefert den Kontext). Bis dahin werden Begriffe wie Entwicklungsverzögerung oder Handicap bevorzugt, die weniger den absoluten, sondern eher den relativen Aspekt betonen. Eine Mutter definierte Behinderung als »Andersartigkeit eines Menschen in körperlichen, geistigen oder seelischen Bereichen, die den Zugang zur Gemeinschaft sehr erschweren kann.« Auch die Bezeichnung Besonderheit ist wiederholt gewählt worden: »Behinderung bedeutet für mich, dass man nur beschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, sei es durch physische oder psychische Besonderheiten.« Die »starke Einschränkung der Möglichkeiten, über die Gestaltung des eigenen Lebens und die Zukunft selber entscheiden zu können«, wurde immer wieder in verschiedenen Varianten thematisiert, z. B. »Behinderung ist eine psychische oder körperliche Einschränkung, die dazu führt, dass man auf fremde Hilfe angewiesen ist.« Es wurde der Wunsch nach einem anderen Begriff geäußert, der »die spezielle Begabung in den Vordergrund stelle«, da Behinderung von fragwürdigen gesellschaftlichen Normen definiert und aus diesem Raum heraus beschrieben werde. In diesem Sinne entstanden Vorschläge wie »faszinierende« oder »übergesunde« Menschen; Begriffe, die man als Aufschrei der Eltern gegenüber den gesellschaftlichen Diskriminierungen verstehen kann, die auf ihre »besonderen« Kinder nun zukamen. Eine Mutter griff das Bild eines italienischen Neurologen auf, der Behinderung mit einem Haus verglichen hat: Der gesunde Mensch habe ein wunderschönes Schloss mit 30 Zimmern und Balkonen und Schnörkeln und Verzierungen. Je größer die Behinderung sei, desto weniger Zimmer habe das Haus, es habe weniger Balkone und vielleicht auch weniger Fenster. Aber es habe immer noch die Form eines Hauses: Es sei windschief, es sei vielleicht winzig klein, aber es sei immer noch ein Haus und in seinem Wesen absolut vollkommen. Die betroffenen Menschen hätten nur dieses winzig kleine System zur Verfügung und es liege nun an uns, dieses System zu verstehen, um es zu ergänzen, und so dieses System mit unserem System besser zusammenzubringen ( Kap. 7).

    1.4        Die Perspektive der Menschen selbst

    Dieser Cartoon von Phil Hubbe veranschaulicht die Sichtweise von Menschen mit Behinderungen sehr treffend. Gespräche mit sprechenden Patientinnen und Patienten zum Begriff Behinderung waren schwierig. Der Begriff wurde weitestgehend abgelehnt, und zwar nicht nur wegen der damit verbundenen Stigmatisierung, sondern auch, weil sie sich nicht behindert fühlten (vgl. Zitat oben). Ganz nach dem Motto einer jungen Frau mit Down Syndrom: »Ob ich behindert bin oder nicht, ist mir ganz egal!« Sie betrachten sich selbst als normal – im Bewusstsein, dass sie für einige Dinge Hilfe benötigen und einige Aufgaben wie z. B. der Führerschein, das Abitur oder der Arztberuf für sie zu schwierig sind.

    Abb. 1.1:    Rainer und Sabine

    1.5        Die Perspektive der WHO

    Die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2001) stellt in ihrer internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ein integratives Modell von Behinderung dar: Behinderung wird beim medizinischen Modell als störungsbedingtes Problem einer einzelnen Person, beim sozialen Modell hingegen als gesellschaftlich verursachtes Problem betrachtet. Im therapeutischen Fokus liegt somit neben der Behandlung der Störung auch die Anpassung der Umwelt (»Barrierefreiheit«). Das Konzept der ICF (WHO 2001) basiert auf einer Synthese, einer Integration dieser beiden Perspektiven.

    In einer Übersicht der WHO (2007) werden differenziert die unterschiedlichen Begrifflichkeiten inklusive deren Verbreitungsgrad aufgeführt. Zum damaligen Zeitpunkt war der Begriff mental retardation am weitesten verbreitet (76 %), gefolgt von intellectual disability (57 %), mental handicap (40 %), learning disability (32 %), developmental disability (23 %), mental deficiency (17 %) und mental subnormality (12 %). In Ländern mit hohem Einkommen wurde der Begriff intellectual disability (80 %) häufiger verwendet als mental retardation (60 %), während das Verhältnis in Ländern mit geringem Einkommen umgekehrt war (55 % intellectual disability vs. 81 % mental retardation).

    1.6        Die Definition in den aktuellen diagnostischen Klassifikationssystemen

    Im DSM-5 (APA 2013) wurde der Begriff der mental retardation durch den Begriff der intellectual disability (intellektuelle Beeinträchtigung) abgelöst, um die DSM-Terminologie dem in den letzten zwei Dekaden sowohl von medizinischen und pädagogischen Fachgesellschaften als auch im öffentlichen Gesundheitswesen und von Selbsthilfeverbänden bevorzugt verwendeten Begriff der intellectual disability anzupassen (APA »highlights of changes from DSM-IV-TR to DSM-5«, vgl. auch Tab. 1.1). In Klammern wurde im DSM-5 der Begriff intellectual developmental disorder (intellektuelle Entwicklungsstörung) ergänzt, um als »bridge term for the future« den Bezug zum ICD-Klassifikationssystem der WHO herzustellen.

    Dementsprechend wurde in der Betaversion (WHO 2017) des im Juni 2018 erschienenen ICD-11 der Begriff der disorders of intellectual development (6A00: Störungen der Intelligenzentwicklung) als Subgruppe der neurodevelopmental disorders konzeptualisiert und folgendermaßen definiert:

    »Bei Störungen der Intelligenzentwicklung handelt es sich um eine Gruppe ätiologisch unterschiedlicher Zustände, die während der Entwicklungsperiode entstehen und durch deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungen und adaptives Verhalten gekennzeichnet sind, die etwa zwei oder mehr Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen (etwa weniger als das 2,3. Perzentil), basierend auf angemessenen normierten, individuell durchgeführten standardisierten Tests. Stehen keine entsprechend normierten und standardisierten Tests zur Verfügung, muss sich die Diagnose von Störungen der Intelligenzentwicklung stärker auf das klinische Urteil stützen, das auf einer angemessenen Bewertung vergleichbarer Verhaltensindikatoren beruht.«

    In der WHO-Working Group Mental Retardation (WG-MR) wurde bewusst die Entscheidung getroffen, die Kategorie im ICD-11 (WHO 2017) beizubehalten und damit eine Beeinträchtigung intellektuell-kognitiver Fähigkeiten als »Gesundheitszustand« (health state) zu beschreiben. Die Funktionsbeeinträchtigung im Sinne einer »Behinderung« erfolgt gemäß der WHO im »Klassifikationsfamilienmitglied« der ICF (WHO 2001). Mit der Beibehaltung einer Kategorie im ICD sollte der Stellenwert der »Diagnose« in der Gesundheitspolitik, den klinischen Versorgungsangeboten (health services) und insbesondere der Anspruch auf Leistungen aus Gesundheitskassen und Sozialversicherungswesen sichergestellt bleiben. Im Sinne eines ontologischen Ansatzes hat die Arbeitsgruppe WG-MR empfohlen, ein Synonymset (synset) einzuführen (Bertelli et al. 2016): ID/IDD (intellectual disability/intellectual developmental disorder), um zwei verschiedene Aspekte unter einem gemeinsamen Konstrukt darzustellen: Einerseits IDD (intellektuelle Entwicklungsstörung; IES) als klinisch relevantes Meta-Syndrom, andererseits ID (intellektuelle Beeinträchtigung; IB) als der Gegenspieler mit sozialpolitischer Relevanz, der das Funktionsniveau und die Behinderung beschreibt. Demnach wären ID und IDD keine Synonyme, sondern spiegelten unterschiedliche Konzepte, da sie unterschiedliche wissenschaftliche, soziale oder politische Anwendungsbereiche haben. Die beiden Begriffe sollen als semantisch ähnlich (semantically similar), aber nicht als Synonyme (mirror codes) betrachtet werden.

