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Neuroorthopädie - Disability Management: Multiprofessionelle Teamarbeit und interdisziplinäres Denken
Neuroorthopädie - Disability Management: Multiprofessionelle Teamarbeit und interdisziplinäres Denken
Neuroorthopädie - Disability Management: Multiprofessionelle Teamarbeit und interdisziplinäres Denken
eBook1.648 Seiten12 Stunden

Neuroorthopädie - Disability Management: Multiprofessionelle Teamarbeit und interdisziplinäres Denken

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Über dieses E-Book

Sie arbeiten in einem interdisziplinären Team, das Kinder und Erwachsene mit komplexen neuromotorischen Erkrankungen und Behinderungen betreut, begleitet und behandelt? Dann bietet dieses Lehr- und Praxisbuch, in dem renommierte Autoren ihren  Erfahrungsschatz aus Forschung und Praxis systematisch zusammengetragen und didaktisch aufbereitet haben, die perfekte Arbeitsgrundlage.

Profitieren Sie vom Expertenwissen für die gemeinsame Arbeit in Praxis, Institution und Klinik! 

Zum Thema Neuroorthopädie hat das renommierte Team Abel C., Pitz E., Schikora N. und Strobl W. im Springer-Verlag publiziert:      

Strobl W., Schikora N., Pitz E., Abel C. (2020) Neuroorthopädie _ Disability Management.

Strobl W., Abel C., Pitz E., Schikora N. (2020) Therapeutisches Arbeiten in der Neuroorthopädie


SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum5. Juli 2021
ISBN9783662613306
Neuroorthopädie - Disability Management: Multiprofessionelle Teamarbeit und interdisziplinäres Denken

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    Buchvorschau

    Neuroorthopädie - Disability Management - Walter Michael Strobl

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021

    W. M. Strobl et al. (Hrsg.)Neuroorthopädie - Disability Managementhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-61330-6_1

    1. Was ist Neuroorthopädie?

    Walter Michael Strobl¹, ², ³  

    (1)

    Universitätsklinik für Orthopädie und Traumatologie Salzburg, Salzburg, Österreich

    (2)

    Institut MOTIO für Kinder- und Neuroorthopädie Wien, Wien, Österreich

    (3)

    Department für Gesundheitswissenschaften, Medizin und Forschung, Donau-Universität Krems, Krems a. d. Donau, Österreich

    Walter Michael Strobl

    Email: walter.strobl@motio.org

    1.1 Definition der Neuroorthopädie

    1.2 Aufgabengebiet und Zielgruppe Patienten

    1.3 Arbeitsweise und Zielgruppe interdisziplinärer Behandlungsteams

    Literatur

    Schlüsselwörter

    NeuroorthopädieBewegungssystemBehandlungsteamNeuromuskuläre Grunderkrankung

    .

    Das Spezialgebiet der Neuroorthopädie beschäftigt sich mit der Diagnostik, Analyse, Vorbeugung, Behandlung und Rehabilitation der Auswirkungen von Nerven- und Muskelerkrankungen auf das Bewegungssystem im Kindes- und Erwachsenenalter.

    Da die neuromuskuläre Grunderkrankung nur in wenigen Fällen kausal behandelt werden kann, besteht das neuroorthopädische Behandlungsziel meist im Ausgleich der Bewegungsbehinderung und in der Verbesserung der Lebensqualität. Störungen des Systems der Bewegungsorgane bedürfen einer systemischen Diagnostik, Therapie und Langzeitbetreuung, die durch die optimale Zusammenarbeit von Spezialisten der Ärzteschaft, der Therapie- und Pflegeberufe, der Orthopädie- sowie Rehabilitationstechnik sowie zahlreichen anderen Berufsgruppen ermöglicht werden.

    Im ersten Teil des Kapitels wird versucht das Spezialgebiet zu definieren, im zweiten Teil werden Grunderkrankungen und neuroorthopädische Krankheitsbilder überblicksweise dargestellt, und im dritten Teil wird die spezifische Arbeitsweise des interdisziplinären Behandlungsteams beschrieben.

    1.1 Definition der Neuroorthopädie

    Haltung und Bewegung gehören neben Ernährung und Ausscheidung, Kommunikation und Interaktion, Fortpflanzung und Wachstum zu den Grundfunktionen von Lebewesen. Die menschlichen Haltungs- und Bewegungsorgane sind ein sehr gutes Beispiel für ein komplexes biologisches System, das dadurch gekennzeichnet ist, dass das Ergebnis seiner Wechselwirkungen, kurz die Summe, größer ist als seine einzelnen Bestandteile. Um komplexe Systeme zu verstehen, gilt seit Aristoteles die Reduktion und Analyse von deren Bestandteilen als die Grundlage naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Das Bewegungssystem des Menschen kann demgemäß in einen aktiven Teil – das Gehirn, das Rückenmark, die peripheren Nerven und Muskeln – und einen passiven Teil – die Gelenke, Bänder und Knochen – unterteilt werden. Spezialisierte Teilgebiete wie die Genetik, Neurowissenschaften, Neurologie, Bewegungsanalyse, Biomechanik, Orthopädie, Rehabilitation, Sport- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich heute mit Phänomenen menschlicher Bewegung.

    Das Verständnis für die physiologischen und pathologischen Wechselwirkungen des Bewegungssystems und der Gesetzmäßigkeiten seiner Selbstorganisation bedarf einer systemischen Betrachtungsweise, wie sie die von Ludwig von Bertalanffy (1948) im Jahr 1948 beschriebene Systemtheorie ermöglicht. Diese systemische Sichtweise des menschlichen Bewegungssystems bei neuromotorischen Erkrankungen hat sich als Aufgabe neuroorthopädischen Denkens etabliert (siehe Abb. 1.1).

    ../images/472549_1_De_1_Chapter/472549_1_De_1_Fig1_HTML.png

    Abb. 1.1

    Um die Wechselwirkungen des Bewegungssystems bei neuromotorischen Erkrankungen zu verstehen, bedarf es einer systemischen Diagnostik und Analyse

    „Neuroorthopädie" kann als medizinisches Fachgebiet definiert werden, das die systemische Diagnostik, Funktionsanalyse, Prävention, Behandlung und Rehabilitation von Störungen des Bewegungssystems bei Nerven- und Muskelerkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter umfasst.

    Die Neuroorthopädie ist als Teil der Orthopädie kein eigenständiges Fachgebiet. Sie kann jedoch als eine der Wurzeln des Faches Orthopädie betrachtet werden. Historisch widmen orthopädische Lehrbücher dem Spezialgebiet bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eigene Kapitel zur Orthopädie bei Nervenerkrankungen. „Wir befinden uns hier auf einem Feld unserer Tätigkeit, das bisher nur wenig bekannt war, dessen Ausbau jedoch die schönsten Früchte verspricht!, beschreibt einer der Begründer der Orthopädie, Albert Hoffa (1859–1907), das Gebiet der Neuroorthopädie im Jahre 1900 zu Beginn seines Kapitels „Die Orthopädie im Dienste der Nervenheilkunde (Hoffa 1900).

    Heute umfasst die Definition der Neuroorthopädie in den Lehrzielkatalogen zu den deutschsprachigen Facharztprüfungen alle orthopädisch relevanten Erkrankungen und Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems. Diese breite Definition spiegelt sich in der gängigen Praxis wider. Eine Gruppe von Orthopäden, Wirbelsäulen- und Neurochirurgen sowie Manualmedizinern beschäftigt sich als Neuroorthopäden mit Wirbelsäulenschmerzsyndromen oder Diskuschirurgie (Kügelgen und Tilscher 1995; Matzen et al. 2017; Wehling et al. 1995). Eine weitere Gruppe von Neurologen untersucht als Neuroorthopäden die Wechselwirkungen von Bewegungsstörungen. Eine dritte Gruppe von Neuroorthopäden arbeitet auf dem Gebiet komplexer orthopädischer Krankheitsbilder bei cerebralen Bewegungsstörungen und neuromuskulären Erkrankungen. Sie kommt aus der Kinderorthopädie und sammelte etwa durch Jahrzehnte Erfahrungen mit orthopädischen Problemen bei Poliomyelitis und Cerebralparesen (Stotz 2000; Brunner 2013). Ihr Behandlungsziel ist die Verbesserung der Lebensqualität bei Haltungs-, Gang-, Greif- und Bewegungsstörungen aufgrund cerebraler und spinaler peripher-neurogener und muskulärer Entwicklungsstörungen, nach Insulten, Infektionen und Traumen des Zentralnervensystems (Strobl 2010, 2014). Deren Arbeitsgebiet wird in diesem Lehrbuch erstmals umfassend dargestellt (siehe Abb. 1.2a–c).

    ../images/472549_1_De_1_Chapter/472549_1_De_1_Fig2_HTML.png

    Abb. 1.2

    a Neuroorthopädie ist Teilgebiet der Orthopädie und Unfallchirurgie, speziell auch im Bereich der Kinderorthopädie, b dennoch bestehen noch mehr Überschneidungen mit anderen Disziplinen. c Ihr Aufgabengebiet als „Lifetime Medicine" sind die vielfältigen Probleme des Bewegungssystems bei komplexen neuromotorischen Erkrankungen jeder Altersgruppe. (ET Ergotherapie, PT Physiotherapie, O&U Orthopädie und Unfallchirurgie, AMC Arthrogryposis multilex congenita, CP Cerebralparese, MMC Myelomeningocele, HTEP Hüftendoprothese)

    1.2 Aufgabengebiet und Zielgruppe Patienten

    Im deutschen Sprachraum leben heute etwa 150.000 Menschen mit einer Hemiparese nach einem cerebralen Insult und rund 70.000 Kinder mit einer schweren Form einer Cerebralparese. Je nach der Lokalisation und dem Schweregrad der Schädigung des Gehirns liegen verschieden ausgeprägte Formen von Bewegungs-, Haltungs-, Gang-, Greif-, Sprach-, Wahrnehmungs- und Lernstörungen vor. Die primäre neurogene Schädigung ist nicht heilbar, aber sowohl von der Förderung und Rehabilitation der neurobiologisch formbaren Sensomotorik als auch von der Vorbeugung und Behandlung zusätzlich auftretender Probleme, wie Bewegungseinschränkung, -mangel und einseitiger Belastung, hängen das Erreichen einer ausreichenden Mobilität und Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein des Patienten ab. Daher kann das Aufgabengebiet wie folgt definiert werden:

    Aufgabe der Neuroorthopädie ist die Erleichterung von Alltagsfunktionen, wie Fortbewegung, Gehen, Greifen, Stehen, Sitzen und Lagerung, und die rechtzeitige Vorbeugung der Entwicklung von Sekundärschäden des Bewegungssystems bei Menschen jeden Alters mit neuromotorischen Erkrankungen und Behinderungen. Ziel ist das Erreichen einer langfristig schmerzfreien Mobilität, Autonomie und Inklusion des Patienten, das (Wieder-)Erreichen einer vollständigen sozialen Teilhabe und Akzeptanz.

    Neuroorthopädische Diagnostik und Therapie müssen im kulturellen, regionalen und historischen Kontext differenziert betrachtet werden. Sie sind abhängig von Epidemiologie und Wandel der neurologischen Krankheitsbilder. In den Staaten der Europäischen Union sind Infektionen des Nervensystems wie Poliomyelitis heute von Erkrankungen durch degenerative Veränderungen des Nervensystems und nach erfolgreichen intensivmedizinischen Interventionen rund um die Geburt und nach Unfällen verdrängt worden. Durch die Erhöhung der Lebenserwartung hat in den vergangenen Jahrzehnten die Häufigkeit degenerativer neurogener Grunderkrankungen und damit die Relevanz der Diagnostik und Behandlung neuroorthopädischer Krankheitsbilder stetig zugenommen. Neuroorthopädische Krankheitsbilder werden auch in Zukunft einem steten Wandel unterliegen. Möglichkeiten und Grenzen der Neurologie, Intensivmedizin, molekulargenetischen Diagnostik und Therapie werden diesen Wandel mitbestimmen.

