ADHS und komorbide Erkrankungen: Neurobiologische Grundlagen und diagnostisch-therapeutische Praxis bei Kindern und Erwachsenen
Von Wolfgang Retz
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Über dieses E-Book
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine der häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Auch im Erwachsenenalter leiden noch bis zu 50 Prozent der Betroffenen unter dem charakteristischen Symptomkomplex aus Unaufmerksamkeit, motorischer Unruhe und Impulsivität. Die differentialdiagnostische Abklärung des Krankheitsbildes ist wegen der geringen Spezifität der einzelnen Symptome und der hohen Komorbidität mit weiteren psychiatrischen Leiden oftmals schwierig.
In diesem Buch nehmen namhafte Fachleute zu wichtigen Differentialdiagnosen und Begleiterkrankungen bei ADHS Stellung. Der enge Bezug von Diagnostik und Therapie macht das Werk zu einem wertvollen Hilfsmittel für alle Berufsgruppen, die an der Behandlung von ADHS-Patienten jeden Alters beteiligt sind.
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Buchvorschau
ADHS und komorbide Erkrankungen - Christine M. Freitag
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Professor Dr. Dr. Tobias Banaschewski
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
68159 Mannheim
Andreas Becker
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
Priv.-Doz. Dr. Katja Becker
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
68159 Mannheim
Professor Dr. Günter Esser
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Universität Potsdam
Komplex 2
Karl-Liebknecht-Straße 24–25
14476 Potsdam-Golm
Priv.-Doz. Dr. Christine M. Freitag
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg
Professor Dr. Alexander von Gontard
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg
Professor Dr. Sabine C. Herpertz
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock
Gehlsheimer Straße 20
18147 Rostock
Dr. Christian P. Jacob
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bayerische Julius-Maximilians-Universität
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
Dr. Monika Johann
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Regensburg am Bezirksklinikum
Universitätsstraße 84
93042 Regensburg
Katrin Lampe
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock
Gehlsheimer Straße 20
18147 Rostock
Dr. Rainer Laufkötter
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Regensburg am Bezirksklinikum
Universitätsstraße 84
93042 Regensburg
Professor Dr. Klaus-Peter Lesch
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bayerische Julius-Maximilians-Universität
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
Professor Dr. Wolfgang Retz
Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie
Universität des Saarlandes
66421 Homburg
Professor Dr. Michael Rösler
Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie
Universität des Saarlandes
66421 Homburg
Dr. Veit Roessner
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
Professor Dr. Aribert Rothenberger
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
Dr. Harald Scherk
Zentrum für Psychosoziale Medizin
Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie
Von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
Professor Dr. Dr. Martin H. Schmidt
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
68159 Mannheim
Jutta Schmitt
Psychosomatische Fachklinik Münchwies
Turmstraße 50–58
66540 Neunkirchen
Christina Schwenck
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
Professor Dr. Jürgen Staedt
Vivantes-Klinikum Berlin-Spandau
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Neue Bergstraße 6
13585 Berlin
Dr. Monika Vogelgesang
Psychosomatische Fachklinik Münchwies
Turmstraße 50–58
66540 Neunkirchen
Priv.-Doz. Dr. Susanne Walitza
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
Professor Dr. Andreas Warnke
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Füchsleinstraße 15
97080 Würzburg
Priv.-Doz. Dr. Norbert Wodarz
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum
Universitätsstraße 84
93053 Regensburg
Anne Wyschkon
Klinische Psychologie und Psychotherapie
Universität Potsdam
Komplex 2
Karl-Liebknecht-Straße 24–25
14476 Potsdam-Golm
Vorwort
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine häufige Erkrankung, mit der sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie schon seit vielen Jahren intensiv auseinandersetzt. Es existieren daher inzwischen gut ausgearbeitete und evidenzbasierte Leitlinien zur Diagnose und Behandlung betroffener Kinder und Jugendlicher. Anders als dies in der Vergangenheit und bisweilen noch immer angenommen wird, persistiert die Erkrankung in vielen Fällen auch bis in das Erwachsenenalter. Die psychopathologische Kernsymptomatik besteht in allen Lebensaltern aus Aufmerksamkeitsstörungen, erhöhter Impulsivität und Hyperaktivität. Während Impulsivität und Hyperaktivität im Verlauf eine rückläufige Tendenz erkennen lassen oder einem Symptomwandel unterliegen, bleiben die Aufmerksamkeitsstörungen bei Erwachsenen oft unverändert und sind meist mit desorganisiertem Verhalten vergesellschaftet.
