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Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien: Diagnose, Therapie, Prognose
Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien: Diagnose, Therapie, Prognose
Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien: Diagnose, Therapie, Prognose
eBook1.269 Seiten10 Stunden

Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien: Diagnose, Therapie, Prognose

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Über dieses E-Book

Für Bewusstseinsstörungen wie Synkope, Koma, Stupor oder Delir gibt es nicht immer eine offensichtliche Erklärung wie Schlaganfall, Trauma oder neoplastische Ursachen. Hinter Bewusstseinsstörungen können komplexere Erkrankungen stecken: die Enzephalopathien. Sie sind ein diagnostisch wie therapeutisch besonders herausforderndes Thema - vor allem für Neurologen, Psychiater und Intensivmediziner.

Enzephalopathien äußern sich in neurologischen und psychiatrischen Funktionsstörungen, deren Ursachen nicht nur im Gehirn liegen. Erkrankungen verschiedenster Organe oder Organsysteme können ursächlich sein und ähnliche klinische Krankheitsbilder erzeugen. Dies erschwert die Diagnosefindung und macht ein umfassendes Ausschlussverfahren notwendig.

Das Praxisbuch bildet das komplexe Themenspektrum Enzephalopathien ausgehend von dem häufigen und vielfältigen Symptom Bewusstseinsstörungen strukturiert ab. Der Leser erhält praktische Hilfestellung bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung und beim speziellen Management von Enzephalopathien unterschiedlicher Symptomatik - mit zahlreichen Übersichten und Tabellen.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum16. Okt. 2013
ISBN9783642369155
Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien: Diagnose, Therapie, Prognose

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    Buchvorschau

    Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien - Hans-Christian Hansen

    Teil 1

    Bewusstseinsstörungen

    Hans-Christian Hansen (Hrsg.)Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien2013Diagnose, Therapie, Prognose10.1007/978-3-642-36915-5_1

    © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    1. Definitionen und Symptome

    H.-C. Hansen¹  und H. Förstl²

    (1)

    Klinik für Neurologie und Psychiatrie, Friedrich-Ebert-Krankenhaus GmbH Neumünster, Friesenstr. 11, 24534 Neumünster, Deutschland

    (2)

    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, Klinikum rechts der Isar, Ismaninger Str. 22, 81675 München, Deutschland

    1.1 Einleitung: Das Bewusstsein

    1.2 Quantitative Bewusstseinsstörungen

    1.3 Qualitative Bewusstseinsstörungen

    Literatur

    Zusammenfassung

    Die Frage der Entstehung von Bewusstsein, die die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigt, aktualisiert sich im medizinischen Alltag bei fraglichen Zuständen des Bewusstseinsverlusts oder einer prolongierten Bewusstseinsstörung. Dabei geht es um nichts Geringeres als die Grenze der spezifischen und individuellen menschlichen Existenz bei weitgehend intakt erhaltenen körperlichen Funktionen. In diesem Kapitel werden die Trennung in quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen sowie die klassischen Syndrome von Somnolenz, Sopor, Koma einerseits und anderseits die verschiedenen mit veränderter oder verringerter Reaktionsbereitschaft einhergehenden Zustände mit mehr oder weniger starker Bewusstseinstrübung wie etwa Delir oder apallisches Syndrom (vegetative state) definiert. Wichtige Differenzialdiagnosen wie das Locked-in-Syndrom und der akinetische Mutismus, aber auch der Zustand des Hirntods werden erläutert und die Syndrome in ihren typischen Manifestationsformen und ihrer Abfolge dargestellt.

    1.1 Einleitung: Das Bewusstsein

    H.C. Hansen³ 

    (3)

    Klinik für Neurologie und Psychiatrie, Friedrich-Ebert-Krankenhaus GmbH Neumünster, Friesenstr. 11, 24534 Neumünster, Deutschland

    Die Frage nach Herkunft, Sitz und Funktionsweise des Bewusstseins beschäftigt die Menschen seit Jahrhunderten und gilt als so genanntes „Leib-Seele-Problem noch als ungelöst. Der „Dualismus, der die Trennung von Geist und Materie betont (Descartes, Leibniz), findet seine Grenzen in der Frage der Interaktionsweise beider Bereiche. Dem auf neuro-physiologische Erkenntnisse verweisenden „monistischen Materialismus fällt es wiederum nicht leicht, zu erklären, wie materielle neurale Substrate die nicht-materielle, „seelische Existenz hervorbringen. Im Weiteren entstand die Sichtweise eines „nicht-reduktiven Materialismus zur Erklärung des menschlichen Bewusstseins: Danach sind mentale Zustände die Folge materieller Hirnveränderungen, ohne dass sie sich auf einzelne Hirnfunktionen zurückführen lassen. Mit dem Wechsel zur Makroebene neuronaler Netze soll ein Informationszuwachs entstehen, der sich aus der Summe der Mikrozustände nicht zwanglos ableiten lasse. Kritiker sehen hierin nach wie vor einen dualistischen Ansatz – und so wird bis zum heutigen Tage nach den Vehikeln des Bewusstseins gesucht (Eccles, sog. „Quanten). So bleibt die Frage offen: Wer dirigiert das Orchester?

    Menschen nehmen nicht nur einfach passiv wahr, sie repräsentieren aktiv eine äußere Welt in ihrem Gehirn und bilden sie in Wahrnehmungsprozessen individuell ganz unterschiedlich ab. Wie wir gleichzeitig eine Welt erleben und uns dessen gewahr werden (engl. phenomenal awareness), hat mit individuellen Erfahrungen und Erwartungen zu tun, ist aber im Detail unbekannt. Im materialistischen Verständnis (Searle, Roth, Bateson, Singer) entspringt das Bewusstsein dem subjektiven Erleben des wachen Menschen, der mit gedanklichen Interaktionen äußere und innere Erlebnisräume begleitet („Emergenz "). Vergegenwärtigt man sich die Subjektivität innerer Prozesse und Zustände von Empfindung und Erkenntnis (Searle 2000), wird das Problem der Erfassung von Bewusstsein und seinen unterschiedlichen Zuständen überdeutlich und unermesslich. Stets basieren Einschätzungen der Bewusstseinslage und der Denkinhalte eines Menschen (z. B. Patienten) auf einem äußeren Eindruck über dessen Wachheit bzw. Mutmaßungen über die psychischen Abläufe eines anderen Menschen (z. B. Arztes). Es sind allenfalls die exekutiven Leistungen kognitiver, emotionaler, sprachlicher und damit letztlich motorischer Art, die dem außen stehenden Beobachter suggerieren oder anzeigen können, dass sich bewusstes Erleben vollzieht. Hierzu können zählen: Wahrnehmung und Reaktion, exploratives Verhalten und Interesse, Gedächtnis und Antizipation sowie alles andere, was eine irgendwie geartete Aufmerksamkeit für die Umwelt anzeigt. Dies wird in den folgenden Krankheitsbildern hinsichtlich der objektivierbaren Außen- und der interpretierten Innenansicht besprochen.

    Bewusstseinsdefinition für praktisch-medizinische Zwecke

    Im medizinischen Kontext wird unter „Bewusstsein schlicht das Wissen und die Wahrnehmung um die eigene Person („das Ich) und die umgebende Welt verstanden. Erforderlich ist hierzu eine anhaltende Wachheit bzw. die Weckbarkeit aus dem Schlaf.

    Man unterscheidet ein quantitatives von einem qualitativen Bewusstsein . Damit werden die Funktionen der Wachheit/Weckbarkeit von der gedanklichen Helligkeit und den gedanklichen Inhalten getrennt betrachtet.

    Die aktuelle internationale Diagnosenklassifikation ICD-10-GM (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision) listet die Bewusstseinsstörungen im Unterkapitel R40 des Kapitel XVIII (Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind). Im klinischen Alltag ist oft die Herstellung des Zusammenhangs zur Ätiologie informativer (z. B. traumatisches Koma mit Hirnödem: S06.1, hypoglykämisches Koma E10.06). Die ältere Fassung (ICD-9-CM) verwendete hierzu den Schlüssel (ICD-9: 780.0x). Hierunter wird nach wie vor nur das Koma von den übrigen oft nicht näher bezeichneten Zuständen abgegrenzt. Andere zumindest aufgeführten Zustände wie das „apallische Syndrom" (G93.80) und LIS wurden bislang nicht definiert (Gosseries et al. 2011).

    Quantitatives Bewusstsein

    Das quantitative Bewusstsein entspricht der Wachheit oder Vigilanz (engl. wakefulness). Als Grundvoraussetzung für bewusste Prozesse gibt sie sich im Wachzustand durch gerichtete Aufmerksamkeitsreaktionen und im Schlaf als Weckbarkeit zu erkennen. Erste Reaktion ist meist eine Lidöffnung, und weitere Anzeichen sind Blickkontakt, verbale Reaktion und gerichtete motorische Handlung.

    Fehlen bei einem Menschen mit geöffneten Augen aber jegliche Anzeichen einer Wahrnehmung, einer Aufmerksamkeit oder andere gezielte Reaktionen, ist er nur „scheinbar wach. Dieser Zustand ähnelt entfernt dem „vegetative state (▶ Abschn. 1.2.3).

    Qualitatives Bewusstsein

    Das qualitative Bewusstsein betrifft die Ordnung und Klarheit der gedanklichen Abläufe, also die Fähigkeit zu einem gerichteten Denken. Es erfordert neben einer ausreichenden Wachheit die Fähigkeit zum Lösen von bzw. dem Festhalten an gedanklichen Einzelschritten. Weitere Aspekte des qualitativen Bewusstseins als gedachter Summe aller Denkabläufe sind „Luzidität und „Besonnenheit (engl. awareness). Eine Störung dieses Bereichs erscheint weniger als Bewusstseinsminderung, sondern eher als Bewusstseinsveränderung (z. B. eine Bewusstseinstrübung).

    Quantitatives und qualitatives Bewusstsein können dissoziieren, d. h. unabhängig voneinander ausfallen. Sie können aber auch im Wechsel miteinander oder gemeinsam kombiniert beeinträchtigt sein und in den Schweregraden variieren, woraus sich das Spektrum der klinisch relevanten Störungsbilder ergibt (Abb. 1.1; Tab. 1.1).

