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Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche
Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche
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eBook723 Seiten6 Stunden

Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche

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Über dieses E-Book

Dieses Buch ist geschrieben für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater, in der Beratung und klinisch tätige Psychologen, Schulpsychologen, Psychologische Psychotherapeuten, Ärztliche Psychotherapeuten, Psychiater sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten in Aus- und Weiterbildung. Bewährt für den Einstieg, als Nachschlagewerk, für die Supervision und Qualitätssicherung in der Verhaltenstherapie. 

In diesem Buch finden sich mit Blick auf die Praxis (1) allgemeine Grundlagen verhaltenstherapeutischen Arbeitens, (2) eine konkrete Beschreibung von verhaltenstherapeutischen Techniken, Einzelverfahren und Methoden, (3) störungsspezifische Behandlungspläne. Praxisnäher geht es nicht! 

Aus dem Inhalt: 

Psycho- und verhaltenstherapeutische Methoden – Einzel- und Gruppentherapieprogramme – Behandlungsanleitungen für psychische und psychosomatische Störungen – Mit einheitlichem Kapitelaufbau – Indikationsstellung, technisches Vorgehen, Nebenwirkungen und Kontraindikationen, weiterführende Literatur.  

Die Herausgeber: 

Univ.-Prof. Dr. sc. hum. Dipl. Psych. Manfred Döpfner, Leitender Psychologe an der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Uniklinik Köln. Prof. Martin Hautzinger, Ordinarius für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Eberhard Karls Universität Tübingen. Prof. Michael Linden, Medizinische Klinik m.S. Psychosomatik der Charité Universitätsmedizin Berlin und Institut für Verhaltenstherapie Berlin.

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum29. Juli 2020
ISBN9783662589809
Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche

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    Buchvorschau

    Verhaltenstherapiemanual - Manfred Döpfner

    Teil IGrundlagen

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020

    M. Döpfner et al. (Hrsg.)Verhaltenstherapiemanual: Kinder und JugendlichePsychotherapie: Praxishttps://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_1

    1. Multimodale Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie

    Manfred Döpfner¹  

    (1)

    Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland

    Manfred Döpfner

    Email: manfred.doepfner@uk-koeln.de

    1.1 Allgemeine Beschreibung

    Das Konzept der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie versucht, die Grundlinien einer allgemeinen, therapieschulenübergreifenden, evidenzbasierten Psychotherapie für Kinder und Jugendliche zu formulieren. Sie baut wesentlich auf empirisch bewährten verhaltenstherapeutischen Prinzipien auf und lässt sich als eine entwicklungs- und kontextorientierte Mehrebenentherapie, die sich an Wirkprinzipien orientiert und dabei transdiagnostisch ausgerichtet ist und eine problemspezifische, individualisierte, modulare, ergebnisorientierte und adaptive Therapie darstellt, charakterisieren.

    1.2 Entwicklungs- und kontextorientierte Mehrebenentherapie

    Entwicklungsorientierte Therapie. Die multimodale Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie muss das extrem weite Entwicklungsspektrum von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen berücksichtigen, indem sie ihre Methoden dem Entwicklungsalter des Kindes oder Jugendlichen anpasst und spielerische Methoden, kognitive und verbale Techniken sowie übende Verfahren integriert.

    Kontextorientierte und multimodale Therapie. Psychische Probleme manifestieren sich in aller Regel in verschiedenen Lebenskontexten und auf mehreren Ebenen – beim Patienten selbst (z. B. Ängste, angsterzeugende Kognitionen), in der Familie (z. B. überbehütendes Erziehungsverhalten, Trennungsängste beim Zubettgehen), in der Kindertagesstätte oder in der Schule (z. B. Angst, sich zu melden, strenger Lehrer) oder im Freizeitbereich bzw. in der Gleichaltrigengruppe (z. B. Vermeidung von Gleichaltrigenkontakten, Mobbing). Eine multimodale Intervention, die auf den verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Lebensbereichen ansetzt, in denen die Probleme auftreten, ist daher meist notwendig, auch wenn sich die Probleme in den einzelnen Lebensbereichen gegenseitig beeinflussen und Interventionen in einem Lebensbereich gewisse Auswirkungen auf andere Lebensbereiche haben können (siehe Abb. 1.1). Die Psychotherapieforschung liefert viele Hinweise darauf, dass die Erfolgschancen einer Intervention dann am größten sind, wenn sie auf der Ebene oder in dem Kontext ansetzt, in dem die Problematik auftritt. So lassen sich durch familienzentrierte Interventionen Probleme des Kindes in der Familie, aber nicht automatisch auch in der Schule vermindern.

    1.3 An Wirkprinzipien orientierte und evidenzbasierte Therapie

    Die multimodale Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie wendet empirisch bewährte Interventionsmethoden an. Die empirische Therapieforschung hat die Wirksamkeit verschiedener Methoden in den letzten Jahrzehnten in einer Vielzahl von empirischen Studien untersucht. Obwohl die Therapieforschung noch erhebliche Lücken aufweist, haben sich doch verschiedene Interventionsmethoden für spezifische Störungsbilder als wirkungsvoll erwiesen. Nach bestimmten methodischen Kriterien als evidenzbasiert qualifizierte Therapien liegen mittlerweile für die meisten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter vor. Nach den Metaanalysen von Therapiestudien, in denen mehr als 30.000 Kinder und Jugendliche in den letzten Jahrzehnten untersucht wurden, ließen sich für die Mehrzahl der psychischen Störungen zumindest kleine bis moderate Therapieeffekte belegen, die sich zudem in Nachuntersuchungen als überwiegend stabil erwiesen haben und die vergleichbar zu den in der Erwachsenenpsychotherapie gefundenen Effekten sind. Allerdings zeigen diese Studien auch, dass nicht alle Kinder und Jugendliche von den Therapien in einem ausreichenden Maße profitieren und dass daher ein beträchtlicher Anteil an Kindern und Jugendlichen auch nach Behandlungsende noch klinische bedeutsame psychische Auffälligkeiten aufweist (Weisz et al. 2017).