Die unterschiedlichen Entwicklungen in den psychiatrischen Fachdisziplinen, die sich entweder mit den Erkrankungen des Kinder- und Jugendalters oder denen des Erwachsenenalters beschäftigen, haben dazu geführt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der ADHS bei Kindern und Jugendlichen nur teilweise von der Erwachsenenpsychiatrie wahrgenommen und für deren Patienten nutzbar gemacht wurden. Obwohl aus Längsschnittuntersuchungen die Persistenz der ADHS im Erwachsenenalter bereits seit über 20 Jahren bekannt ist, erfolgte bis in die letzten Jahre weder ein nennenswerter Austausch zwischen den Fachdisziplinen noch waren in größerem Umfang wissenschaftliche Aktivitäten im Erwachsenenbereich zu verzeichnen.
Inzwischen sind im deutschsprachigen Raum erfreuliche Entwicklungen des Austausches und der gemeinsamen Erforschung des Krankheitsbildes, seiner Ätiologie, Diagnose und Behandlung in Gang gekommen. Zum Nutzen auch erwachsener Betroffener konnten diese bereits vielerorts in Form ambulanter Hilfsangebote nutzbar gemacht werden. Auch die Erarbeitung evidenzbasierter Leitlinien für die Diagnose und Behandlung der ADHS in diesem Lebensabschnitt stellt einen großen Fortschritt dar. Gleichwohl ist noch ein erheblicher Nachholbedarf an Forschung, deren Vermittlung und Umsetzung vorhanden.
Vor diesem Hintergrund wurde vom Neurozentrum des Universitätsklinikums des Saarlandes 2003 erstmals zu einer nationalen Konferenz eingeladen, bei der unter Einbeziehung aller Berufsgruppen und der Betroffenen selbst die unterschiedlichen Aspekte der ADHS in ihrer biographischen Dimension diskutiert wurden. Die in zweijährigem Abstand stattfindende Veranstaltung will Impulse für einen anhaltenden Dialog und eine Zusammenarbeit geben. Mit Unterstützung verschiedener Fachgesellschaften der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie wurde 2005 eine zweite Veranstaltung durchgeführt, die sich intensiv mit Fragen der Differentialdiagnose und der Komorbidität der ADHS auseinandersetzte, da sich gezeigt hatte, dass sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen oftmals eine erhebliche Unsicherheit besteht, wenn es darum geht, ADHS von anderen psychischen Störungen abzugrenzen.
Tatsächlich ist der Verlauf der ADHS im Erwachsenenalter mit einer Fülle von gesundheitlichen Risiken, komorbiden Leiden und sozialen Gefährdungen belastet, die ihren Ausgang von der ADHS im Kindesalter und den Komorbiditäten in diesem Lebensabschnitt nehmen. Während bei Kindern die diagnostische Differenzierung der ADHS von anderen Entwicklungs- bzw. Sozialisierungsstörungen oft nicht einfach ist, sind es im Erwachsenenalter affektive Syndrome, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, die den Blick auf die ADHS-Symptomatik verdecken können. Es liegt auf der Hand, dass eine sorgfältige differentialdiagnostische Abklärung und die angemessene Erfassung komorbider Störungen eine entscheidende Voraussetzung für die Wahl der adäquaten Therapie darstellen.
Wegen des großen Interesses an den auf unserem 2. Saarbrücker ADHS-Kongress im September 2005 diskutierten Themen entstand die Idee, den aktuellen Wissensstand über ADHS und komorbide Erkrankungen in einer Monographie zusammenzutragen. Bei der Konzeption des vorliegenden Buches ließen wir uns inhaltlich von den Vorträgen leiten, die bei der Tagung von namhaften Fachleuten referiert wurden. Durch die Bereitschaft vieler Referenten, das Thema in einem Buchbeitrag darzustellen, ist auf diese Weise ein Buch entstanden, das alle wesentlichen Aspekte der Differentialdiagnose, der Komorbiditätsproblematik sowie der Differentialtherapie abdeckt. Es stellt insofern eine Ergänzung des Angebotes von Büchern zum Thema ADHS dar, als es sich ausschließlich mit der speziellen Komorbiditätsproblematik befasst, und dabei die üblichen Altersgrenzen psychiatrischer Tätigkeit überwindet.