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    Abb. 1.1

    Gesamtübersicht verschiedener Störungen des Bewusstseins. Schematisch dargestellt sind jeweils der Anteil der qualitativen und der quantitativen Störung für die jeweilige Störung. Für den qualitativen Bereich ist die mögliche Schwankungsbreite durch Pfeile markiert. Die unteren Areale markieren den Unsicherheitsbereich, der bei einer einmaligen Beurteilung nicht ganz ausgeschlossen werden kann (Reste von Wachbewusstsein im Koma und im vegetative state ), (Mod. nach Laureys et al. 2004)

    Tab. 1.1

    Übersicht der klinischen Befunde bei Bewusstseinsstörungen und ihrer Differenzialdiagnosen

    * Prognostische Aussagen sind im Einzelfall anhand der speziellen zerebralen Läsionsverteilung, des Alters und der Kenntnis des Verlaufstrends genauer eingrenzbar

    1.2 Quantitative Bewusstseinsstörungen

    H. -C. Hansen⁴ 

    (4)

    Klinik für Neurologie und Psychiatrie, Friedrich-Ebert-Krankenhaus GmbH Neumünster, Friesenstr. 11, 24534 Neumünster, Deutschland

    1.2.1 Aufrechterhaltung und Störungen

    Bewusstsein lässt sich als globale Hirnleistung auf kein einzelnes Hirnareal begrenzen. Offenbar sind die Interaktionen vieler Hirnregionen erforderlich, mindestens die der Hirnrinde und des Hirnstamms. Als wesentliche funktionelle Grundlage für die Wachheit gilt die Intaktheit der Formatio reticularis, des Hirnstamms mit ihren vielfältigen Projektionen in die Hirnrinde. Hierfür wurde der Begriff „aufsteigendes retikuläres aktivierendes System (ARAS )" geprägt (Abb. 1.2). Die Erregung des ARAS und die anderer subkortikaler Kerne sowie der Großhirnrinde hält nach den klassischen Experimenten von Moruzzi und Magoun (1949) „wach. Zum ARAS gehört das Netzwerk grauer Substanz in den nahe der Mittellinie gelegenen medialen Kernzonen der Formatio reticularis (FR). Dieser Bereich des zentralen (periaquäduktalen) und dorsalen (tegmentalen) Hirnstamms setzt sich nach kaudal über die Medulla oblongata in das zentrale Rückenmarksgrau, nach rostral in die intralaminären, retikulären und paramedianen Thalamuskerne sowie in den Hypothalamus fort. In Brücke und Mittelhirn ist sie auf die dortige Haubenregion konzentriert. Diese überwiegend cholinergen Hirnstammneurone erhalten Afferenzen (gewissermaßen „Weckreize) aus den Kollateralen der sensorischen Afferenzen (nozizeptiv, vestibulär).

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    Abb. 1.2

    Elemente des ARAS und ihre Verbindungen. (Mod. nach Zschocke u. Hansen 2011)

    Für bewusstes Erleben ist die Funktionsbereitschaft von großen Teilen des Hirnstamms, des Dienzephalons (Thalamus und Hypothalamus) und des Neokortex eine Grundvoraussetzung. Besonders kritisch ist für die Aufrechterhaltung des Bewusstseins nach klinischer Erfahrung der mesodienzephale Übergangsbereich. Schon kleinere Läsionen in diesem Bereich (Thalamus und/oder Mesenzephalon) wie auch dort gelegene Funktionsstörungen können gleichermaßen ausgeprägte Bewusstseinsstörungen induzieren, wie dies von ausgedehnten beidseitigen Schädigungen der Hirnrinde bekannt ist (Abschn. 2.​1).

    Die medianen, überwiegend serotonergen Raphekerne der FR projizieren wie die noradrenergen Zellen des Locus coeruleus vor allem in den Hypothalamus, den hippocampalen und frontalen Kortex. Sie sind z. T. entscheidend an der Schlaf-Wach-Regulation beteiligt. Aus den intralaminären und paramedianen Thalamuskernen ziehen weit verteilte („unspezifische) erregende Projektionen in die Hirnrindengebiete und das Striatum, während die retikulären Thalamuskerne vorwiegend auf die spezifischen „Relaiskerne des Thalamus rekurrieren und dort inhibitorische Rückkopplungsfunktionen wahrnehmen (Abb. 1.3). Eine Stimulation der FR bewirkt eine Inhibition retikulärer Thalamuskerne, so dass deren eigener inhibitorischer Effekt auf die Weiterleitung sensorischer Informationen durch die laterale Kerngruppe entfällt, mithin die Hirnrinde vermehrt afferente Signale empfangen kann. Das Ergebnis der Aktivierung der FR ist eine Verstärkung der spezifischen Afferenz bei allgemeiner Aktivierung kortikaler Strukturen. Prozesse wie die gerichtete Aufmerksamkeit und Reizselektion werden dann wieder mit kortikofugalen Interaktionen zum Thalamus realisiert, so dass man das ARAS nicht vereinfachend als „Bewusstseinszentrum", sondern als wesentliches Stellglied in der Bewusstseinskontrolle auffassen kann.

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    Abb. 1.3

    Schematische Darstellung der rechten thalamischen Kerngruppen (paramedian, lateral, intralaminär und retikulär). Die inhibitorischen Effekte der retikulären Thalamuskerne (blaue Pfeile) bremsen die Weiterleitung von spezifischen Afferenzen über die laterale Kerngruppe zum Kortex. Durch diese Steuerung der retikulären Thalamuskerne gelingt es der FR, das Aktivitätsniveau des Kortex zu modulieren. (Aus Zschocke u. Hansen 2011)

    Die Stimulation des ARAS induziert eine Weckreaktion (arousal), sein Ausfall führt zum Koma .

    Unter quantitativen Bewusstseinsstörungen versteht man die pathologische Abnahme der Bewusstseinshelligkeit. Quantitative Bewusstseinsminderung bedeutet auch eine Minderung oder den Ausfall der Weckbarkeit . Der Patient fällt, soweit überhaupt erweckbar, nach einem wirksamen Weckreiz umgehend wieder in die Bewusstseinsminderung zurück. Die Unterscheidung der fließenden Schweregrade Somnolenz , Stupor und Koma und zu ihren Folgesyndromen (z. B. vegetative state und minimally conscious state ) erfolgt durch die neurologische Untersuchung. Prinzipiell soll sie klären, ob sich der Patient gezielt oder ungezielt auf äußere Reize einstellt, ob er dem Reiz gezielt ausweichen, ihn abwehren oder sogar antizipieren kann. Entscheidend ist die auf ein Ziel gerichtete Reaktion. Klinisch relevant ist dann neben dem aktuellen Schweregrad noch der Trend der Bewusstseinsstörung, insbesondere in der zeitlichen Dynamik. Die Beobachtungen des spontanen Verhaltens und der akustischen, taktilen oder optischen Weckreize sind in Kap. 4 bzw. Kap. 10 beschrieben.

    Cave

    Jeder akute Ausfall von Vigilanz und Weckbarkeit stellt einen Notfall dar: Betroffene Patienten können sich nicht adäquat schützen vor Sturz, Aspiration und kardiorespiratorischen Komplikationen.

    Für Patienten in einem reaktionslosen Wachzustand (z. B. akinetisches oder apallisches Syndrom ) sind sehr spezifische Untersuchungen erforderlich, um zu klären, inwieweit Reizvermeidungs- oder Reizzuwendungsverhalten auftritt. Dies wäre der Ausdruck einer Kontaktaufnahme mit der Außenwelt. Verglichen damit stehen neuro-physiologische oder neuro-radiologische Befunde klinischen Alltag im Hintergrund. Gewisse ZNS-Aktivierungen auf äußere Reize lassen sich mittels EEG und evozierten Potenzialen abbilden (bioelektrische Reagibilität, Abschn. 11.​5). Befunde der funktionellen MRT können ebenfalls auf eine zerebrale Aktivierungsmöglichkeit hinweisen, erlauben im Einzelfall aber keinen Rückschluss auf das persönlich Erlebte.

    Die ausgeprägteste und tiefste Bewusstseinsstörung stellt das Koma dar, das oberflächlich einer Narkose ähnelt (engl. unarousable). Sind die dem Koma zugrunde liegenden Ursachen reversibel, erwacht der Patient mit dem prämorbiden kognitiven und emotionalen Leistungsniveau („Koma-Remission"). Im Falle der Irreversibilität des Komas und dem Verlust aller Hirnfunktionen werden die Kriterien für den Hirntod geprüft. Ansonsten führt die weitere Erholung aus dem Koma stets in eine andere Bewusstseinsstörung (Abb. 1.4), zunächst in das so genannte Wachkoma oder „vegetative state (VS). Dessen typische Reaktionslosigkeit kann über längere Zeiträume oder auf Dauer persistieren. Treten dann doch zunächst fragmentarisch wieder Anzeichen eines Bewusstseins von sich selbst oder der Umgebung auf, spricht man vom minimal reaktiven Zustand oder „minimally conscious state (MCS ). Auch in günstigen Verläufen mit kompletter oder nahezu kompletter Erholung werden transient ein „vegetative state und die anderen Bewusstseinsstörungen (Abb. 1.2) mehr oder weniger kurz durchlaufen. Hierfür wird gelegentlich pauschal der unglückliche Begriff des „Durchgangssyndroms verwendet, der für Patienten mit einer guten Prognose reserviert sein sollte.

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    Abb. 1.4

    Entwicklungsverläufe von Bewusstseinsstörungen und ihrer Differenzialdiagnosen. Der Einstieg zu Erkrankungsbeginn findet über das Koma , das Delir , das Locked-In-Syndrom und den Akinetischen Mutismus statt (Pfeile). Zustände wie das VS, MCS oder der Hirntod werden nur sekundär erreicht, stets ist hierzu der komatöse Zustand zu durchlaufen. Eine Koma-Remission ohne diese Zwischenstadien (hier nicht gezeigt) ist nur bei reversibler und rasch beseitigter Ursache zu erwarten

    Dass ein Durchgangssyndrom vorliegt bzw. vorgelegen hat, lässt sich leider erst ex post in Kenntnis des weiteren Verlaufs festlegen. Denn klinisch vollzieht sich jede Erholung aus dem Wachkoma über ein MCS und einen Verwirrtheitszustand mit dem Kernsymptom „Aufmerksamkeitsdefizit. So ein Zustand ähnelt dem deliranten Psychosyndrom und kann zur weiteren Restitution führen oder aber zu verbleibenden Leistungsstörungen auf kognitiver oder affektiver Ebene (organisches Psychosyndrom). Dementsprechend sagt der Begriff „Durchgangssyndrom in der Akut-Beurteilung des Kranken sehr wenig aus. Er sollte daher allenfalls in gutachtlichen Beurteilungen, also nachträglich, Verwendung finden.

    1.2.2 Somnolenz , Stupor (bzw. Sopor ), Koma

    Bei quantitativen Bewusstseinsstörungen erscheint die Symptomatik einem Außenstehenden als pathologischer Schlaf: Der Mensch ist nicht so erweckbar wie ein normal Schlafender. Zur Schweregradbestimmung entscheidend ist die Fähigkeit zur gezielten Reaktion auf verschieden starke Weckreize.

    Komatöse Menschen zeigen keine Wachheitszeichen und sind unweckbar. Stuporöse sind kaum, Soporöse schwer und Somnolente leichter erweckbar.

    Ein Koma liegt nicht vor, sobald spontan oder auf Weckreiz die Augen geöffnet werden und/oder irgendeine gezielte Reaktion (Augen/Extremitäten/Sprache) auszulösen ist.

    Koma

    Als Koma (ICD-9: 780.01, ICD-10: R.40.2) wird der unerweckbare Zustand bezeichnet, in dem keine willkürlichen und gezielten Reaktionen möglich sind. Dies gilt auf allen Ebenen, also für verbale Leistungen, Augenbewegungen und Extremitäten- und Gesichtsreaktionen. Mit Koma durchaus vereinbar sind ungezielte Bewegungsmuster.