    Aus den Ergebnissen der Therapieforschung lassen sich störungsübergreifende allgemeine Wirkprinzipien ableiten, die Grawe (1995) in einem Modell einer allgemeinen Psychotherapie bei Erwachsenen zusammengefasst hat, in dem er vier generelle therapeutische Wirkprinzipien als gesicherte Bestandteile einer allgemeinen psychotherapeutischen Veränderungstheorie definierte, die Grundlage einer allgemeinen Psychotherapie sein könnten: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, aktive Hilfe zur Problembewältigung und Klärungsperspektive. Diese Prinzipien lassen sich auch in der multimodalen Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen anwenden. Im Unterschied zur Erwachsenenpsychotherapie müssen diese Prinzipien jedoch nicht nur in der Arbeit mit dem Kind oder Jugendlichen realisiert werden, sie spielen ebenso in der Arbeit mit seinen Bezugspersonen – den Eltern, den pädagogischen Fachkräften und anderen – eine wichtige Rolle.

    Methoden der Ressourcenaktivierung knüpfen an den positiven Möglichkeiten, Eigenarten, Fähigkeiten und Motivationen des jungen Patienten und seiner Bezugspersonen an. Sie stehen häufig zu Beginn der Therapie im Vordergrund der Behandlung, weil sie den Patienten und seine Bezugspersonen motiviert, aktiv in der Therapie mitzuarbeiten, indem sie die Erfolgserwartungen bezüglich der Therapie und eine tragfähige therapeutische Arbeitsbeziehung aufbauen.

    Das Prinzip der Problemaktualisierung macht deutlich, dass das, was verändert werden soll, in der Therapie real erfahren werden muss, und stellt damit einen Gegenpol zum Prinzip der Ressourcenaktivierung dar. Eine Therapie muss daher so gestaltet werden, dass sich die Probleme des Patienten oder seiner Bezugspersonen (meist in graduierter Form) auch in der Therapiesitzung manifestieren. Die Problematik des Patienten kann sich in der therapeutischen Beziehung aktualisieren (Übertragung), sie kann aber auch gezielt im Gespräch, durch spielerische oder kreative Methoden thematisiert werden. Darüber hinaus kann der Therapeut die Therapiesituation so gestalten, dass Probleme real auftreten, oder sie können durch Techniken auf der Vorstellungsebene in der Therapie aktualisiert werden. Mitunter lassen sich Probleme nicht in die Therapie „importieren". Deshalb kann die Therapie in den Lebensbereich verlagert werden, in dem diese Probleme auftreten. Dies erleichtert auch den Transfer von Veränderungen aus der Therapie in den Alltag. Daher spielen therapeutische Hausaufgaben und therapeutische Interventionen vor Ort – beispielsweise in der Familie oder in der Schule – eine herausragende Rolle. Auch das Prinzip der Problemaktualisierung konzentriert sich nicht ausschließlich auf den Patienten, sondern bezieht seine Bezugspersonen mit ein.

    Im Rahmen der kognitiv-affektiven Klärung hilft der Therapeut dem Patienten und seinen Bezugspersonen, sich über die Bedeutung des Erlebens und Verhaltens im Hinblick auf seine/ihre Ziele und Werte – in altersangemessener Form – klarer zu werden und sie vor dem Hintergrund der eigenen Lebenserfahrungen zu verstehen. Grundlage ist dabei die Psychoedukation aller Beteiligten unter Berücksichtigung der individuellen Störungskonzepte und Therapieerwartungen. Außerdem werden im Rahmen der kognitiv-affektiven Klärung mögliche intrapsychische oder interpersonelle Konflikte, allgemeine Grundannahmen, spezifische Erwartungen, Kognitionen und Befürchtungen beim Patienten und seinen Bezugspersonen herausgearbeitet. Hierzu kommen neben verbalen Methoden auch spielerische und gestalterische Methoden zum Einsatz. Die Lösung von Konflikten, die Veränderung von Grundannahmen, Erwartungen, Kognitionen oder Befürchtungen kann ebenfalls über spielerische und imaginative Methoden erfolgen, aber auch verbal durch Ansprechen, sokratisches Hinterfragen, Überprüfen im Alltag, Interpretieren und die Entwicklung von Problemlösestrategien. Diese kognitiven Methoden finden vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen sowie ihren Bezugspersonen Anwendung.

    Das Prinzip der Hilfe zur Problembewältigung macht deutlich, dass der Therapeut den Patienten und seine Bezugspersonen aktiv bei der Bewältigung der Problematik des Patienten sowie der Bezugspersonen/Bezugssysteme unterstützt, die zur Aufrechterhaltung der Störungen bei dem jungen Patienten beiträgt. Diese Problembewältigung erfolgt vor dem Hintergrund der kognitiv-affektiven Klärung unter Einbeziehung aller für die Problembewältigung relevanten Personen. Auch jüngere Patienten werden so weit wie möglich in diese aktive Problembewältigung einbezogen. Die Hilfe zur Problembewältigung ist das zentrale Wirkprinzip der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie, das aber auf den anderen Prinzipien aufbaut. Durch die konkrete Vermittlung von Bewältigungserfahrungen bislang nicht bewältigter Probleme beim Patienten und seinen Bezugspersonen in der realen Welt werden das Kompetenzvertrauen und die Erfolgserwartung des Patienten und seiner Bezugspersonen gestärkt und damit die Verhaltensänderung erleichtert.

    Abb. 1.1 zeigt zusammenfassend das Modell der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie mit den Wirkprinzipien, die auf den Patienten, aber auch seine Bezugsperson angewendet werden. Zentrales Ziel der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie ist die erfolgreiche Bewältigung von bislang nicht bewältigten Problemen im Alltag, d. h. in der Familie, in der Schule und bei Gleichaltrigen oder im Freizeitbereich. Diese Problembewältigung wird vom Therapeuten aktiv unterstützt. Dem Ziel der aktiven Problembewältigung dienen die weiteren Wirkprinzipien der Ressourcenaktivierung, der Problemfokussierung und der kognitiv-affektiven Klärung beim Patienten und seinen Bezugspersonen. Diese Wirkfaktoren beeinflussen sich gegenseitig. In Abhängigkeit vom Umfeld, in dem die Probleme auftreten, werden patientenzentrierte Interventionen durch familien-, kindergarten-, schul- oder auch auf Gleichaltrige zentrierte Interventionen flankiert, indem die entsprechenden Bezugspersonen in die Therapie einbezogen werden.