Zur besseren Übersichtlichkeit wurden allgemeine Fragen zur Komorbidität im ersten Teil des Buches zusammengestellt. Weitere Kapitel widmen sich der Komorbidität der ADHS mit einzelnen Störungskomplexen, die je nach ihrer Bedeutung in den verschiedenen Lebensabschnitten von namhaften Kinder- und Jugendpsychiatern und Allgemeinpsychiatern dargestellt werden. Allen Autoren, die am Gelingen dieses Buches engagiert beteiligt waren, gilt der Dank der Herausgeber. Den wissenschaftlich interessierten Leserinnen und Lesern bietet das Buch die Gelegenheit, sich über den aktuellen Stand der Forschung zu informieren, den mehr praxisorientierten Leserinnen und Lesern gibt es Hilfestellungen für die Diagnose und Behandlung der ADHS im Spannungsfeld mit komorbiden psychischen Erkrankungen in verschiedenen Lebensaltern.
Homburg, im Sommer 2007
Christine M. Freitag und Wolfgang Retz
I Komorbidität bei ADHS:
Verlaufsuntersuchungen und neurobiologische Grundlagen
1 Neurobiologie der Komorbidität des ADHS
Christian P. Jacob und Klaus-Peter Lesch
Einleitung
1.1 Komorbidität auf Achse-I
1.2 Komorbidität mit Achse-II-Störungen
1.3 Neurobiologische Grundlagen
1.4 Endophänotypen
Diskussion
Literatur
Einleitung
Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien zeigen eine ausgeprägte Heritabilität des Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) (H² 0,7–0,8) (Faraone et al. 2005). Genomweite Kopplungsanalysen weisen auf verschiedene Suszeptilitätsloci, z. B. auf den Chromosomen 4q13.2, 16p13 und 17p11 (Faraone et al. 2005). Mehrere Suszeptibilitätsgene mit signifikanter Evidenz für Assoziationen mit ADHS werden in einer Metaanalyse von Faraone und Kollegen genannt (Faraone et al. 2005): diese Gene kodieren für den Dopamin-D4-Rezeptor (DRD4), Dopamin-D5-Rezeptor (DRD5), Dopamin-Transporter (DAT), Dopamin-β-Hydroxylase (DBH), Serotonin-1B-Rezeptor (5-HT1B), Serotonin-Transporter (5-HTT) und das synaptosomal-assoziierte Protein 25 (SNAP-25). Für die genetische Komponente werden multiple Gene mit jeweils kleiner bis moderater Wirkung auf die Symptome von ADHS entsprechend dem „Quantitative Trait Loci" (QTL)-Ansatz verantwortlich gemacht. Schließlich ist anzunehmen, dass komplexe Gen x Umwelt-Interaktionen die individuelle Vulnerabilität für ADHS beeinflussen (Caspi et al. 2003).
1.1 Komorbidität auf Achse-I
Die Angaben zur Komorbidität von ADHS mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auf Achse-I variieren erheblich. Diese wird bei Kindern und Erwachsenen in der Größenordnung von bis zu 80 % geschätzt (Marks et al. 2001). Zwei oder mehr komorbide Erkrankungen weisen ungefähr 20 % der Betroffenen auf. Die Häufigkeit komorbider Erkrankungen wird möglicherweise durch die Persistenz des ADHS im Erwachsenenalter beeinflusst. Komorbidität ist durch Zunahme von Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung, Teilleistungsstörungen und Abnahme des sozioökonomischen Status prognostisch ungünstig.