    1.3 Arbeitsweise und Zielgruppe interdisziplinärer Behandlungsteams

    Das Zusammenspiel des aktiven und passiven Bewegungssystems ist ein hervorragendes Beispiel für ein komplexes biologisches System. Neuroorthopädische Probleme bedürfen daher einer systemischen Diagnostik und Therapie. Durch den Einfluss und die Synthese funktionell anatomischer, biomechanischer, neurophysiologischer, entwicklungsbiologischer, psychischer und sozialer Grundprinzipien stellen sie bei jedem einzelnen Patienten eine interessante neue Herausforderung dar. Neuroorthopädie kann somit in der Erfüllung dieser Kernaufgabe durch eine sehr spezifische Behandlungsphilosophie und -strategie definiert werden.

    Es handelt sich um ein Spezialgebiet, in dem ein gemeinsames Verständnis von Wert und Qualität des Lebens mit Behinderung sowie interdisziplinäres Denken und multiprofessionelle Zusammenarbeit in einem gut funktionierenden Netzwerk Voraussetzung sind für eine menschlich und fachlich hochwertige medizinische Arbeit. Die Pioniere der Körperbehindertenfürsorge Konrad Biesalski in Berlin und Winthrop Phelps in Baltimore, Gründer der ersten multiprofessionellen Organisation, American Academy for Cerebral Palsy and Developmental Medicine, erkannten dies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Hohmann 1920; Phelps 1945; Phelps und James 1948).

    Heute versuchen multiprofessionelle Teams von Spezialisten aus der Ärzteschaft, aus Therapie- und Pflegeberufen, Sportwissenschaft, Pädagogik und Psychologie, Orthopädie- und Rehabilitationstechnik, aber auch Neurowissenschaft, Biomechanik und Mechatronik, gemeinsam diese Aufgabe zu erfüllen (Abb. 1.3). Die Lebensqualität von Menschen mit Bewegungsbehinderungen hängt von ihrer Schmerz- und Bewegungsfreiheit, ihren selbstständigen Aktivitäten in ihrer sozialen Umgebung ab. Aber auch von ihrem Recht auf Unvollkommenheit. Alle Therapieansätze der Neuroorthopädie müssen daher die individuellen Ziele und Wünsche des Patienten und seiner Familie und Betreuer berücksichtigen.

    ../images/472549_1_De_1_Chapter/472549_1_De_1_Fig3_HTML.png

    Abb. 1.3

    Voraussetzung für die neuroorthopädische systemische Diagnostik und Behandlung sind optimale interdisziplinäre Koordination und Kooperation

    Die Zusammenarbeit ist zeitkritisch. In der Zeit der frühen Rehabilitation nach akuten neurologischen Erkrankungen und in der Zeit des Wachstums entwicklungsgestörter Kinder liegt der Schlüssel zur späteren verbesserten Lebensqualität bewegungsbehinderter Menschen, hier beginnt der wichtige präventive Arbeitsbereich der Neuroorthopädie.

    Das Bewegungssystem des Patienten wird, beeinflusst von Krankheit und Gesundheit, Armut und Wohlstand, in Zukunft einer noch exakteren Diagnostik und Analyse zugänglich werden. Die Hoffnungen in die Vorbeugung und Behandlung von Erkrankungen, die Mobilität und Selbstständigkeit jedes Menschen bis ins hohe Erwachsenenalter nicht beeinträchtigen dürfen, werden daher weiter steigen. Verbesserungen im Zusammenspiel des multiprofessionellen Behandlungsteams werden Motor einer Weiterentwicklung sein. Körpereigenes Gewebe und neuartige Materialien der Werkstoffwissenschaften werden Trans- und Implantationen in der chirurgischen Neuroorthopädie und die neuroorthopädische Orthetik und Prothetik verändern, wenn dadurch ein neuer Standard der Biokompatibilität und des Komforts und eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität des wachsenden und erwachsenen Menschen erreicht werden können (Strobl 2010).

    Kernaussagen

    „Neuroorthopädie" umfasst als medizinisches Fachgebiet die systemische Diagnostik, Funktionsanalyse, Prävention, Behandlung und Rehabilitation von Störungen des Bewegungssystems bei Nerven- und Muskelerkrankungen im Kindes- und Erwachsenenalter.

    Störungen des Systems der Bewegungsorgane bedürfen einer systemischen Diagnostik, Therapie und Langzeitbetreuung, die durch die optimale Zusammenarbeit von Spezialisten der Therapie- und Pflegeberufe, der Orthopädie- und Rehabilitationstechnik, der Ärzteschaft und Sozialpädagogik sowie zahlreicher anderer Berufsgruppen ermöglicht werden.

    Aufgabe der Neuroorthopädie ist die Erleichterung von Alltagsfunktionen, wie Fortbewegung, Gehen, Greifen, Stehen, Sitzen und Lagerung, und die rechtzeitige Vorbeugung der Entwicklung von Sekundärschäden des Bewegungssystems bei Menschen jeden Alters mit neuromotorischen Erkrankungen und Behinderungen. Ziel ist das Erreichen einer langfristig schmerzfreien Mobilität, Autonomie und Inklusion des Patienten, das (Wieder-)Erreichen einer vollständigen sozialen Teilhabe und Akzeptanz.

    Literatur

    Brunner R (2013) Editorial. J Child Orthop. 2013 Nov;7(5):365. https://​doi.​org/​10.​1007/​s11832-013-0507-6. Epub 2013 Aug 10

    Hoffa A (1900) Die Orthopädie im Dienste der Nervenheilkunde. In: Lehrbuch der Orthopädie. Fischer, Jena

    Hohmann G (1920) Das Werk von Konrad Biesalski. Dtsch Med J. 1955 15;6(1920):651–652

    Kügelgen B (1995) Aktuelle Neuroorthopädie – Bilanz und Ausblicke. Springer, Berlin. 978-3-642-78372-2 (ISBN)

    Matzen P, Deschauer M, Kornhuber M, Scholz R (Hrsg) (2017) Neuroorthopädie. De Gruyter, Oldenbourg. 978-3-11-035242-9 (ISBN)

    Phelps WM (1945) Neuromuscular disorders exclusive of poliomyelitis. Arch Surg. 1945 Nov–Dec;51:315–318

    Phelps WM, ST James R (1948) The prevention of postural deformities in children with zerebral palsy. Arch Phys Med Rehabil. Apr;29(4):212–217

    Stotz S, von Zawadzky R (2000) Therapie der infantilen Zerebralparese. Pflaum, München. 978-3790508383 (ISBN)

    Strobl WM (2010) Neuroorthopädie (Editorial). Der Orthopäde. 2010 Jan;39(1):5–6. https://​doi.​org/​10.​1007/​s00132-009-1531-6

    Strobl WM (2014) Neuroorthopädie (Editorial). Der Orthopäde. 2014 Jul;43(7):601–2. https://​doi.​org/​10.​1007/​s00132-013-2213-y

    von Bertalanffy L (1948) Zu einer allgemeinen Systemlehre, Biologia Generalis. 195. MIT Press & Wiley & Sons, New York, S 114–129

    Wehling P, Cleveland S, Reinecke J, Schulitz KP (1995) Magnetic stimulation as a diagnostic tool in cervical nerve root compression and compression-induced neuropathy. J Spinal Disord. 1995 Aug;8(4):304–7

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021

    W. M. Strobl et al. (Hrsg.)Neuroorthopädie - Disability Managementhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-61330-6_2

    2. Neuroanatomie und Neurophysiologie der Motorik – Wechselwirkungen des sensomotorischen Systems

    Wolfgang Laube¹  

    (1)

    Altach, Österreich

    Wolfgang Laube

    Email: wolfgang.laube@aon.at

    2.1 Steuerung menschlicher Bewegung – Das sensomotorische System: Aufbau und physiologische Funktion

    2.2 Das sensomotorische System im physiologischen Alterungsprozess

    2.3 Von der SMS-Funktion abhängige Körperstrukturen

    2.4 Prägung der Struktur und Funktion im Zyklus Belastung-Adaptation

    2.5 Die Erkrankungsgruppe der physischen Inaktivität – „diseasome of physical inactivity"

    Literatur

    Schlüsselwörter

    Sensomotorisches SystemBewegungsorganisationWahrnehmungBelastungAdaptationAnaboler StoffwechselKataboler Stoffwechsel

    .

    Bewegung – prägendes und gesundheitsrelevantes Lebensmerkmal: 

    Für die Struktur und Funktion des Körpers ist die Bewegung das absolut prägende Merkmal. Sie ist die essenzielle Basis der körperlichen und kognitiven Reifung und der Strukturerhaltung bis ins hohe Alter. Nur ausreichende Bewegungen erhalten einen Zustand, der sich in Gesundheit, Vitalität, Lebensqualität und Schmerzfreiheit ausdrückt oder im Gegenteil zur Entwicklung chronisch degenerativer Krankheiten führt.

    2.1 Steuerung menschlicher Bewegung – Das sensomotorische System: Aufbau und physiologische Funktion

    „Welche Körperstrukturen verantworten alle Bewegungen und profitieren zunächst selbst von häufig wiederholten (Erwerb, Erhaltung von Bewegungskönnen), ausreichend anstrengenden langdauernden (Ausdauer) oder intensiven (Kraft) Bewegungen? Es sind diejenigen des „Senso-Motorischen Systems (SMS, Laube 2009, 2019) (siehe Abb. 2.1).

    ../images/472549_1_De_2_Chapter/472549_1_De_2_Fig1_HTML.png

    Abb. 2.1

    Das sensomotorische System

    Das Wort „Senso-" kommt von Sensoren, von Informationsaufnahme. Die physikalischen und chemischen Bedingungen, die als Reize auf den Körper einwirken und oder im Inneren vorliegen, werden in die „körpereigene Sprache übersetzt. Dies realisieren Sensoren, die Strukturbestandteile des peripheren Nervensystems sind. Korpuskuläre (Merkel-, Ruffini-, Meissner-, Vater-Pacini-Körperchen) Sensoren antworten anhand ihrer Mikroarchitektur auf konkrete Reizqualitäten. Als langsam adaptierende Sensoren („slow adapting, SAI, SAII) reagieren sie, solange der Reiz einwirkt, oder als schnell adaptierende („rapid oder „fast adapting, RA oder FAI, FAII) nur, wenn er sich verändert. Das Gehirn wird so über die Dauer und Intensität der Reize und über deren Intensitätsänderungen unterrichtet. Freie Nervenendigungen übersetzen mechanische oder thermische Reize. Der größte Anteil fungiert durch eine spezielle Ausstattung mit Neuropeptiden als Schmerzsensoren. Für die Informationsaufnahme entsprechend ihrer Spezialisierung, Empfindlichkeit und Reaktionsweise gibt es somit Mechano-, Chemo-, Temperatur- und Schmerzsensoren in der Haut (Oberflächensensibilität: OFS) und in der Muskulatur (Muskelspindeln, Golgi-Apparate), den Fasziensystemen sowie im Bindegewebe der Gelenke (Propriosensoren, Tiefensensibilität: TS). Des Weiteren solche für elektromagnetische (optische) und Schallwellen (akustische). Der Vestibularapparat übersetzt als Gleichgewichtssensor die mechanischen Auswirkungen der Gravitation und der Position des Kopfes im Raum. Alle Sensoren wandeln jeweils die für sie spezifischen Reize nur an ihren anatomischen Standorten in die körpereigene Sprache um. Sensoren „messen also keine Gelenkwinkel, Körper- und Raumpositionen oder „fotografieren Bilder bzw. „hören, erkennen und verstehen Musik oder Stimmen. Dies sind die „ureigenen kognitiven Leistungen des Gehirns auf der Basis der Informationen. Deshalb ist Bewegung immer Kognition. Mit dieser essenziellen kognitiven Leistung erfolgt „das Erkennen" und nachfolgend die Regulation der Körperhaltung, -stellung, -stabilität sowie der Bewegungspräzision (posturale Regulationen) durch das Gehirn. Aus den Signalen der Nozisensoren generiert das Gehirn die Schmerzen, die zunächst Gefahr und Verletzung anzeigen, aber unter krankhaften Bedingungen sich verselbständigen können und zu chronischen Schmerzen werden.