    ../images/442847_1_De_1_Chapter/442847_1_De_1_Fig1_HTML.png

    Abb. 1.1

    Modell der multimodalen Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie (aus Döpfner 2007)

    1.4 Transdiagnostische, problemspezifische, individualisierte, modulare, ergebnisorientierte und adaptive Therapie

    Die multimodale Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie ist transdiagnostisch ausgerichtet, d. h., sie orientiert sich an den konkreten Problemen des Kindes oder Jugendlichen auf kognitiver, emotionaler und motorischer Ebene und an den damit in Verbindung stehenden Schwierigkeiten seiner Familie sowie des weiteren Umfeldes. Eine derartige Therapie ist transdiagnostisch, weil sie sich nicht ausschließlich an den Symptomen orientiert, die eine Diagnose definieren, sondern weil sie die Funktionalität der psychischen Probleme berücksichtigt, indem sie prädisponierende, problemauslösende und problemaufrechterhaltende Faktoren identifiziert und daraus die notwendigen Interventionen ableitet. So kann beispielsweise der soziale Rückzug im Rahmen einer sozialen Angststörung sehr unterschiedliche Funktionen haben: Die Symptomatik kann ausschließlich durch soziale Ängste oder auch durch Kompetenzdefizite auf der Verhaltensebene oder auch durch positive Verstärkung von sozial ängstlichem Verhalten aufrechterhalten werden. Dementsprechend gilt es in der Therapie, die passenden Interventionen auszuwählen und somit die Therapie zu individualisieren. Dabei greift sie auf modular aufgebaute Behandlungsmanuale zurück, die aus einzelnen Behandlungsbausteinen zur Therapie spezifischer psychischer Probleme zusammengesetzt sind. Zu Beginn der Therapie werden daher die konkreten psychischen Probleme, die verändert werden sollen, mit allen Beteiligten (z. B. Kind, Eltern, Erzieherin) definiert, und der Verlauf der Therapie wird anhand der Problemdefinitionen und der davon abgeleiteten Zieldefinitionen kontinuierlich überprüft. Auf Grundlage dieser Verlaufskontrollen wird die Therapie gegebenenfalls adaptiert.

    Literatur

    Döpfner, M. (2007). Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. In C. Reimer, Eckert, J., Hautzinger, M. & Wilke, E. (Hrsg.), Psychotherapie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologen (3. Aufl.) (S. 614 – 629). Berlin: Springer.

    Döpfner, M. (2013). Psychotherapie. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (7. Aufl., S. 823–841). Göttingen: Hogrefe.

    Döpfner, M. (im Druck). Kognitive Verhaltenstherapie. In J. M. Fegert, F. Resch, M. Döpfner, M. Kaess, K. Konrad, T. Legenbauer, & P. Plener (Hrsg.), Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Berlin: Springer.

    Grawe, K. (1995). Grundriß einer allgemeinen Psychotherapie. Psychotherapeut,40, 130–145.

    Grawe, K., Donati, R., & Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe.

    Weisz, J. R., Kuppens, S., Ng, M. Y., Eckshtain, D., Ugueto, A. M., Vaughn-Coaxum, R., Jensen-Doss, A., Hawley, K. M., Krumholz Marchette, L. S., Chu, B. C., Weersing, V. R., & Fordwood, S. R. (2017). What five decades of research tells us about the effects of youth psychological therapy: A multilevel meta-analysis and implications for science and practice. American Psychologist,72, 79–117.Crossref

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020

    M. Döpfner et al. (Hrsg.)Verhaltenstherapiemanual: Kinder und JugendlichePsychotherapie: Praxishttps://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_2

    2. Diagnostik psychischer Störungen

    Manfred Döpfner¹   und Anja Görtz-Dorten¹  

    (1)

    Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland

    Manfred Döpfner (Korrespondenzautor)

    Email: manfred.doepfner@uk-koeln.de

    Anja Görtz-Dorten

    Email: anja.goertz-dorten@uk-koeln.de

    2.1 Allgemeine Beschreibung

    Die Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter umfasst im Kern eine differenzierte Erhebung der psychischen Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen auf der Ebene des Denkens, der Affekte und des Verhaltens sowie die Erfassung der körperlichen, individuellen und psychosozialen Bedingungen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Auffälligkeiten beitragen. Hauptziel der (Eingangs-) Diagnostik ist die Indikationsstellung und differenzierte Planung von psychologischen, psychosozialen oder auch medizinischen Interventionen zur Verminderung der psychischen Auffälligkeiten. Diagnostisches Handeln kann man somit als Problemdefinitions-, Problemlöse- und Entscheidungsprozess beschreiben, der im Therapieverlauf stets wiederholt werden kann. Im Verlauf des initialen diagnostischen Prozesses sollten folgende Fragen beantwortet werden:

    1.

    Hat das Kind oder der Jugendliche eine psychische Auffälligkeit?

    2.

    Wie äußert sich die Auffälligkeit im Detail auf der kognitiven, der emotionalen und der Verhaltensebene, und in welchem Kontext tritt die Problematik auf?

    3.

    Mit welchen psychosozialen Einschränkungen und mit welchem Leidensdruck geht die Problematik einher?

    4.

    Durch welche klinische Diagnose wird die Auffälligkeit am besten beschrieben?

    5.

    Welche prädisponierenden und auslösenden Faktoren (auf psychischer, familiärer, soziokultureller und biologischer Ebene) trugen vermutlich zur Entwicklung der Auffälligkeit bei?

    6.

    Welche Faktoren tragen aktuell zur Aufrechterhaltung der Problematik bei?

    7.

    Welche Stärken, Kompetenzen und Ressourcen, die für die Therapie genutzt werden können, haben der Patient und die Familie sowie das weitere psychosoziale Umfeld?

    8.

    Wie ist vermutlich der weitere Verlauf der Auffälligkeit, wenn sie nicht behandelt wird?

    9.

    Welche Interventionen sind vermutlich am erfolgreichsten?

    10.

    Welche Störungskonzepte, Therapieerwartungen und Therapieziele und welche Therapiemotivation haben der Patient und seine Bezugspersonen, und was ist der therapeutische Auftrag des Patienten und seiner Bezugspersonen?

    Im Verlauf der Therapie werden diagnostische Verfahren zu einer kontinuierlichen Verlaufs- und Erfolgskontrolle (Evaluation) eingesetzt.