    1.7        Die pragmatische Lösung

    Da im deutschsprachigen Raum im klinisch-administrativen Alltag vorrangig die ICD-Terminologie verwendet wird, hat sich die Herausgeberin dieses Buchs für den neuen Begriff der ICD-11 der Störungen der Intelligenzentwicklung entschieden. Dies spiegelt den Anspruch eines psychiatrischen Lehrbuchs wider, das psychische Gesundheit in den Mittelpunkt stellt und – entsprechend der Sichtweise der WHO – die medizinisch-wissenschaftliche Perspektive darstellt. Der Begriff bleibt defizitorientiert, ein inhärentes Charakteristikum der medizinischen Begriffswelt, und vernachlässigt die Vielfältigkeit von menschlichen Lebensmöglichkeiten. Darüber hinaus fehlt dem Begriff der Störungen der Intelligenzentwicklung der Gedanke der Teilhabeeinschränkung, der nicht nur von den betroffenen Familien als zentrales Charakteristikum von Behinderung genannt wird, sondern auch dem inklusiven Modell von Behinderung der WHO entspricht. Ob der neue ICD-11 Begriff gesellschaftlich diskriminierend benutzt werden wird, wird sehr stark davon abhängen, welches Bild wir zukünftig von Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung in unseren Gesellschaften verbreiten. Mit Bildern und Geschichten, in denen ihre Kompetenzen, Fertigkeiten und Stärken und Teilhabeerfolge gezeigt werden, dürften sich auch hartnäckige Einstellungen verändern lassen.

    Literatur

    American Psychiatric Association (APA) (2013) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. DSM-5 (5. Aufl.). Washington, DC: American Psychiatric Association.

    American Psychiatric Association (APA) (2013) Highlights of Changes from DSM-IV-TR to DSM-5

    (https://www.psychiatry.org/File%20Library/Psychiatrists/Practice/DSM/APA_DSM_Changes_from_DSM-IV-TR_-to_DSM-5.pdf, Zugriff am 29.12.2017)

    Bertelli MO, Munir K, Harris J, Salvador-Carulla L (2016) »Intellectual developmental disorders«: reflections on the international consensus document for redefining »mental retardation-intellectual disability« in ICD-11. Adv Ment Health Intellect Disabil 10(1):36–58.

    Kocman, A. und Weber, G. (2017). Twitter as a means to measure attitudes towards people with intellectual disability. Abstract volume of the 4th IASSIDD Asia Pacific Regional Congress, November 13-16, Bangkok (pp. 52-53). (www.iassidd.org, Zugriff am 29.12.2017)

    Luckasson; R. A. und Reeve, A. (2001). Naming, defining, and classifying in mental retardation. Mental Retardation, 39 (1), 47-52.

    Schalock, R. L. Luckasson, R. A. und Shorgren, K.A. (2007). The renaming of mental retardation: Understanding the change to the term intellectual disability. Intellectual and Developmental Disabilities, 45 (2), 116-124.

    Weber, G. (1997). Intellektuelle Behinderung: Grundlagen, klinisch-psychologische Diagnostik und Therapie im Erwachsenenalter. Wien: WUV-Universitätsverlag.

    World Health Organization (WHO) (1992) The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders: Clinical descriptions and diagnostic guidelines (10. Aufl.). Geneva: World Health Organization.

    World Health Organization (WHO) (2001) ICF. The International Classification of Functioning, Disability and Health. Geneva: World Health Organization.

    World Health Organization (WHO) (2007) Atlas: global resources for persons with intellectual disabilities. Geneva: World Health Organization.

    World Health Organization (WHO) (2017) ICD-11 (Betaversion). International classification of diseases for mortality and morbidity statistics (11. Aufl.). (https://icd.who.int/dev11/l-m/en, Zugriff am 29.12.2017)

    2          Psychische Gesundheit und intellektuelle Entwicklung

    Tanja Sappok

    Die subjektive Perspektive

    »Psychische Gesundheit bedeutet für mich, wenn ich morgens aufstehen, meine Arbeiten erledigen, meine Freizeit gestalten, Konflikte oder Ärger lösen und abends zufrieden ins Bett gehen kann. Eine psychische Erkrankung ist eine sehr viel größere Beeinträchtigung als die Behinderung an sich.«

    Rosemarie Neitzel, Mutter eines 30-jährigen Mannes

    Intellektuelle Entwicklung und psychische Gesundheit sind eigenständige Phänomene. Das bedeutet, dass man unabhängig vom Vorliegen einer Störung der Intelligenzentwicklung psychisch gesund oder krank sein kann. Im ICD-11(2022) wird die Störung der Intelligenzentwicklung im Kapitel 06 »Psychische Störungen, Verhaltensstörungen und neuronale Entwicklungsstörungen« mit aufgeführt. Gemeinsam mit anderen Entwicklungsstörrungen wie z. B. Autismus findet sich die »Störung der Intelligenzentwicklung« (6A00) unter den neuronalen Entwicklungsstörungen:

    »Bei Störungen der Intelligenzentwicklung handelt es sich um eine Gruppe ätiologisch unterschiedlicher Zustände, die während der Entwicklungsperiode entstehen und durch deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungen und adaptives Verhalten gekennzeichnet sind, die etwa zwei oder mehr Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen (etwa weniger als das 2,3. Perzentil), basierend auf angemessenen normierten, individuell durchgeführten standardisierten Tests. Stehen keine entsprechend normierten und standardisierten Tests zur Verfügung, muss sich die Diagnose von Störungen der Intelligenzentwicklung stärker auf das klinische Urteil stützen, das auf einer angemessenen Bewertung vergleichbarer Verhaltensindikatoren beruht.« (WHO, ICD-11 2022)

    Menschen mit kognitiven und komplexen Mehrfachbehinderungen sind hochvulnerabel für die Entwicklung weiterer körperlicher und psychischer Krankheiten (Cooper et al. 2007; Sappok, Diefenbacher, Winterholler 2019). Die Lebenserwartung ist noch immer um ca. 20 Jahre reduziert und die Mortalität, also die Sterblichkeit, erhöht (Bittles et al. 2002; Ng et al. 2017; Landes et al. 2021). Insbesondere die hohe Prävalenz chronischer und sekundärer Gesundheitszustände (»conditions«) verringet die Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (Glover et al. 2017; O’Leary et al. 2018), wobei insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, pulmonale Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Demenzen, Neoplasien, urogenitale Erkrankungen, aber auch – insbesondere bei Männern – Verschlucken und – insbesondere bei Frauen – Diabetes mellitus relevant sind (Landes et al. 2021). Mehr als ein Drittel dieser Todesfälle sind potenziell vermeidbar (Hosking et al. 2016; Cooper et al. 2018).

    Nach Angaben der WHO erkranken Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung drei- bis viermal häufiger an psychischen Störungen als die sogenannte Allgemeinbevölkerung (Dilling et al. 2011). Eine aktuelle Metanalyse von Mazza et al. (2020) beschreibt eine Verdopplung der Prävalenzen (ca. 34 %) gegenüber der Allgemeinbevölkerung (ca. 17 %). Populationsbasierte Studien in Großbritannien zeigten eine Punktprävalenz für psychische Störungen im engeren Sinne von gut 20 % (22 %, Cooper et al. 2007; 21 %, Sheehan et al. 2016), und zwar insbesondere affektive Störungen (7–11 %; Kap. 17), psychotische Störungen (ca. 4 %; Kap. 16) und Angststörungen (4–6 %; Kap. 19), aber auch ADHS (ca. 1,5 %; Kap. 24), Demenzen (ca. 1 %, Kap. 14), Abhängigkeitserkrankungen (ca. 1 %; Kap. 15), Zwangsstörungen (ca. 0,7 %; Kap. 18) oder Persönlichkeitsstörungen (ca. 1 %; Kap. 21). Darüber hinaus treten Autismus-Spektrum-Störungen ( Kap. 23) mit 7,5–15 % und auch – häufig übersehen – Traumafolgestörungen ( Kap. 22) vermehrt auf.

    Etwa genauso häufig wurden in diesen bevölkerungsbasierten Prävalenzstudien schwerwiegende Verhaltensstörungen festgestellt (23–25 %; Cooper et al. 2007; Sheehan et al. 2016). Das Royal College of Psychiatrists definiert ein Verhalten als herausfordernd, wenn es von einer solchen Intensität, Häufigkeit oder Dauer ist, dass die Lebensqualität und/oder die physische Sicherheit der Person oder Anderer bedroht ist und wahrscheinlich zu Reaktionen führt, die restriktiv oder aversiv sind oder zur Ausgrenzung führen (Royal College of Psychiatrists, 2007). Verhaltensstörungen treten somit häufig auf und beeinträchtigen die Lebensqualität und Teilhabefähigkeit von Betroffenen erheblich. Trotz der Assoziation von Verhaltensstörungen mit psychischen Erkrankungen sind beide Störungsbilder in Bezug auf die diagnostische Klassifikation und therapeutische Implikation getrennt zu betrachten (Felce et al. 2009; Dilling et al. 2011).