    Die Informationen aller Sensoren sind das Afferenzmuster. Das erste Neuron der afferenten Leitungswege ist im Ganglion spinale oder trigeminale. Es projizieren Bahnen zum Kleinhirn für Feinabstimmungen der Bewegungen. Über das Vorder- (protopathische Sensibilität: Nozizeption, Temperatur, grob Druck, Berührung) und Hinterstrangsystem (epikritische Sensibilität: präziser Berührungs-, Positions-, Lagesinn) erreichen die Afferenzen den primären (SI) und sekundären (SII) somatosensorischen Kortex.

    Das sensomotorisch relevante Nervensystem hat mit dem präfrontalen Cortex die oberste Instanz für die Motivation, den Bewegungswillen, die Bewegungsideen, das Bewegungsziel, alle Entscheidungen, die zielgerichtete Aufmerksamkeit und die Handlungsorganisation. Der SI und SII sind zunächst Ankunftsort aller Informationen der OFS und TS. Die der optischen Sensoren werden in der vorgeschobenen Kortexregion Netzhaut „vorverarbeitet und gelangen zur Sehrinde, wo die „finalen Bilder entstehen und erkannt werden. Die übersetzte Akustik gelangt zur Hörrinde und wird dort zum Höreindruck. Die vestibulären Nervenkerne im Hirnstamm erhalten auch optische Informationen und die der OFS und TS. Alle gemeinsam werden „bedarfsgerecht" zu den posturalen Regulationen verarbeitet. Das sind höchst komplexe reflektorische sensomotorische Subprogramme für die Körperhaltung und das Gleichgewicht (Stützsensomotorik). Sie entstehen durch Reifung aus den frühkindlichen Reflexen und müssen beim Lernen von Bewegungen (Zielsensomotorik) immer neu konkret nutzbar gemacht werden. Bewegungslernen (Meinel und Schnabel 2004) ist die wiederholte gerichtete Informationsaufnahme, -verarbeitung, -speicherung und die angepasste Informationsausgabe des Gehirns an die Muskulatur. Ohne Informationen ist das Gehirn weitestgehend handlungsunfähig. Deshalb leiten ca. 93 % aller Nervenfasern Informationen zum Gehirn und nur 7 % zur Muskulatur (Gesslbauer et al. 2017). Dies spiegelt aber nur im Ansatz den riesigen Informationsbedarf und die ungeheure Komplexität der zielgerichteten Informationsverarbeitung für jede Bewegung wider. Dies wird dem Menschen nicht direkt bewusst, aber durch den hohen Zeitbedarf des Lernens selbst einfacher und erst recht komplexer Bewegungen sichtbar. Im Lernprozess muss das Gehirn mittels Aufmerksamkeit die „wichtigen und relevanten Sensorinformationen auswählen. Alle können und müssen für die gewählte Bewegung nicht verarbeitet werden. Die „zur Bewegungsaufgabe passende Auswahl prägt die Phasen des Lernens. Aus der Tiefensensibilität berechnet das Gehirn den Lage- oder Positionssinn (Lage im Raum, Stellung der Körperteile zueinander), den Kraftsinn (Spannungszustand der myofaszialen Strukturen) und teils ergänzt durch die der Haut den Bewegungssinn (Empfindung der Bewegung – Lage- und Stellungsänderung einschließlich der Änderungsrichtung). Die OFS liefert die Afferenzen für das Druck-, Berührungs- und Vibrationsempfinden.

    Das Gehirn lernt, indem es seine Vernetzungsstruktur an die wiederholt abverlangte Funktion adaptiert (Adkins et al. 2006). Ein wichtiges integrales Merkmal dieser Strukturanpassung ist die Aktivierung der Schmerzhemmung. Deshalb wird beim Gesunden auch jede Bewegung schmerzfrei ausführbar. Gut trainierte Personen haben eine geminderte Schmerzempfindlichkeit (Flood et al. 2017) und physisches Training kann als Schmerztherapeutikum (Laube 2020) angesehen werden. Der umgedrehte Fall ist das Verlernen, indem es diese Struktur wieder abbaut. Lernen schafft zugleich die spezifischen konditionellen Voraussetzungen für die Bewegungen. Es wird somit zwar akzentuiert das „Bewegungsmanagement" des Gehirns trainiert, aber zugleich mit den Wiederholungen auch die Ausdauer und Kraft für diese konkrete Bewegungsfertigkeit.

    Auf der Basis der Motivation und der Bewegungsidee ist das Verarbeitungsergebnis der Afferenzen ein motorisches Efferenzmuster zur Aktivierung der spinalen Motoneuronenpools. Es stehen zwei Bahnsysteme zur Verfügung, die Pyramidenbahn und das extrapyramidale System. Die Pyramidenbahn beginnt im primären motorischen, prämotorischen, supplementär motorischen, im SI sowie im parietalen Assoziationscortex. Sie aktiviert die Muskeln für die Ziel- und weniger die Stützsensomotorik. Durch Kollateralen zu den afferenten Bahnen und zum Hinterhorn im Rückenmark hat sie Einfluss auf den afferenten Informationsfluss. Das extrapyramidale System mit gleichem Ursprung integriert die Leistungen der Basalganglien mit ihren Funktionsschleifen und umfänglich den Hirnstamm in die Bahnverbindungen. Mit der Einbindung des Hirnstamms werden die posturalen Regulationen für die Körperhaltung und -stellung, die Bewegungspräzision, das Gleichgewicht und die Schmerzhemmung integrale Bestandteile aller Bewegungen. Die Bahnen enden an den Motoneuronen (Hand), aber bevorzugt in den segmentalen spinalen Netzwerken. Die spinalen α-Motoneuronen im Vorderhorn sind die letzte neurale Station des SMS und komplexe Informationsverarbeitungs- und Integrationszentralen. Sie innervieren viele Muskelfasern gleichen Typs (langsam, schnell), mit denen sie motorische Einheiten bilden. Im Pool der Motoneurone steigt die Größe der Zellkörper kontinuierlich von einem kleinsten bis zu einem größten an. In der gleichen Reihenfolge steigen die Rekrutierungsschwellen (Größenprinzip: Henneman 1957), die Leitungsgeschwindigkeiten ihrer Axone, die Kontraktionskraft, -geschwindigkeit und die Ermüdbarkeit ihrer Muskelfasern und das Innervationsverhältnis (Anzahl Muskelfasern/Motoneuron). Für die Aktivierung jeder motorischen Einheit eines Muskels hat das Efferenzmuster keine selektiven Signale. Der Motoneuronenpool wird mittels eines gemeinsamen Antriebs aktiviert. Dieser „common drive" wird durch das benannte systematische Kontinuum der physiologischen Eigenschaften der Motoneurone umgesetzt. Muskelschmerzen bedingen aber eine veränderte Rekrutierungsstrategie. Die Rekrutierung erfolgt nicht mehr nach dem Größenprinzip und die Entladungsraten werden vermindert.

    Das Wort „Motor-" kommt von Muskel, also von Leistungsabgabe. Die von der Muskulatur generierte Spannung wird als Kraft für die Körperhaltung, -stabilisierung und Bewegung über die Fasziensysteme innerhalb der Muskelketten und über die Sehnen auf das Skelett übertragen. Die Muskeln sind aber nicht nur „Motor". Die aktiven und nur die aktiven Muskeln produzieren Signalstoffe (Myokine, Pedersen 2010), die den Gesundheitsstatus des Organismus prägen. Sie sind essenziell für den Strukturaufbau, die Strukturerhaltung und -regeneration. Auch der wichtige Ausbau der muskulären Gefäßversorgung gehört dazu. Aus gesundheitlicher Sicht besonders bedeutsam ist, dass die Muskelhormone in allen Geweben ein antientzündliches Netzwerk aktivieren, wodurch der „körperliche" Entzündungsstatus gravierend geprägt wird. Damit stehen die Wirkungen der Muskelhormone im Gegensatz zum Hormon Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) des viszeralen Fettgewebes. Dieses Hormon stimuliert Entzündungsprozesse in allen Geweben. Ist die Bilanz zu deren Gunsten verschoben, entwickelt sich generalisiert eine persistierende geringgradige Entzündung, die als solche keine Schmerzen verursacht. Sie ist aber die Basis der in langen Zeiträumen entstehenden chronisch-degenerativen Erkrankungen. Jedes Gewebe reagiert mit spezifischen krankhaften Veränderungen, sodass sehr verschiedene Erkrankungen zu dieser Gruppe gehören. Es entwickeln sind Mikro- und Makroangiopathien und im Ergebnis Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erkrankungen des Stoffwechsels wie das metabolische Syndrom und der Diabetes mellitus Typ II, neurodegenerative und einige häufige onkologische Erkrankungen. Über die Gefäßschädigungen müssen auch die primären Osteoarthrosen dazugezählt werden.

    Die Phylogenese hat nur den aktiven, also den ausreichend lange zyklisch und/oder intensiv kontrahierenden Muskel zum Hormonproduzenten entwickelt und die Sensomotorik damit zum wichtigsten „Gesundheitsfaktor" gemacht.

    Die drei benannten Strukturelemente des SMS, die Sensoren, das Nervensystem und die Muskulatur, generieren jede erdenkliche Bewegung. Hierbei sind sie untrennbar funktionell kreisförmig miteinander verknüpft und auch immer als „ganzes System in Funktion. Daraus ergibt sich eine wichtige praktische Konsequenz. Sind die Strukturen auch nur „eines Sektors durch unzureichende Reifung und/oder inaktivitätsbedingt ungenügend ausgebildete Strukturen bzw. durch Verletzungen oder Erkrankungen funktionell defizitär oder strukturell zerstört, dann ist die Funktion des Gesamtsystems verändert. Eine angepasste Trainierbarkeit bleibt aber mit diesen Veränderungen immer erhalten. Somit ist und bleibt das Training die einzige Möglichkeit, in Abhängigkeit vom Ausmaß der Defizite oder Strukturzerstörungen Verbesserungen erreichen zu können.

    2.2 Das sensomotorische System im physiologischen Alterungsprozess

    Der Alterungsprozess beginnt im 3. Lebensjahrzehnt und bezieht alle Teilstrukturen ein (siehe Abb. 2.2, Hunter et al. 2016; Gomes et al. 2017). Sie werden ab- und umgebaut und es mindert sich systematisch die SMS-Funktionsfähigkeit.

    ../images/472549_1_De_2_Chapter/472549_1_De_2_Fig2_HTML.png

    Abb. 2.2

    Der Alterungsprozess des sensomotorischen Systems

    Von den Mechanosensoren werden bevorzugt die schnell adaptierenden reduziert. Dem Gehirn gehen die Informationen über die dynamischen Vorgänge im Körper verloren, auf die es mit kompensatorischen Muskelantworten reagieren müsste. So leiden die Bewegungsqualität und das Gleichgewicht u. a. beim Gehen. Es entsteht Sturzgefährdung.