    Untersuchungsbefunde im Koma

    Zur Prüfung der Motorik applizierte Reize werden mit keiner gezielten Bewegung beantwortet (Zugreifen, Hinblicken, Wegtreten). An den Extremitäten können ungezielte Abwehrbewegungen, Beuge- und Strecksynergismen oder ein kompletter Bewegungsverlust vorliegen. Im Koma sind unwillkürliche Augenbewegungen möglich, aber keine aktive Lidöffnung. Hebt man die Lider an, sind ungezielte ruckartige Augenbewegungen (Nystagmen, sakkadische Muster) oder träge Bewegungen (sog. schwimmende Bulbi) im Koma möglich (Kap. 4). Die Auslösung von Lauten (z. B. Stöhnen) spricht nicht gegen ein Koma, wohl aber eine verständliche verbale Antwort. Hinsichtlich psychischer Prozesse ist die Wachheit im Koma so hochgradig reduziert, dass eine inhaltliche Informationsverarbeitung nach heutigem Kenntnisstand nicht ablaufen kann. Der Zustand ähnelt äußerlich stark dem der Narkose durch eine Anästhesie.

    Da sich Zweifel an der Lückenlosigkeit einer Bewusstseinsminderung bei Narkosen ergaben (sog. „Awareness"-Phänomene), werden auch immer wieder Zweifel an der Erinnerungslosigkeit von Komazuständen geäußert. Derlei schwierig zu evaluierende psychische Erlebnisse aus komatösen oder auch postkomatösen Phasen sind ein ernst zu nehmendes Problem im Hinblick auf eine nachhaltige psychische Traumatisierung. Überschneidungen ergeben sich zum Posttraumatischen Belastungssyndrom nach längerer Analgosedierung und Delir in der Intensivtherapie (▶ Abschn. 1.3.2).

    Somnolenz und Sopor (▶ ICD-9: 780.09)

    In diesen Zuständen besteht eine teilweise Erweckbarkeit, ausweislich einer gezielten Reaktionsweise auf äußere Reize. Typisch ist für beide Schweregrade der rasche Rückfall in den pathologischen „Schlaf" (besser: schlafartige Bewusstseinsstörung).

    Bei Somnolenz (ICD-10: R.40.0, engl. somnolence, obtundation) besteht zumindest eine kurzzeitige und verlangsamte Weckreaktion auf lauten Anruf. Der Patient fällt nach einer kurzen und gezielten Orientierungsreaktion (verbal/okulär/tastend) rasch wieder in den pathologischen Schlafzustand zurück.

    Ist der Patient im Sopor (ICD-10: R.40.1, engl. stupor), reicht der Anruf als Weckreiz nicht, und es werden stärkere Weckreize erforderlich. Im Gegensatz zum Koma lässt sich der Patient noch durch einen stärkeren Reiz erwecken (z. B. Schmerz), was an einer gezielten Reaktion darauf erkennbar wird. Er fällt aber rasch in den pathologischen Schlafzustand zurück.

    Abgrenzung zum „Psychogenen Pseudokoma "

    In der psychoreaktiv begründbaren Bewusstseinsstörung erscheint der Patient zwar wie komatös oder soporös, befindet sich aber lediglich in einer schweren Gehemmtheit aller extern gerichteten psychischen Abläufe. Im Englischen oft als „stupor" bezeichnet, sind im Deutschen hierfür die psychiatrischen Begriffe der Konversions- und der Dissoziationsstörung gebräuchlich. Solche psychogenen Zustände treten oft nach (subjektiven) Extrembelastungen auf. Gehäuft bestehen psychiatrische Ko-Morbiditäten.

    In der klinischen Untersuchungssituation stellt sich ein solcher Patient subtil auf externe Reize ein, erkennbar an gerichteten Reaktionen wie Tonusverschiebungen auf Körperlageänderung oder anderen schutzreflektorischen Bewegungen (Zukneifen der Augen, Armfalltest). Solche diskreten, eindeutig über die Reflexmotorik hinausgehenden, zweckdienlichen motorischen Handlungen gestatten den Rückschluss auf eine verfügbare Willkürmotorik und schließen ein Koma aus (Abschn. 4.​2.​1).

    Abgrenzung zum „vegetative state " (Wachkoma)

    Beim „vegetative state fehlen wie beim Koma gezielte motorische Handlungen, aber es kommt in den „Wachphasen zur Augenöffnung. Gemäß vieler Koma-Definitionen, die die fehlende Augenöffnung fordern, wäre dann ein Patient nicht mehr komatös. Zweckmäßiger erscheint für Koma und Wachkoma das gemeinsame Abnormitätskriterium „Keine gezielten Blickbewegungen". zu bedenken sind anderweitige blickmotorische Ausfälle, die die Diagnose fehlleiten können (z. B. Locked-In-Syndrom , Hirnnervenparesen).

    Glasgow Coma Scale (GCS)

    Eingeführt zur strukturierten Erstbeurteilung von Trauma-Patienten, diente die Skala ursprünglich zur schnellen Klärung der Schwere des SHT und zur Lösung der Frage, ob am Unfallort ein Koma vorliegt oder nicht (Teasdale u. Jennett 1974). Obwohl die GCS über weite Strecken der Skala gar nicht den Komazustand weiter differenziert, hat er sich nunmehr knapp 40 Jahre später weltweit in der Akutmedizin etabliert und ist alltäglich auch in der Intensivmedizin im Gebrauch.

    Gewertet werden für die GCS folgende drei Befunde:

    die beste motorische Antwort der Extremitäten auf Schmerzreizung,

    die Augenöffnung und

    die verbale Kommunikation.

    Hieraus wird ein Summenscore gebildet (Tab. 1.2), der relativ eng mit der Prognose des Patienten korreliert. 15 Punkte signalisieren als Maximalwert eine Bewusstseinsklarheit, 10–14 Punkte leichtere Bewusstseinsstörungen, und die Werte 3–5 bilden ein „tiefes Koma " ab. Über den Grenzwert, der Komazustände niedrigerer Stufen abbildet, besteht keine Einigkeit; verschiedene Autoren nennen Werte von 7 bis 9. Diese Unschärfe ist durch die Vielzahl der möglichen Einzelkombinationen und auch durch Störeinflüsse verständlich. Letztlich behilft man sich anstelle des GCS-Summenwerts mit der anschaulicheren Angabe der Einzelwerte, und zwar in der Reihenfolge: Augen-, Verbal-, Motor-Score. (z. B. 1-2-1), wobei für intubierte Patienten das T in der Mitte die fehlende Untersuchbarkeit der Achse V herausstellt (z. B. 1-T-1). Für die Praxis ist also mit dem GCS in Verlaufsuntersuchungen einigermaßen der Trend abzubilden, bei weitem aber nicht die Komplexität des Komas. Andere Skalen, wie Innsbruck Score, Edinburgh Score, WFNS, Four Score (Wijdicks 2005), haben einen engeren Bezug zur Prognose als GCS, sind allerdings in der Datenerhebung aufwändiger (Abschn. 13.​3).

    Tab. 1.2

    Das Punktesystem der Glasgow Coma Scale

    Mit dem GCS kann die Indikation zur Schutzintubation zur Abwendung einer Aspiration festgelegt werden (keine ausreichende Reaktion bei Bewusstseinsstörung) – sie liegt bei 9 Punkten.

    Die Komatiefe ist detaillierter zu beurteilen durch den Einbezug folgender Hirnstammfunktionen (Kap. 4):

    Pupillenweite und -reaktion,

    Cornealreflexe,

    vestibulo-okuläre Reflexe,

    Atmung/Schluck- und Hustenreflexe,

    pathologische Augenstellung,

    pathologische Augenbewegungen (Nystagmen/Sakkadenstörungen).

    1.2.3 „Vegetative state (VS) und „minimally conscious state (MCS )

    In diesen Zuständen scheint zwar eine gewisse Wachheit (Vigilanz , arousal) vorhanden zu sein, aber kein Bewusstsein von der Umwelt und sich selbst. Die Aktivierung geistiger Abläufe scheint auf das Geringste begrenzt (engl. minimally conscious) oder ganz ausgefallen (vegetative state ) zu sein. Wesentliches Merkmal ist, dass gezielte oder gerichtete motorische Handlungen nur spärlich (MCS ) oder gar nicht (VS) zu beobachten sind und die Reflexmotorik weit überwiegt.

    Klinische Einschätzungen dieses Zustandes erfordern spezielles Wissen, viel Erfahrung und einige Zeit. Sie sind von erheblicher prognostischer Relevanz: Haben Patienten nämlich bereits das MCS erreicht, besteht unabhängig von der Grunderkrankung eine bessere Aussicht auf funktionelle Erholung im Vergleich zu Patienten im VS. Bessere Chancen liegen zudem vor, wenn es sich um eine traumatische Ursache (SHT) der Bewusstseinsstörung handelt und nicht um andere, nicht-traumatische Ätiologien (Hypoxie, Schlaganfall).

    Abb. 1.5 zeigt den Zeitverlauf der prozentualen Remissionsraten über zwölf Monate, ermittelt an 200 Patienten mit traumatischen (oben) und nicht-traumatischen Ursachen (unten).

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    Abb. 1.5

    Prozentuale Remissionsraten von Bewusstseinsstörungen im Zeitverlauf über elf Monate. Die Daten (Bruno et al. 2012) wurden ab dem ersten Monat nach Erkrankungsbeginn prospektiv erhoben und stammen von insgesamt 200 Patienten mit traumatischen (oben) und nicht-traumatischen (unten) Koma-Ursachen. Die linken Grafiken beziehen sich auf Patienten, die sich nach 30 Tagen noch im apallischen Syndrom (vegetative state, VS) befanden, die rechten solche Fälle, die bereits in den minimally conscious state (MCS) gelangt waren. Deutliche Unterschiede ergeben sich für die Mortalität (dunkelgraue Felder, größer beim nicht-traumatischen Koma und bei VS nach 1 Monat) und für die Remissionsrate aus dem MCS (hellgraue Felder, vermehrt in Patientengruppen mit traumatischen Koma-Ursachen und mit früherem Erreichen des MCS)

    Untersuchung

    Wiederholte Untersuchungen neurologisch-psychiatrischer Funktionen, insbesondere hinsichtlich Spontanmotorik und Reaktion auf externe Reize, klären, ob der Patient eine Intention zur zeigt, ob er sich intentionell zu- oder abwendet, ob es zur Reizabwehr kommt. Unter Verwendung persönlich besonders bedeutsamer Reize wie Stimmen, Düfte, Geschmacksstäbchen, betastbare Objekte wird systematisch geprüft, ob ein exploratives Verhalten ausgelöst werden kann (z. B. Betasten, optische Orientierung, Abwehr). Hierzu unterstützen Skalen zur Erfassung der Koma -Remission, (Kap. 13.​4). Die starke Fluktuation der Responsivität scheint für die hohen Raten von Fehleinschätzungen mitverantwortlich zu sein (15–43%). Die durch Hirnschädigungen erlittenen Teileinbußen (z. B. Sprach- und Sehstörungen), die Medikationseffekte oder auch nur die allgemeine Verlangsamung aller Abläufe tragen allesamt dazu bei, dass Besserungen oft schwer zu erkennen sind.