ADHS weist erhöhte Komorbidität besonders mit affektiven Störungen (mono- und bipolar), Angststörungen, Störungen des Substanzgebrauches und Störungen des Sozialverhaltens auf (Biederman 2005). Depression ist häufig überrepräsentiert in klinisch-stationären Stichproben von Kindern (24 %) und Erwachsenen (17–31 %) (Spencer et al. 2000). ADHS weist dabei frühere Erstmanifestationen auf als intrinsisch depressive Erkrankungen. Drei prospektive Studien bestätigen eine erhöhte Prävalenz von affektiven Erkrankungen im jungen Erwachsenalter jedoch nicht (Weiss und Hechtman 1993). Die Komorbidität mit bipolaren Erkrankungen (bipolar-I) wird mit 5 % angegeben (McGough et al. 2005). Die Komorbidität des ADHS mit verschiedenen Angst- und Zwangserkrankungen bei Jugendlichen ist ebenfalls erhöht (Geller et al. 2002). Die Differentialdiagnose mit der Zwangsstörung kann komplex sein, da Unaufmerksamkeit und Ablenkbarkeit sowohl die Folge von mit Zwang assoziierten Ängsten als auch des ADHS sein können. Darüber hinaus kann zwanghaftes Verhalten Ausdruck der Kompensationsstrategien des ADHS sein.
Die Komorbidität mit Substanzgebrauch wird im Erwachsenenalter mit bis zu 50 % angegeben (Sullivan und Rudnik-Levin 2001). Insbesondere besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für Nikotinkonsum (Sullivan und Rudnik-Levin 2001). Die Prävalenz von Nikotinabhängigkeit bei adultem Aufmerksamkeitsdefizits-/Hyperaktivitätssyndrom (AADHS) beträgt 40 % und ist damit gegenüber 26 % in der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöht (Sullivan und Rudnik-Levin 2001). Einige retrospektive Studien berichten, dass die Prävalenz von Alkoholmissbrauch bei ADHS 2- bis 3-mal höher ist als bei Kontrollen. Etwas unerwartet ergaben jedoch Longitudinalstudien von Hechtman et al. (Hechtman und Weiss 1986) und Mannuzza et al. (Mannuzza et al. 1998) keinen Hinweis auf erhöhten Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. Die Komorbidität des ADHS mit Alkoholabhängigkeit ist häufig assoziiert mit frühem Beginn der Suchterkrankung und weist dadurch Überschneidungen mit Alkoholismus vom Typ II nach Cloninger auf (Johann et al. 2004). Retrospektive (Biederman et al. 1993) und prospektive Studien (Mannuzza et al. 1998) zeigen, dass Drogenmissbrauch bei AADHS im Vergleich zu Kontrollen 3- bis 4-fach erhöht ist. Sullivan und Mitarbeiter diskutieren ADHS als unabhängigen Risikofaktor für Substanzgebrauch mit frühem Beginn und langer Dauer bei rascher Progression von Alkoholabhängigkeit zu Missbrauch und Abhängigkeit von anderen Drogen (Sullivan und Rudnik-Levin 2001). Gemeinsame Risikofaktoren sind männliches Geschlecht und niedriger sozioökonomischer Status (McGough et al. 2005).
Studien mit männlichen Kindern und Erwachsenen zeigen hingegen, dass ADHS ohne Störung des Sozialverhaltens keine erhöhte Komorbidität mit Substanzgebrauch aufweist (Lynskey und Hall 2001). Aufmerksamkeitsstörungen werden als eine der Ursachen für die Komorbidität des ADHS mit Substanzgebrauch diskutiert. Insbesondere der vorwiegend unaufmerksame Typ und der Mischtyp des ADHS weisen eine erhöhte Komorbidität mit Alkohol- und Cannabismissbrauch-/abhängigkeit auf (Murphy et al. 2002). Unspezifische Aufmerksamkeitsstörungen sind in einer Studie mit Heranwachsenden mit Substanzgebrauch jedoch nicht mit ADHS assoziiert (Tapert et al. 2002). Der Konsum von psychotropen Substanzen kann bei ADHS einen inadäquaten und dysfunktionalen Selbstbehandlungsversuch darstellen. Medikamentöse Behandlungen mit Stimulanzien in der Kindheit scheinen das Risiko späterer Störungen des Substanzgebrauches reduzieren (Huss und Lehmkuhl 2002; Robbins 2002).