    Durch De- und Remyelinisierungsprozesse werden die Leitungsgeschwindigkeiten der primär schnellen afferenten wie efferenten Axone geringer. Das bedeutet, die Sensorinformationen erreichen das Gehirn bzw. dessen Signale die Muskeln verspätet. Notwendige motorische Konsequenzen fallen verzögert aus. Der Verlust der schnell adaptierenden Sensoren geht auch mit dem ihrer Neurone einher. Die Verarbeitungskerne der Leitungsbahnsysteme verlieren vorrangig ihre Vernetzung aber auch Neurone, wodurch die Informationsverarbeitung eingeschränkt wird.

    Im Gehirn verringert sich vorrangig die Vernetzung und regional entstehen erhebliche Neuronenverluste. Dies verändert und mindert die Interaktionen zwischen den Hirnarealen und die sensomotorische Integration leidet. Die verminderte strukturelle Grundlage der Informationsverarbeitung beeinträchtigt schleichend alle kognitiven Leistungen. Es sind schleichend die Aufmerksamkeit, die Gedächtnisleistung, die Lernfähigkeit, die Entscheidungsprozesse mit Konsequenzen für das reaktive Verhalten, die räumliche und später auch zeitliche Orientierung und alle sensomotorisch-koordinativen Leistungen betroffen. Diese Vorgänge beziehen auch die Reduzierung der endogenen Schmerzhemmung ein. Es steigt die Disposition für Schmerzen. Sensorische Tests bei klinisch gesunden alten Menschen belegen, dass die Verzögerung der Alterungsprozesse durch systematische physische Aktivitäten auch mit einer effektiveren Schmerzhemmung einhergeht.

    Die efferenten Bahnen sind von den gleichen Strukturveränderungen wie die afferenten betroffen. Abnahmen der Leitungsgeschwindigkeiten, der Vernetzung und Neuronenverluste prägen das Bild. Die Motoneuronenpools werden altersabhängig bis zu 50 % gelichtet und es gehen bevorzugt die Neuronen der schnellen motorischen Einheiten verloren. Ihre Muskelfasern werden zunächst „herrenlos" und dann zum Teil von langsamen Motoneuronen übernommen. Damit werden sie auch langsam. Diese Verluste reduzieren die maximale Kraft und die Geschwindigkeit, mit der die Kraft zur Verfügung gestellt werden kann. Sie sind ein Element der Sturzgefährdung. Die Muskeln unterliegen der Sarkopenie. Die Muskelfaserverluste werden durch Binde- und Fettgewebe ersetzt. Bei den verbleibenden Muskelfasern fällt die Kontraktilität.

    Somit führen die Faktoren defizitäres Motorprogramm durch die afferenten, zentralen und efferenten strukturellen Veränderungen und die Motoneuronen-, Muskelfaser- und Kontraktilitätsverluste zu fortschreitenden Defiziten des SMS bis zur Gebrechlichkeit.

    2.3 Von der SMS-Funktion abhängige Körperstrukturen

    Die Bewegungen werden nicht durch einzelne Muskeln, sondern von myofaszialen Funktionsketten generiert. Damit ist die SMS-Funktion und letztendlich die der Muskeln die aktiv „stabilisierende und/oder bewegende" Instanz. Die Muskelfunktion hat aber einen direkten Einfluss auf andere Gewebe und Organsysteme, die nicht zum SMS gehören, aber nur durch dessen Aktivität beansprucht werden (siehe Abb. 2.3). So vermitteln die Faszien und Sehnen die SMS-Aktivität auf das Skelett, wodurch beide Strukturen auf „passivem Weg" beansprucht werden. Die Logistiksysteme werden durch die SMS-Funktion beansprucht, um dessen Strukturen zu versorgen. Nur eine SMS-Aktivität mit einer Mindestbeanspruchung aktiviert die globalen und lokalen anabolen Hormonsysteme. Da ausschließlich nur die Beanspruchung, also die Funktion, zur Strukturerhaltung führt, sind die benannten Gewebe bzw. Organsysteme auf die Aktivität des SMS angewiesen.

    ../images/472549_1_De_2_Chapter/472549_1_De_2_Fig3_HTML.png

    Abb. 2.3

    Die von der Funktion des SMS abhängigen Gewebe und Funktionssysteme

    Die Faszien bilden eine verbindende und integrierende Körpermatrix mit vielen Funktionen (Myers 2015). Erstens übertragen sie „passiv die kontraktilen Muskelspannungen in der Muskelkette (Bernabei et al. 2016) und letztendlich auf das Skelett, was ihre Beanspruchung bedingt. Aber auch die Gelenkkapseln, die Bänder und die periartikulären Strukturen sind an der mechanischen Transmission der Kräfte beteiligt. Hierfür müssen diese Strukturen eine ausreichend hohe mechanische Belastbarkeit besitzen. Nur dann liegt die Schwelle für Mikrotraumatisierungen und chronische fehl- und überbelastungsbedingte entzündliche Reaktionen hoch. Die mechanische Belastbarkeit ist ausschließlich durch mechanische Belastungen zu erreichen. Regelmäßiges Krafttraining ist das Mittel der Wahl. Zweitens fungieren Faszien als gelenkähnliche Strukturen, indem lockeres Bindegewebe Räume schafft und Bewegungen zulässt. Die Bildung von gelenkähnlichen Strukturen und myofaszialen Ketten erzeugt räumlich positionierte „myofasziale Sensorketten und somit ein „räumliches Informationsmuster" für die sensomotorische Koordination von Haltung und Bewegung. Drittens arbeiten sie als Verschiebeschichten. Sie ermöglichen und sichern die notwendigen gegenseitigen relativen Verschiebungen zwischen Muskelfasern (Endomyosium), Muskelfaserbündeln (Perimysium), Muskeln (Epimysium) wie auch zwischen den Muskeln und der Haut (Langevin et al. 2011). Die korrekte physiologische Verschieblichkeit hat wiederum Auswirkungen auf die bewegungsbedingten zeitlichen und räumlichen Sensoraktivierungen und damit auf die Qualität der Bewegungen.

    Bei ungenügendem Gebrauch der Faszien wird diese Funktion eingeschränkt und gestört und Mikrotraumatisierungen und Entzündungsprozesse folgen. Auch die Sensoren werden in die resultierenden pathologischen, pathophysiologischen und degenerativen Veränderungen einbezogen. Diese strukturellen und damit immer auch verbundenen entzündlichen Reaktionen in den Faszien sind eine Ursache u. a. für den Anstieg der Ansprechbarkeit der Neuronen im Hinterhorn auf die pathophysiologischen Bedingungen. Die praktische Konsequenz ist das häufige Trainieren vielseitiger Bewegungen aller Körperbereiche. Da der Organismus eine natürliche dreidimensionale Struktur hat, erfordert jede Bewegung automatisch die bewegungsabhängige räumliche Verschieblichkeit aller Faszienstrukturen. Viertens sind die Faszien wichtiger Standort von Mechano- und Nozisensoren. Ihre korrekte Funktion als Einzelstruktur ist vom Zustand der Mikrozirkulation abhängig und als Sensornetz von der Intaktheit der räumlichen und zeitlichen Verschiebefunktion.

    Das Knorpelgewebe wie die Faszien und Sehnen benötigt für eine gesunde Struktur und Funktion mechanische Belastungen akzentuiert im Kindes- und Jugendalter (Antony et al. 2016). Offensichtlich sind regelmäßige intensive SMS-Aktivitäten besonders im Kindes- und Jugendalter für dessen Belastbarkeit in den späteren Lebensabschnitten erforderlich. Körperlich inaktive Kinder haben häufiger eine Arthrose im späteren Leben. Alle Bindegewebestrukturen sind auf mechanische Belastungen angewiesen, denn nur diese aktivieren anabole Prozesse für eine gesteigerte Belastbarkeit. Auf SMS-Inaktivität reagieren diese Strukturen sehr schnell mit einer 30–40 % reduzierten Belastbarkeit innerhalb von wenigen Wochen. Auch für das Skelett sind intensive SMS-Aktivitäten essenziell, denn die Knochenmasse und die Festigkeit sind direkt von der Muskelkraft abhängig.

    Ist das SMS andauernd oder intensiv aktiv, müssen seine Strukturen für die entsprechend hohe Energieproduktion versorgt werden. Hierfür sind die Logistiksysteme Atmung, Herz-Kreislauf und der aerobe Energiestoffwechsel jeder Zelle oder Muskelfaser verantwortlich. Somit resultiert aus der SMS-Aktivität die Beanspruchung der Logistiksysteme, die wiederum für die Funktionsfähigkeit ihrer Strukturen essenziell ist.

    2.4 Prägung der Struktur und Funktion im Zyklus Belastung-Adaptation

    Der Zyklus Belastung-Beanspruchung-Ermüdung-Erholung-Adaptation (siehe Abb. 2.4) steht für eine belastungsabhängige und -spezifische biologische Wirkungskette. Diese funktioniert bei systematischer physischer Aktivität in Richtung des Strukturaufbaus (positive anabole Richtung) und bei chronischer Inaktivität in Richtung des Strukturabbaus (negative katabole Richtung) (Laube 2009, 2011).

    ../images/472549_1_De_2_Chapter/472549_1_De_2_Fig4_HTML.png

    Abb. 2.4

    Der Zyklus Belastung-Beanspruchung-Ermüdung-Erholung-Adaptation

    Die Belastung entspricht der Aktivitätsvorgabe. Wird diese ausgeführt, ergibt sich für den Organismus ein psychophysischer Funktionsaufwand, die Beanspruchung. Sie führt in Abhängigkeit von der Bewegungsart, der Dauer der Ausführung und dem Anstrengungsgrad zur Ermüdung. Für die positive biologische Wirksamkeit der Anstrengung muss die Beanspruchung immer eine Mindestintensität oder -dauer haben, da nur dann die für die strukturellen Verbesserungen essenziell erforderlichen globalen (Achse Hypothalamus-Hypophyse-periphere Hormondrüsen) und lokalen (auto-, para-, endokrine Substanzen des Muskel-, Binde- und Knochengewebes) anabolen Hormonsysteme aktiviert werden. In der Erholung laufen dann gewebespezifisch die restitutiven, reparativen und die angestrebten adaptiven Vorgänge ab. Somit reagieren alle Strukturen des SMS, der Logistiksysteme, des Binde- und Knochengewebes, aber auch die der anabolen Hormonproduktion selbst mit differentem Zeitbedarf und Ausmaß positiv auf die abverlangte Funktion.

    Systematisch wiederholte Belastungen führen zu einer „somatischen, antiatrophisch-hypertrophischen, anti-entzündlichen, anti-nozizeptiven und anti-involutiven (anti-aging) Körperstruktur". Systematisch fehlende Belastungen ergeben eine atrophisch-degenerative, pro-entzündliche, pro-nozizeptive und pro-involutive Körperstruktur.

    2.5 Die Erkrankungsgruppe der physischen Inaktivität – „diseasome of physical inactivity"

    Eine dauerhafte physische Inaktivität verschiebt unabhängig vom Alter und dem BMI die Bilanz zwischen den Hormonen der Muskulatur und denen des viszeralen Fetts in Richtung einer persistierenden chronischen geringgradigen systemischen Entzündung (Fischer et al. 2007). Diese Entzündung verursacht über einen sehr langen Zeitraum in jedem Gewebe spezifische Strukturstörungen, die zu Merkmalen verschiedener Erkrankungen werden. Es sind die Herz-Kreislauf-, Stoffwechsel-, einige onkologische und neurologische bzw. neurodegenerative Erkrankungen. Da sie eine gemeinsame pathophysiologische Grundlage haben, werden sie als „Erkrankungsgruppe der physischen Inaktivität" (Pedersen 2009, siehe Abb. 2.5) bezeichnet. Da über die Mikroangiopathien auch das Knorpel- und Knochengewebe degenerative Schäden entwickelt, können auch die sogenannten primären Arthrosen zu dieser Gruppe gezählt werden.