    Die medizinische Abklärung und Behandlung ist eine Herausforderung, die nur in einer guten Kooperation von medizinischem Fachpersonal, Angehörigen und Betreuenden gelingen kann. Alle denkbaren körperlichen Erkrankungen können als psychische Erkrankung oder Verhaltensstörung fehlinterpretiert werden. Wird ein auffälliges Verhalten als Teil der Behinderung interpretiert, spricht man von diagnostic overshadowing (Reiss und Szyszko 1983). Dies tritt besonders dann auf, wenn sich Krankheitsbilder und mit der Behinderung verbundene Einschränkungen überlagern und schwer voneinander differenzieren lassen. Krankheitsbilder und -verläufe können von denen nicht behinderter Menschen abweichen und so die Abklärung und Behandlung erschweren. Generell wächst die diagnostische Herausforderung mit dem Schweregrad der Beeinträchtigung. Reduzierte Kommunikationsfähigkeiten führen zum underreporting oder zu Fehlinterpretationen. Eingeschränkte soziale Fähigkeiten führen u. U. zu ungewöhnlichen Symptompräsentationen (psychosocial masking). Vielen Betroffenen fällt es schwer, die einströmenden Reize in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen (»cognitive disintegration«; Schmidt 2007). Die Lebensbedingungen, insbesondere Änderungen im Alltagsablauf oder traumatisierende Erfahrungen, können verschiedene psychische Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten triggern. Häufig stehen weniger Bewältigungsstrategien (»Coping«) zur Verfügung und die Introspektions- und Reflexionsfähigkeiten sind reduziert. Dies führt zu einer erhöhten Vulnerabilität und reduziert die Stressresistenz. Zusätzliche körperliche Erkrankungen (Spastik, Epilepsie) beeinträchtigen das körperliche und seelische Wohlbefinden und schränken die Möglichen zur Stressbewältigung weiter ein. Das soziale Netzwerk ist häufig vorgegeben und von den Personen selbst nicht ausgesucht. Andere entscheiden für sie, wo und mit wem sie zusammenleben müssen. Erschwerend kommen Ausbildungsmängel im ärztlichen, psychologischen, therapeutischen und pflegerischen Bereich dazu, da spezifische Fachkenntnisse für verschiedene Syndrome oder häufige Störungsbilder wie z. B. Autismus fehlen. Diese besonderen Bedingungen erhöhen die Vulnerabilität für psychische und körperliche Erkrankungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten, erschweren die Diagnostik und Therapie und erfordern eine komplexe, spezialisierte, fachkompetente Beurteilung und Behandlung. Diagnostische Wege und therapeutisches Handeln in der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen müssen in vielen Punkten auf andere Weise gestaltet werden, als es die jeweils gleiche Erkrankung bei einem Patienten ohne geistige Behinderung erfordern würde (Sappok und Steinhart 2021). Darüber hinaus sind barrierefreie Zugänge zu Anbietern im Gesundheitswesen, insbesondere Praxen und Kliniken, notwendig sowie ein koordiniertes und interdisziplinäres Vorgehen wünschenswert (Schützwohl und Sappok 2020). Diesen besonderen Bedarfen und einem ressourcenorientierten Fallmanagement werden im gegenwärtigen Gesundheitssystem nur unzureichend Rechnung getragen (Sappok und Steinhart 2021). Zentrale Problemfelder sind die Symptomerkennung und Diagnosestellung, Umgang und Kommunikation sowie Barrieren beim Zugang zu den Angeboten im Gesundheitswesen.

    Nur die gelungene Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure kann die Gesundheitsversorgung dieses Personenkreises sicherstellen. Aus Sicht der medizinischen Fachgesellschaften und Leitlinien sollten bei der differenzialdiagnostischen Abklärung von psychischen Erkrankungen oder schweren Verhaltensstörungen körperliche, psychische, soziale und entwicklungsbezogene Aspekte berücksichtigt werden (Gardner et al. 2006; NICE Leitlinien 2015 und 2016; AWMF-S2 S2-Leitlinien 2021; Canadian Guidelines 2011). Da im Rahmen der Störungen der Intelligenzentwicklung nicht nur rein kognitive, sondern häufig auch emotionale, soziale oder körperliche Fähigkeiten beeinträchtigt sind, ist dieses ganzheitliche Vorgehen bei einer Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens notwendig (Dilling et al. 2011). Dabei sind zahlreiche Informationsquellen zu nutzen. Die Abbildung am Anfang dieses Kapitels stellt ein Flussdiagramm zum Vorgehen bei medizinischer Vorstellung von Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung dar.

    Die Person stellt sich aufgrund eines bestimmten Problems vor. Das kann ein auffälliges, ungewöhnliches Verhalten (z. B. Schlafstörungen, Bewegungsunruhe, aggressives Verhalten) oder eine subjektiv erlebte Problematik (z. B. Freudlosigkeit, Ängste) sein (vgl. 1. Zeile des Flussdiagramms). Der jeweilige Vorstellungsgrund wird auf der Basis des individuellen emotionalen und kognitiven Entwicklungsstands der Person analysiert (vgl. 2. Zeile). Die Schwere der Störung der Intelligenzentwicklung und der emotionale Entwicklungsstand sind zentral für das Verhalten, die Symptompräsentation und die Fähigkeit zur Problembewältigung. Die kognitiven und sozio-emotionalen Fähigkeiten legen somit die Ausgangsbasis für die Diagnostik und Behandlung fest. Die Beschwerden sollten auf der Basis dieser individuellen Normalität abgeklärt werden: Inwieweit weicht das gezeigte Verhalten oder berichtete Befinden von dem ab, was auf der Basis des intellektuellen bzw. emotionalen Entwicklungsstands von der Person erwartet werden kann? Standardisierte Diagnostikinstrumente wie z. B. die von der WHO herausgegebene Disability Assessment Scale (DAS; Holmes et al. 1982; Meins und Süssmann 1993) oder der standardisierte Leistungstest zur Feststellung des Schweregrads der Störung der Intelligenzentwicklung ( Kap. 38) bzw. die Skala der Emotionalen Entwicklung: Diagnostik (SEED; Sappok et al. 2016; Sappok et al. 2018) für das emotionale Referenzalter können den Kliniker dabei unterstützen ( Kap. 39). Der Schweregrad der Störung der Intelligenzentwicklung hat beispielsweise Einfluss auf die Prävalenz und damit auf die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Erkrankung vorliegt. Beispielsweise steigt die Häufigkeit von Autismus-Spektrum-Störungen ( Kap. 23) oder ADHS ( Kap. 24) mit dem Schweregrad der Störung der Intelligenzentwicklung an (Fombonne 2003; Cooper et al. 2007; Sappok et al. 2010), während psychotische Störungen ( Kap. 16), Substanzabhängigkeiten ( Kap. 15) oder Angststörungen ( Kap. 19) seltener werden (Cooper et al. 2007). Aber auch qualitativ präsentieren sich die Symptome je nach Entwicklungsstand andersartig, z. B. in Bezug auf die Aggressionsregulation: Menschen mit einem emotionalen Referenzalter von ca. sechs Monaten zeigen vor allem selbstverletzendes Verhalten, während bei einem emotionalen Referenzalter von ca. einem Jahr überwiegend fremd- und sachaggressives Verhalten auftritt. Ab einem emotionalen Entwicklungsstand von ca. drei Jahren wird dann zunehmen verbal aggressives Verhalten beobachtet (Sappok et al. 2012). Der Einbezug des emotionalen Entwicklungsstands spielt darüber hinaus eine zentrale Rolle in der differenzialdiagnostischen Einordnung von Symptomen: Die Theory of Mind, also die Fähigkeit zur Unterscheidung von eigenen und fremden Gedanken, Gefühlen und Absichten und damit verbunden die Fähigkeit zur Unterscheidung von Phantasie und Wirklichkeit, entwickelt sich erst ab einem emotionalen Entwicklungsalter von vier Jahren ( Kap. 58; Happé und Frith 2014). In früheren Entwicklungsstufen können daher selbst ausgedachte Überlegungen (Phantasie) als Tatsachen (Wirklichkeit) dargestellt werden, was als psychotisches Erleben fehlinterpretiert werden kann ( Kap. 58). Es ist also diagnostisch essentiell, das gezeigte bzw. geschilderte Beschwerdebild vor dem Hintergrund des intellektuellen und auch des emotionalen Entwicklungsstands und der damit verbundenen Mentalisierungsfähigkeit zu betrachten.