    Seit einigen Jahren wird intensiv diskutiert, ob maßgeblich nur ein exekutives Defizit diese Symptomatik prägt und die Patienten sehr wohl psychische Funktionen aufweisen, die sie aber nicht ausdrücken können (Laureys u. Boly 2007). Gezeigt wurde, dass einzelne Hirnareale auf Aufforderung ähnlich wie bei gesunden Kontrollpersonen aktivierbar sind, ohne dass Korrelate bewusster Handlung klinisch erkennbar wurden (Owen et al. 2006). Ob die hierzu notwendigen Methoden (fMRT, PET, EEG), die derzeit in wenigen speziellen Zentren zu Forschungszwecken eingesetzt werden, im klinischen Alltag wichtige Beiträge leisten können, bleibt abzuwarten.

    Zugrunde liegende Läsionen des VS und MCS

    1.

    Ausgedehnte kortikale Veränderungen, multifokal oder diffus, laminare Nekrose einzelner Hirnrindenschichten (Teilnekrosen, radiologisch schwer darstellbar)

    2.

    Diffuse Marklagerveränderungen (Leukenzephalopathie), Schwerpunkt axonal (z. B. traumatisch) oder Markscheide, bilaterale Thalamusnekrosen, z. B. vaskulär

    Die Läsionstypen 2 und 3 sind bei MCS -Patienten seltener als bei VS. Im Gesamtspektrum ergeben sich aber keine grundsätzlichen Unterschiede.

    „Vegetative state (VS)" (▶ ICD-10-GM: G93.80, ICD-9: 780.03)

    Klinischer Befund und Zustandsbild

    Im Vordergrund steht die schwere Einschränkung der Kommunikationsfähigkeit und der Willkürmotorik, einschließlich eines weitgehenden Sprachverlustes. Dagegen ist die Reflexmotorik erhalten und oft sogar enthemmt, so dass beispielsweise Husten, Gähnen und Schlucken gelingen können. Unwillkürliche der Extremitäten wie Beuge- und Strecksynergismen zeigen die Schwere des Zustandes an. Weitere Leitsymptome sind: phasenweise Öffnung der Augenlider ohne gezielte Blickwendungen, irreguläre Schlaf-Wach-Zyklen mit gestörter Schlafarchitektur (Landsness et al. 2011), Blasen-/Mastdarm-Inkontinenz. Erstmals wurde dieser Zustand 1940 von Kretschmer unter der Vorstellung einer Abkopplung der Hirnrinde als „apallisches Syndrom " beschrieben. Eine einheitliche topische Zuordnung zu ZNS-Strukturen ist nach heutiger Kenntnis nicht möglich. Wahrscheinlich ist die funktionelle Diskonnektion zwischen Hirnstamm und Hirnrinde, meist in Höhe der Stammganglienregion, entscheidend.

    Die Untersuchung visueller und blickmotorischer Funktionen ergibt, dass der Patient auch bei geöffneten Augen (in den sog. Wachphasen) nicht reproduzierbar den Blick zuwendet, nicht fixiert und nicht adäquat auf optische Reize (Bedrohung, Zielverfolgung) reagiert. Einzelne Autoren allerdings lassen die mitunter schwer auszuschließende Fixation (subjektiver Eindruck!) als atypische Manifestation ebenso zu wie unangemessene einzelne Wörter oder Wortfetzen (Schnakers u. Majerus 2012).

    Als Kernsymptomatik des VS gilt das Fehlen jeglicher Anzeichen von absichtsvoller Handlung, elektiver Reizreaktion, Aufmerksamkeitslenkung, erlernter Reizantwort, Selbstwahrnehmung, Sprachverständnis oder -ausdruck. Gleichwohl können Einzellaute und einzelne Wörter produziert werden, jedoch nicht auf Aufforderung.

    Speziell an den Augen ist festzustellen: kein Fixieren, kein Zuwenden, kein Verfolgen von Blickzielen, kein optokinetischer Nystagmus, keine Lidschlussreaktion bei „optischer Bedrohung".

    Reflektorische Bewegungsmuster sind variabel erhalten oder enthemmt, z. B. an den Augen (vestibulo-okuläre Reflexe), im Gesicht (Glabella-Reflex) oder im oralen Bereich (Schlucken, Lippen lecken, Kauen, Gähnen). Sie zeigen ebenso wie enthemmte spinale Reflexe die weitreichenden supraspinalen Läsionen an (Fluchtschablonen, Greifreflexe). Komplexe Schreckreaktionen oder ein stereotypes Grimassieren, Lächeln oder Weinen können vorhanden sein, in Abhängigkeit von der Intaktheit einzelner subkortikaler Regelkreise im Hirnstamm und im limbischen System. Der englische Begriff des „vegetative state verweist darauf, dass vegetative Funktionen wie Atmung, Herzschlag, Verdauung, Miktion und Schlafrhythmus funktionieren. Im nicht-medizinisch geprägten Sprachgebrauch und der Laienpresse verwendet man oft den in sich widersprüchlichen Begriff „Wachkoma.

    Diagnostische Kriterien des „vegetative state " (Multi-Society Task Force 1994a, b)

    Vollständiger Verlust des Bewusstseins über sich selbst oder die Umwelt

    Keine Fähigkeit zu gerichteter Kommunikation

    Verlust von willkürlichen oder sinnvollen Verhaltensänderungen

    Verlust von Sprachverständnis und Sprachproduktion

    Blasen- und Mastdarm-Inkontinenz,

    Erhaltener Schlaf-Wach-Rhythmus

    Erhaltene Hirnstamm-, spinale, hypothalamische und autonome Reflexe

    Prognose des „vegetative state "

    Das VS ist grundsätzlich ein potenziell reversibler Zustand, auch wenn viele Patienten bis zum Tode „apallisch" bleiben. Denn auch nach Monaten im VS kann sich der Zustand der Patienten ganz erheblich verbessern, sie können eventuell gar eine Bewusstseinsklarheit mit weitgehender geistiger Funktionsfähigkeit erlangen. Die Erholung ist am Übergang in ein MCS und dann darüber hinaus erkennbar. Zu den Erholungsraten (Abschn. 13.​6.​4) liegen leider nur kleine Fallserien vor, wobei die größte Untersuchung von Patienten stammt, die vor 20 Jahren behandelt worden waren (MSTF 1994, Übersicht bei Giacino 2004). Heute beträgt die Lebenserwartung der meisten VS-Patienten 4–6 Jahre (Todesursachen: vegetative Instabilität, Infektionen, Thrombembolien), aber einzelne Verläufe über 15 Jahre wurden berichtet.

    Man spricht beim Erwachsenen vom „persistent VS („noch andauerndes Wachkoma), wenn der Zustand mindestens einen Monat nach der maßgeblichen Hirnschädigung anhält. Zeiträume darüber hinaus sind prognostisch ungünstiger, aber nicht aussichtslos. Sie werden als „permanentes VS" (irreversibles Wachkoma) bezeichnet (12 Monate nach traumatischer, 3 Monate nach nicht-traumatischer Hirnschädigung; Jennett u. Plum 1972; Giacino 2004). Die oft verwendete Abkürzung PVS ist insofern unglücklich gewählt.

    Prognostische Vorteile ergeben sich für jüngere Patienten und für traumatische Ursachen gegenüber z. B. ischämisch-hypoxischen Ätiologien. Die Lütticher Arbeitsgruppe um Laureys berichtete über 116 Patienten, die sich einen Monat nach Erkrankungsbeginn noch im VS befunden hatten (Bruno et al. 2012). Sie sahen bei 10% der nicht-traumatischen Patienten funktionelle Erholungen (Wechsel in MCS und darüber hinaus, jeweils 8% und 2%) und bei 37% der Fälle nach traumatischer Hirnschädigung (jeweils 14% und 23%). Die 1-Jahres-Mortalitäten lagen bei 70% bzw. 42% der Fälle, so dass 20% der nicht-traumatischen und 21% der traumatischen Fälle nach einem Jahr im VS noch lebten.

    Aufgrund fehlender belastbarer Langzeitdaten verwenden viele Kollegen in der praktischen Arbeit nach Überschreiten dieses 12-monatigen Zeitraums die sprachliche Beschreibung „weitere relevante Besserung hochgradig unwahrscheinlich anstelle von „Besserung unmöglich.

    Ein „inkomplettes VS" existiert nach diesen Überlegungen nicht, und es kommt aus dem VS auch nicht zu einem direkten Wechsel in die Symptomfreiheit. Berichte über überraschende Koma -Remissionen in der Laienpresse beruhen daher meist auf Fehleinschätzungen unerkannter Zwischenzustände wie MCS .

    Stellt sich das Bewusstsein wieder ein, geschieht dies nur schrittweise und ist erkennbar an ersten gerichteten Handlungen in der sprachlich-oralen Motorik oder/und der Blick- oder Extremitätenmotorik. Dies markiert den Übergang in das MCS (▶ Abschn. 1.3.2).

    Die Erholung aus dem apallischen Syndrom vollzieht sich stets in mehreren typischen Schritten, die von Gerstenbrand und Mitarbeitern ausführlich beschrieben wurden (Gerstenbrand 1967, 1977; Gerstenbrand u. Rumpl 1983). Sie prägten den Begriff der „sieben Remissionsstufen , die nacheinander in fließenden Übergängen durchlaufen werden. Danach beginnt der Patient erst ab der fünften Stufe, seine Lage zu realisieren, weil bis dahin noch massive Störungen in Bezug auf Gedächtnis, Aufmerksamkeit und allgemeiner Informationsverarbeitung stark einschränken (Übergang Korsakow-Syndrom zu organischem Psychosyndrom). Die Übergänge finden auch hier oft unmerklich statt, da nicht zu jeder Tageszeit der gleiche Zustand „aktivierbar ist. Typisch werden in der Erholungsphase zuvor Enthemmungsphänomene wie Zwangsgreifen, orale Enthemmung und sexuelle Aktivitäten beobachtet, die als Ausdruck mangelnder Impulskontrolle und sozialer Wahrnehmung/Empathie verständlich sind und präfrontale Funktionsstörungen widerspiegeln.

    Die Stufen lauten nach Gerstenbrand:

    apallisches Syndrom (entspricht dem „vegetative state "),

    primitiv-psychomotorische Phase (entspricht MCS ),

    Phase des Nachgreifens,

    Klüver-Bucy Phase,

    Korsakow-Phase- Phase,

    Phase des organischen Psychosyndroms,

    variabler Residualdefekt.

    Zur korrekten prognostischen Einschätzung sind pflegerische bzw. ärztliche Kurzkontakte oft nicht ausreichend, da die psychischen Leistungen stundenweise schwanken und dann falsch als fehlend eingeschätzt werden können. Vorgeschlagen wurde, solche Reaktionsprüfungen zu besonders geeigneten, ausgewählten Zeitpunkten der zirkadianen Rhythmik durchzuführen („you are only coming through in waves", Bekinschtein et al. 2009a). Überraschende Tagesschwankungen und Berichte von gezielten Reaktionen durch Therapeuten und Angehörigen bedürfen daher sorgfältiger Überprüfung, ob sich tatsächlich ein Wandel vom VS zum nächsten Stadium (MCS ) vollzieht.