    Der diagnostische Prozess kann als mehrstufiger Prozess beschrieben werden, der in Abb. 2.1 dargestellt ist. Grundlage und unverzichtbare Komponente der Diagnostik stellt die ausführliche klinische Exploration der Eltern, des Kindes/Jugendlichen selbst und bei Bedarf auch anderer wichtiger Bezugspersonen (z. B. Erzieher oder Lehrer) dar.

    ../images/442847_1_De_2_Chapter/442847_1_De_2_Fig1_HTML.png

    Abb. 2.1

    Der diagnostische Prozess

    Auf der Grundlage dieser klinischen Exploration werden meist weitere diagnostische Verfahren eingesetzt, die eine differenzierte Erfassung folgender Bereiche ermöglichen:

    psychische Auffälligkeiten, Funktionseinschränkungen und Kompetenzen des Kindes oder Jugendlichen (Verhaltens- und Psychodiagnostik),

    kognitive (einschließlich der motorischen, verbalen und visuellen) Defizite und Fähigkeiten (Entwicklungs-, Intelligenz-, Leistungs- und neuropsychologische Diagnostik, Kap. 3),

    körperliche Funktionen (medizinische Diagnostik) und

    psychosoziale Bedingungen (Familien- und Interaktionsdiagnostik, Verhaltensbeobachtung und Diagnostik weiterer psychosozialer Bedingungen, Kap. 4, 26).

    Bei dieser weitergehenden Diagnostik können verschiedene diagnostische Methoden eingesetzt werden, vor allem standardisierte Fragebogenverfahren, klinische Checklisten und Interviews, Methoden der Verhaltensbeobachtung, psychologische Testverfahren, körperliche Untersuchungen und apparative Verfahren zur psychologischen oder medizinischen Diagnostik.

    Die Integration der diagnostischen Ergebnisse mündet erstens in einer dimensionalen Beschreibung der psychischen Störungen, der Funktionseinschränkung, der Kompetenzen, der kognitiven Defizite und Fähigkeiten sowie der psychosozialen Bedingungen. Zweitens kann eine kategoriale Diagnose auf der Grundlage des ICD-10/ICD-11 oder des DSM-5 erstellt werden. Im nächsten Schritt lässt sich eine Bedingungsanalyse (Mikro- und Makroanalyse, Kap. 21, 22) durchführen, in der ein hypothetisches Modell über die intrapsychischen, psychosozialen und biologischen Faktoren entwickelt wird, die zur Entstehung der psychischen Störung und zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen. Danach kann auf der Grundlage der subjektiven Störungskonzepte des Patienten und seiner Bezugspersonen, der Therapieerwartungen und Therapiemotivation mit dem Patienten und seinen Bezugspersonen ein gemeinsames Störungskonzept (Was sind meine Probleme und woher kommen sie?) und auch ein Interventionskonzept (Was muss wer tun, um die Probleme zu lösen?) entwickelt werden. Auf dieser Grundlage können schließlich die konkreten Therapieziele erarbeitet werden und eine detaillierte Therapieplanung erfolgen. Die Effekte der Intervention werden durch eine Verlaufskontrolle überprüft, in deren Rahmen zentrale diagnostische Schritte nochmals wiederholt werden.

    2.2 Indikationen

    Kinderverhaltenstherapie ist ohne ausführliche zuverlässige Psychodiagnostik undenkbar, unethisch, unverantwortlich und ein professionelles Fehlverhalten. Umstritten ist, wie stark dieser diagnostische Prozess strukturiert sein muss. Erfreulicherweise setzt sich auch in der klinischen Praxis der Einsatz von standardisierten diagnostischen Verfahren immer weiter durch. Fragebogenverfahren ersetzen keine klinische Exploration, sie sind aber zeitökonomisch und sie ermöglichen eine Beschreibung psychischer Probleme aus verschiedenen Perspektiven. Durch die Normierung der meisten Fragebogenverfahren erhält der Untersucher wichtige zusätzliche Informationen, die allein durch eine klinische Exploration nicht zu erheben sind. Auch während der Therapie sind strukturierte oder standardisierte diagnostische Verfahren notwendig, um den Verlauf kontinuierlich zu erfassen und eine angemessene Qualitätssicherung durchzuführen.

    2.3 Kontraindikationen

    Kontraindikationen sind nicht bekannt. Widerstand oder Ablehnung seitens der Patienten oder Bezugspersonen gegenüber bestimmten diagnostischen Maßnahmen (z. B. Befragungen von Lehrern) sollten nicht ohne weitere Auseinandersetzung mit den Gründen oder Ängsten akzeptiert werden. Allerdings ist für eine diagnostische Erhebung bei Bezugspersonen außerhalb der Familie das Einverständnis der Sorgeberechtigten und auch des einsichtsfähigen Patienten notwendig.

    2.4 Vorgehen und technische Durchführung

    Die klinische Exploration beginnt in der Regel niedrigstrukturiert und orientiert sich an den vom Patienten bzw. seinen Bezugspersonen vorgebrachten Anliegen. Häufig bietet es sich an, zunächst das Kind/den Jugendlichen gemeinsam mit seinen Begleitpersonen (meist den Eltern) zu explorieren. Sowohl Patient als auch Eltern sollten aber auch im weiteren Verlauf getrennt exploriert werden. Die klinische Exploration dient nicht nur der Informationssammlung, sondern auch dem Aufbau einer Beziehung zum Patienten und seinen Bezugspersonen. Daher ist es bereits im Erstkontakt sehr wichtig, dem Kind oder Jugendlichen ein Beziehungsangebot zu machen, beispielsweise durch ein Gespräch über eigene Vorlieben oder Interessen oder durch ein gemeinsames Spiel. Die Exploration kann auch anhand eines strukturierten Explorationsschemas für psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen (EPSKI) erfolgen. Mit dem psychopathologischen Befundsystem lassen sich die explorierte und die während der Exploration beobachtete Symptomatik des Patienten anhand psychopathologischer Kategorien einordnen. Alternativ kann das klinische Urteil mithilfe einer Diagnose-Checkliste zum Screening psychischer Störungen (DCL-SCREEN) oder eines strukturierten Interviewleitfadens (ILF-SCREEN) aus dem Diagnostik-System für Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter (DISYPS-III) oder des in der Routine seltener eingesetzten Kinder-DIPS erhoben werden.