    Anschließend wird die Symptomatik nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell eingeordnet (vgl. Flussdiagramm am Kapitelanfang) in

    1.  körperliche Krankheiten,

    2.  psychische Störungen und

    3.  Verhaltensstörungen.

    Diese drei Hauptkategorien können, müssen aber nicht gleichzeitig vorliegen. Körperliche Krankheiten (1. Säule) sollten aufgrund der oft andersartigen Symptompräsentation immer mitgedacht werden ( Kap. 32; Schmidt 2007). So hat sich beispielsweise eine vermeintliche Jammerdepression als Oberschenkelhalsbruch oder ein sogenannter psychotischer Schub als Ileus oder Blasenhochstand entpuppt. Die bei der körperlichen Ursachenabklärung besonders zu beachtenden Aspekte sind in den Kapiteln 32–34 dargestellt. Neben körperlichen Erkrankungen wie sie bei jedem anderen Menschen auch vorkommen können (z. B. Zahnschmerzen), treten einige Erkrankungen bei Menschen mit Behinderungen gehäuft auf, z. B. Epilepsien ( Kap. 29), sensorische Beeinträchtigungen ( Kap. 28), Bewegungsstörungen ( Kap. 30), Adipositas ( Kap. 31) oder genetische Syndrome ( Kap. 13), die in eigenen Kapiteln genauer dargestellt werden.

    Die Diagnostik psychischer Störungen (2. Säule) im engeren Sinne ist durch verschiedene Faktoren eine Herausforderung. Die in der Allgemeinpsychiatrie üblichen operationalisierten Klassifikationssysteme (DSM, ICD) können wegen der besonderen Erscheinungsformen psychischer Symptome bei Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung oft nur eingeschränkt eingesetzt werden. Daher wurden spezifische Manuale mit adaptierten Diagnosekriterien entwickelt. Das Diagnostic Manual–Intellectual Disability (DM-ID 2; Fletcher et al. 2017) ist am nosologischen System des DSM-5, die Diagnostic criteria for psychiatric disorders for use with adults with learning disabilities/mental retardation (DC-LD; Royal College of Psychiatrists 2001) an den ICD-10-Kriterien orientiert.

    Aber auch die Anamese- und Befunderhebung ist durch die eingeschränkten kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten häufig erschwert. Kapitel 35 stellt Möglichkeiten dar, wie dies trotz aller Herausforderungen gut gelingen kann. Insbesondere bei nonverbalen Personen können Methoden der unterstützen Kommunikation eingesetzt werden und deutliche Verbesserungen erzielen ( Kap. 60). Eine besondere Rolle nehmen dabei auch die begleitenden Bezugspersonen ein. Sie können nicht nur als Übersetzer und Berichterstatter dienen, ihre Beobachtungen können auch in einer systematisierten Verhaltensanalyse in die Diagnostik und Behandlung einfließen ( Kap. 24). Standardisierte Untersuchungsinstrumente können den Kliniker in der Abklärung einer Verdachtsdiagnose unterstützen ( Kap. 37). Medizinische Aufklärungs- und Informationsbögen sollten nach den Regeln der Leichten Sprache verfasst und mit Symbolen veranschaulicht werden. Eine umfassende Materialiensammlung zu verschiedenen Gesundheitsthemen und Krankheitsbildern findet sich im Buch von Sappok, Burtscher und Grimmer (2020). Einzelne, häufiger vorkommende Störungsbilder benötigen eine umfassendere Abklärung, die in separaten Kapiteln ( Kap. 40–43) dargestellt werden.

    Wenn körperliche oder psychische Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten bzw. die gezeigte Symptomatik nicht hinreichend erklären, liegt eine sog. Verhaltensstörung (3. Säule) ( Kap. 25) vor. Diese kann vielfältigste Ursachen haben, drei wesentliche Punkte sind: Erstens Umfeld assoziierte Faktoren (z. B. Betreuerwechsel, belastende Konflikte, Verluste), zweitens Entwicklungsaspekte (Entwicklungstraumastörungen ( Kap. 27), emotionale Entwicklungsstörungen ( Kap. 25), d. h. Diskrepanzen zwischen der emotionalen und kognitiven Entwicklung bzw. eine unzureichende Berücksichtigung des emotionalen Entwicklungsstands oder Autismus ( Kap. 23) assoziiert) und drittens ein Verhaltensphänotyp im Rahmen eines bestimmten genetischen Syndroms. Darunter versteht man Verhaltensweisen wie z. B. der reduzierte Blickkontakt beim Fragilen-X-Syndrom, die typischerweise bei dem jeweiligen Syndrom zu beobachten sind.

    Körperliche und psychischer Erkrankungen werden nach denselben Grundsätzen behandelt wie bei Menschen ohne Behinderung. Dies beinhaltet die ausführliche Aufklärung des Patienten und ggf. rechtlichen Betreuers und ein regelmäßiges Drugmonitoring inklusive Beachtung potentieller Nebenwirklungen und Interaktionen. Spezifische Aspekte für die Behandlung psychischer Erkrankungen sind in verschiedenen Leitlinien beschrieben, z. B. in den NICE Guidelines 54 und 11 (NICE Guideline 2015 und 16), den S2-AWMF-Leitlinien (2014), den kanadischen Leitlinien (2011) oder den Praxisleitlinien der Sektion »Psychiatry of Intellectual Disability« der World Psychiatry Association (WPA; Gardner et al. 2006), die in der Materialiensammlung der Deutschen Gesellschaft für seelische Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung (DGSGB) abrufbar sind. Psychopharmakologisch ist aufgrund der erhöhten Vulnerabilität des vorgeschädigten Gehirns das Prinzip aim low, go slow sinnvoll, also eine langsamere Aufdosierung bei geringerer Zieldosis. Polypharmazie und off-Label Gebrauch sollten vermieden werden. Weitere spezifischere Behandlungshinweise sind in Kapitel 44 »Psychopharmakotherapie« dargestellt. Aber auch nicht-medikamentös gibt es zahlreiche Therapiemöglichkeiten, die allgemeinpsychiatrisch von geringer Relevanz sind (z. B. der TEACCH-Ansatz bei Autismus-Spektrum-Störungen ( Kap. 51) bzw. spezifisch für Menschen adaptiert worden sind (z. B. Kunst-, Theater- und Musiktherapie; Kap. 52–54). Diese sollten ausgeschöpft bzw. ergänzend zur psychopharmakologischen Behandlung angewandt werden. Aufgrund der hohen Praxisrelevanz werden nicht-medikamentöse Ansätze zur Behandlung von herausfordernden Verhaltensweisen und Krisen in zwei Kapiteln dargestellt ( Kap. 59, Kap. 61). Nicht-medikamentös gibt es psychotherapeutische Ansätze, die insbesondere bei Menschen mit leichter bis mittelgradiger Störung der Intelligenzentwicklung – an deren Lerngeschwindigkeit angepasst – angewandt werden können ( Kap. 46). Spezifischere Verfahren wie z. B. beim DBT ( Kap. 47), Tokenkonzepte ( Kap. 50) oder die positive Verhaltensunterstützung ( Kap. 48) sind in separaten Kapiteln dargestellt. Bei Menschen mit schwerer intellektueller Beeinträchtigung sind eher entwicklungsbasierte Methoden wie z. B. entwicklungspädagogisches Arbeiten, Bindungs- und Mentalisierungsansätze vielversprechend, denen in den Kapiteln Kap. 55–58 ein breiter Raum eingeräumt wird, da sie in der Allgemeinpsychiatrie wenig verbreitet und gekannt sind.

    Auf den Punkt gebracht

    •  Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung werden häufig psychisch krank.

    •  Die gezeigte Symptomatik sollte vor dem Hintergrund des kognitiven und emotionalen Entwicklungsstands beurteilt werden. Dieser Entwicklungsstand definiert die individuelle Normalität.

    •  Neben körperlichen und psychischen Erkrankungen im engeren Sinne finden sich häufig sog. Verhaltensstörungen. Diese können insbesondere durch Umfeld assoziierte Schwierigkeiten, Entwicklungsaspekte wie emotionale Entwicklungsstörungen und Autismus oder im Rahmen eines genetischen Syndroms auftreten.

    •  Therapeutisch gelten dieselben Grundprinzipien wie in der Allgemeinpsychiatrie, die insbesondere bei Menschen mit leicht- bis mittelgradigen Störungen der Intelligenzentwicklung angewandt werden können. Bei Menschen mit schwer bis schwersten Störungen der Intelligenzentwicklung sind entwicklungs- und körperbasierte Ansätze vielversprechend.