    „Minimally conscious state" (MCS , minimal reaktiver Zustand, minimaler Bewusstseinszustand) (▶ ICD-9: 780.09, bislang nicht detaillierter kodierbar)

    Hierunter werden Bewusstseinszustände zusammengefasst, bei denen sich mindestens geringe Anzeichen von Wahrnehmung nachweisen lassen oder eine erste reproduzierbare Kontaktaufnahme mit der Außenwelt, die eine teilweise Wiedererlangung des Bewusstseins anzeigt. Die Schwere der Störungen von Antrieb, Tempo, Wahrnehmung und Exekution erlauben jedoch noch keine detaillierte Kommunikation oder gezielte Willensbekundung. Einheitliche verbindliche Diagnosekriterien existieren bislang nicht (ICD-9: 780.09). Geprägt wurde der MCS -Begriff erstmals in Konsensus-Kriterien (Aspen Neurobehavioral Conference Workgroup, Giacino et al. 2002) und wurde dann weiterentwickelt (Giacino et al. 2004).

    Klinischer Befund und Zustandsbild

    Entscheidendes Merkmal sind Bewegungsmuster, die über rein reflektorische motorische Abläufe hinausgehen. Erste zielgerichtete Abläufe sind oft phasenweise an Bewegungen des Mundes, der Hand, des Fußes, des Kopfes und/oder der Augen zu erkennen. Zuwendung, Abwehr und erste adäquate emotionale Reaktionen sind wesentliche Phänomene. Diese schwanken oft im Tagesverlauf, denn es besteht noch ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus. Im Unterschied zum vorangehenden VS scheint sich im MCS der Schlaf mit abwechselnden REM- und Non-REM-Phasen zu normalisieren (Landsness et al. 2011).

    Vorgeschlagen wurde die weitere Differenzierung in „MCS -minus und „MCS -plus, je nachdem ob bereits auf Aufforderung gezielte motorische Handlungen (wie Objektgebrauch, gestische Kommunikation, Ja/Nein-Verbalisationen) („MCS -plus) erfolgen oder die Motorik nur reflexiv auf Außenreize oder spontan explorativ (mittels Augen/oder Hände) („MCS -minus) auftritt (Bruno et al. 2011). Das „MCS -plus" würde dieser Differenzierung zufolge fließend in den Zustand des schweren organischen Psychosyndroms überleiten.

    Geht die Funktionalität darüber hinaus, kann man von einem „minimally" conscious state nicht mehr sprechen (Übersicht unten; Giacino 2002). Dies ist der Fall bei

    Wiedererlangung interaktiver Kommunikation (mehr als Ja/Nein-Antworten),

    funktionellem Gebrauch von zwei oder mehr verschiedenen Objekten,

    reproduzierbaren kontextkonformen affektiven Reaktionen.

    Bei vielen Patienten im MCS muss man annehmen, dass die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse so stark geschädigt sind, dass sich in diesem Zustand noch kein tieferes Verständnis der Umwelt und der persönlichen Situation (Orts- und Namensgedächtnis) einstellt und sich die Betroffenen fast nichts einprägen oder lernen können. Wahrscheinlich dominiert eine oberflächliche konkrete Kognition, die nur zu einer bruchstückhaften und vereinfachten Auseinandersetzung mit der Umgebung befähigt.

    Diese Situation erfordert gleichwohl einen umso größeren Aufwand, wenn es um die Motivation zur Aktivierung in Pflege, multimodaler Therapie oder um Mitarbeit in diagnostisch-medizinischen Maßnahmen geht. Der Inhalt aller bettseitig geführten Gespräche sollte gut auf das wiederkehrende Sprachverständnis abgestimmt sein.

    Über die „Innenansicht dieses Zustandes des MCS verfügen wir über so gut wie kein Wissen – ähnlich wie bei Patienten im VS. Die paradoxe Vorstellung von Leere und Bewusstlosigkeit fällt beim „vegetative state und MCS angesichts der geöffneten Augen besonders schwer. Das Wiederauftreten von REM-Schlafphasen deutet auf das Vorkommen von Traumzuständen, eventuell auch mit Traumerlebnissen (Landness et al. 2011). Die sich häufenden Mitteilungen über gelungene Aktivierungen einzelner Hirnregionen (Inseln erhaltener Aktivierbarkeit), gemessen mittels funktioneller MRT und EEG, suggerieren zwar die Möglichkeit innerpsychischen Erlebens. Sie lassen aber keinen Rückschluss auf das Gesamterleben, das Bewusstsein von sich selbst oder etwa eine Lebensqualität zu.

    Experimentelle Verhaltensstudien zeigten, dass bei einzelnen MCS -Patienten ein basales Lernverhalten nachweisbar sein kann, ohne dass sich dieses in einfachen klinischen Untersuchungen offenbart. So zeigten Bekintschein et al. (2009b) bedingte Lidschlussreflexe bei MCS -Patienten, die in Antizipation eines zweiten auf der Kornea applizierten Luftzugs auftreten. Sie belegten damit, dass die Testperson sich auf diese Situation einstellt. Die Diskussion, inwieweit diese interessanten Befunde prognostische Relevanz besitzen oder Therapieentscheidungen mitgestalten können, ist nicht abgeschlossen. Viele Neurologen, die an diesem Buch mitarbeiten, äußerten ihre Besorgnis, dass dieser Zustand viel schwerer zu ertragen sein könnte als die Bewusstlosigkeit im „vegetative state ".

    Da aber letztlich niemand weiß, wie sich dieser Zustand „anfühlt", sind die allfälligen Fragen in Bezug auf Lebensqualität und hinsichtlich der Indikation lebensverlängernder Maßnahmen bei diesen chronisch bewusstseinsgestörten Patienten nicht in genereller Weise zu beantworten (Laureys u. Boly 2007). Entscheidungen über eine Therapieeinwilligung oder -begrenzung richten sich allein nach den Wertvorstellungen und Maßstäben des Betroffenen vor seiner Erkrankung. Für den Arzt sind nach gültiger deutscher Rechtsprechung die vorab getroffenen Verfügungen für diesen Zustand verbindlich (Abschn. 12.​2.​9). Liegen solche Verfügungen oder äquivalente Aussagen nicht vor und sind auch keine Vorsorgevollmachten eingerichtet, treffen oft überforderte Angehörige auf Ärzte, die aus den o. g. Gründen zwar allgemeine Stellungnahmen abgeben, aber keine Patentlösungen aufzeigen können. Es kommt in der Regel immer wieder zur Einzelfallentscheidung.

    Als zentrale Frage schält sich oft heraus, ob der Betroffene für sich diesen Dauerzustand minimaler (oder sogar aufgehobener) Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit als erhaltenswert angesehen hätte oder in diesem Zustand keine weiteren Hilfen pflegerischer Art (künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr) oder durch medizinische Therapie (Beatmung, Kanülenwechsel, Antibiotika) beanspruchen wollen würde. In die Diskussion wird oft ein Effekt namens „ " eingebracht, der beschreibt, dass viele körperlich schwerstbehinderte Menschen von unerwartet hoher Lebensqualität berichten. Die Übertragbarkeit auf Patienten in reaktionslosen Zuständen ist ungewiss.

    Symptomatik des MCS (in Anlehnung an Giacino 2002, 2004)

    Zustand einer global und schwer verminderten Reaktivität bei erhaltener Wachheit mit phasenweise geöffneten Augen

    Reproduzierbar ist eines der folgenden Anzeichen der Wahrnehmung des Selbst und der Umwelt

    1.

    Befolgen einfacher Aufforderungen

    2.

    Reproduzierbare verbale (oder gestischer) Antwort auf Ja/Nein-Fragen (wahrheitsunabhängig)

    3.

    Verständliche sprachliche Äußerungen (unabhängig von Inhalt)

    4.

    Zielbewusstes motorisches Verhalten (Bewegungen oder affektive Verhaltensmuster), die in einer sinnvollen Relation zu relevanten Umgebungsstimuli stehen und die kein Reflexmuster darstellen, wie

    anhaltende Fixation oder Blickfolge, Blickzuwendung betreffend bewegender Objekte,

    Greifen nach und exploratives Betasten von Objekten (wobei eine klare Beziehung zwischen Ort des Objektes und Richtung des Greifens/Tastens nachweisbar ist),

    Berühren oder Festhalten eines Objektes (so dass eine typische Objekteigenschaft wie Größe oder Form berücksichtigt wird),

    Vokalisationen oder Gesten, die als direkte Antwort auf eine Frage auftreten,

    adäquates Lachen oder Weinen als Reaktion auf sprachliche oder visuelle emotionale Reize, das bei emotional neutralen Stimuli nicht auftritt.

    Prognose des MCS

    Grundsätzlich kann sich der Patient im MCS hinsichtlich der Bewusstseinslage weiter verbessern, über die Erholungsmöglichkeiten liegen aber nur wenige systematische Untersuchungen vor (Abschn. 13.​6.​4). Nach klinischen Erfahrungen kommt es fast nie zur vollständigen Erholung, und meistens verbleibt eine schwere neurologische Behinderung. Günstiger ist die Prognose dann, wenn das MCS sich rasch nach der Hirnschädigung einstellt und der Patient somit nur kurze Phasen im Koma und im Wachkoma verbrachte. Die Zeiträume, in denen Besserungen erreicht werden, sind noch weniger untersucht als beim VS. Viele Autoren gehen im Vergleich zum VS von einem längeren Zeitraum als zwölf Monate aus, bis ein permanentes MCS angenommen werden muss (Giacino 2004; Laureys u. Boly 2007). Letztlich stellt, obwohl die Chance auf weitere Besserung größer ist als aus dem VS, auch das MCS oft einen bleibenden Zustand dar.

    Prognostische Vorteile ergeben sich im Altersgruppenvergleich für jüngere Patienten und im Diagnosenvergleich für traumatische Ursachen gegenüber z. B. ischämisch-hypoxischen Ätiologien. Die Lütticher Arbeitsgruppe untersuchte 84 Patienten, die einen Monat nach Erkrankungsbeginn im MCS vorgefunden wurden. Im anschließenden 1-Jahres-Zeitraum ereigneten sich funktionelle Erholungen aus dem MCS in einem Prozentsatz von 26% für nicht-traumatische und 48% für traumatische Ursachen (Bruno et al. 2012). Die Mortalität lag bei 33% bzw. 23%, und ein Verbleiben im MCS wurde mit 39% bzw. 29% angetroffen.

    Grundsätzlich gilt: Je dynamischer der Krankheitsverlauf ist, d. h., je rascher eine Besserung eintritt, desto mehr Aussichten bestehen auf Besserung. Bei Vorliegen traumatischer Ursachen ist die Prognose im Durchschnitt günstiger als bei nicht-traumatischen (Giacino 2004).