ADHS tritt im Kindesalter gehäuft mit oppositioneller Verhaltensstörung auf (Döpfner et al. 2000). Gegenstand aktueller Diskussion ist jedoch, ob eine echte Komorbidität oder eine Expressionsdimension der Grunderkrankung vorliegt. Komorbide Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten und Störung des Sozialverhaltens sind assoziiert mit erhöhtem Risiko für Delinquenz, Substanzmissbrauch und antisozialen Persönlichkeitsstörungen (Herpertz et al. 2001). ADHS-Patienten mit persistierender Störung des Sozialverhaltens weisen eine ungünstigere Prognose auf (Biederman et al. 1991). Faktorenanalytisch ist die Differenzierung in einen Hyperaktivitäts- und einen Aggressionsanteil belegt (Döpfner et al. 2000). Follow-up Studien mit hyperaktiven Jungen deuten darauf, dass antisoziales und delinquentes Verhalten eher mit kindlicher Aggressivität als mit Hyperaktivität verbunden ist (August et al. 1983). ADHS mit und ohne Störung des Sozialverhaltens sind möglicherweise Subtypen des Syndroms mit Unterschieden in Ätiologie, Verlauf und Prognose.
1.2 Komorbidität mit Achse-II-Störungen
Untersuchungen zur Komorbidität des ADHS mit Achse-II Störungen fokussieren dissoziale Persönlichkeitsstörungen. Prospektive Studien geben die Komorbidität vom kindlichen ADHS mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen bei der Follow-up Untersuchung zwischen 12–21 % an (Fischer et al. 2002). Biederman und Kollegen erfassten diese Komorbidität des ADHS in einem klinischen Kollektiv mit Behandlungsindikation mit 12 % (Biederman et al. 1993). Dissoziale Persönlichkeitsstörungen liegen bei biologischen Vätern von Kindern mit ADHS häufiger vor als bei deren Adoptivvätern (Cadoret und Cain 1980).
Die Komorbidität des ADHS mit anderen spezifischen Persönlichkeitsstörungen ist nicht hinreichend untersucht. Eine prospektive Studie von Fischer und Mitarbeitern belegt, dass kindliches ADHS mit späteren histrionischen (12 %), dissozialen (21 %), passiv-aggressiven (18 %) und emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen (14 %) assoziiert ist (Fischer et al. 2002). In einer eigenen Untersuchung beträgt die Komorbidität des AADHS mit Persönlichkeitsstörungen 72,5 %; unter diesen weisen histrionische Persönlichkeitsstörungen mit 36,8 % die höchste Komorbidität auf (Jacob et al. 2005a).
Die Diagnosekriterien des DSM-IV basieren auf einem kategorialen, die Persönlichkeitsinventare NEO PI-R (Revised NEO Personality Inventory) und TPQ (Tridimensional Personality Questionnaire) auf einem dimensionalen Modell der Persönlichkeit, das mit dem QTL-Ansatz vereinbar ist. Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit von Costa und McCrae ist theoretische Grundlage des NEO-PI-R und NEO-FFI (NEO Fünf-Faktoren-Inventar). Probanden mit AADHS weisen im Vergleich zu Kontrollen signifikant höhere Werte für das Angst- und Depressions-bezogene Merkmal Neurotizismus und signifikant niedrigere Werte für Gewissenhaftigkeit auf (Retz et al. 2004). Der TPQ basiert auf der biosozialen Persönlichkeitstheorie von Cloninger. Nach einer Untersuchung von Downey und Mitarbeitern ist AADHS unabhängig von komorbiden Störungen signifikant assoziiert mit höheren Werten für „Novelty Seeking (Suche nach neuen Erfahrungen) und „Harm Avoidance
(Vermeidung von Schädigungen) (Downey et al. 1997).
1.3 Neurobiologische Grundlagen
Die möglichen Suszeptibilitätsgene für ADHS werden auch im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen und Störungen genannt (Faraone et al. 2005). Das Dopamin-D4-Rezeptor-Gen (DRD4) (7-Repeat-Allel) ist assoziiert mit hohen Werten für TPQ Novelty Seeking (Benjamin et al. 2000) und niedrigeren Werten für TPQ Persistence (Durchhaltevermögen) (Szekely et al. 2005). Die allelischen Variationen von DRD4 tragen in einer Studie von Sander und Kollegen nicht zur Entwicklung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit bei (Sander et al. 1997). Die Polymorphismen des Dopamin-D5-Rezeptor-Gens (DRD5) scheinen den Geschlechtsdimorphismus der Vulnerabilität für Substanzgebrauch und dissozialem Verhalten zu beeinflussen (Vanyukov et al. 2000).