    •  Ein interdisziplinäres und multiprofessionelles Vorgehen unter Einbezug der jeweiligen Bezugspersonen und Lebensumfelder ist zentral für eine gelingende Gesundheitsversorgung

    Literatur

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    II.     Der Mensch liefert den Kontext: Gespräche über das Leben und Behinderung

    3          Behinderung als »Andersartigkeit eines Menschen«

    Tanja Sappok im Gespräch mit Bärbel Gehrlein und Klaus Bürkmann-Gehrlein

    »Behinderung bedeutet für mich Andersartigkeit eines Menschen in körperlichen, geistigen oder seelischen Bereichen, die den Zugang zur Gemeinschaft sehr erschweren kann.«

    Bärbel Gehrlein

    »Das Anderssein ermöglicht einen neuen, anderen Blick auf die Menschen, die Dinge und deren Wertigkeiten. Man wird dadurch innerlich weiter und freier.«

    Klaus Bürkmann-Gehrlein

    Bärbel Gehrlein, Grundschullehrerin und Klaus Bürkmann-Gehrlein, Physiker, kommen aus zwei kleinen Orten südlich von Speyer und sind Mitte der 1980er Jahre nach Berlin gezogen. Sie haben zwei Söhne. Bei dem zweieinhalb Jahre älteren Sohn Jannis, der jetzt 23 ist, wurde eine Entwicklungsstörung diagnostiziert. Vor drei Jahren ist er von zu Hause in eine Wohngruppe gezogen. Wir führen das Gespräch zu dritt in einem Arztzimmer der Klinik.

    Was bedeutet »Behinderung« für Sie?

    Klaus Bürkmann-Gehrlein: Es gab in meinem Umfeld von Kindheit an immer einen Umgang (meistens unbelasteter Art) mit behinderten Menschen. Mein Vater initiierte den Aufbau der Lebenshilfe im Kreisgebiet, da seine Schwester einen behinderten Sohn hatte. Meine frühere Lebensgefährtin arbeitete mit Behinderten, denen wir auch in der Freizeit manchmal begegneten. Als Zivildienststelle suchte ich mir einen integrativen Kindergarten.

    Bärbel Gehrlein: Behinderung bedeutet für mich die Andersartigkeit eines Menschen in körperlichen, geistigen oder seelischen Bereichen, die den Zugang zur Gemeinschaft sehr erschweren kann: »Ich gehöre nicht dazu«. Ein Zitat von Richard von Weizsäcker drückt meine Empfindungen sehr gut aus: »Es ist normal, anders zu sein.«

    Was bedeutet »psychische Gesundheit« für Sie?

    Klaus Bürkmann-Gehrlein: Es gibt Bereiche, die mir Angst machen, da ich Phasen von Angst, Unsicherheit und erhöhter Sensibilität von mir selbst kenne. Das hat mich empfindsam für Menschen mit psychischen Erkrankungen in meiner Umgebung gemacht.

    Bärbel Gehrlein: Psychische Gesundheit bedeutet, die Aufgaben, welche der Alltag einem stellt, so meistern zu können, dass man für sich eine befriedigende bzw. gute Lebensqualität empfinden kann. Das bedeutet auch, im Sinne einer gelungenen Selbstfürsorge, mit allen unangenehmen Gefühlen umgehen zu können. Wenn man auf seelischer Ebene mit dem, was einem begegnet, nicht umgehen und es nicht bewältigen kann, herrscht »Chaos in der Seele«. Psychische Gesundheit ist unabhängig von der Behinderung und für die Betroffenen von zentraler Bedeutung.

    Welche Form von Unterstützung haben Sie erfahren?

    Von der Familie haben wir im Wesentlichen eine liebevolle Annahme unseres behinderten Sohnes erfahren, er gehörte einfach dazu. Diese Akzeptanz in der Gemeinschaft bedeutet für uns eine große Unterstützung. Teilweise gab es aber auch schmerzliche Versuche von uns nahestehenden Menschen, uns zu trösten mit dem Hinweis, dass sich das alles noch »geben« wird. Dieses Unverständnis für das Ausmaß der Behinderung war sehr belastend.

    Unser Freundeskreis änderte sich naturgemäß mit der Geburt unseres ersten Sohnes stark, Kontakte lösten sich auf, neue entstanden. Wir hatten aber in einigen Freundesbeziehungen starke und einfühlsame Unterstützung, speziell auch dadurch, dass die Behinderung klar thematisiert werden konnte und Beratungsmöglichkeiten aufgezeigt wurden. Weil wir selbst nicht gut weggehen konnten, haben uns einige sehr nahe Freunde zum Beispiel am Wochenende zu Hause besucht. Wir haben so »das Leben zu uns geholt« und damit ein großes Stück »Normalität« gelebt.

    Wir hatten das große Glück mit unserem Kinderarzt, der nicht nur Jannis von der ersten Untersuchung im August 1994 bis zu seinem 18. Geburtstag medizinisch, sondern auch uns als Eltern und Familie therapeutisch begleitet hat. Diese Besuche beim Kinderarzt waren auch für uns Eltern immer ein bisschen wie eine Therapieeinheit. Wir fühlten uns dort wahrgenommen, das gab uns die Kraft für die Unterstützung unseres Kindes im Alltag.

    Noch vor Jannis erstem Geburtstag suchten wir nach therapeutischer Unterstützung, da Jannis Entwicklung extrem langsam verlief. Bei der Piklergesellschaft fanden wir Menschen/Therapeuten/Ärzte, die uns mit Ihrem grundlegenden Ansatz (aufbauend auf den Stärken, nicht an den Schwächen arbeiten) überzeugten, und Jannis mit bewegungs- und musiktherapeutischen Angeboten sehr gut unterstützten. Den Namen für das, was Jannis als besonders auszeichnete, haben wir lange Zeit immer nur gesucht, um entsprechende Unterstützung von Amtsseite zu erwirken. Dafür brauchte es einen Namen, eine »Schublade«. Mit etwa drei Jahren hatte sich in der Zusammenarbeit mit der Piklergesellschaft eine Ahnung ergeben, dass es für Jannis Anderssein irgendwo im Autismusspektrum eine Beschreibung geben könnte. Entsprechend dem allgemeinen Bild des Autisten Ende der 90er Jahre, waren auch die Fachleute beim Autismus Deutschland-Landesverband Berlin noch nicht offen genug, eine derartige Diagnose zu stellen. Mehrere Stunden Beobachtung und Interaktionen mit ihm, sowohl in der Praxis, als auch im Kindergarten, ergaben immer die Aussage, dass Jannis sehr kommunikativ sei und seine Fähigkeit, im begrenzten Maß auch Rollenspielen zu folgen, eine Autismus-Spektrum-Störung ausschließe. Letztlich brachten die detaillierten Aufzeichnungen der Einzelfallhelferin in der Kita die entsprechenden Hinweise für eine Diagnose, die für den Eintritt in das Schulleben für Jannis sehr wichtig war. Dort hat die ruhige und klare Art der hoch engagierten Integrationslehrerin einen starken Einfluss auf Jannis ausgeübt, ebenso wie die Klassenlehrerin später in der Oberschule, so dass er trotz schwieriger sozialer Umstände bei den Mitschülern immer wieder die Freude am Lernen behielt. Die größte Unterstützung im Alltag erhielten wir von Jannis Einzelfallhelfer, der unseren Sohn zehn Jahre (ab der 1. Klasse) begleitete und zum Freund der Familie wurde.

    Welche Einschränkungen haben sich für Sie ergeben?

    Der hohe Betreuungsaufwand erschwerte die Kontakte nach außen, also zum Beispiel Restaurant- oder Kinobesuche. Wir als Paar hatten nur sehr eingeschränkt Zeit und Energie füreinander. Der hohe Grad an Strukturierung erschwerte den Alltag auch für den Bruder. Zu Hause war Jannis »omnipräsent«. Zum Glück waren wir nie in materiellen Fragen eingeschränkt. Für mich als Mutter war eine sehr lange Unterbrechung der Berufstätigkeit (18 Jahre) damit verbunden.

    Was haben Sie gelernt bzw. gewonnen?

    Wir haben gelernt, dass »anders sein« oft sehr belastend ist. Wenn man es jedoch akzeptiert und angenommen hat, ermöglicht es einen neuen und anderen Blick auf die Menschen, die Dinge und deren Wertigkeiten. Verhaltensweisen und Menschen werden also nicht immer mit den eingefahrenen, moralischen Bewertungen betrachtet. Unser Leben hat an Intensität und Tiefe gewonnen. Man folgt weniger Klischees, signalisiert mehr Offenheit und wird innerlich weiter.

    Auch Jannis Blick auf Zwischenmenschliches hat uns bereichert. Man lernt, weniger zu werten, Situationen neutraler zu betrachten und fällt nicht so schnell Urteile, sondern beobachtet einfach, was ist. Das ermöglicht einem auch, manche Dinge einfach zu tun. Es gibt weniger Tabus.

    Wie hat sich Ihre Lebensqualität verändert?