    1.2.4 Hirntod

    Konzept

    Menschen, die im Koma unter definierten Voraussetzungen alle Zeichen der irreversibel erloschenen Hirnfunktion aufweisen, sind hirntot. Der Hirntod gilt als sicheres Todeszeichen des Menschen, da nach Aufhebung der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms die Grundlage allen spezifischen menschlichen Lebens und Erlebens fehlt. In dieser individuellen Katastrophensituation können zwar noch über einige Zeit vom Gehirn unabhängige Regelungskreise (hormonell, immunologisch, kardio-vaskulär) durch intensivmedizinische Maßnahmen aufrechterhalten werden. Zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes oder gar autonom führbares Leben bestehen jedoch keine Chancen.

    In der Intensivmedizin ermöglicht diese Todesfeststellung eine durch Hirnfunktionsverlust sinnlos gewordene Therapie zu beenden, so dass kein irreversibel komatöser Patient ohne irgendeine Aussicht auf Therapieerfolg weiter behandelt wird. Obwohl prinzipiell vom Vorgang oder der Frage nach einer Organspende unabhängig, wurde die Definition der Hirntodkriterien missverständlicherweise im deutschen Transplantationsgesetz angesiedelt.

    Diagnostisches Vorgehen

    Voraussetzungen

    Zur Feststellung des vollständigen Verlusts und der fehlenden Aussicht auf Wiederherstellung von Hirnfunktionen wird in drei Schritten (Abb. 1.6) vorgegangen: Zunächst wird geprüft, ob die Voraussetzungen zur Diagnostik vorliegen (z. B. keine Intoxikation, kein metabolisches Koma ) und welcher Art der Hirnschädigung (Ort, Ausmaß) das Koma begründet.

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    Abb. 1.6

    Schematischer Ablauf der Hirntod -Diagnostik. Sie beruht auf der Prüfung von spezifischen Voraussetzungen, Befunden des Hirnstammfunktionsverlusts und Irreversibilitätskriterien, die man auf drei konsekutive, zu bestätigende „Säulen" verteilt hat

    Funktionsausfall der Hirnstammfunktionen

    Dann muss der Funktionsausfall aller erkennbaren Hirnstammfunktionen durch zwei unabhängige Untersucher sorgfältig geprüft werden. Ergeben sich Zweifel, sind diese durch geeignete Zusatzuntersuchungen auszuräumen oder die Hirntod -Diagnostik ist abzubrechen.

    Irreversibilitätsnachweis

    Drittens ist der Irreversibilitätsnachweis zu führen, wozu neben der wiederholten Untersuchung in angemessenem Abstand (je nach Lebensalter, Ort und Art der Hirnschädigung) auch technische Zusatzbefunde hinzugezogen werden können. Sind diese nicht eindeutig oder ergeben sich anderweitige Zweifel, ist die Hirntod -Diagnostik ebenfalls nicht aussagekräftig. Sie bedarf dann weiterer ergänzender Untersuchungsmethoden, bis alle Zweifel ausgeräumt sind, bzw. ist abzubrechen.

    Somit muss stets zur Diagnose „Hirntod ein in allen Anteilen kongruenter neurologischer Befund des vollständigen zerebralen Funktionsverlustes vorliegen. So reicht z. B. eine zweite Teiluntersuchung etwa bis zum Vorliegen einer genügenden Anzahl positiver Befunde, nicht aus. Ferner darf auch keine Einzelbeobachtung gegen die Diagnose „Hirntod sprechen.

    Abweichend von diesem Vorgehen wird in anderen Ländern der Funktionsverlust ausschließlich an die Hirnstammfunktionen geknüpft, so dass auch vom „Hirnstammtod" gesprochen wurde. Den in Deutschland geltenden Anforderungen an die Todesfeststellung genügt diese Auffassung nicht: Hierzulande wird die Großhirnfunktion über indirekte Kriterien zwingend mit berücksichtigt (primäre Schädigungslokalisation und Erkrankungsverlauf). In jedem Fall ist nach den hiesigen Bestimmungen zunächst der Ort der primären Hirnschädigung festzulegen. Danach ergibt sich das weitere Vorgehen im Hinblick auf den Irreversibilitätsnachweis.

    Praktische Probleme

    Auch der erfahrene und geübte Untersucher (und nur solche sind zur Hirntod -Diagnostik berechtigt!) kann vor Schwierigkeiten in der Ausführung stehen, die zum Abbruch der Diagnostik führen. Typische Probleme können sein: unzureichender Blutdruck, nicht durchführbarer Apnoetest, nicht untersuchbare Hirnstammreflexe (z. B. vorbestehend ausgefallene Pupillenreaktion, stark verschwollene Augenlider) und verbliebene Medikation (Analgosedierung) und Intoxikation. Zu berücksichtigen ist als Differenzialdiagnose gelegentlich das Locked-In-Syndrom .

    1.2.5 Locked-In-Syndrom (▶ ICD-10: G83.80)

    Die weitestgehende körperliche und sprachliche Regungslosigkeit infolge einer neurologischen Erkrankung gilt als eine der gefürchtetsten Behinderungen. Seit Jahrhunderten sind Beschreibungen von „in sich eingeschlossenen Menschen (engl. locked in) bekannt, auch in der Literatur erwähnt (etwa in „Der Graf von Monte Christo von A. Dumas, 1846). Die Betroffenen erleben diesen hilflosen Zustand bei wachem Bewusstsein ; das Syndrom wird hier dennoch wegen der Verwechslungsmöglichkeiten mit Koma und Hirntod besprochen.

    Dem Locked-In-Syndrom (LIS) liegt immer eine Unterbrechung efferenter kortikospinaler und kortikobulbärer Bahnverbindungen zugrunde, typischerweise durch eine Läsion im ventralen oberen Hirnstamm zwischen den oberen und unteren Hügeln der Vierhügelplatte (Plum u. Posner 1966). Die Patienten sind komplett gelähmt. Weil aber die oberen Anteile des Okulomotoriuskernes (zuständig für vertikale Augenbewegungen) erhalten bleiben, sind die Patienten zu Augenbewegungen noch in der Lage. Auch afferente Verbindungen und wesentliche Wahrnehmungs- und Integrationsfunktionen bleiben erhalten, weil der zerebrale Kortex zumeist verschont wird. Entsprechend der Intaktheit medianer und dorsaler Ponsbezirke, die den Schlaf-Wach-Rhythmus regulieren, bleibt der Patient wach. Diese Patienten sind völlig bewusstseinsklar und verstehen alles, was um sie herum geschieht. Im EEG ist demnach ein reagibler alpha-Rhythmus zu finden. Der Patient ist stets klinisch und im EEG auf Außenreize erweckbar, was nur an den vertikalen Augenbewegungen erkennbar ist. Mit entsprechender Übung können die Betroffenen einen binären Code erarbeiten (Augen nach oben= Ja, Augen nach unten= Nein), der eine Verständigung ermöglicht. In Einzelfällen sollen Patienten mit dieser Methode sogar Manuskripte diktiert haben.

    Locked-In-Syndrom

    Im LIS bestehen eine Tetraplegie und eine Anarthrie bei erhaltenem Bewusstsein (Haig et al. 1987).

    Ursachen des LIS

    Es besteht eine Läsion im ventralen Bereich der Brückenbasis, etwa durch

    bilaterale Infarkte (Basilaristhrombose),

    Blutungen, Trauma (Kontusion oder Dissektion),

    pontine Myelinolyse, Tumore,

    Infektionen (Abszess, Hirnstammenzephalitis).

    Klinische Befunde und Zustandsbild

    Erkennbar ist das LIS an der erhaltenen Fähigkeit des Patienten im LIS, willkürlich bzw. auf Aufforderung auf- oder abwärts zu blicken, mitunter auch zu blinzeln. Entscheidend ist die umschriebene Lokalisation der Hirnstammläsion im ventralen pontinen Bereich. Sie spart mesenzephal die vertikale Blickmotorik und die Lidbewegungen aus und verschont tegmental die für das Wachbewusstsein notwendigen Anteile der Formatio reticularis (Abb. 1.7).

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    Abb. 1.7

    Locked-In-Syndrom . Lokalisation der typischen ventralen Hirnstammläsion (blauer Bereich in a). Im pontomesenzephalen Übergang verschont sie die dortige Haubenregion mit den Elementen der Formatio reticularis. Schematischer Sagittalschnitt. (Aus: Zschocke u. Hansen 2011). Die in bunt dargestellten Läsionen induzieren dagegen ein Koma (blaue Bereiche in b und c)

    Klinisch besteht eine Tetraparese mit aufgehobenen horizontalen Blickbewegungen und Schluckfunktionen. Meist ist kein selbstständiges Atmen und Husten, kein scharfes binokulares Sehen und oft keine taktile Wahrnehmung gegeben. Massenbewegungen der weitgehend oder komplett gelähmten Arme und Beine treten als Strecksynergismen auf. In der Mimik kommt es zu ähnlichen Enthemmungen, genannt „Affektinkontinenz", mit Zwangsweinen, -gähnen, -grunzen (Bauer et al. 1980). Sind Bewegungsreste vorhanden, spricht man von einem inkompletten LIS. Sind infolge mesenzephaler Läsionsausdehnung auch die vertikalen Augen- und Lidbewegungen plegisch, spricht man vom totalen LIS (Bauer et al. 1979).

    Denken und Emotionalität gelten dagegen als nicht wesentlich beeinträchtigt, bei genauerer Testung sind kognitive Teilfunktionen mitunter gestört (z. B. Aufmerksamkeit, Exekution, visuelles und verbales Gedächtnis; Smith u. Delargy 2005). Gehör und Gesichtsfeld verbleiben überwiegend intakt, es sei denn, es kommt zu weiteren Läsionen wie Ischämien im hinteren Stromgebiet oder zu einer zerebralen Hypoxie (Abb. 1.8).

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    Abb. 1.8

    58 Jahre, männlich. Patient im Locked-In-Syndrom nach akuter Basilaristhrombose mit pontiner Infarzierung (CCT links) und transienter zerebraler Hypoxie bei Kreislaufstillstand/Apnoe in der Akutphase. – 5 Monate nach dem Ereignis ergeben sich klinische Hinweise auf gezielte Fingerbewegungen und gelegentliche Zuwendungsreaktionen der Augen. Das EEG zeigt zu diesem Zeitpunkt (rechts) eine Beschleunigung der Grundaktivität bei akustischer Stimulation. Retrospektiv lag ein hypoxisches Enzephalopathie-Syndrom vor, das sich über ein MCS besserte

    Der verheerende Zustand, sich bei wachem Bewusstsein nicht mitteilen zu können und gleichzeitig zur aktiven Realitätskontrolle unfähig zu sein (Exploration der Umgebung unmöglich), begünstigt die Verzerrung von Realitätswahrnehmungen. Es entsteht oft ein Übermaß an geistiger Aktivität und schwer abgrenzbaren Traumzuständen, die als Oneiroide bezeichnet werden und von den Patienten im Nachhinein berichtet werden.