    ../images/472549_1_De_2_Chapter/472549_1_De_2_Fig5_HTML.png

    Abb. 2.5

    Die Krankheitsgruppe der physischen Inaktivität

    Da alle chronisch degenerativen Krankheiten auf der Basis der „low grade inflammation" einen teils über 10–15–20 Jahre und länger andauernden Entwicklungsweg nehmen, muss ihr Start bereits im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter stattfinden. Entsprechend kann gezeigt werden, dass der Fitnesszustand im 18. Lebensjahr die Häufigkeit von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen sowie die Mortalität nach 20–40 Jahren mitbestimmt und dass infolge einer ungenügenden Entwicklung der Knorpelstrukturen durch unzureichende mechanische Belastungen im Jugendalter die primären Arthrosen gehäuft auftreten.

    Der physische Fitnesszustand im 18. Lebensjahr prädeterminiert die Häufigkeit von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen sowie die Mortalität nach 20–40 Jahren. Eine ungenügende Entwicklung der Knorpelstrukturen durch unzureichende mechanische Belastungen im Jugendalter erhöht das Risiko für die Entwicklung primärer Arthrosen.

    Kernaussagen

    Umfänglich intensive und dauerhafte Bewegungen sind das wichtigste Merkmal des Lebens. Sie sind für die körperliche und kognitive Entwicklung und lebenslang für die Gesundheit essenziell.

    Das sensomotorische System (SMS), bestehend aus Sensoren, dem peripheren und zentralen Nervensystem und der Muskulatur, generiert alle erdenklichen Bewegungen. Die benannten Strukturen sind funktionell kreisförmig miteinander verknüpft und immer als Ganzes in Funktion.

    Das Gehirn benötigt die Sensorinformationen für alle Empfindungen und Wahrnehmungen und die Bewegungsorganisation. Bewegung ist Kognition. Das Gehirn lernt durch ihre wiederholte Verarbeitung, indem es seine Struktur der Funktion anpasst.

    Im Alterungsprozess verschwinden die Sensoren für schnelle Reizänderungen, die übrigen werden unempfindlicher, es sinkt die Leitungsgeschwindigkeit der schnellen Nervenfasern, die Vernetzung, Neurone fallen in Größenordnung dem programmierten Zelltod zum Opfer und die Muskulatur verliert die schnellen Muskelfasern zugunsten von Binde- und Fettgewebe. Das SMS verliert systematisch an Funktion.

    Alle nicht zum SMS gehörenden Körperstrukturen sind für die Strukturentwicklung und -erhaltung auf die SMS-Aktivität zwingend angewiesen. Dies sind die Logistiksysteme, alle Bindegewebestrukturen und die lokalen und anabolen Hormonsysteme, welche alle Anstrengungen mit ausreichender Dauer und Intensität in gut funktionierende und belastbare Körperstrukturen verwandeln und sie erhalten.

    Diese Vorgänge finden im Zyklus Belastung-Adaptation statt. Der anabole schafft einen gesunden und der katabole einen atrophischen Körper, der zeitabhängig in Degeneration und eine Gruppe chronisch-degenerativer Erkrankungen übergeht.

    Literatur

    Bücher

    Laube W (Hrsg) (2009) Sensomotorisches System. Thieme, Stuttgart

    Laube W (2019) Sensomotorisches System: lernendes System, Träger aller Bewegungsleistungen und Schnittstelle zwischen Menschen und Umwelt – Muskelorgan bestimmt Gesundheitsstatus. In Meyer M (Hrsg) Grundlagen der Neuroorthopädie bei Zerebralparese. Sensomotorik, Therapie, Psychodynamik, Indikationen, 2. Wahrnehmung und Bewegung. Universitätsverlag Winter, Heidelberg, S 99–130

    Meinel K, Schnabel G (2004) Bewegungslehre Sportmotorik: Abriss einer Theorie der sportlichen Motorik unter pädagogischem Aspekt. Meyer&Meyer, Aachen

    Artikel

    Adkins DL, Boychuk J, Remple MS, Kleim JA (2006) Motor training induces experience-specific patterns of plasticity across motor cortex and spinal cord. J Appl Physiol 101(6):1776–82 (Epub 2006 Sep 7)Crossref

    Antony B, Jones G, Jin X, Ding C (2016) Do early life factors affect the development of knee osteoarthritis in later life: a narrative review. Arthritis Res Ther 18(1):202. https://​doi.​org/​10.​1186/​s13075-016-1104-0.

    Bernabei M, Maas H, van Dieën JH (2016) A lumped stiffness model of intermuscular and extramuscular myofascial pathways of force transmission. Biomech Model Mechanobiol 15(6):1747–1763 (Epub 2016 May 18)Crossref

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    Laube W (2020) Sensomotorik und Schmerz. Springer (im Druck)

    Myers TW (2015) Anatomy Trains – Myofascial Meridians for Manual and Movement Therappists, 3. Aufl. Urban & Fischer, Edinburgh

    Pedersen BK (2009) The diseasome of physical inactivity and the role of myokines in muscle-fat cross talk. J Physiol 587:5559–5568Crossref

    Pedersen BK (2010) Muscles and their myokines. J Exp Biol 214:337–346Crossref

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2021

    W. M. Strobl et al. (Hrsg.)Neuroorthopädie - Disability Managementhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-61330-6_3

    3. Grundprinzipien der funktionellen Anatomie und Biomechanik des Haltungs- und Bewegungsorgans

    Bernhard Heimkes¹, ², ³  

    (1)

    Klinik und Poliklinik für Orthopädie, Physikalische Medizin und Rehabilitation, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland

    (2)

    Stiftung Integrationszentrum für Cerebralparesen, ICP München, München, Deutschland

    (3)

    Klinikum Dritter Orden, München-Nymphenburg, Klinik für Kinderchirurgie, Sektion Kinderorthopädie, München, Deutschland

    Bernhard Heimkes

    Email: bernhard.heimkes@dritter-orden.de

    Email: info@ortho-heimkes.de

    3.1 Physikalische Grundbegriffe

    3.2 Biomechanik des Stehens

    3.3 Biomechanik des Sitzens

    3.4 Biomechanik des Gehens

    Literatur

    Schlüsselwörter

    Biomechanik Biomechanical EngineeringMechanobiologie Funktionsstörung KörperschwerpunktBeckentiltBodenreaktionskraft

    .

    Patienten, die von einer neurologischen Erkrankung betroffen sind, weisen – mit wenigen Ausnahmen – bei Geburt einen normalen muskuloskelettalen Status auf. Erst die unmittelbar postnatal oder im späteren Leben einsetzende Funktionsstörung verändert die Form und/oder die Struktur des Skelettorgans. Dieser Zusammenhang zwischen Form, Struktur und Funktion („form follows function") ist mechanisch erklärbar und damit Gegenstand physikalischer Untersuchungs- und Berechnungsmethoden, wie sie im Spezialgebiet der funktionellen Anatomie und Biomechanik angewandt werden.

    Zu Beginn des Kapitels werden die wesentlichen physikalischen Grundbegriffe erklärt, die in Arbeiten zur funktionellen Anatomie und Biomechanik zu finden sind. Im anschließenden biologischen Teil werden biomechanische Grundprinzipien beschrieben, die im normalen Stand, Sitzen und Gehen des Menschen zu beobachten sind.

    Unter dem Begriff Biomechanik vereinen sich verschiedene interdisziplinär ausgerichtete Forschungsrichtungen, denen gemeinsam ist, dass sie physikalische Gesetze und Anwendungen nutzen, um biologische Systeme zu verstehen und zu beeinflussen. In den letzten Jahrzehnten lassen sich zwei Hauptströmungen erkennen: Zum einen das Biomechanical Engineering, das lösungsorientiert ingenieurwissenschaftliche Methoden in die Medizin transferiert. Hierzu gehört beispielsweise die Entwicklung von Herzklappen, Osteosynthesematerial, Endo- oder Exoprothesen, Navigationssystemen oder auch Gangrobotern. Zum anderen die Mechanobiologie, die untersucht, wie mechanische Stimuli biologische Prozesse steuern. Sie entwickelt Denkmodelle, die beschreiben, wie physikalische Größen die Funktion, äußere Form und Binnenstruktur von Organsystemen beeinflussen (Carter und Beaupré 2007).

    In der Neuroorthopädie stellt sich vor allem die Frage, wie sich die im Rahmen der Grunderkrankung gestörte Funktion auf das Wachstum von Muskulatur, Sehnen sowie Gelenk- und Skelettform auswirkt. Im Erwachsenenalter interessiert, inwieweit bei rehabilitativen Maßnahmen ausgeübte Funktionen form- und strukturerhaltend wirken.

    3.1 Physikalische Grundbegriffe

    Kraft. Die Kraft (englisch: force) wird mit F bezeichnet und hat die Einheit [F] = 1 N = 1 Newton. Sie ist ein gedankliches physikalisches Konstrukt, das sich der menschlichen Wahrnehmung entzieht, deren verformende Wirkung jedoch zum Beispiel beim Zusammenstoß zweier PKWs erkennbar ist. Ihre verformende Wirkung nutzt man auch, um eine Kraft zu quantifizieren. So beruht die Kraftangabe an einer Federwaage auf der jeweiligen Verformung der zugehörigen Feder.

    Eine Sonderform der Kraft ist die Schwerkraft, die vom Abstand zum Erdmittelpunkt abhängt. Ein Körper mit einer Masse von 1 Kilogramm übt in unseren Breiten eine Schwerkraft von 9,81 N aus. Für biomechanische Überlegungen reicht es aus, so aufzurunden, dass eine Masse von 1 kg einer Schwerkraft von 10 N entspricht.

    Wirkt eine Kraft auf eine Oberfläche, so wird sie als Druckkraft bezeichnet.

    Weist sie von einer Bezugsfläche weg, so spricht man von einer Zugkraft. Parallel zu Bezugsflächen wirkende Kräfte werden Scherkräfte genannt.

    Eine in der Biophysik häufig vorkommende Sonderform der Kraft ist die mittig und senkrecht auf eine Querschnittsfläche wirkende Kraft, diese wird als Normalkraft FN bezeichnet.

    Kräfte werden entsprechend der Abb. 3.1a durch Vektoren dargestellt, wobei die wirkende Kraft durch ihre Größe („Betrag"), ihre Richtung entlang der Wirkungslinie und ihren Angriffspunkt eindeutig definiert ist. Sie können entlang ihrer Wirkungslinie beliebig verschoben werden. Mehrere Kräfte können durch eine gemeinsame Kraftresultierende zusammengefasst werden. Einfachstes Beispiel ist das Kräfteparallelogramm, das zwei Kraftvektoren zu einer Resultierenden zusammenfasst. Gelingt es, innerhalb eines solchen Kräfteparallelogramms vier Kenngrößen zu bestimmen, kann man die verbleibenden zwei Kenngrößen errechnen. Entsprechend der Abb. 3.1b lassen sich mehrere Kraftresultierende durch Verschiebung entlang der Wirkungslinie zu einer gemeinsamen Resultierenden zusammenfassen.