    Wir haben mit Jannis Kontakte zu vielen Menschen bekommen, mit denen wir uns über wesentliche Dinge und Ideen austauschen konnten. Es ergaben sich Gespräche, Situationen und Beziehungen, die uns sehr getragen haben und unser Empfinden und Denken erweitert haben. Wir sind insgesamt häuslicher geworden und konnten unseren Freundeskreis zu uns einladen. Dies wurde uns auch dadurch erleichtert, dass Jannis immer viel gute Laune verbreitete, bis heute.

    Wie hat sich die Behinderung auf Ihre Paarbeziehung ausgewirkt?

    Wir hatten ein gemeinsames Ziel und eine große gemeinsame Aufgabe, nämlich unserem Kind die Grundlagen für ein möglichst selbstbestimmtes Leben mitzugeben. Das hat uns oft auch für die Beziehung eine klare Ausrichtung gegeben. Diese gemeinsame Aufgabe war sehr verbindend und wir haben es immer wieder geschafft, uns darüber intensiv auszutauschen. Aber die Beziehung zwischen uns als Paar war oft unterversorgt bis nicht existent, da Jannis das »Epizentrum« war. Somit ist jetzt, nach Jannis Auszug, eine Neudefinition unserer Paarbeziehung angesagt. Das bedeutet eine komplette Neujustierung für uns als Paar.

    Welche Effekte haben Sie auf das Familienleben und den Bruder beobachtet?

    Der Alltag war unvorstellbar anstrengend. Die Spontanität und der lockere Umgang mit Situationen und Menschen fielen uns schwer. Der jüngere Bruder konnte ein großes Stück unverkrampfter Kindheit nicht ausleben, z. B. einfach mal einen Freund zu einem Familienausflug einladen. Die Jungs waren im Familienalltag immer zusammen und waren und sind sich auch jetzt als junge Erwachsene sehr wichtig. Obwohl wir uns sehr bewusst damit auseinandergesetzt haben, dass wir dem jüngeren Sohn keine Verantwortung für den behinderten älteren Bruder übertragen, hat dieser ein starkes Verantwortungsgefühl entwickelt und ist zum »großen« Bruder geworden. Dies hatte Auswirkungen auf alle seine Außenkontakte. Er hat ein hohes Maß an Empathie gegenüber allen anderen Menschen entwickelt.

    Was sind die Stärken Ihres Sohnes (ggf. verbunden mit der Behinderung)?

    Jannis liebt die Gemeinschaft, wenn sie ihm auch den Rückzug ermöglicht. Er hilft wirklich sehr gerne, wenn man ihn darum bittet. Er kann seine Gefühle sehr gut äußern, wenn man ihm »Starthilfen« gibt. Er kann sehr viel Information in kurzer Zeit aufnehmen und bei Bedarf auch sehr klar strukturieren. Er kann viele von den aufgesammelten Informationen vernetzen, was sich besonders bei praktischen, handwerklichen Aktivitäten zeigt. Jannis ist nie nachtragend und hat fast immer gute Laune. Er ist liebenswert, empathisch und geht auf Menschen zu. Er wird von seinen WG-Mitbewohnern oft als der »große Bruder« empfunden. Er ist offen, neugierig und bis zu einem gewissen Grade selbstbewusst.

    Wie bereichert Ihr Sohn die Gesellschaft?

    Er bereichert die Gesellschaft durch seine Freundlichkeit und Fröhlichkeit, sein empathisches Verhalten, sein Wissen, seine unvoreingenommene Benennung von Situationen und Empfindungen. Dies funktioniert aber nur, wenn er sich sicher fühlt und wenn man sich auf ihn einlässt. Er bereitet sich auch akribisch auf bestimmte Begegnungen vor, z. B. hat er vor dem ersten Termin bei Ihnen ausführlich im Internet über Sie recherchiert und Ihre gesamte Habilitationsschrift gelesen.

    Was bzw. welche Situationen machen Ihren Sohn glücklich?

    In einer Gemeinschaft zu sein, dazu zu gehören, etwas zusammen zu machen, Nähe zu von ihm geliebten Menschen (nach seinen Maßgaben) realisieren zu können, bedeutet für ihn Glück. Auch eine Arbeit zu haben, die er bewältigen kann, ist für sein Wohlbefinden und sein Selbstbewusstsein sehr wichtig.

    Inwiefern lebt Ihr Sohn ein gutes, ausgefülltes Leben?

    Jannis lebt in einer betreuten WG, die zumindest seit einigen Monaten sehr verlässliche Beziehungen und Verantwortlichkeiten entwickelt. Mit seiner empathischen Art empfindet er sehr stark mit den Bewohnern mit und hat ein »Wir« gefunden. Bei seiner Arbeit hat er so viel Selbstvertrauen aufgebaut, dass er seine Weiterentwicklung in der WFBM aktiv vorantreibt. Seinen Wunsch nach einer Beziehung artikuliert er ganz offen. Er sucht danach, was es sein kann, ein Mann zu sein.

    Was wünschen Sie sich für Ihren Sohn?

    Wir wünschen Jannis, dass sein sehnlicher Wunsch in Erfüllung geht, eine Liebesbeziehung zu entwickeln und zu leben. Wir wünschen ihm, dass er in einer verlässlichen Gemeinschaft leben und arbeiten kann. Im Prinzip wünschen wir ihm ein möglichst »normales« Leben.

    Was können Sie anderen Familien/Betroffenen empfehlen?

    Auch die Unterstützenden brauchen Unterstützung, sowohl durch kompetente Fachleute, aber auch durch Kontakte untereinander. Die den Alltag begleitenden Menschen, also die Eltern, sind auch Fachleute, und zwar für den Menschen selbst. Da sollte man schon etwas mehr Selbstbewusstsein entwickeln und muss es auch ganz besonders gegenüber offiziellen Stellen vertreten.

    Haben Sie einen Rat für Fachleute, was in Bezug auf Patienten mit Behinderung aus Ihrer Sicht besonders wichtig ist?

    Die hohe Kompetenz des Menschen für sich selbst sollte erkannt und akzeptiert werden. Auf dieser Grundlage kann herausgearbeitet und gestärkt werden, was nötig ist. Das direkte soziale Umfeld, also Eltern und Geschwister, sollte beachtet und betrachtet werden und in die Unterstützung des Patienten intensiv mit einbezogen werden.

    Es ist wichtig, einerseits ggf. nach Ursachen für bestimmte Abweichungen und Probleme zu suchen, andererseits aber dem Menschen auch die eigene Entwicklungsdynamik zuzugestehen. Die positive Betrachtung dessen was ist, sollte als Ausgangspunkt gewählt werden. Durch die liebevolle Annahme und Akzeptanz wird ein Raum geschaffen, in dem sich der Mensch entfalten kann und gefördert wird. Der Fokus sollte auf dem liegen, was geht, und die Haltung sollte geprägt sein von einer Zugewandtheit und dem Empfinden von Bereicherung. Man sollte den Menschen keinen »Stempel« aufdrücken, das kostet viel Kraft und tut den Menschen und ihren Familien nicht gut.

    4          »Der Umstand, dass jemand dasselbe anders sieht, ist ungeheuer kostbar«

    Tanja Sappok im Gespräch mit Andrea und Tobias Wellemeyer

    »Der Umstand, dass jemand dasselbe anders sieht, ist ungeheuer kostbar.«

    Tobias Wellemeyer

    »Unsere Liebe trifft sich immer wieder an ihr.«

    Andrea Wellemeyer

    Andrea Wellemeyer, Schauspielerin und Sängerin, und Tobias Wellemeyer, Intendant, haben eine gemeinsame, erwachsene Tochter. Wir führen das Gespräch gemeinsam in einem Arztzimmer der Klinik.

    Was bedeutet »Behinderung« für Sie?

    Tobias Wellemeyer: Behinderung ist eine Form von Ausgeschlossensein und möglicherweise damit verbunden eine Form von persönlicher Katastrophe, eine Schande, eine Stigmatisierung, bei der einen Vorurteile treffen.

    Andrea Wellemeyer: Ich habe die Behinderung meiner Tochter zunächst nicht annehmen können, meine Tochter war zweieinhalb, bis ich »meine Tochter ist behindert« überhaupt aussprechen konnte, bis es ausgesprochen werden durfte. Das heißt nicht, dass ich mich für sie geschämt hätte, sondern dass ich nicht akzeptieren wollte, dass sie nun zu diesen »Ausgeschlossenen« dazugehören sollte. Ich war so tief verzweifelt, dass ich lieber selbst eine todbringende Krankheit im Tausch gehabt hätte. Irgendwann ist es mir durch Gespräche mit meinem Mann und mit Freunden gelungen, sie anzunehmen wie sie ist und nicht mehr mit den eigenen Wunschvorstellungen zu vergleichen. Das andere sind ja mehr die eigenen »Behinderungen« und Ängste.