    Die multimodale Psycho- und Verhaltensdiagnostik lässt sich in zwei Phasen unterteilen (siehe Abb. 2.2). In der ersten Phase werden störungsübergreifende Basisverfahren der multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik durchgeführt, anhand derer das klinische Urteil, das Urteil der Eltern, von Erzieherinnen oder Lehrkräften und das Selbsturteil des Kindes oder Jugendlichen (etwa ab 11 Jahren) erhoben werden. Diese Verfahren decken ein breites Spektrum psychischer Auffälligkeiten ab und sollten aufgrund der hohen Komorbidität standardmäßig bei allen Störungsbildern eingesetzt werden. Neben den bereits erwähnten Explorations- und klinischen Beurteilungsverfahren werden als störungsübergreifende Basisverfahren auch standardisierte Fragebogenverfahren eingesetzt. Häufig werden der Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL/6–18R), der Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R), der Fragebogen für Jugendliche (YSR/11-18R) und der Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (VBV) verwendet. Im Diagnostik-System DISYPS-III sind zudem Screeningverfahren entwickelt worden, die das Fremdurteil von Eltern und Lehrern (FBB-SCREEN) sowie ab dem Alter von 11 Jahren auch das Selbsturteil der Kinder und Jugendlichen (SBB-SCREEN) erheben.

    ../images/442847_1_De_2_Chapter/442847_1_De_2_Fig2_HTML.png

    Abb. 2.2

    Phasen und empfohlene Instrumente der multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik ( * Bestandteil von DISYPS-III)

    Auf der Grundlage der diagnostischen Ergebnisse in der ersten Phase kann in der zweiten Phase eine störungsspezifische multimodale Verhaltens- und Psychodiagnostik durchgeführt werden, die ein differenziertes Bild der einzelnen Störung liefern soll. Zur störungsspezifischen multimodalen Verhaltens- und Psychodiagnostik können viele Verfahren gerechnet werden, die einzelne Störungsbilder im klinischen Urteil, im Selbsturteil des Patienten und im Fremdurteil wichtiger Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) differenzierter erfassen, z. B. mit dem DISYPS-III (siehe Abb. 2.2).

    Häufig stimmen die verschiedenen Beurteiler nicht gut miteinander überein. Dies lässt sich neben Messfehlern und mehr oder minder bewussten Simulations- und Dissimulationstendenzen vor allem auf unterschiedliche Urteilsanker der einzelnen Beurteiler und auf die Situationsspezifität der Verhaltensauffälligkeiten zurückführen. So kann ein Verhalten, das der Jugendliche als Selbstbehauptung einschätzt, von der Mutter oder der Klassenlehrerin als hochgradig oppositionell beurteilt werden, und die ausgeprägte Unaufmerksamkeit, die der Lehrerin im Unterricht auffällt, mag von der Mutter in der Familie nicht beobachtbar sein. Manche psychischen Auffälligkeiten sind über das Selbsturteil besser zugänglich – vor allem verdeckte Prozesse (Ängste, Selbstwertprobleme) –, andere lassen sich valider über das Fremdurteil erheben (z. B. oppositionelles Verhalten). Die Aufdeckung solcher divergierenden Urteile und ihrer vermutlichen Ursachen kann wertvolle Hinweise für die Therapieplanung liefern.

    Neben der Diagnostik mit standardisierten Verfahren haben sich Methoden der individualisierten Diagnostik vor allem für die Therapieplanung und Verlaufskontrolle als hilfreich erweisen. Mit diesen Methoden lassen sich die jeweils individuellen Ausprägungen psychischer Auffälligkeit erfassen. Beispiele für eine solche individualisierte Diagnostik stellen die Erfassung der Zielerreichung und die Erhebung der Zielbeschwerden dar. In beiden Ansätzen werden die Probleme, die verändert werden sollen, gemeinsam mit dem Patienten oder seinen Bezugspersonen spezifiziert. Mittels der Zielerreichungsskalierung werden die individuellen Probleme auf unterschiedlichen Intensitätsstufen beschrieben, während bei der Erfassung von Zielbeschwerden der mit den Problemen verbundene Leidensdruck erhoben wird. Ein Beispiel ist der Problembeurteilungsbogen (siehe Abb. 2.3), welcher zur regelmäßigen Beurteilung von umschriebenem Problemverhalten durch Bezugspersonen (Eltern, Erzieher, Lehrer) oder durch die Patienten selbst genutzt werden kann. Die einzelnen Problemverhaltensweisen müssen möglichst konkret spezifiziert werden.

    ../images/442847_1_De_2_Chapter/442847_1_De_2_Fig3_HTML.png

    Abb. 2.3

    Problembeurteilungsbogen

    2.5 Grad der empirischen Absicherung und persönliche Bewertung

    Vor allem bei den Fragebogenverfahren liegen evidenzbasierte, reliable, valide und normierte Instrumente vor, die sich in der klinischen Praxis gut einsetzen lassen und die auch zunehmend in der Routineversorgung angewendet werden. Sie geben wertvolle Informationen über die Symptomatik und das psychosoziale Funktionsniveau des Patienten aus verschiedenen Perspektiven und können in den Prozess der klinischen Exploration gut integriert werden. Dabei hat es sich bewährt, nicht nur eine normative Auswertung auf Skalenebene vorzunehmen, sondern auch die einzelnen Items kurz zu inspizieren und die gewonnenen Informationen für eine weitere Exploration des Patienten oder seiner Bezugspersonen zu nutzen. Während in der Eingangsdiagnostik evidenzbasierte Verfahren immer häufiger eingesetzt werden, hat sich eine systematische Verlaufskontrolle noch nicht etabliert. Sie ist jedoch für eine Qualitätssicherung und die Optimierung therapeutischer Interventionen von besonderer Bedeutung. Vor allem der Einsatz von Verfahren der individualisierten Diagnostik wie der Zielerreichungsskalierung oder der individuellen Problembeurteilung ist sowohl für die Therapieplanung als auch für die kontinuierliche Überprüfung des Therapieverlaufs besonders hilfreich.

    Literatur

    Döpfner, M., Berner, W., Breuer, D., Fleischmann, T., & Schmidt, M.H. (2018). VBV 3-6. Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (2. überarb. und erw. Aufl. mit Kurzformen). Göttingen: Hogrefe.