    ../images/472549_1_De_3_Chapter/472549_1_De_3_Fig1_HTML.png

    Abb. 3.1

    a Kräfte werden durch Vektoren dargestellt, wobei die wirkende Kraft durch ihre Größe („Betrag") und ihre Richtung entlang der Wirkungslinie sowie durch ihren Anfangspunkt 0 und ihre Spitze P eindeutig definiert ist. Verschiedene Kräfte können vektoriell zu Kraftresultierenden zusammengefasst werden. b Am Hüftgelenk und Femur errechnen sich im Einbeinstand aus Körperteilgewichten und beteiligten Muskelkräften drei Kraftresultierende: Die Hüftresultierende Rh, die Trochanterresultierende Rt und die Femurschaftresultierende Rd

    Drehmoment

    Das Drehmoment (englisch: moment) wird mit M bezeichnet und hat die Einheit [M] = 1Nm = 1 Newtonmeter. Will man „innere", gelenkbelastende Kräfte bestimmen, so kann man diese mittels biomechanischer Modellrechnung errechnen. Diese nutzt den Gleichgewichtssatz der Mechanik, wonach ein Körper im Gleichgewicht ist, wenn seine Drehmomente gleich groß sind. Als Drehmoment wird hierbei das Produkt aus dem Betrag der Kraft F und ihrer zugehörigen Last- oder Kraftarmlänge a bezeichnet (M = F × a)

    Das bekannteste Rechenmodell der Biomechanik ist das Pauwels'sche Hüftmodell (Pauwels 1935), siehe Abb. 3.2. Hierbei wird die Hüfte im Einbeinstand mit einer Drehwaage mit zwei verschieden langen Auslegern verglichen. Da man die Länge der Ausleger („Kraftarm und „Lastarm) sowie die Richtung der Hüftabduktoren mit bildgebenden Verfahren und das Körperteilgewicht, das die Hüfte belastet (=  Körpergewicht minus Gewicht des Standbeines), bestimmen kann, kann die verbleibende Unbekannte, die gegenhaltende Kraft der Abduktoren, errechnet werden. Es ergeben sich damit insgesamt zwei Kraftvektoren, die über vektorielle Addition im Vektorparallelogramm zur Hüftresultierenden R zusammengefasst werden. Diese entspricht dann der Hüftbelastung und der Belastung des Schenkelhalses.

    ../images/472549_1_De_3_Chapter/472549_1_De_3_Fig2_HTML.png

    Abb. 3.2

    a Gleichgewichtssatz der Mechanik: Eine Balkenwaage befindet sich im Gleichgewicht, wenn seine beiden Drehmomente links und rechts des Drehpunkts gleich groß sind. Das Drehmoment errechnet sich jeweils aus Gewicht mal Lastarmlänge und beträgt hier beidseits 4 Drehmoment-Einheiten. Auf der Säule der Balkenwaage lasten somit 4 Gewichtseinheiten. b Die Hüfte im Einbeinstand funktioniert nach demselben Prinzip, wobei das laterale Drehmoment durch die Kraft der Abduktoren Fmh und das mediale durch das Körperteilgewicht G5 bestimmt ist.

    (Aus Heimkes 2020, mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature)

    Spannung

    Eine Kraftangabe alleine reicht noch nicht aus, um die Wirkung von Kräften im Gewebe abzuschätzen. Als wesentlicher weiterer Faktor interessiert die Querschnittsfläche, auf die eine verformende Kraft auftrifft. Der Quotient aus Kraft und Fläche wird Spannung genannt (siehe Abb. 3.3).

    ../images/472549_1_De_3_Chapter/472549_1_De_3_Fig3_HTML.png

    Abb. 3.3

    Nehmen die inneren Kräfte im Laufe des kindlichen Wachstums zu, dann verbreitern sich die zugehörigen Knorpelflächen so, dass die Spannung an den Knorpelflächen immer konstant erhalten bleibt

    Die Spannung (englisch: stress) = Kraft/Fläche wird mit σ bezeichnet und hat die Einheit [σ] = 1 Pa = 1 Pascal = 1 N/m². Je nachdem, wie die Kraft an der Querschnittsfläche angreift, unterscheidet man in Druckspannungen, Zugspannungen oder Scherspannungen.

    Trifft eine Druckkraft rechtwinkelig und mittig auf eine Querschnittsfläche, wie dies regelhaft an den Wachstumsfugen zu beobachten ist, dann bezeichnet man den Quotienten aus Kraft und Fläche Druckspannung oder vereinfacht Druck.

    Die Druckspannung oder der Druck wird mit p = FN/A bezeichnet und hat die Einheit [p] = 1 Pa = 1 Pascal = 1 N/m².

    Dehnung

    Gewebe reagieren – abhängig von ihren Materialeigenschaften – auf einwirkende Spannungen, indem sie sich, wenn auch nur leicht, verformen. Verformungen belasteter Körper kann man messen, indem man z. B. überprüft, wie stark sich deren ursprüngliche Höhe reduziert, wenn man auf sie Druck ausübt. Die Verformung wird physikalisch als Dehnung oder Stauchung bezeichnet.

    Die Dehnung oder Stauchung (englisch: strain) wird mit ε bezeichnet und ist durch ihre Höhenänderung/Ursprungshöhe definiert. ε = $$\Delta {\text{L}}/{\text{L}}0.$$ Sie wird in [ε] = 1/100 = % oder 1/1.000.000 µε (microstrain) angegeben.

    Proliferationsrate

    Wachstumsfugen unterliegen Kräften, Spannungen und Dehnungen, wobei die Proliferationsrate, die man als Vorschub pro Zeiteinheit messen kann, mit dem Ausmaß der Krafteinwirkung korreliert (siehe Abb. 3.4).

    ../images/472549_1_De_3_Chapter/472549_1_De_3_Fig4_HTML.png

    Abb. 3.4

    a Die Errechnung der an der Hüfte wirksamen Kraftresultierenden zeigt, dass die Trochanterresultierene Rt etwa halb so viel Kraft aufbringt wie die Hüftresultierende Rh. (Aus Skuban et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung von S. Karger AG, Basel, Schweiz). Da die Wachstumsrate der zugehörigen Epiphysenfuge und Apophysenfuge annähernd diesem Kraftverhältnis entspricht, kann man davon ausgehen, dass die Proliferationsrate einer Wachstumsfuge von der Größe der Kraft bestimmt ist, die auf sie wirkt. b Historisches Bild eines hüftgesunden Kindes, dessen Proliferationsraten durch medikamenteninduzierte „growth arrest lines" sichtbar sind. (Pauwels 1965, mit freundlicher Genehmigung von Springer nature)

    Anwendungsbeispiele für die Bestimmung biomechanischer Kenngrößen:

    Messung interner Kräfte im Hüftgelenk mittels telemetrierbarer Hüftendoprothesen (Bergmann et al. 1993)

    Berechnung interner Kräfte im Hüftgelenk im Einbeinstand (Pauwels 1935)

    Berechnung interner Kräfte, Flächen und Druckspannungen an den 

    Wachstumsfugen des koxalen Femurendes (Heimkes et al. 1993, 2014)

    Dreidimensional fortlaufende Berechnungen der Hüftresultierenden (Correa et al. 2010)

    Kräfte, Drehmomente, Druckspannungen, Zugspannungen, Scherspannungen, Dehnung und Stauchung beeinflussen die Form der Bewegungsorgane. An Wachstumsfugen korreliert die Proliferationsrate mit dem Ausmaß der Krafteinwirkung.

    3.2 Biomechanik des Stehens

    Anthropologische Studien lassen den Schluss zu, dass sich der aufrechte Stand und Gang über den Vierfüßlergang entwickelt hat, wobei sich die Balance in der Sagittalebene am stärksten verändert hat. Entscheidend war, dass sich das Becken aus seiner fast waagrechten Position aufrichtete, und die primär kyphotische Lendenwirbelsäule eine Lordose entwickelte. Als vorläufiges, aktuelles Ergebnis weist der Homo sapiens eine sagittale Balance auf, wie sie in Abb. 3.5 abgebildet ist.

    ../images/472549_1_De_3_Chapter/472549_1_De_3_Fig5_HTML.png

    Abb. 3.5

    Globale sagittale Balance: Im aufrechten Stand verläuft die Schwerkraftlinie („gravity line") des Körpers vor der Brustwirbelsäule und kreuzt den fünften Lendenwirbelkörper. In Höhe des Beckens verläuft sie dorsal der Drehachse des Hüftgelenks. Ihr zugehöriger Massenschwerpunkt befindet sich in Höhe des fünften Lendenwirbelkörpers. Der Schwerkraftlinie am nächsten kommt die am Skelett bestimmbare CAM-HA-Linie. Die Hüften werden im Zweibeinstand abzüglich der Masse beider Beine belastet, der Teilschwerpunkt der Hüftlast rückt dadurch höher auf die Ebene des neunten Brustwirbelkörpers.

    (Aus Heimkes 2020, mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature)

    Seit Anfang des Jahrhunderts bestehen Studien, die die EOS-Methode mit Messplattformen kombinierten. Es gelingt hiermit, die auf die Druckmessplatte auftreffende Schwerkraftlinie („gravity line") auf das Skelett aufrecht stehender Probanden zu übertragen (Roussouly et al. 2006). Diese vom Kopf bis zur Fußsohle ziehende Vertikale beschreibt erst einmal, in welche Richtung der – im Zweibeinstand in Höhe des fünften Lumbalwirbels befindliche – Körperschwerpunkt („center of gravity") wirkt. Zusätzlich kann man näherungsweise annehmen, dass sich beim Gesunden auf dieser Linie auch alle Teilschwerpunkte der verschiedenen Körperteilgewichte befinden. Für die Hüften im aufrechten beidbeinigen Stand gilt hierbei, dass diese nur vom Kopf, den Armen und dem Rumpf belastet werden, sodass ihr zugehöriger Teilschwerpunkt auf der Schwerkraftlinie nach kranial wandert und in Höhe des neunten Brustwirbelkörpers zu liegen kommt. Dementsprechend gilt, dass die Kniegelenke vom Körpergewicht abzüglich der Unterschenkel und Füße belastet werden, sodass ihr zugehöriger Teilschwerpunkt zwischen dem Teilschwerpunkt der Hüfte und dem gesamten Massenschwerpunkt zu liegen kommt. Verfolgt man die Schwerkraftinie von Kopf bis Fuß, so beginnt sie knapp dorsal der Meati acustici, verläuft dann vor der Brustwirbelsäule und kreuzt den fünften Lendenwirbelkörper. In der Gliederkette der unteren Extremitäten kommt sie dorsal des Hüftdrehpunktes und ventral des Kniedrehpunktes zu liegen und trifft vor dem oberen Sprunggelenk auf den Fuß.

    Da sich für diese Schwerkraftlinie keine eindeutig bestimmbaren Messpunkte am Skelett finden lassen, konstruiert man für praktische Zwecke die sogenannte CAM-HA-Linie (Steffen et al. 2010). Hierzu werden die Achsen zwischen beiden Meati acustici (CAM = „center of acoustic meati) und zwischen beiden Hüftkopfmittelpunkten (HA = „hip axis) gemittelt und miteinander verbunden. Diese Linie entspricht beim gesunden, aufrecht stehenden Menschen am ehesten dem Verlauf seiner Schwerkraftlinie, die jedoch leicht ventral von dieser verläuft und auch diskret von der Vertikalen abweichen kann.