    Chronische Zustände des LIS sind möglich, so dass nicht selten 10 Jahre (Überlebensraten in einzelnen Studien bei 80%) überlebt werden. Einzelfälle, in denen Patienten 20 Jahre und länger überlebten, sind bekannt (Doble et al. 2003). Pulmonale Komplikationen entzündlicher Art (Pneumonien nach Atelektasen, Aspiration) und Zirkulationsstörungen (Lungenarterienembolie nach Thrombose) sind die häufigsten Todesursachen. Die Prognose hängt vom Alter und von Vorerkrankungen ab (günstiger: Trauma, früher Behandlungsbeginn). Fälle mit guter Erholung wurden beschrieben, zumindest Teilerholungen der Schluckfähigkeit und einzelne Willkürbewegungen sind immer wieder zu erreichen.

    Entgegen der häufig zu hörenden Einstellung, dass diese Patienten in der Akutphase „besser gestorben wären", bestätigen viele Untersuchungen, dass sich die Betroffenen selbst fast nie den Tod wünschen. Die Lebensqualität scheint nach Untersuchungen von Bruno et al. (2011) größer als erwartet, wobei allerdings ein Selektionsbias dieser aus aktiven Selbsthilfegruppen stammenden Probanden nicht ganz auszuräumen ist. Ein wichtiger Faktor ist die Rückkehr in den häuslichen Rahmen. Wesentlich tragen hierzu die Ausschöpfung von multimodalen Rehabilitationsverfahren (Physiotherapie, Ergotherapie, Logotherapie) und der Einsatz von Kommunikationshilfsmitteln bei, wobei Zeigetafeln bis zur PC-gestützten Funktionssteuerung mit Lidern und Augen zum Einsatz kommen. Hierfür ist oft ein großer Personal- und Zeitaufwand nötig.

    1.3 Qualitative Bewusstseinsstörungen

    H.C. Hansen⁵  und H. Förstl⁶

    (5)

    Klinik für Neurologie und Psychiatrie, Friedrich-Ebert-Krankenhaus GmbH Neumünster, Friesenstr. 11, 24534 Neumünster, Deutschland

    (6)

    Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, Klinikum rechts der Isar, Ismaninger Str. 22, 81675 München, Deutschland

    1.3.1 Organische Psychosyndrome

    Ist das qualitative Bewusstsein gestört, bezieht sich dies auf die inhaltliche Ebene, namentlich auf die Bewusstseinsinhalte, und nicht auf die Wachheit (▶ Abschn. 1.2). Klinisches Leitsymptom ist in diesen Zuständen eine gestörte Kommunikation, die auf Veränderungen von Wahrnehmung, Kognition und Affekt schließen lassen. Die resultierenden Verhaltensstörungen bewegen sich in einem weiten Spektrum: vom mehr oder weniger auffallenden Antriebsmangel bis zu agitierten und aggressiven Zuständen mit erheblichem Gefährdungspotenzial.

    Einzelsymptome

    Organisches Psychosyndrom (OPS)

    Als „organisches Psychosyndrom (OPS)" bezeichnet man derartige quantitative Bewusstseinsstörungen und neuro-psychiatrische Symptome, die sich auf eine fassbare und relevante zerebrale Erkrankung zurückführen lassen. Betroffen sind dann kognitive Leistungen wie zentrale Informationsverarbeitung, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Antrieb und auch die emotionalen Bereiche (Affektlage und -regulation). Ihr Auftreten setzt meist voraus, dass eine zerebrale Störung über umschriebene Areale und einzelne Funktionssysteme hinausgeht und umfangreichere kortikale-subkortikale Regelkreise einbezieht.

    Die Symptomatik des OPS tritt von Fall zu Fall sehr variabel aus und gestattet keinen verlässlichen Rückschluss auf die jeweilig zugrunde liegende Pathologie. Daher kommen ursächlich viele reversible und irreversible körperliche „organische" Akuterkrankungen in Frage, die das ZNS primär oder sekundär beeinträchtigen.

    Begrifflichkeiten

    Den historisch gewachsenen Begriff des OPS nutzt man weiterhin im Sinne einer „exogenen Psychose – zur systematischen Vereinfachung und Abgrenzung von den „nicht-organischen „endogenen Psychosen" (z. B. Schizophrenien, Depressionen, auch Angststörungen). Mit immer tieferem Einblick in Zell-Zell-Interaktionen und subzelluläre Abläufe wurden und werden jedoch bei beiden Zuständen neurobiologische Abläufe gefunden, die das Kommunikationsverhalten in hohem Umfang erklären. Dabei prägen die Hirnfunktionen unser Verhalten, aber unser psychisches Erleben übt Effekte auf das neuronale Substrat aus (Kap. 24).

    Zerebrale Herdzeichen („localizing signs")

    Diese Zeichen weisen auf örtliche Schwerpunkte von zerebralen Krankheitsprozessen (Abschn. 4.​1.​3). Meist sind es sensomotorische Hemisyndrome oder zentrale Sehstörungen (Hemianopsie). Wegweisend sind auch kognitive Teilleistungsstörungen (Tab. 1.3), wie z. B. räumlicher Neglect, Amnesie, Aphasie , Agnosie, Apraxie und exekutive Dysfunktionen.

    Tab. 1.3

    Hirnlokale Psychosyndrome

    Deren Erfassung setzt allerdings eine ausreichende Kooperationsfähigkeit des Patienten bei der neurologisch-psychiatrischen Untersuchung voraus, die gelegentlich wegen der allgemeinen zerebralen Funktionsstörungen im OPS fehlen kann. Gleiches gilt, wenn gravierende Verhaltensstörungen auftreten, etwa bei Frontalhirnsyndromen (z. B. Aspontaneität, Apathie oder auch Wut, Aggression). Daher kann im klinischen Alltag die Abgrenzung zwischen „neurologischen Erstdiagnosen (z. B. limbische Enzephalitis) und „psychiatrischen Erstdiagnosen (z. B. „endogene Psychosen") misslingen, insbesondere bei fehlender Anamnese und eingeschränkter Untersuchbarkeit infolge eines Mangels an Kooperation bei der Untersuchung.

    Mit ausreichender Zeit und klinischer Erfahrung gestatten wiederholte neurologische Untersuchungen letztlich meist doch, bei Patienten mit akutem OPS die korrekte Zuordnung zu einer diffusen Enzephalopathie oder einer lokalisierbaren zerebralen Erkrankung (z. B. Schlaganfall, limbische Enzephalitis) vorzunehmen.

    Gelegentlich können die kognitiven Störungen so diskret ausgeprägt sein, dass das klinische Bild – trotz einer zerebralen Ursache – eine „endogene" Psychose glaubhaft kopieren kann.

    Wie im Einzelfall das psychopathologische Erscheinungsbild infolge einer schweren Erkrankung ausfällt, ist kaum vorauszusagen. Die Symptomatik scheint eher mit (zerebralen) Vorerkrankungen, dem Lebensalter des Patienten, den verabreichten zentral wirksamen Medikationen und ggf. Entzugssituationen zu tun haben als mit der Grunderkrankung selbst. Als bedeutsamster Faktor gilt ihre Rasanz oder Dynamik, so dass z. B. eine massive Sepsis beim gesunden 18-Jährigen schwere Psychosyndrome erzeugen kann.

    Chronische organische Psychosyndrome

    Chronische organische Psychosyndrome zeichnen sich durch längeres Bestehen (> 6 Monate) und fehlende quantitative Bewusstseinsstörungen aus. Sie sind Folge einer chronischen ZNS-Affektion. Typisch sind erworbene Gedächtnisstörungen, zunehmender Verlust von Intelligenzleistungen, Veränderung der Persönlichkeit (Motivation, Verarbeitungsgeschwindigkeit, emotionale Kontrolle, Sozialverhalten). Wird hierdurch die Alltagsbewältigung maßgeblich beeinträchtigt, spricht man ab einer 6-monatigen Krankheitsdauer vom „demenziellen Syndrom" (▶ Abschn. 1.3.3). Zerebrale Herdzeichen fehlen dann in der Regel, sind aber z. B. bei vaskulär geprägter Demenz möglich. Beim älteren Menschen liegen meist neurodegenerative und vaskuläre Prozesse zugrunde. Aber dennoch muss stets nach behandelbaren Krankheitsgrundlagen gesucht werden.

    Das Vorstadium des akuten OPS ist oft uncharakteristisch, mit leichten Störungen der Befindlichkeit und des Schlaf-wach-Rhythmus. Die Liste der unspezifischen Symptome beinhaltet u. a. innere Unruhe, Überempfindlichkeit für Licht oder Geräusche, Kopfschmerzen, leichte Ablenkbarkeit, Umstellschwierigkeiten, Ängstlichkeit und vegetative Störungen, z. B. gastrointestinaler oder kardiovaskulärer Art. Mitunter wird von einem plötzlichen Beginn berichtet und selten – soweit überhaupt erinnerlich – über fokale zerebrale Symptome, wie Hemianopsien etc.

    Im Vollbild des akuten OPS betreffen die psychischen Funktionsstörungen sehr verschiedene Teilbereiche. Sie zeigen die eher diffuse (1 und 2) oder eher örtlich umschriebene (3) Schädigung an.

    Teilbereiche des akuten organischen Psychosyndroms

    1.

    Qualitative Bewusstseinsstörungen mit

    Antriebs-, Verhaltens- und Tempostörungen jeglicher Art (Antriebsminderung, psychomotorische Verlangsamung, Unruhe, Erregung)

    Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen

    Aufmerksamkeits- und Orientierungsstörungen (meist zum Ort, auch zur Zeit, schließlich zur Situation und Person)

    Affektstörungen (traurige Verstimmung, manischer Affekt, Affektstarre, -labilität)

    Wahrnehmungs- und Denkstörungen (Umstellfähigkeit, Sinnestäuschungen, Wahn)

    2.

    Quantitative Bewusstseinsstörungen: Somnolenz – Sopor – Koma

    3.

    Teilleistungsstörungen in den Bereichen

    Sprache (sprachdominante Hemisphäre)

    Raumwahrnehmung (nicht-sprachdominante Hemisphäre)

    Handlung, Planung (vorwiegend frontale Hirnstrukturen)

    Episodisches Gedächtnis (medialer Temporallappen)

    Als „hirnlokale" Psychosyndrome werden umschriebene psychische Leistungsminderungen bezeichnet, die aus einer fokal zerebralen Störung resultieren (zerebrale Herdzeichen ). Ausnahmen von dieser strengen Lokalisationslehre sind möglich. Hierzu zählen grundsätzlich die in Tab. 1.3 aufgeführten Syndrome.