Der Dopamin-Transporter (DAT) führt zu einer Beendigung der Dopaminwirkung durch Wiederaufnahme aus dem synaptischen Spalt. Verminderungen der Dopamin-Transporterdichte im Striatum werden insbesondere bei ADHS vom hyperaktiv-impulsiven und Mischtyp durch Nikotin und Methylphenidat verursacht (Krause et al. 2002). Das 9-Repeat-Allel führt in einer Stichprobe mit männlichen Heroinabhängigen eher zur Zunahme der Suszeptibilität für dissoziales, gewalttätiges und aggressives Verhalten als zu Drogenabhängigkeit (Gerra et al. 2005). In einer anderen Studie zeigt sich eine deutliche Assoziation mit Alkoholabhängigkeit (Kohnke et al. 2005a).
Dopamin-β-Hydroxylase (DBH) baut Dopamin zu Noradrenalin um. Patienten mit Alkoholabhängigkeit weisen im Vergleich zu gesunden Kontrollen beim DBH(*)444G/A Polymorphismus signifikant vermehrt das A-Allel auf (Kohnke et al. 2005b). Der -1021 C/T Polymorphismus ist assoziiert mit dem Einfluss von Lebensereignissen, nicht aber mit Alkoholismus (Freire et al. 2005).
Die allelischen Variationen des Gens für den Serotonin-1B-Rezeptor (5-HT1B) sind möglicherweise assoziiert mit Substanzgebrauch und Depression (Huang et al. 2003). 5-HT1B-defiziente Mäuse zeichnen sich durch Aggressivität und Alkoholpräferenz aus. Das Gen für den Serotonintransporter (5-HTT) weist eine Längenvariation der transkriptionalen Kontrollregion auf, die zu einer allelischen Variabilität der Transportfunktion führt. Die kurze, niedrig-aktive Variante ist assoziiert mit erhöhten Werten für das Angst- und Depressionsassoziierte Persönlichkeitsmerkmal Neurotizismus, einschließlich der Subskalen N1 Ängstlichkeit, N2 Feindseligkeit, N3 Depression und N6 Vulnerabilität und einer Abnahme des Persönlichkeitsmerkmals Verträglichkeit (Lesch et al. 1996). Dieses Allel ist zudem konsistent mit Alkoholismus, insbesondere mit dissozialer Ausprägung, assoziiert (Feinn et al. 2005; Lesch 2005). Diese gegenläufigen Effekte, die Beziehung des niedrig-aktiven Allels mit emotionaler Dysregulation und Alkoholabhängigkeit einerseits und die Assoziation der hochaktiven Variante mit Zwang und ADHS andererseits, weisen auf die Notwendigkeit hin, intermediäre Phänotypen des ADHS zu definieren, mit denen sich eine direktere Beziehung syndromaler Dimensionen des ADHS mit genetischen Risikofaktoren herstellen lässt. Diese Annahme wird auch durch die Untersuchung von Johann und Kollegen gestützt, die zeigten, dass die allelischen Variationen von 5-HTT und 5-HT2C nicht zu einer gemeinsamen genetischen Disposition von Alkoholismus und ADHS beitragen (Johann et al. 2003). Hochauflösende funktionelle Bildgebung des Gehirns zeigte signifikante Unterschiede in der neuronalen Aktivierung nach emotionalen Stimuli in Abhängigkeit vom 5-HTT-Genotyp im anterioren Cingulum, in der Amygdala und im Motorcortex (Canli et al. 2005). Diese Befunde deuten somit auf einen Einfluss der 5-HTT-Funktion mittels allelischer Variation auf die Kontrolle kognitiver, affektiver und motorischer Funktionen.