    Die eben beschriebene Schwerkraftlinie ist die Regelgröße, die dem Gesunden einen aufrechten Stand zu minimalen Energiekosten garantiert. Ihre leicht schwankende Lage wird über visuelle, vestibulospinale und propriorezeptive Kontrollmechanismen eingehalten (Chiba et al. 2016) und vom muskuloskelettal oder neurologisch Erkrankten über Kompensationsmechanismen angestrebt (Donker et al. 2008). Betrachtet man nun die Stellung des Beckens des Gesunden in der globalen sagittalen Körperbalance, so fällt auf, dass die Schwerkraftlinie diskret dorsal des Hüftgelenkdrehpunktes verläuft. Das Hüftgelenk weist also im Stand einen sehr kurzen Lastarm nach dorsal auf, sodass es mit minimaler Kraftanstrengung von ventralen Muskelgruppen in der Waage gehalten werden kann. Nur so ist zu verstehen, warum der M. gluteus maximus und die ischiocrurale Muskulatur im aufrechten Stand nicht oder nur gering aktiv sind.

    Beim aufrechten Stand ist die Schwerkraftlinie die Regelgröße, die dem Gesunden einen aufrechten Stand zu minimalen Energiekosten garantiert. Sie verläuft knapp dorsal der Meati acustici, vor der Brustwirbelsäule, kreuzt den fünften Lendenwirbelkörper, dorsal des Hüftdrehpunktes, ventral des Kniedrehpunktes und vor dem oberen Sprunggelenk.

    Der Verlauf der Schwerkraftlinie in der Sagittalebene wird beim Gesunden überwiegend durch die anatomische Form und funktionelle Kippung des Beckens bestimmt, wobei verschiedene anatomische Beckenformen und verschiedene Beckenkippungen zu identischen Verläufen der Schwerelinie führen können. Sowohl die Beckenform als auch die Beckenkippungen lassen sich in idealer Weise nach dem Prinzip der spinopelvinen Balance beschreiben (Duval-Beaupère et al. 1992; Legaye et al. 1998), das mit drei Messwerten, der pelvinen Inzidenz (PI), dem pelvinen Tilt (PT)und dem sakralen Slope (SS) auskommt (siehe Abb. 3.6).

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    Abb. 3.6

    Messparameter zur spinopelvinen Balance. Die Pelvic Incidence (PI, Normwert 53,13° ± 9,04) ist eine individuelle unveränderliche, die Beckengeometrie beschreibende Größe. Der Sacral Slope (SS, Normwert 41,18° ± 6,96) und der Pelvic Tilt (PT, Normwert 11,96° ± 6,44) ändert sich bei Vor- oder Rückrotation des Beckens.

    (Nach Heimkes et al. 2018, Open Access, http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de, https://​DOI.​org/​10.​1007/​s00064-018–0560-x)

    Die pelvine Inzidenz (PI) vermisst, wie stark das Becken, von der Mitte der Sakralbasis aus gesehen, nach ventral und dorsal aufgeklappt ist. Es handelt sich also um eine anatomische Konstante, deren Wert vom jeweiligen zugehörigen Individuum abhängig ist und der sich auch bei verschiedenen Vor- und Rückkippungen des Beckens nicht ändern kann. Der sakrale Slope (SS) und der pelvine Tilt (PT) beschreiben die positionsabhängige, jederzeit veränderbare Vor- oder Rückkippung des Beckens. Für alle drei Messgrößen bestehen Normwerte, die sich nach Geschlecht und Ethnie wenig unterscheiden.

    Die wesentliche Bedeutung der in ihrem Wert konstant bleibenden pelvinen Inzidenz besteht darin, dass sie im Wachstum die entstehenden Wirbelsäulenkrümmungen bestimmt, und zwar so, dass ein stark zusammengefaltetes Becken mit niedriger pelviner Inzidenz die Sakralbasis eher waagrecht stellt und einen Flachrücken hervorruft, während ein stark aufgeklapptes Becken mit hoher pelviner Inzidenz die Sakralbasis zur Senkrechten stellt und zu einem Hohlrundrücken führt.

    Die veränderbaren Messgrößen des sakralen Slopes und des pelvinen Tilts zeigen an, ob das Becken nach vorne oder hinten verkippt ist. Leichte Rückkippungen (Retrotilt) sind als normal anzusehen, stärkere Vorkippungen (anteriorer Tilt) sind zumeist pathologisch und bei Hüftbeugekontrakturen oder bei einer Schwäche der ischiokruralen oder Glutealmuskulatur zu finden (siehe Abb. 3.7).

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    Abb. 3.7

    Spinopelvine Balance im Stehen. Messwerte zweier Patienten mit unterschiedlichem Tilt bei normaler Pelvic Incidence. a Patient mit stark „aufgerichtetem" Becken und damit grenzwertigem pelvinem Retrotilt (PT = 18°, SS = 31°). b Patient mit postoperativer Hüftbeugekontraktur und damit pathologischem pelvinem anteriorem Tilt (PT = minus 20°, SS = 66°). Der Begriff der „Aufrichtung" sollte vermieden werden, da die Beckenaufrichtung in stehender und sitzender Position in verschiedener Richtung erfolgt

    3.3 Biomechanik des Sitzens

    Biomechanische Normvorstellungen, wie sie für den aufrechten Stand definiert wurden, gibt es für die Sitzhaltung nicht. Im Alltag werden ständig wechselnde Sitzhaltungen eingenommen (Strobl 2013). Fordert man einen Probanden auf, sich selbstgewählt bequem auf einen Hocker ohne Sitzlehne hinzusetzen, so zeigt das Becken einen Retrotilt mit erniedrigtem sakralem Slope und einer reduzierten bis aufgehobenen Lendenlordose. Beim Wechsel vom Stand zum Sitzen erhöht sich hierbei der pelvine Tilt und der sakrale Slope erniedrigt sich um 20–25° (Lazennec et al. 2013). Elektromyografische Aktivitätsmessungen (Rosemeyer 1971) zeigten, dass die Rückenmuskulatur in dieser Komforthaltung minimal aktiv ist. Zudem weisen Druckmessungen (Wilke et al. 2001) darauf hin, dass die intradiskalen Drucke in dieser Position gering sind und weiter absinken, wenn eine Rückenlehne verwandt wird. Die in Rückenschulen und teilweise im Sitzmöbelbau favorisierte aufrechte Sitzhaltung wird im Alltagsleben weniger häufig eingenommen, erfordert höhere Energiekosten und erhöht den intradiskalen Druck, erlaubt jedoch dynamischere Haltungswechsel.

    Unabhängig davon, welche Sitzposition eingenommen wird, gilt, dass das ungestützte, auf eine Sitzfläche wirkende Körpergewicht annähernd dem Körperteilgewicht entspricht, das beide Hüften im Stand tragen müssen. Es wirken also das Gewicht des Kopfes, der oberen Extremitäten und des Rumpfes hälftig verteilt auf beide Sitzhöcker, sodass die Schwerkraftlinie des sitzenden Menschen mittig zwischen den Sitzhöckern auftrifft. Wie auch im Stand, dirigiert hierbei das Becken die Wirbelsäulenkrümmung in der Sagittalebene. Wird es nach dorsal gekippt (Retrotilt), so entlordosiert die Lendenwirbelsäule. Wird es nach ventral gekippt (anteriorer Tilt), verstärkt sich die Lendenlordose und sekundär die Brustkyphose.

    Im Gegensatz zur normierbaren Biomechanik im Stehen ist das auf die Sitzbeinhöcker wirkende Körperteilgewicht im Alltagsleben stark veränderbar und insbesondere auch reduzierbar. Am einfachsten gelingt dies, wenn man eine rückgekippte Rückenlehne oder einen im Ganzen rückgekippten (Roll-)Stuhl nutzt, um – vektoriell zerlegbar – einen Teil des Rumpfgewichtes auf die Rückenlehne zu übertragen. Genauso reduziert sich das Rumpf- und Armgewicht, wenn man sich auf seitlich angebrachten Armlehnen oder auf einer verstellbaren Arbeitsfläche abstützt. Auch von kaudal her gelingt es, die Sitzbeinhöcker zu entlasten, indem man die Hüften aktiv streckt und somit einen Teil der Sitzbelastung auf die Oberschenkel verlagert.

    Die für die Sitzposition entscheidende Beckenkippung richtet sich sowohl nach der Funktion der Rumpf- als auch der Becken- und Beinmuskulatur.

    Als gegensätzliche Positionen können hierbei der pelvine Retrotilt und der anteriore Beckentilt beobachtet werden (siehe Abb. 3.8).

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    Abb. 3.8

    Spinopelvine Balance im Sitzen. Unabhängig vom Sitztyp versuchen die Patienten, den Teilschwerpunkt von Kopf, Armen und Rumpf über die Sitzbeinhöcker auf die Sitzfläche abzulegen. a Pelviner Retrotilt: Dieser entsteht aus der Komforthaltung des Gesunden. Er tritt bevorzugt bei neuroorthopädischen Erkrankungen auf, die mit globaler Muskelschwäche einhergehen und wird bei cerebralparetischen Patienten beobachtet, deren ischiokrurale Muskulatur hochaktiv oder kontrakt ist. b Pelviner anteriorer Tilt: Das Becken ist nach vorne gekippt, die Schwerkraftlinie verläuft dorsal der Lendenwirbelsäule. Dieser Typus findet sich überwiegend bei cerebralparetischen Patienten mit ausgeprägten Hüftbeugekontrakturen.

    (Nach Heimkes et al. 2018, Open Access, modifiziert, http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de, https://​DOI.​org/​10.​1007/​s00064-018–0560-x)

    Der pelvine Retrotilt in seiner pathologischen Form entwickelt sich aus der oben beschriebenen Komforthaltung und kyphosiert sekundär die Lendenwirbelsäule. Er betrifft überwiegend Kinder und Erwachsene mit globaler Muskelschwäche, wie sie z. B. bei Myopathien, neuromuskulären Erkrankungen, aber auch bei der Rumpfhypotonie des cerebralparetischen Kindes zu beobachten ist.

    Von kranial gesehen, gelingt es der Rumpfmuskulatur nicht, das Becken aus seiner sakralen Rücklage aufzurichten. Von kaudal her ist zu beobachten, dass eine hohe Aktivität der ischiokruralen Muskulatur oder eine stark verkürzte ischiocrurale Muskulatur ebenfalls rückrotierend wirken.

    Der anteriore Beckentilt betrifft überwiegend Patienten, die im Rahmen einer Cerebralparese eine Beugekontraktur der Hüften und damit einen verkürzten M. iliopsoas und M. rectus femoris aufweisen, er lordosiert die Lendenwirbelsäule. Bei Patienten mit Spina bifida macht sich noch zusätzlich bemerkbar, dass der M. gluteus maximus schwach oder funktionslos ist. Im Extremfall kann die Beugekontraktur der Hüften sogar so stark ausgeprägt sein, dass die primär flektierende Bauchwandmuskulatur dorsal der Lendenwirbelsäule zu liegen kommt, dann extendiert und zusätzlich lordosierend wirkt.

    Zur frontalen und rotatorischen Balance des sitzenden Menschen und damit zur Entstehung der Sitzskoliose konnten keine biomechanischen Grundlagenarbeiten gefunden werden, die zur Frage beitragen können, warum neurogene Skoliosen entstehen.

    Noch am ehesten kann man die Skoliose von Patienten mit globaler Muskelschwäche biomechanisch deuten. Sie entwickelt sich aus dem oben beschriebenen pelvinen Retrotilt, wobei im fortgeschrittenen Stadium auch die frontale Balance des Rumpfes verloren geht. Entsprechend der Abb. 3.9 gelingt es den Patienten jedoch auch in späten Stadien, die Schwerkraftlinie mithilfe eines ausgeprägten Beckentilts über der Aufsitzfläche zu halten.