    Döpfner, M., & Görtz-Dorten, A. (2017). Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5 für Kinder- und Jugendliche (DISYPS-III). Bern: Hogrefe.

    Döpfner, M., & Petermann, F. (2012). Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Bd. 2 (3. überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

    Döpfner, M., Plück, J., & Kinnen, C. für die Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist. (2014). Manual deutsche Schulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach. Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (CBCL/6-18R), Lehrerfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen (TRF/6-18R), Fragebogen für Jugendliche (YSR/11-18R). Göttingen: Hogrefe.

    Döpfner, M., & Steinhausen, H.-C. (2012). Kinder-Diagnostik-System (KIDS), Bd. 3: Störungsübergreifende Verfahren zur Diagnostik psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.

    Görtz-Dorten, A., & Döpfner, M. (2021). Interviewleitfäden zum Diagnostik-System für psychische Störungen für Kinder- und Jugendliche (DISYPS-ILF). Bern: Hogrefe.

    Plück, J., Scholz, K., & Döpfner, M. für die Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist. (2019). Manual deutsche Vorschulalter-Formen der Child Behavior Checklist von Thomas M. Achenbach. Elternfragebogen für Klein- und Vorschulkinder (CBCL 1½-5) und Fragebogen für ErzieherInnen von Klein- und Vorschulkindern (C-TRF 1½-5). Göttingen: Hogrefe.

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020

    M. Döpfner et al. (Hrsg.)Verhaltenstherapiemanual: Kinder und JugendlichePsychotherapie: Praxishttps://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_3

    3. Intelligenz-, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik bei Kindern

    Günter Esser¹  

    (1)

    Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung an der Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland

    Günter Esser

    Email: Guenter.Esser@api-potsdam.de

    3.1 Einleitung

    In der Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie haben wir es grundsätzlich mit klinischen Populationen zu tun. Auch die im Rahmen der Leistungsdiagnostik verwendeten Testverfahren müssen sich neben den klassischen Testgütekriterien daran messen lassen, inwieweit sie einen Beitrag zur Diagnosestellung leisten. Die infrage stehenden Diagnosen sind Intelligenzdefizite (ICD-10: F7) und umschriebene Entwicklungsstörungen (ICD-10: F80-F82).

    Klinische Populationen als Zielgruppe setzen voraus, dass die Testverfahren in der Lage sind, im unteren Leistungsspektrum ausreichend zu differenzieren. Das bedeutet, dass die Testverfahren genügend leichte Aufgaben für die jeweilige Altersgruppe enthalten müssen. So bieten sich in der Regel Verfahren an, die sich am oberen Ende des jeweiligen Altersspektrums befinden. So eignet sich der WISC-V weniger gut zur Störungsdiagnostik bei 8-Jährigen, sondern sehr viel besser bei 14- bis 16-Jährigen.

    Die Messung von Extremwerten (1,5 oder 2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert) setzt große Normierungsstichproben von mindestens 150 Probanden pro Altersgruppe voraus. Auch die Repräsentativität der Normierungsstichprobe ist von hoher Bedeutung. Diese misst sich vor allem am Grad der Ausschöpfung der Gesamtpopulation. Verfahren, die aus ökonomischen Gründen nur die sehr leicht erreichbaren motivierten Probanden berücksichtigen, weisen zu hohe Mittelwerte und zu geringe Streuungen auf. Dies führt insbesondere zu hohen Raten von Auffälligen (z. B. Intelligenzgeminderten) mit den entsprechenden weitreichenden Folgen (Wyschkon und Esser 2015).

    Im Folgenden werden für das Säuglings- bis zum Grundschulalter einzelne häufig verwendete Testverfahren exemplarisch dargestellt und diskutiert. Auf eine tabellarische Auflistung aller relevanten Verfahren wird verzichtet, hierbei ist auf die Testkataloge insbesondere von Hogrefe und Pearson zu verweisen. Die Auswahl der Testverfahren erfolgte nach der Erfüllung der Testgütekriterien (Objektivität, Reliabilität und Validität) sowie nach den o. g. Kriterien zur Eignung für klinische Fragestellungen. Daneben wurde die Verbreitung der Testverfahren berücksichtigt.

    3.2 Entwicklungsdiagnostik im Säuglings- und Kleinkindalter

    Die Leistungsdiagnostik im Säuglings- und Kleinkindalter erfordert große Erfahrungen im Umgang mit Kindern der entsprechenden Altersgruppe und die perfekte Beherrschung des Untersuchungsmaterials und -ablaufs. Dabei gilt es, die Reihenfolge der Items flexibel dem emotionalen Zustand und der Reaktion des Kindes anzupassen und damit auch schwierige Untersuchungssituationen zu meistern.

    3.2.1 Entwicklungstest für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren – Revision

    Beim Entwicklungstest für Kinder im Alter von 6 Monaten bis 6 Jahren – Revision (ET 6-6R) handelt es sich um eine modifizierte und neu normierte Version des ET 6-6. Der Test eignet sich mit seiner umfangreichen Aufgabenkonstruktion als Breitbandentwicklungstest insbesondere für die Eingangsdiagnostik.

    Dabei beruht der ET 6-6R auf dem bewährten Grenzsteinprinzip, welches den inter- wie auch intraindividuell höchst variabel gestalteten Entwicklungsverläufen Rechnung trägt. Er erfasst durch die Testung des Kindes über alltagsnahe Aufgaben in 20–50 min den Entwicklungsstand der Körper- und Handmotorik, der kognitiven Entwicklung und der Sprachentwicklung. Darüber hinaus holt er mithilfe eines Elternfragebogens zusätzliche Angaben zur sozioemotionalen Entwicklung ein. Aus den Ergebnissen lässt sich ein Entwicklungsprofil bilden, welches zeigt, ob das Kind jene altersadäquaten Fertigkeiten besitzt, die es für eine ungestörte Entwicklung braucht, oder ob bereichsspezifische Entwicklungsverzögerungen vorliegen.