    Ich sehe Behinderung als Handicap mit einem deutlichen Verlust an Möglichkeiten. Das Wort an sich allein war für mich für lange Zeit ein großes Problem.

    Tobias Wellemeyer: Es wäre schön, wenn man einen anderen Begriff dafür finden könnte, der die spezielle Begabung in den Vordergrund stellen würde. »Behinderung« ist von den fragwürdigen Normen des Gesellschaftlichen definiert und aus diesem Raum heraus wird es beschreiben, und das ist eigentlich schade.

    Was bedeutet »psychische Gesundheit« für Sie?

    Andrea Wellemeyer: Eine psychische Erkrankung kann jeden treffen, unabhängig von der Behinderung, das ist abhängig von genetischen Faktoren und auch bestimmten Lebensereignissen. Vielleicht sind Menschen mit einer geistigen Behinderung im Vorteil, weil sie es weniger verbergen können.

    Tobias Wellemeyer: Ich finde den Begriff »psychische Gesundheit« sehr heikel, auch das hat ungeheuer viel mit den Bewertungen von außen zu tun, was gesund und was krank ist. »Psychische Krankheit« bedeutet für mich den Verlust von Souveränität, ein Beschreibverlust seiner selbst, dass einem Dinge, die man sich vorgenommen hat, nicht mehr gelingen. Insgesamt ist für mich »psychische Gesundheit« kein objektiver Zustand, sondern im sozialen Kontext definiert.

    Welche Form von Unterstützung haben Sie von Ihrer Familie bzw. Ihrem Freundeskreis und von Fachleuten (Ärzten, Therapeuten etc.) bekommen?

    Andrea Wellemeyer: Fachleute haben uns in der DDR-Zeit nicht unterstützt, null-komma-null. Viele hatten – wahrscheinlich aus Hilflosigkeit – so eine abwertende, bemitleidende Grundhaltung, und die Betreuung war katastrophal. Vereinzelt gab es großartige Projekte, die von Einzelpersonen initiiert wurden, wie z. B. die heilpädagogische Schule, in die unsere Tochter dann kam.

    Unsere Freunde, die sich vorwiegend in Künstlerkreisen bewegten, waren überwiegend sehr offen. Die Familie war eher hilflos und reagierte ängstlich und machte Schuldgefühle. Sie wollten das Negative eher nicht sehen und hatten wenig Wissen und Verständnis.

    Tobias Wellemeyer: Die Schlichtheit und Zurückgebliebenheit im eigenen ideologischen Denken der DDR wurde auch auf Menschen übertragen. Alles, was da nicht reinpasste, wurde schlichtweg ignoriert. Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass es überhaupt keine fachliche Begleitung und Beratung gab. Es gab einfach überhaupt keine Struktur, man ging entweder zum Hausarzt oder zum Psychiater, dazwischen gab es gar nichts. Dadurch fielen einzelne Akteure besonders auf, die man in der Szene kannte. Das familiäre Umfeld war überwiegend unfähig damit umzugehen und erwartete, dass man sein Leben opfern solle. So, als würde irgendetwas gelindert, nur, weil man sich opfere. Aber da wird ja gar nichts gelindert! Aber mit diesem Glauben waren wir sehr viel konfrontiert.

    Welche Einschränkungen haben sich für Sie ergeben?

    Tobias Wellemeyer: Keine, ich habe keine Einschränkungen erlebt, ich habe weiter studiert. Wir hatten auch den Eindruck, dass es dem Kind hilft, wenn wir weiter aktiv bleiben. Diese Krise am Anfang wirkte sich eher stärkend aus, z. B. wie man seine Zeit strukturiert oder was wichtig und was unwichtig ist. Ich bin dadurch schneller erwachsen geworden.

    Andrea Wellemeyer: Mein Leben hat sich sehr geändert, sehr, von Anfang an. Mich hat es absolut mitgenommen, als mir bewusst wurde, dass meine Tochter nicht so ein Leben führen wird, wie ich es mir für sie vorgestellt habe, und wie es ja dann auch gekommen ist. Ich habe sehr gelitten und war zum Teil auch regelrecht verbittert.

    Auch beruflich gab es für mich große Einschränkungen, ich musste viel zu Hause sein, die ganze erste Zeit. Und wenn ich dann zu einem Auftritt los bin, musste ich mich regelrecht zwingen, nicht weiter an Lena zu denken – die Gedanken regelrecht »abschneiden«, sonst hätte ich am Abend nicht singen können, und manchmal konnte ich es auch nicht.

    Andererseits war es auch ein großer Reichtum, weil ich mich über jeden Fortschritt von Lena sehr gefreut habe und mir war klar: Ich lasse sie nie im Stich. Ich war voll auf mein Kind konzentriert und habe auch viel Hoffnung und Liebe von ihr bekommen. Sie war der entscheidende Punkt für ein Weiter, sie war mein Lebenserhalt. Sie auf dem Arm zu halten und mit ihr durchs Zimmer zu gehen war für mich genauso Trost wie für sie.

    Was haben Sie gelernt bzw. gewonnen?

    Andrea Wellemeyer: Gewonnen habe ich die ungeheure Kraft, die mir meine Tochter gegeben hat, die Liebe, das Vertrauen, das sie mir entgegengebracht hat, ihre große Emotionalität.

    Tobias Wellemeyer: Die Tatsache, dass Lena besonders ist, ist motivierend, immer motivierend für viele Dinge, die ich tue.

    Wenn man an die Gespräche über den »Sinn des Lebens« oder »letzte Fragen« denkt, das wäre alles so nicht gekommen, wäre man nicht mit so einem besonderen Menschen zusammen.

    Wie hat sich Ihre Lebensqualität verändert?

    Andrea Wellemeyer: Wir haben uns auf Lena eingestellt und ein gutes Leben gefunden.

    Wie hat sich die Behinderung auf Ihre Paarbeziehung ausgewirkt?

    Andrea Wellemeyer: Unsere Beziehung war am Anfang dadurch sehr belastet und wir haben uns auch zeitweise getrennt. Aber Lena hat etwas ungeheuer Verbindendes. Es ist nicht nur das Gefühl der gemeinsamen Sorge für sie, unsere Liebe trifft sich immer wieder an ihr.

    Tobias Wellemeyer: Wir sind die einzigen in unserem Umfeld, die immer noch und so lange zusammen sind. Und das hat ganz eindeutig etwas mit Lena zu tun.

    Welche Effekte auf das Familienleben haben Sie beobachtet?

    Tobias Wellemeyer: Ich denke, dass wir Lena auch manchmal überfordert haben, mit uns. Wir waren immer total spontan und chaotisch. Wir sind oft sehr unberechenbar gewesen, das hat ihr nicht immer gutgetan. Wir haben sie einfach unter den Arm geklemmt und mitgenommen, in dem Denken, dass sie dadurch reift und gestärkt wird. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das so richtig ist.

    Was sind die Stärken Ihrer Tochter (ggf. verbunden mit der Behinderung)?

    Andrea Wellemeyer: Da ist eine große Freude, die aus ihr leuchtet. Sie durchschaut vieles mit einer Klarheit und bringt es auf den Punkt. Sie verspürt Stimmungen und Entwicklungen oft schon ganz früh und spricht diese aus. Sie kann ganz unbedarft auch in schwierigen Situationen auf andere Menschen zugehen und hat ein gutes Gespür dafür, wie es dem andern geht und was derjenige gerade braucht. Dabei ist sie ganz natürlich und spendet mit einfachen Mitteln Trost oder Rat, wo »wir« oft nicht in der Lage sind, weil wir uns zu viel Gedanken machen.

    Tobias Wellemeyer: Ich bewundere oftmals die seltsamen Verknüpfungen. Ihre Art zu denken vollzieht sich in anderen Bahnen in denen ich oder sogar »man« denkt. Und auch was ihr so auffällt, also was ihr in einer Situation wichtig ist, das ist oft etwas Anderes als für mich. So bekommt man eine andere Perspektive auf die Dinge.

    Wie bereichert Ihre Tochter die Gesellschaft?

    Tobias Wellemeyer: Also da ist so etwas, was Beschreibungs- und Verknüpfungsoptionen betrifft, was das Wichtige und das Unwichtige ist, da sind ganz erstaunliche Blicke auf die Wirklichkeit. Diese Verknüpfungsmöglichkeiten und dieser Perspektivwechsel, das interessiert mich auch als Künstler. Das bringt richtig Ideen zustande, eigene Verknüpfungsideen. Unsere Sicht ist ja sehr stark normiert, viel stärker als wir glauben in unserer pseudoindividualisierten Welt. Wir können daran lernen, dass manche Dinge nicht so festgefügt sind, wie wir meinen. Wir haben ja für alles Beschreibungs- und Erklärungsmuster, was da aus dem Vorsprachlichen kommt, darin läge eine Chance. Der Umstand, dass jemand dasselbe anders sieht, ist ungeheuer kostbar, auch wenn diese Diversität ungeheuer anstrengend ist. Das sollten wir eigentlich als Gesellschaft trainieren: Dass es normal ist, dass alle verschieden sind.