Das synaptosomal-assoziierte Protein-25 (SNAP-25) ist ein zentraler Bestandteil eines Komplexes, der den präsynaptischen Vesikeltransport steuert und somit für die Freisetzung von Neurotransmittern relevant ist. Allelische Varianten des Gens für SNAP-25 beeinflussen die Suszeptibilität für ADHS (Kustanovich et al. 2003). Postmortem-Studien bei schizophrenen Psychosen zeigen spezifische Veränderungen der Expression von SNAP-25 (Sokolov et al. 2000). Die genetischen Varianten von SNAP-25 haben auch Einfluss auf die Wirksamkeit antipsychotischer Therapie (Muller et al. 2005).
Andere Kandidatengene sind im Zusammenhang mit den Komorbiditätsbeziehungen des ADHS zu diskutieren. Eine Fallkontrollanalyse von Bobb und Mitarbeitern zeigte eine signifikante Assoziation zweier Varianten des Dopamin-D1-Rezeptor-Gens (DRD1) mit ADHS (Bobb et al. 2005). Assoziationen der funktionellen Polymorphismen von DRD1 mit Substanzgebrauch und bipolar-affektiver Psychose werden diskutiert (Daly et al. 1999; Severino et al. 2005). Comings et al. berichteten über eine Assoziation zwischen dem A1-Allel des Dopamin-D2-Rezeptor-Gens (DRD2) und ADHS mit komorbidem Tourette-Syndrom (Comings et al. 1996). DRD2 wurde auch in verschiedenen Studien mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen zu Assoziation mit Alkoholabhängigkeit untersucht. Eine höhere Dichte von DRD2-Rezeptoren im Caudatum ist mit schlechteren Ergebnissen bei kognitiven Aufgaben assoziiert, die eine Dysfunktion des corticostriatalen Regelkreises reflektieren (Hirvonen et al. 2005).
Monoaminoxidase (MAO) katalysiert den Abbau verschiedener biogener Amine. Monoaminoxidase A (MAOA) ist die im ZNS überwiegend vorkommende Isoform, die den Metabolismus von Serotonin sowie von Dopamin und Noradrenalin vermittelt. Eine seltene Nullmutation des MAOA-Gens auf dem X-Chromosom kosegregiert mit aggressiven Verhaltensstörungen mit Brandstiftung, Vergewaltigung und Suizidversuchen bei betroffenen Männern (Brunner et al. 1993). Mäuse mit entsprechender Deletion zeigen eine signifikante Zunahme aggressiven Verhaltens. Eine Fallkontrollstudie zeigt eine Assoziation einer Längenvariation in der transkriptionalen Kontrollregion des MAOA-Gens mit ADHS und komorbiden Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern (Lawson et al. 2003). Der Einfluss funktioneller MAOA-Varianten auf menschliches aggressives Verhalten wurde ebenfalls untersucht. MAOA-Genvarianten sind mit dissozialem Verhalten, Impulsivität und Feindseligkeit bei alkoholabhängigen Männern (Samochowiec et al. 1999) und Lebenszeitvorkommen von Aggression in der männlichen Allgemeinbevölkerung assoziiert (Manuck et al. 2000). Darüber hinaus ist allelische Variation der MAOA-Aktivität mit Cluster B- (antisozial, Borderline, histrionisch und narzisstisch), nicht jedoch mit Cluster C-Persönlichkeitsstörungen (ängstlich, dependent, zwanghaft) assoziiert, sodass von einem moderaten Effekt auf die Balance zwischen hyper- (impulsiv-aggressiven) und hyporeaktiven (ängstlich-depressiven) Verhaltensmerkmalen ausgegangen werden kann (Jacob et al. 2005b).
Catechol-O-Methyltransferase (COMT) katalysiert die Inaktivierung monoaminerger Neurotransmitter durch extraneuronalen Transfer der Methyl-Gruppe zur Katechol-Verbindung. Eine Valin(Val)/Methionin(Met)-Substitution im Codon 158 des COMT-Gens führt zu einer differentiellen COMT-Aktivität, die beim Val-Allel 3- bis 4-fach höher als beim Met-Allel ist. Hohe Aktivität führt unter bestimmten Bedingungen zu niedrigeren Dopaminkonzentrationen im präfrontalen Cortex und damit zu schlechteren kognitiven Leistungen (Egan et al. 2001). Eisenberg und