    3.2.2 Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik

    Die Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik reicht von 0–36 Monaten und erfasst im 1. Lebensjahr vier motorische Bereiche (Krabbeln, Sitzen, Laufen, Greifen) sowie Perzeption, Sprache (rezeptiv und expressiv) und Sozialverhalten. Im 2. und 3. Lebensjahr werden Motorik (Statomotorik und Handmotorik), Wahrnehmungsverarbeitung, Sprache (rezeptiv und expressiv) sowie Selbständigkeit und Sozialverhalten geprüft. Hervorzuheben ist das besonders robuste Testmaterial. Die veraltete Normierung und überholte Aufgabenkonstruktion machen die derzeit stattfindende Überarbeitung notwendig.

    3.2.3 Leistungsdiagnostik im Kindergarten- und Vorschulalter

    Die Erfahrung, dass die Früherkennung von allgemeinen und partiellen Entwicklungsrückständen eine der maßgeblichen Aufgaben der klinischen Diagnostik ist, führte in den letzten Jahren zu einem Anstieg neu entwickelter Verfahren für die Altersgruppe von 4–6 Jahren.

    3.2.3.1 Intelligenz

    Kaufman Assessment Battery for Children II

    Die Kaufman Assessment Battery for Children II (K-ABC-II) stellt die lange erwartete Überarbeitung ihrer vor 30 Jahren erschienenen Erstausgabe dar. Ihre wesentlichen Neuerungen betreffen zum einen die Erweiterung des Altersgeltungsbereichs, der nun die Spanne von 3 bis 18 Jahren umfasst, zum anderen basiert die K-ABC-II, im Gegensatz zur Vorgängerversion, auf einem dualen Intelligenzkonzept. So werden über den aus der K-ABC-I bereits bekannten neuro- und kognitionspsychologischen Ansatz (Luria-Modell), fluide Intelligenzaspekte erfasst und das ergänzte Cattell-Horn-Carroll-Modell (CHC-Modell) ermöglicht darüber hinaus auch die Berücksichtigung kristalliner Intelligenzleistungen.

    Im Einzelfall obliegt dem Untersucher die Entscheidung, welches Intelligenzmodell er zur Durchführung und Interpretation heranzieht. Unter normalen Entwicklungsbedingungen ist das CHC-Modell dem Luria-Modell vorzuziehen. Die K-ABC-II ist damit Alternative zu gängigen Testverfahren, wie z. B. der Wechsler Intelligence Scale for Children – V (WISC-V).

    Das Testmaterial der K-ABC-II ist ansprechend und abwechslungsreich und für viele Kinder einladender als das der WISC. Die Testdurchführung ist einfach und für die Testleiter rasch zu erlernen. Die Dauer des Testverfahrens ist je nach Fragestellung sehr verschieden und beläuft sich auf ca. 25–100 min.

    3.2.3.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen

    Bereits in den 1970er Jahren wurde im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Vorschulalter – Version III (BUEVA-III) entwickelt. Ziel dieser Testbatterie ist es, den Besonderheiten der Kinder dieser Altersgruppe und der Untersuchung allgemeiner und umschriebener Entwicklungsstörungen Rechnung zu tragen bzw. entsprechende Risikokinder ausfindig zu machen. Bis heute vollzog sich eine umfassende Weiterentwicklung dieses nun in der 3. Version vorliegenden mehrdimensionalen Entwicklungstestverfahrens.

    Mit der BUEVA-III liegt eine Testbatterie vor, die umfassend bereits manifeste Entwicklungsstörungen im Alter von 4;0–6;5 Jahren aufdeckt, zugleich aber auch Kinder mit dem Risiko zur Ausbildung einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten frühzeitig ausfindig macht.

    Die Autoren ergänzten die bislang fehlenden Untertests zur rezeptiven Sprache und einen weiteren Test zur Ganzkörperkoordination. Die übrigen Untertests durchliefen eine umfangreiche Überarbeitung. Wie sich in Längsschnittprojekten zeigen ließ, ist die BUEVA-III sensitiv für spätere umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Hierfür wurden weitere Untertests zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit sowie zum Zahlen- und Mengenverständnis aufgenommen. Neben der Langversion über ca. 60 min liegt auch eine Screeningversion über 40 min vor.

    3.2.3.3 Vertiefte Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen

    Eine vertiefte Diagnostik der schriftsprachlichen Vorläuferfertigkeiten ist durch den Potsdam-Illinois-Test of Psycholinguistic Abilities (P-ITPA) möglich, die mathematischen Vorläuferfertigkeiten werden durch den MARKO-D möglich, die der Motorik durch den MOVE 4–8, der im Unterschied zu anderen Verfahren eine separate Diagnostik von Feinmotorik und Grobmotorik/Ganzkörperkoordination erlaubt.

    3.3 Leistungsdiagnostik im Grundschulalter

    3.3.1 Intelligenz

    Neben der Kaufman Assessment Battery for Children II hat sich die Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC-V) als zweites großes Intelligenztestverfahren etabliert. Wie der WISC-IV besteht auch der WISC-V aus 15 Untertests, die sich nun zu fünf primären Indizes zusammenfassen lassen. Unverändert sind die Indizes Sprachverständnis, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Das wahrnehmungsgebundene logische Denken des WISC-V teilt sich in visuell-räumliche Verarbeitung und das fluide Schlussfolgern auf. Den primären Indizes liegen insgesamt 10 der 15 Untertests zugrunde. Von diesen 10 bilden 7 den Gesamtwert. Auch der WISC-V hat sich an das Cattell-Horn-Carroll-Modell angepasst.

    Die Normierung erfolgt wie bisher in Vier-Monats-Schritten, was dazu führt, dass die verhältnismäßig kleine Normierungsstichprobe pro Altersgruppe nur ein n = 33 aufweist. Damit sind Messungen im klinisch relevanten Bereich nur sehr eingeschränkt möglich. Die Stärken des WISC sind die interaktive Vorgabe, das relativ abwechslungsreiche Testmaterial und die absolut weite Verbreitung.