    Andrea Wellemeyer: Diese unsagbare Akzeptanz und Geduld miteinander und untereinander, das bewundere ich, davon könnten wir uns einiges abgucken. Als beispielsweise ein autistischer Mitbewohner von ihr total ausgeflippt ist und rumgeschrien hat, da sagte sie einfach nur »das hat er öfter mal, das geht wieder vorbei«.

    Tobias Wellemeyer: Ich finde auch, die soziale Kompetenz ist enorm. Nicht nur im Sinne von akzeptieren und aushalten, sondern auch wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft, wenn einer etwas nicht schafft oder etwas schiefgeht.

    Was bzw. welche Situationen machen Ihre Tochter glücklich?

    Tobias Wellemeyer: Gemeinsam essen und ins Kino gehen, am liebsten allein, und nach links und rechts auszuschwärmen, Leute anzusprechen und Dinge auf eigene Faust zu machen.

    Andrea Wellemeyer: Sie ist meist sehr genügsam, Dinge wünscht sie sich gar nicht. Sie liebt es Leute zu besuchen, spazieren zu gehen, Milchkaffee trinken gehen und Sachen zu unternehmen.

    Was wünschen Sie sich für Ihre Tochter?

    Andrea Wellemeyer: Ich wünsche ihre mehr Selbstbewusstsein, mehr Vertrauen in ihre eigene Kraft. Und weniger Ängste und Schuldgefühle. Ich wünsche ihr, dass sie mehr Zuwendung für ihre künstlerische Begabung bekommt.

    Tobias Wellemeyer: Ich wünsche ihr, dass sie Freunde findet, die sie aushalten, und dass sie ein soziales System hat, an das sie sich wenden kann und nicht ausgenutzt wird. Dass da jemand ist, der sie beschützt.

    Was können Sie anderen Familien/Betroffenen empfehlen?

    Tobias Wellemeyer: Keine Angst bekommen.

    Andrea Wellemeyer: Eine Sprache lernen, mit der man sich verständigen kann. Lernen zu sehen, zu hören und zu fühlen, was der andere einem zu geben hat. Das Kind nicht überfordern mit den Wünschen, die eigentlich nur einen selbst betreffen. Liebe ist natürlich das, was über allem steht, Liebe, das steht ja über der Erziehung eines jeden Kindes. Diese Liebe kann einem die Kraft geben. Angst, Ablehnung und Erwartungswünsche, das sollte man besser lassen.

    Haben Sie einen Rat für Fachleute, was in Bezug auf Patienten mit Behinderung aus Ihrer Sicht besonders wichtig ist?

    Andrea Wellemeyer: Genügend Zeit und Mühe investieren, um den Menschen ganzheitlich zu erfassen. Nicht nur Skalen, Normen und Punkte abarbeiten, sondern auch daneben das Interesse haben, sich zu kümmern und etwas in Oliver Sacks’scher Kriminalistik herausfinden zu wollen. Die Akzeptanz und die Würde als Mensch, mit der ihr begegnet wird, das spürt sie selbst, sie ist dann ungeheuer wach und konzentriert. Die Achtung und das Ernstnehmen, das tut ihr gut.

    Tobias Wellemeyer: Da fällt mir nichts ein, Ihr macht das doch super hier. Ich glaube das ist ganz ganz schwierig, eine gewisse Vergleichbarkeit und bestimmte Muster herauszuarbeiten. Da ist sicherlich auch eine gewisse Pragmatik notwendig.

    Ich fand auch sehr interessant, über den Tellerrand der eigenen Profession hinaus zu gucken. Das finde ich eine neue Art der Begegnung, das ist diese Form von Nachdenken über den Menschen und seine Besonderheit, von verschiedenen Seiten her, dass man sich anregt durch die verschiedenen Perspektiven.

    Auch die Einfachheit der Sprache ist wichtig, keine verklausulierte, hermetische Fachsprache, das ist ein wichtiger Gestus.

    Andrea Wellemeyer: Es wäre ein Traum von mir, dass man diese Menschen anders in die Gesellschaft integrieren könnte und sie insgesamt mehr einbezogen werden würden.

    5          »Ich habe an Empathie dazugewonnen«

    Tanja Sappok im Gespräch mit Rosita und Franz Mewis

    »Er macht die gesamte Gesellschaft toleranter. Die Gesellschaft wird dadurch menschlicher.«

    Rosita Mewis

    »Ich habe an Empathie dazugewonnen.«

    Franz Mewis

    Rosita Mewis und Franz Mewis, beide Sänger und Schauspieler, haben einen gemeinsamen Sohn mit zwei weiteren, älteren Geschwistern. Ihr Sohn Jan, 39 Jahre, ist erst vor zwei Jahren nach einer schweren Krise von zu Hause in eine vollstationäre Einrichtung umgezogen. Wir führen das Gespräch zu dritt in einem der Arztzimmer der Klinik.

    Was bedeutet »Behinderung« für Sie?

    Rosita Mewis: Darüber haben wir eigentlich vorher gar nicht nachgedacht, was das für uns tatsächlich bedeutet. Wir können es nur durch die Erfahrung aus dem Zusammenleben mit unserem Sohn erklären: Ständige Aufsicht war notwendig. Er konnte sich kaum selbstständig bewegen und war äußerst fremdbestimmt.

    Jan konnte und wollte nicht mit anderen Kindern spielen. Er spielte zunächst stundenlang mit sich selbst, mit Knöpfen, mit Legosteinen, mit all diesen Dingen, die man eben aufreihen oder hochtürmen kann. Das hat er mit wahrer Begeisterung getan. Also, für uns bedeutete Behinderung eine relativ große Isolation, auch für die Familie. Nicht nur für unseren Sohn, sondern auch für uns.

    Was bedeutet »psychische Gesundheit« für Sie?

    Franz Mewis: Dass man entspannt mit sich selbst und der Umwelt umgehen kann.

    Rosita Mewis: Ich möchte noch Wohlbefinden ergänzen. Dieses »mit sich im Reinen sein«, sich wohlfühlen und dadurch auch entspannt zu sein. Das betrifft ja eigentlich jeden Menschen, dazu muss man nicht irgendwie behindert oder krank sein, das betrifft alle.

    Welche Form von Unterstützung haben Sie von Ihrer Familie bzw. Ihrem Freundeskreis und von Fachleuten (Ärzten, Therapeuten etc.) bekommen?

    Rosita Mewis: Die ganze Familie hat geholfen: Die Großeltern, besonders meine Mutter kam immer, wenn wir sie brauchten. Die älteren Geschwister und zeitweise auch die Nachbarn unterstützten uns mit Beschäftigung und Beaufsichtigung. Wenn unser Sohn z. B. mal ausbüchste, wurden wir selbst von entfernteren Nachbarn angerufen. Wir erfuhren viel Verständnis und Aufmerksamkeit für unseren Sohn, im gesamten Umfeld.

    Bei der Vorschuluntersuchung bekamen wir den ersten Hinweis auf möglichen Autismus, und zwar durch den damaligen Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Klinik Schwerin. Er sah unseren Sohn und sagte: »Haben Sie schon mal was von Autismus gehört?« Da hörten wir zum ersten Mal das Wort Autismus. Er hat uns Literatur gegeben; das war die erste Hilfe. Anhand der Bücher begannen wir genauer zu beobachten. Ich habe damals viel aufgeschrieben und dem Arzt meine Notizen gegeben. Das war wirklich erstmal eine Hilfe. Unser Sohn ging zunächst in den Förderkindergarten und später dann in die Förderschule. Dort bekam er das erste Mal eine Lehrerin, und zwar eine Sonderpädagogin, die sich in Sachen Autismus in dem neuen Autismus-Therapiezentrum Neubrandenburg weitergebildet hatte. Sie nahm ihn auch zum ersten Mal zu einer Klassenfahrt mit. Das war für ihn eine tolle Zeit, diese Schulzeit vom 13. bis 21. Lebensjahr. Daran schlossen sich zwei Jahre Tagesförderung unter dem Dach der WfMB¹ an, wo wegen der zunächst noch einfachen und ungeeigneten Bedingungen alles wieder rückwärts ging… Es gab dort z. B. auch Praktikanten, die vor ihm Angst hatten; das merkte er sofort. Als die

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