    Häufige Syndrome mit qualitativen Bewusstseinsstörungen

    Je nach Art und Ausmaß der beeinträchtigten psychischen Funktionen kann eine typische Konstellation den klinischen Gesamteindruck im akuten OPS prägen. Klinisch ist beispielsweise von Belang, ob sich der Patient eher agitiert oder apathisch verhält:

    Sinken Gedächtnisfunktionen und Antrieb, eventuell auch Aufmerksamkeit und Denktempo, in einen kritischen Bereich, gelingt die fortlaufende Realitätskontrolle nicht mehr. In der Folge ist der Patient desorientiert und stark verlangsamt. In dieser Spielart imponiert die qualitative Bewusstseinsstörung in leichter Ausprägung als Ratlosigkeit oder Benommenheit, in mittlerer Form als Apathie und in schwerer Form als Dämmerzustand und Mutismus. Bei dem ebenso häufigen akuten „Verwirrtheitszustand" (amentielles Syndrom) ist der Antrieb dagegen eher gesteigert, und andere Denk- und Wahrnehmungsstörungen treten auf. Paranoide Denkinhalte und speziell Trugwahrnehmungen (Halluzinationen) können bei allen Antriebssteigerungen und bei hypervigilanten Zuständen auftreten. Kommen dann noch vegetative Zeichen wie Schwitzen und Bluthochdruck/Tachykardie/Tachypnoe hinzu, ähnelt die Symptomatik immer mehr einem Alkoholentzugsdelir, ohne es zu beweisen (DD Thyreotoxikose, Drogen, Sepsis).

    Andere Spielarten des akuten OPS werden geprägt von formalen Denkstörungen und Enthemmungsphänomenen:

    Perseverationen (haftendes Denken) zeigen eine verringerte Umstellfähigkeit an;

    Sprunghaftigkeit zeigt die Unfähigkeit zum Beibehalten eines zentralen Denkthemas;

    Umtriebigkeit und aggressive Durchbrüche entstehen, wenn die Impulskontrolle versagt.

    Viele der in der deutschen Nervenheilkunde entwickelten Einteilungen der akuten qualitativen Bewusstseinsstörungen erfassten alle wesentlichen Merkmale (fakultativ reversibel, vigilanzmindernd), setzten sich aber nicht dauerhaft und nicht international durch. Beispiele sind die „Durchgangssyndrome" nach Wieck (1956), die sich im Alltag ja erst ex post bewahrheiten oder der „exogene Reaktionstyp" nach Bonhoeffer (1917), der die begleitende Vigilanzstörung als kritisches Detail eines organischen Syndroms hervorhob, auch wenn dies als fakultativ gelten muss. Begriffe aus dieser Zeit – Verwirrtheitszustand, Halluzinose, Erregungszustand, Dämmerzustand – werden bis heute verwendet, obwohl sie als akute Psychosyndrome nicht scharf voneinander abzugrenzen sind, die entsprechenden Verhaltensweisen im klinischen Alltag zeitweise stündlich ineinander übergehen und keine eindeutigen Schlüsse zulassen, sieht man von einer gewissen Bevorzugung von Dämmerzuständen nach bzw. bei epileptischen Syndromen ab.

    Die aktuell gebräuchliche internationale Klassifikation ICD-10 grenzt die verschiedenen OPS rein deskriptiv nach Symptomclustern und Anamnesedetails voneinander ab, stets unter der Prämisse einer ursächlichen organischen Erkrankung (Tab. 1.4; Details siehe Anhang).

    Tab. 1.4

    ICD-10-Einteilung des Organischen Psychosyndroms

    1.3.2 Delir (= Verwirrtheitszustand) (▶ ICD-10: F 05)

    Das Delir ist das häufigste aus voller Gesundheit (de novo) auftretende akute OPS. Folgt es einer überstandenen quantitativen Bewusstseinsstörung, kann es in ein persistierendes chronisches OPS übergehen oder in die weitere Genesung überleiten.

    Delirante Syndrome betreffen über ein Viertel aller älteren hospitalisierten Patienten und viele Patienten auf Intensivstationen (Prävalenz 60–80% bei Beatmung und 20–50% ohne Beatmung, Shehabi et al. 2010). Sie belasten den Krankheitsverlauf erheblich, sowohl hinsichtlich der Grunderkrankung als auch der in Mitleidenschaft gezogenen Hirnfunktionen. Das Auftreten eines interkurrenten Delirs erhöht – unabhängig von Alter, Geschlecht und Schwere der Grunderkrankung – die Mortalität und die Morbidität, gemessen am Anstieg von Demenz und Hilfebedürftigkeit.

    Definition des Delirs (ICD-10)

    Das akute organische Psychosyndrom entspricht gemäß ICD-10 einem Delir , wenn gleichzeitig oder im Wechsel

    Wachheit und Schlaf-Wach-Rhythmus (quantitatives Bewusstsein ) sowie

    Steuerung der Bewusstseinsinhalte (qualitatives Bewusstsein , u. a. Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Denkabläufe) so stark beeinträchtigt sind, dass

    1.

    Desorientierung und

    2.

    starke Fluktuationen zwischen Beschleunigung und Verlangsamung der Denkabläufe auftreten.

    Pathophysiologie

    Als unspezifische Reaktion des ZNS erinnert das Delir an eine „akute Organinsuffizienz des Gehirns". Die Symptomatik tritt auf, wenn das Gehirn mit hinreichend vielen unverträglichen Einflüssen konfrontiert wird. Es klingt nach dem Abstellen aller deliriogenen Faktoren erst verzögert ab, was Tage, bisweilen zwei Wochen dauern kann.

    Zur Delirauslösung reicht oft schon ein Defizit der cholinergen Transmission. Auf struktureller Ebene betrachtet, bedarf es multilokulärer zerebraler Funktionsstörungen oder Läsionen, was dem Netzwerkcharakter der für Bewusstseinsprozesse zuständigen Regelkreise entspricht.

    Die im Delir regelhaft pathologischen EEG-Befunde (teils Verlangsamung in den Theta- und Delta-Bereich, teils Verdeutlichung schneller β-Komponenten) zeigen an, dass es sich überwiegend um eine bilaterale Störung thalamo-kortikaler Projektionen handelt. Der präfrontale Kortex, der posteriore parietale Kortex und der temporale und okzipitale Assoziationskortex scheinen in der Pathogenese des Delirs häufig eine Rolle zu spielen.

    Beteiligt sind im Wesentlichen cholinerge und noradrenerge Neurotransmittersysteme. Aber auch GABAerge, dopaminerge und serotonerge Substanzen können Delirsymptome provozieren. Dysbalancen zwischen Exzitation und Inhibition, die die neuronale Stabilität und die sichere Neurotransmission gefährden, genügen zur Delirauslösung . Zusätzlich spielen lokal im ZNS ablaufende inflammatorische Prozesse (Mikroglia-vermittelt) eine Rolle, die nach heutiger Vorstellung von systemischen Auslösern wie zirkulierenden Zytokinen oder Endotoxin angestoßen werden. Für einzelne Mediatoren zeigten sich signifikante Unterschiede in Gruppenvergleichen zwischen deliranten und nicht-deliranten Kontrollpatienten (z. B. Matrixmetalloproteine, Girard et al. 2012). Sie leisten aber bislang im Einzelfall keinen diagnostischen Beitrag. Auch vaskuläre Faktoren im Sinne der Mikrozirkulationsstörung können maßgeblich beteiligt sein, z. B. durch septische Mikrothromben oder andere Koagulopathien. Diskutiert wird, ob der inflammatorische ZNS-Prozess in einem Circulus vitiosus (Abb. 1.9) seinerseits das systemisch inflammatorische Syndrom befördert und seine weitere Verteilung in andere Organsysteme unterhält.

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    Abb. 1.9

    Hypothese des Circulus vitiosus zwischen der systemischen und zerebralen Organinflammation (SIRS = Septisches inflammatorisches Response-Syndrom, MOV = Multiorganversagen)

    Auslöser und Disposition

    Viele synaptische Funktionsstörungen, seien sie strukturell (z. B. durch Infarkte) oder funktionell ausgelöst (z. B. toxisch), münden in ein Delir . Dies geschieht mitunter schon durch Einzelfaktoren (z. B. Drogenintoxikation), öfter in einer Kombination (z. B. Kokain und Vasospasmen). Entscheidend ist oft das Zusammenspiel (Abb. 1.10) der auslösenden und prädisponierenden („Risiko"-)Faktoren gegenüber den protektiven Faktoren.

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    Abb. 1.10

    Delirauslösung : Das Verhältnis zwischen protektiven prädisponierenden und auslösenden Faktoren ist gewöhnlich ausgeglichen (Bild oben) oder es überwiegen günstige Faktoren (nicht gezeigt). Zu einer Delir-Episode kommt es, wenn dies Gleichgewicht durch ein Überwiegen der Auslösefaktoren und/oder der Prädisposition gestört ist (Bild unten). (Mod. nach Steiner 2011)

    Zu den häufigsten Auslösefaktoren zählen die unerwünschten Folgen einer Pharmakotherapie, die internistischen Erkrankungen sowie die Operationen und Narkosen. Deliriogen sind auch viele senso-motorische Beeinträchtigungen, die der Realitätskontrolle im Wege stehen wie Fixierung, Seh- und Hörstörungen, fremde und unverständliche Umgebung. Schlaganfälle oder Hirntraumen, über die die Patienten wegen Aphasie bzw. Amnesie oder Agnosie nicht unbedingt berichten, kommen ebenso in Frage. Unsere gebräuchliche mnemotechnisch geordnete Übersicht über die häufigsten Auslöser gibt Tab. 1.5.

    Tab. 1.5

    Mnemotechnische Übersicht über die häufigsten Auslöser des Delirs

    Das Delir ist keineswegs allein an Entzugssituationen gebunden.

    Als Risikofaktoren prädisponieren zerebrale Vorschädigungen zwar zum Delir , stellen aber keine absolute Bedingung dar (Kalisvaart et al. 2006). Sie können sogar ganz fehlen, solange die akute Noxe genügend stark ausgeprägt ist (z. B. Sepsis, Leberversagen). Das Lebensalter kommt als besonderer „Risikofaktor" wohl auch über zerebrale Vorschädigungen bzw. Reservekapazitäten ins Spiel. Gebrechliche ältere Menschen vertragen generell weniger Belastung in Bezug auf ihre zerebrale Funktionalität (z. B. Schlafentzug).

    Die protektiven Faktoren sind schwer fassbar. Sie entsprechen vermutlich weitgehend denen, die bei Demenz wirksam sind (kognitive Reserve, ▶ Abschn. 1.3.3).

    Risikofaktoren für die Entwicklung eines Delirs

    Hohes Alter, Blindheit und Taubheit

    ZNS-Vorschäden, z. B. Demenz und psychiatrische Anamnesen

    Infektionen, Fieber, septisch-inflammatorisches Response-Syndrom (SIRS)

    Postoperative Phasen, v.a. kardial/Transplantationspatienten

    Schmerz, Luftnot

    Polypharmakotherapie

    Suchtkranke (Polytoxikomanie) im Entzug. Benzodiazepine! Raucher!

    Akute Restriktionen der Mobilität (Schienung, Fixierung)

    Schlafstörungen

    Unterhydrierte und -ernährte

    Akuter Harnverhalt (z. B. Prostataleiden)

    Im klinischen Alltag geben Medikationseffekte und Substanzentzüge als häufigste Auslöser den deliriogenen Ausschlag. Vermittelt durch Interaktionen und Änderungen des Metabolismus können auch freiverkäufliche Substanzen die Effekte bisheriger laufender Medikationen verstärken, obwohl diese gar nicht in der Dosis

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