    3.3.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen im Grundschulalter

    Mit der Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter (BUEGA) wird ein Verfahren zur Verfügung gestellt, das neben Intelligenzleistungen und Sprachentwicklung umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten sowie Aufmerksamkeitsstörungen ökonomisch erfasst. Die Leistungsbereiche verbale Intelligenz, nonverbale Intelligenz, expressive Sprache, Lesegeschwindigkeit, Genauigkeit, Rechtschreibung, Rechnen und Aufmerksamkeit lassen sich zu einem Gesamtwert aufaddieren, der als Schulleistungspotenzial aufgrund seiner sehr hohen Korrelation (.76) mit dem Lehrerurteil für die Schullaufbahnberatung herangezogen werden kann. Aufgrund der Größe der Normierungsstichprobe (n > 150 pro Altersgruppe) ist das Verfahren auch in der Lage, im unteren und oberen Leistungsbereich genau zu differenzieren. Ein großer Vorteil der BUEGA besteht darin, dass alle Teilleistungen an derselben Stichprobe normiert wurden, sodass Diskrepanzen zwischen den Teilleistungen nicht durch stichprobenbedingte Unterschiede verzerrt oder verwischt werden.

    3.3.3 Vertiefte Diagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen

    3.3.3.1 Lese-Rechtschreib-Störungen

    Der Salzburger Lese- und Rechtschreibtest (SLRT-II) eignet sich für Kinder, die bereits im Screening-Test auffällig geworden sind. Der Lesetest erfasst Defizite im synthetischen, lautierenden Lesen genauso wie in der automatischen Worterkennung. Die Bewertung der Leseleistung erfolgt durch die Lesezeit, sofern kritische Fehlerwerte nicht überschritten werden. Das Leseverständnis wird für die 1.–6. Klasse durch den ELFE 1–6 valide erfasst. Neben dem SLRT-II empfiehlt sich die Hamburger Schreibprobe (HSP 1–10) für Diagnostik und Therapiekontrolle. Ihre Vorteile liegen neben der sehr großen Normierungsstichprobe in der Auswertung auf Graphemebene und in der Analyse von vier Rechtschreibstrategien.

    3.3.3.2 Rechenstörungen

    Aus der Reihe deutscher Schultests liegt mit der Serie Deutscher Mathematiktest (DEMAT 1+ – 9) ein Verfahren zur ökonomischen Erfassung von Rechenleistungen vor. Die DEMAT orientieren sich an den Mathematiklehrplänen der deutschen Bundesländer und sind auch in einer Schulstunde als Gruppentest durchführbar.

    Um die zugrunde liegenden Defizite mathematischen Denkens aufzuzeigen, wurde die neuropsychologische Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern (ZAREKI-R) konstruiert. Ziel ist eine differenzielle Diagnostik der qualitativen und quantitativen Zahlenverarbeitung und Rechenfertigkeiten für Kinder der 1.–4. Klassen. Das Verfahren eignet sich auch zur Therapieplanung.

    Literatur

    Esser, G., Wyschkon, A., & Ballaschk, K. (2007). Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter. Göttingen: Hogrefe.

    Esser, G., & Wyschkon, A. (2015). Basisdiagnostik Umschriebener Entwicklungsstörungen im Vorschulalter – Version III (BUEVA-III). Göttingen: Hogrefe.

    Esser, G., & Wyschkon, A. (2010). Potsdam-Illinois Test of Psycholinguistic Abilities (P-ITPA). Göttingen: Hogrefe.

    Görlitz, D., Roick, T., Hasselhorn, M., Marx, H., & Schneider, W. (2006). Deutscher Mathematiktest für 4. Klassen (DEMAT 4). Göttingen: Beltz Deutsche Schultests.

    Hellbrügge, T. (1994). Münchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED) (4. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

    Kendall, P. C. (2012). Child and adolescent therapy: Cognitive-behavioral procedures (4. Aufl.). New York: Guilford Press.

    May, P. (2002). Hamburger Schreibprobe (HSP) (6. Aufl.). Hamburg: Verlag für Pädagogische Medien.

    Moll, L., & Landerl, K. (2014). Lese- und Rechtschreibtest (SLRT-II) (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

    Petermann, F., & Matcha, T. (2013). Entwicklungstest sechs Monate bis sechs Jahre – Revision (ET6-6-R). Frankfurt a. M.: Pearson Assessment.

    Petermann, F. (2017). Wechsler Intelligence Scale for Children (5. Aufl.). Frankfurt a. M.: Pearson Assessment.

    Ricken, F., Fritz, A., & Balzer, L. (2013). Mathematik- und Rechenkonzepte im Vorschulalter – Diagnose (MARKO-D). Göttingen: Hogrefe.

    Schmidt, S., Ennemoser, M., & Krajewski, K. (2012). Deutscher Mathematiktest für 9. Klassen (DEMAT 9). Göttingen: Hogrefe.

    von Aster, M. G., Weinhold, Z. M., & Horn, R. (2006). ZAREKI-R: Neuropsychologische Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern (revidierte Version). Frankfurt: Harcourt Test Services.

    Wyschkon, A., & Esser, G. (2015). Testleiterfehler und Beurteilung von Testnormen: Empfehlungen für Testentwickler und -anwender. In G. Esser, M. Hasselhorn, & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik im Vorschulalter, Tests und Trends (Bd. 13, S. 165–179). Göttingen: Hogrefe.

    Wyschkon, A., Jurisch, K., Bott, H., & Esser, G. (2018). Motorische Entwicklung im Vor- und Grundschulalter (MOVE 4-8). Göttingen: Hogrefe.

    © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020

    M. Döpfner et al. (Hrsg.)Verhaltenstherapiemanual: Kinder und JugendlichePsychotherapie: Praxishttps://doi.org/10.1007/978-3-662-58980-9_4

    4. Diagnostik des psychosozialen Lebensumfeldes

    Stephanie Schürmann¹   und Manfred Döpfner²  

    (1)

    Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik Köln, Köln, Deutschland

    (2)

    Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Uniklinik Köln (AKiP), Köln, Deutschland

    Stephanie Schürmann (Korrespondenzautor)

    Email: stephanie.schuermann@uk-koeln.de

    Manfred Döpfner (Korrespondenzautor)

    Email: manfred.doepfner@uk-koeln.de

    4.1 Allgemeine Beschreibung

    Die Diagnostik des psychosozialen Lebensumfeldes gehört neben der Diagnostik psychischer Störungen (Kap. 2) sowie der Entwicklungs-, Intelligenz-, Leistungs- und neuropsychologischen Diagnostik (Kap. 3) zu den grundlegenden diagnostischen Ansätzen, welche auch eine Basis für die weiterführende Verhaltensanalyse (Kap. 21 und 22) bilden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich hier immer nur um ein hypothetisches Modell handelt, und die Annahmen über

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