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    Abb. 3.9

    Patient mit Muskeldystrophie. a Anfänglich besteht ein pelviner Retrotilt mit entsprechender Kyphose, bei ungenügender Rumpfbalance dekompensiert die Wirbelsäule zur Seite. b Die frontale Balance kann mühsam mit einer Verlagerung der Schwerkraftlinie auf das konvexseitige Sitzbein gehalten werden

    Bei cerebralparetischen Patienten dominiert das neurologisch vorgegebene individuelle Innervationsmuster, das auch scheinbar mechanisch paradoxe Kombinationen zwischen Wirbelsäulenkrümmung, Beckenneigung und Hüftstellung entstehen lässt. So führt eine Windschlagdeformität zwar häufig zu einer konvexen Skoliose auf der abduzierten Hüftseite (Letts et al. 1984), sie kann aber durchaus auch mit einer statisch unlogischen konvexen Skoliose zur adduzierten Seite einhergehen (Banta 1992).

    Letztendlich entwickelt sich die Sitzskoliose des cerebralparetischen Kindes multifaktoriell. Die Balance des Rumpfes geht verloren, weil die tonischen paraspinalen und interkostalen Muskeln schwach sind und – neurologisch verursacht – (asymmetrisch) fehlerhaft angesteuert werden. Von kaudal her verstärkend wirken muskuläre Imbalancen und Kontrakturen, wobei Patienten mit einseitiger Adduktionskontraktur der Hüfte im Sitzen zu einer Verwringung des Beckens mit begleitender lumbaler Rotationsskoliose neigen. Auch kognitive Störungen, die mit einem Defizit in der Raumwahrnehmung einhergehen, beeinflussen die Skolioseneigung und verwässern die biomechanische Deutung der Skoliose.

    3.4 Biomechanik des Gehens

    Nach einer Definition der Ganganalyse-Pionierin Jacqueline Perry (2003) „besteht die Hauptaufgabe des Haltungs- und Bewegungsorgans darin, dem Körper Ortswechsel zu ermöglichen, damit Hände und Kopf ihren vielfältigen Funktionen nachkommen können". Diese Ortswechsel werden vom Gesunden überwiegend durch aufrechtes Gehen erreicht, das im Vergleich zu anderen Bewegungsarten den niedrigsten Sauerstoffverbrauch aufweist und zu maximalen Ausdauerleistungen befähigt. Ähnlich wichtig ist die mechanobiologische Wirkung des Gehens, da sich hierdurch die Form und Struktur des Bewegungsorgans im Wachstum ausmodelliert und im Erwachsenenalter erhält.

    Wesentliches Prinzip des Vorwärtsschreitens ist, dass in der Standphase des Gehens 1) der Hauptantrieb dadurch geschieht, dass der Körper nach vorne zu fallen droht, 2) Rumpf, Becken und Bein durch gegensteuernde, antigravitatorische Muskelgruppen wechselweise stabilisiert und mobilisiert werden und 3) Sprunggelenk und Fuß als Drehzentrum ein Abrollen erlauben.

    Von der statischen Betrachtung in Abb. 3.5 ausgehend, ist es sinnvoll, erst einmal zu bedenken, wie sich der Massenschwerpunkt während des Gehens verhält. Hierzu bestehen überaus genaue Berechnungen bereits aus dem 19. Jahrhundert (Braune und Fischer 1889), die von Inman et. al. (1981) mit instrumenteller Ganganalyse bestätigt wurden. Das sogenannte Inman-Pendel zeigt hierbei, dass der Massenschwerpunkt während eines Schrittes sowohl in der Sagittalen als auch in der Frontalen sinusförmig ausschwenkt. Von seiner Ausgangslage im bipedalen Stand ausgehend, wird er in der mittleren Standphase ca. 2 cm gehoben („vertical displacement) und ca. 2 cm zur Standbeinseite verlagert („lateral displacement), beim Lastwechsel auf das andere Bein ist somit in der Frontalebene eine Verlagerung um insgesamt ca. 4 cm zu beobachten.

    Die im Stand senkrecht vom Massenschwerpunkt mittig zur Fußauftrittsfläche verlaufende Schwerkraftlinie wird in der Standphase des Gehens zum – mittels Bodenreaktionskraft messbaren – Schwerkraftvektor, der ständig seine Position und Neigung ändert und hierbei wechselnde Drehmomente auf die beteiligten Gelenke erzeugt. Dies ist am eindrücklichsten unmittelbar nach dem initialen Bodenkontakt („initial contact) des Standbeines in der Belastungsantwort („loading response) zu sehen (siehe Abb. 3.10). In dieser Phase verläuft der Schwerkraftvektor ventral des Hüftgelenkes und dorsal des Kniegelenkes sowie dorsal des oberen Sprunggelenkes. Es bestehen somit am Hüftgelenk und Kniegelenk beugende Drehmomente, die dazu führen würden, dass der Rumpf nach vorne rotiert sowie die Hüfte nach ventral und das Knie nach dorsal einklappt. Dies wird durch gegenhaltende Drehmomente verhindert, die – wie in der dynamischen Elektromyografie darstellbar – an der Hüfte überwiegend vom M. glutaeus maximus und der ischiocruralen Muskulatur sowie am Kniegelenk überwiegend vom M. quadriceps aufgebracht werden.

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    Abb. 3.10

    Das Prinzip der aufrechten Ganges: Der Hauptantrieb erfolgt in der Standbeinphase des Gehens passiv über die Schwere des Rumpfes. Muskelkräfte stabilisieren hierbei das Bein, indem sie entstehende Drehmomente der Gelenke über die Kraftarmseite äquilibrieren. Das Sprunggelenk und der Fuß ergeben ein Drehzentrum, das dem Schwerkraftvektor erlaubt, fächerförmig nach vorne zu wandern. Die Grafik zeigt die Belastungsantwort („loading response"), in der der Schwerkraftvektor ventral des Hüftgelenkdrehpunktes und dorsal des Kniegelenkes zu liegen kommt. Es entstehen dadurch flektierende Drehmomente an Hüfte und Knie

    Betrachtet man die vom Schwerkraftvektor gespeisten Bodenreaktionskräfte, so zeigt sich beim Gehen eine typische M-Form, deren erstes Maximum dem Abbremsen in der Belastungsantwort und deren zweiter Gipfel dem Abstoßvorgang zuzuordnen ist (siehe Abb. 3.11).

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    Abb. 3.11

    Externe und interne Kräfte im Verlauf des Gangzyklus. Die dem Schwerkraftvektor zuzuordnende Bodenreaktionskraft zeigt einen typischen M-förmigen Verlauf, ihr Betrag übersteigt das Körpergewicht des Gehers nur wenig. Die Hüftlast parallel hierzu ist um ein Vielfaches höher, da in ihre Berechnung auch der Wert der gelenküberbrückenden kraftarmseitigen Muskelgruppen eingeht.

    (Aus Heimkes 2020, modifiziert, mit freundlicher Genehmigung von Springer Nature)

    Trotz dieser dynamischen Komponenten schwankt der Betrag des Schwerkraftvektors beim normalen Gehen nur gering um den 100-%-Betrag des Körpergewichtes, er verliert seine Maxima beim langsamen Gang und weist ein eingipfeliges Maximum beim Laufen auf. In der Schwungphase wird das Körpergewicht naturgemäß vom gegenseitigen Bein übernommen, sodass der Schwerkraftvektor auf der Schwungbeinseite ohne Wirkung bleibt.

    Vergleicht man die Kräfte, die im Verlauf eines Gangzyklus an den beteiligten Gelenken auftreten, mit dem Wert des am Fuß gemessenen Schwerkraftvektors, so fällt auf, dass die Kontaktkräfte an den Gelenken ähnlich M-förmig auftreffen, jedoch deutlich höhere Werte erreichen. Dies erklärt sich zwanglos, wenn man bedenkt, dass am Gelenk sowohl das zugehörige Körperteilgewicht als auch gegenziehende, gelenküberbrückende Muskelkräfte wirksam sind. Beide Kräfte lassen sich, wie im Pauwels’schen Hüftmodell ersichtlich, mit Vektoraddition zur jeweiligen Gelenkresultierenden zusammenfassen, die regelmäßig ein Mehrfaches des Körpergewichtes beträgt. Das primär zweidimensional berechnete Pauwels’sche Hüftmodell wurde inzwischen mit aufwendigen Methoden verfeinert, sodass die Hüftgelenksbelastung inzwischen nicht nur dreidimensional, sondern auch dreidimensional im Gangzyklus fortlaufend bekannt ist. Die Berechnungen (Correa et al. 2010) sind hierbei so exakt, dass sie sich ziemlich genau mit Messungen decken, die an instrumentierten Hüftendoprothesen durchgeführt wurden (Bergmann 1993).

    Mechanobiologische Wirkung des Gehens. Pauwels (1965) sowie in Nachfolge Carter und Beaupré (2007) konnten zeigen, welche Art des funktionellen Reizes die mesenchymalen Stammzellen dazu bringt, verschiedene Gewebe hervorzubringen. Es ließ sich gut nachweisen, dass zyklischer Zug Tenozyten und Sehnengewebe entstehen lässt, während zyklischer Druck, überlagert von Scherkräften zu Chondrozyten und Knorpelgewebe führt. Wenn sich im Rahmen des Knorpelwachstums die mechanische Situation derart ändert, dass die Scherkräfte nachlassen und allseitiger Druck entsteht, dann werden die Chondrozyten von Osteoblasten abgelöst, die Knochengewebe produzieren.

    Da die entscheidenden zyklischen Kräfte beim Gehen auftreten, kann man davon ausgehen, dass die beiden Belastungsgipfel in der Standphase des Gehens die entscheidenden Kräfte beinhalten, die die Form und Struktur des Bewegungsorgans bestimmen.

    10–15.000 Lastwechsel pro Tag sorgen dafür, dass sich das Skelett und die Gelenke im Wachstum ausmodellieren und im Erwachsenenalter erhalten.

    Besonders eindrucksvoll lässt sich dieses mesenchymale Modelling im Entstehen und im Erhalt der Patella nachweisen (siehe Abb. 3.12). In der pränatalen Sitz-Hock-Stellung ist der Kniestreckapparat bilokal – im Verlauf der Quadrizepssehne und des Ligamentum patellae – gegenläufig zugbeansprucht, jedoch am Umknickpunkt in Höhe der Femurkondylen nach dem Prinzip der Zuggurtung auch druckbeansprucht. So entstehen dort sehr früh Knorpelhäufchen, die erst einmal zur knorpeligen Patella innerhalb der Sehne ausdifferenzieren. Erst wenn die Beanspruchung zunimmt und die knorpelige Patella so groß geworden ist, dass ihr Kern nicht mehr durchwalkt ist, kann sich dort ab dem fünften Lebensjahr allseitiger Druck entwickeln, der einen knöchernen Patellakern hervorruft. Dort, wo Druck und Scherkraft lebenslang erhalten bleiben, auf Gelenkspaltseite, ist Knorpel dann auch bis ins Alter erhalten.

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    Abb. 3.12

    Mechanobiologische Deutung des Kniestreckapparates: Die Quadrizepssehne und das Ligamentum patellae werden durch Zug beansprucht, wodurch sich Sehnengewebe ausbildet und erhält. Am Umlenkpunkt im Sulkus entsteht nach dem Zuggurtungsprinzip Druck, der durch Bewegungen des Kniegelenkes von Scherkräften überlagert ist. Dies ist der adäquate Reiz, der Knorpelgewebe entstehen lässt. Ab einer gewissen Größe erhält die knorpelige Patella einen zentralen Knochenkern, weil die Scherkräfte nicht mehr bis ins Innere vordringen. Es ist allseitiger Druck entstanden, der zur Osteogenese führt. Fq = Zug der Quadrizepssehne, Fl = Zug des Ligamentum patellae, Rp = Druck ausübende Patellaresultierende

    Funktionell erklärbare Umformungen und Anpassungen sind auch dann zu

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